Für die Gang zuhause und fern
Die Tieferen
Band 1 - Präludium
von
Manus Braith
www.manusbraith.com
Roman
(Magical Realism)
NDC Publishing
Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch, obwohl reale Unternehmen erwähnt, medizinische Rezepte und Prozeduren, als auch manchmal realistische Abläufe thematisiert werden, die es so oder ähnlich vielleicht geben könnte. Die beschriebenen Personen, als auch Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind fiktiv.
Copyright © 2023 by Manus Braith
All rights reserved.
ISBN: 978-1502348302
Cover: Liam Edward Carter
NDC Publishing, Switzerland
Einführung
Hat sich alles so abgespielt, wie ich es hier beschrieben habe? Kann es sein, dass es eine Wirklichkeit gibt, von der wir höchstens still zu träumen wagen?
Letzten Endes muss das jeder Leser für sich selbst entscheiden. Ich kann nur treu berichten, was ich erlebt habe. Und das gedenke ich hier zu tun.
Wir haben in uns ein Wissen, das mehr in Erfahrung bringen kann, als unser Intellekt. Wir sind und können mehr, als wir uns gemeinhin zutrauen. Wir sehen und fühlen mehr, als uns unser Verstand erlauben will.
In anderen Worten:
Wunder findet man überall, sobald man sie zu sehen lernt.
Gewisse Ereignisse, die ich nicht selbst erlebt habe, wurden mir von vertrauenswürdigen Freunden berichtet, und diese habe ich hier nahtlos in meinen Bericht integriert. Es wird viel zu erzählen geben, aber um die einzelnen Bände meiner Erzählung nicht zu umfangreich zu machen, habe ich sie an einer Stelle beendet, wo es mir Sinn machte. Die Geschichte geht dann im nächsten Band ohne Unterbruch weiter. Der erste Band meines Berichts schildert den Beginn meiner langen Reise in die Befreiung. Ich hoffe, das Buch wird die Leser so beflügeln, wie die Realität mich beflügelt hat.
Ich habe den ersten Band bewusst Präludium genannt, weil er, wie ein Vorspiel, in meine Abenteuer einführt.
Aberystwyth, im Dezember
James Tannot
Interludium
An die Redaktion der London Times
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich weiss nicht mehr, an wen ich mich wenden soll. Die Polizei sagte mir wiederholt sie sei nicht zuständig, mein Arzt meint ich leide an einer sehr besonderen Form von posttraumatischem Stress und meine Freunde denken ich sei übergeschnappt. Das bin ich aber nicht.
Vielleicht muss man sich an die Presse wenden, wenn man will, dass etwas aufgedeckt und ernst genommen wird.
Mein Name ist Tamara Rosenstein. Ich bin vierzig Jahre alt, habe einen Sohn und arbeite als wissenschaftliche Forscherin im Fachbereich Molekularbiologie für einen grossen pharmazeutischen Konzern, genauer in dessen F&E Abteilung. Genaues Beobachten ist mein Leben, verstehen Sie? Ich bin weder eine Träumerin, noch sonst irgendwie verrückt.
Vor drei Wochen hatte ich abends einen Herzanfall.
Ich war auf dem Weg nach Hause, nachdem ich mit einer Freundin in der Oper gewesen war, als es passierte. Ich setze mich auf eine Bank um mich zu beruhigen und eine Ambulanz zu rufen. Doch in dem Moment, wo ich die Nummer eingeben wollte, wurde ich von drei jungen Männern überfallen. Der eine entriss mir mein Mobiltelefon, der andere stahl meine Tasche und kippte ihren Inhalt auf die Strasse, während der dritte mich grob anfasste.
„Wo ist dein Geld, du Hure?“, schrie der Grösste der drei.
„Ich brauche einen Arzt. Etwas stimmt nicht mit meinem Herz! Bitte!“, antwortete ich flehend.
„Meinst du es interessiert uns ob du abkratzt, oder nicht? Schau dich doch an in deinem Abendkleid. Du bist stinkreich! Du bist ein Teil des Problems. Stirb, du Miststück! Ist mir egal …“
„Wo ist dein Geld?“, fragte wieder der Andere und schlug mich dabei ins Gesicht.
Ich hatte keine Kraft mehr und fiel von der Bank auf den Boden.
„Bitte! Eine Ambulanz ...“, flehte ich noch einmal. Doch da wurde ich in die Hüfte getreten. Einer der jungen Männer ging in die Knie, packte mich am Haar und zog mein Gesicht nahe an seines.
„Wo ist dein Geld?“, sagte er. Sein Atem roch nach Alkohol.
Das war der Moment, um den es mir geht. Der Rest ist Sache der Polizei, nicht der Presse.
Neben mir tauchte plötzlich ein alter Mann auf. Er kam aus dem Nichts, was nicht nur mir auffiel.
„Scheisse! Wo kommst du her, Alter? Willst du Stress?“, schrie der Typ mit seiner Hand in meinem Haar.
Der alte Mann, weisses Haar, grüne Kleidung - so etwas wie einen Overall hatte er an - antwortete ohne Angst. „Ihr solltet eure Hausaufgaben machen, nicht nette Frauen überfallen!“
Ich nahm alles ganz genau wahr. Meine Augen und Ohren funktionierten ohne Einschränkung. Genau so gut, wie sie jetzt ihren Dienst tun, wo ich das schreibe ...
Der Halbwüchsige liess mich los. Er holte aus, ballte seine Faust und schlug den lieben alten Mann mitten ins Gesicht. Das heisst, das wollte er. Denn in dem Moment schrie dieser ein türkisches Wort - ich glaube es war Türkisch, auf jeden Fall nicht Englisch, aber ich bin nicht sonderlich Fremdsprachen begabt - wich dem Schlag aus, als sei er ein Boxweltmeister, und verhaute die drei jungen Männer, als seien sie kleine Kinder. Ich glaube er tat ihnen nicht wirklich weh, aber es genügte, um sie in die Flucht zu schlagen. Sie rannten mundtot davon.
Dann trat er zu mir heran. Ich war überzeugt, demnächst meinen letzten Atemzug zu tun, weil mir das Atmen so schwer fiel.
Er war von der Schlägerei kein bisschen ausser Atem. Dann sagte er drei Sätze.
„Du hast einen leichten Angina Pectoris Anfall. Ich werde das jetzt korrigieren, aber danach solltest du regelmässig meditieren oder Entspannungsübungen machen. Zudem solltest du mit dem Rauchen aufhören.“
Er nahm meinen linken Arm und massierte während etwa einer Minute einen Muskel an meinem Oberarm. Die Zentnerlast auf meinem Brustkasten entwich. Plötzlich konnte ich wieder frei atmen. Kurz darauf war es, als hätte ich nie auch nur eine leichte Beklemmung gehabt.
Was hat das mit der Presse zu tun fragen Sie? Vielleicht noch nichts, meine Damen und Herren, liebe Redaktion.
Doch dann verschwand der Mann vor meinen Augen. Jetzt hat es mit der Presse zu tun, finde ich.
Er hatte eine kleine Trompete hervor genommen, die unter seinem grünen Overall versteckt gewesen war, blies in das Mundstück und verschwand vor meinen Augen. Ich bin bereit unter Eid auszusagen. Er löste sich vor mir in Luft auf! Verstehen Sie?
Ich habe nicht geträumt, aber vielleicht können Sie mir helfen mehr über diesen Mann heraus zu finden, indem Sie diese Geschichte publizieren. Vielleicht gibt es andere Menschen, die ähnliches erlebt haben. Bitte helfen Sie mir und veröffentlichen Sie diesen sonderbaren Fall einer Rettung in letzter Sekunde, sei es nur um der Bevölkerung klar zu machen, dass wir manchmal in der Not nicht alleine sind.
Tamara Rosenstein, PhD
Reading, Grossbritannien
1
Wie alles begann ...
„Nur wer sich wirklich für das Neue öffnet,
kann das Alte fortschreiten lassen.“
Callineb Elwedig, Adnod 3
Ich hätte schreien können. Stattdessen warf ich das Ding an die Wand und stampfte dann in den Socken darauf herum. Als ob ich es durch eine Kombination von Fussschweiss und dumpfen Schlägen verändern könnte. Dann schrie ich wirklich. Das durfte einfach nicht wahr sein.
Ich nahm den Zukunfts-Abwürger noch einmal zur Hand. Der Brief war jetzt mächtig zerknittert, doch die Buchstaben noch leserlich. Also fing ich noch einmal oben an.
Sehr geehrter Herr Tannot,
Sie haben am 12. September an der Aufnahmeprüfung der medizinischen Fakultät unserer Universität teilgenommen.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Sie die vorgeschriebene Punktezahl nicht erreicht haben.
Wir erwarten von unseren Studenten 120 Punktwerte in der mündlichen und 120 Punktwerte in der schriftlichen Prüfung. Die von Ihnen erreichte Punktezahl beträgt:
Schriftlich: 89 Punkte Mündlich: 98 Punkte
Wir bedauern, Ihnen keinen besseren Bescheid geben zu können.
Meine Augen wanderten zum Ende des Schreibens.
Dieser Beschluss ist definitiv und kann nicht angefochten werden.
Absurd, dachte ich. Unmöglich. Ich warf den Brief ein zweites Mal gegen die Wand, aber diesmal zerknüllte ich ihn zuerst ganz, damit er besser flog. Dann drehte ich mich dreimal um mich selbst, wie ein Hund bevor er sich hinlegt.
Der Brief war eine Ohrfeige.
Ich wollte doch Arzt werden und dann der Ärzte ohne Grenzen Organisation beitreten, Menschen retten und heilen. Die Welt besser hinterlassen, als ich sie vorgefunden hatte.
Und die liessen mich allen Ernstes nicht zum Studium zu?
Vier Wochen war es her, dass ich die Aufnahmeprüfung gemacht hatte. Die Korrekturen hatten die Professoren wohl etwas länger in Anspruch genommen, als sie erwartet hatten. Aber ich hatte unmittelbar nach der Prüfung eigentlich ein gutes Gefühl gehabt. Und jetzt das.
Vor drei Tagen hatte mich mein Vater noch angerufen, weil er gehofft hatte, dass die Resultate der Prüfung schon vorliegen würden. Er war so stolz gewesen, dass ich Arzt werden würde. Jetzt war er auf irgendeiner Tierärzte-Veranstaltung in Texas.
Ich schaute das zerknüllte Papier auf dem Teppich an.
Das Schicksal musste sich geirrt haben, so viel Pech konnte ich doch einfach nicht haben.
„Verflucht!“, murmelte ich zähneknirschend.
Doch je länger ich das Schreiben am Boden anstarrte, desto mehr begann ich zu verstehen, was der Brief bedeutete.
Dort lag das Ende meines Traumes.
Die Stiftung, die mir das Studium bezahlt hätte, hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich der letzte Jahrgang sei, der für eine Finanzierung noch zugelassen würde. Und die finanzielle Situation meiner Familie war alles andere als rosig. Meine Eltern waren immer mehr an der Ausübung ihrer Berufe interessiert gewesen, als an der Anhäufung von Zaster. Ich wusste, dass wir kein Geld hatten, keinerlei finanzielle Sicherheiten. Mein Vater behandelte die Tiere der umliegenden Bauern oft umsonst, da auch sie nur wenig Geld hatten, und wir lebten sozusagen immer von der Hand in den Mund. Ein Studium wäre nur mit der Hilfe dieser Stiftung in Frage gekommen, und die würde nächstes Jahr nicht mehr zahlen.
Ich konnte die ungeheure Wende meines Lebensweges kaum glauben. Die Begeisterung über meine Zukunft hatte sich innerhalb weniger Sekunden in eine verzweifelte Stille ohne ersichtlichen Ausweg verwandelt.
In mir machte sich ein verkrampftes Schweigen breit. Eine Stille, die mich zu ersticken drohte. Vor meinem inneren Auge lagen die Trümmer meiner Vision; all meine bunten Zukunftspläne waren wie Dominosteine umgestürzt worden.
Meine Güte … wie ein Irrer hatte ich mich vorbereitet, acht bis neun Stunden täglich nichts anderes getan, als gelernt. Wie konnte ich die Aufnahmeprüfung nur verhauen haben?
In meiner Erinnerung tauchten viele Bilder meiner Vergangenheit auf, als ich das alles in einen breiteren Kontext zu setzen versuchte.
Wieso hatte ich Medizin studieren wollen? Ich musste an meine Grossmutter denken. Schon von früher Kindheit an, war ich mit ihr in die Wälder losgezogen, hatte ihr geholfen, Nüsse, Beeren, Blüten, Wurzeln und Blätter zu sammeln, und ihr dann zugeschaut wie sie daraus Heilmittel machte, die sie den Hilfesuchenden gab. Sie war einer Heilerin, die auch dort noch helfen konnte, wo es aussichtslos schien. Es verging kein Tag, an dem sie nicht einen Hof- oder Hausbesuch gemacht hätte, um verzweifelten Familien medizinischen Rat zu geben. Und oft durfte ich mit. Wegen ihr hatte ich Arzt werden wollen. Solche Erlebnisse prägen tief.
Bei allem war sie überaus schlicht und praktisch gewesen; wo andere Ärzte materielle Apparate verwendeten, wie zum Beispiel Stethoskope oder Blutdruckmessgeräte, da bediente sie sich ihrer Hände. Immer wieder hatte sie mich darauf aufmerksam gemacht, dass das Wichtigste einer Behandlung die Hand sei, der körperliche Kontakt. Ganz so wie es das Wort Behandlung ja auch impliziere.
Sie war in jeder Hinsicht eine besondere Frau gewesen und so dachte nicht nur ich; oftmals kamen Politiker, Professoren oder andere Ärzte zu ihr und suchten Rat für sich und ihre Familien.
Ich hatte immer große Ehrfurcht vor ihr gehabt. Vielleicht stammte mein trügerisches Gefühl des Auserwählt-Seins, das ich immer mit mir rumschleppte, daher, dass ich das Glück gehabt hatte, ihr einziger Enkel zu sein. Ich konnte schon früh unter ihrer Obhut Pflanzen bestimmen lernen und wurde mittels Legenden, die sie mir erzählte, in ihre Wirksamkeit eingeführt. Ich war ein Glückskind gewesen, ohne Zweifel. Doch das hatte sich heute schlagartig geändert. Wie sollte ich Arzt werden, wenn ich zum Studium nicht zugelassen wurde und ab nächstem Jahr niemand für die Studiengebühren aufkommen würde?
Ich packte meine Jacke, schmiss den Brief in den Papierkorb und verliess die Wohnung. Nach diesem Dämpfer brauchte ich dringend frische Luft. Es war elf Uhr morgens und die Sonne in Marseille stand schon hoch am Himmel, war aber Anfang Oktober eher mild. Ziellos zog ich zunächst durch die Strassen und versuchte irgendwie neuen Mut zu fassen, was mir aber nicht wirklich gelingen wollte. Also kehrte ich in einem Café nahe des alten Hafens ein.
Eine hübsche junge Frau mit bunten Ohrringen trat an meinen Tisch heran und nahm meine Bestellung auf. Ich liess meinen Blick über die anderen Gäste im Café schweifen. Am Tisch bei einem schmalen Fenster sassen zwei ältere Damen mit pompösen bunten Hüten, als seien sie vom Filmset einer Produktion des viktorianischen Englands, entflohen. Sie besprachen etwas über einen gemeinsamen Nachbarn, der seine Hecke nicht geschnitten hatte. Solche Probleme möchte ich auch haben, dachte ich mir. An der Wand hinten im Café sass ein kahl geschorener Student und las ein Buch, was mit dem Hintergrund eines Toulouse-Lautrec-Posters romantisch aussah und mich daran erinnerte, dass mein Studienleben nicht ganz so romantisch verlaufen würde. Und dann war da noch ein Mann in seinen frühen Fünfzigern, der ein kleines Waldhorn auf dem Tisch liegen hatte, welches er mit einem Lederlappen zärtlich zu polieren schien. Für was brauchte man in Marseille ein Waldhorn, fragte ich mich.
Die junge Kellnerin brachte mir meinen Café au lait.
Ich blies den Milchschaum an den Rand der Tasse und nahm einen ersten Schluck. Dann begann ich meine Situation zu analysieren.
Am besten würde ich mein Zimmer, welches ich letzte Woche bezogen hatte, räumen, die ganze Situation der guten alten Frau Hendrige erklären und sie bitten, eine Endabrechnung für mich zu machen, damit ich nach Hause fahren konnte.
Das Ganze war irgendwie skurril: Vor knapp zwei Wochen war ich mit Gareth, meinem besten Freund aus Dublin, bepackt mit Tonnen guter Vorsätze und wunderbaren Plänen für meine Zukunft, hier angekommen und nun war alles schon wieder vorbei.
Ich konnte es einfach nicht fassen.
Der Mann mit dem Waldhorn erhielt einen Anruf auf seinem Handy. In einer Sprache, die ich nicht einordnen konnte, sprach er lautstark und temperamentvoll ins Telefon und versuchte seinem Gesprächspartner etwas Wichtiges klar zu machen. Dann hing er auf, rief der Bedienung in bestem südfranzösischen Akzent, bezahlte seinen Pfefferminztee und rauschte, Waldhorn in der Hand, davon. Er nickte mir zu, hatte wohl mitgekriegt, dass ich ihn beobachtet hatte.
Ich trank ohne auf eine Lösung meines Zukunft-Problems zu stossen, meinen Kaffee leer und raffte mich dann auf um zu gehen. Ich musste der Zukunft die Stirn bieten und ihr mutig entgegensehen. Doch meine Stimmung war eindeutig angerissen, denn als die hübsche Kellnerin mich beim Einkassieren mit attraktivem Augenaufschlag in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, blockte ich den Flirt im Ansatz ab.
Am Abend saß ich dann mit Gareth auf dem Balkon der Wohnung von Frau Hendrige, den sie uns zur Verfügung gestellt hatte, obwohl er eigentlich zu ihrer Wohnung gehörte. Ein Prachtexemplar eines Balkons, voller Pflanzen und mit bequemen Sesseln aus geflochtenem Korb.
Wir stießen auf das Glück von Gareth an, der auch einen Brief bekommen hatte, wo ihm zu seiner erfolgreichen Aufnahmeprüfung für das Fremdsprachenstudium an der Uni Marseille gratuliert wurde. Es war schon eine eigenartige Stimmung, denn seine Freude wollten wir ebenso offen miteinander teilen wie meine Niedergeschlagenheit, so wie wir immer alles geteilt hatten.
Ich hörte Gareth aber eher verdrossen zu, wie er Pläne für seine Zukunft schmiedete und sich laut denkend in seinem Leben als zukünftiger Übersetzer für die UNO zurechtfand.
An diesem Abend hatte ich Mühe einzuschlafen, und als es dann doch klappte, hatte ich einen Traum, in dem fliegende Professoren der Medizin auf einem Hexenbesen ritten und mich mit irgendetwas bewarfen. Dazu lachten sie wild und zerrissen meine Prüfungsresultate.
Am nächsten Morgen nahm ich als erstes einen intensiven Knoblauchgeruch wahr. Gareth hatte ein englisches Frühstück zubereitet. Dann kam mir in den Sinn, dass die Misere der Absage kein Traum war. Energielos schlurfte ich in meinen zu grossen Pantoffeln, die ich meinem Vater entwendet hatte, zu Gareth an den Küchentisch.
„Wieso so viel Knoblauch?“, fragte ich.
„Hab keinen Knoblauch benutzt. Der Geruch muss von Frau Hendrige unten kommen. Hier wirf dich in den Schinken, hab ich beim Portugiesen um die Ecke gekauft.“
„Ich soll mich in den Schinken werfen?“
„Ja, Mann. Hau rein!“
Ich hörte mir beim Morgenessen dann an, was Gareth alles mit den französischen Studentinnen tun würde und wie er sie mit seinem irischen Akzent zu bezirzen gedachte.
„Wenn ich Eileen schon nie gekriegt habe, muss ich jetzt schauen, dass das Versagen bei den Frauen nicht Teil meines Selbstbilds wird. Hab ich in einem Psychologiebuch gelesen!“, sagte er, während er den portugiesischen Schinken auf der Gabel zu drehen versuchte, als handle es sich dabei um Spaghetti.
„Kein Junge in unserer Klasse hat Eileen gekriegt, Gareth. Das solltest du nicht persönlich nehmen.“
Mein alter Freund bemerkte bald, dass ich nicht gut aufgelegt war und ging dann zur Uni, um sich für verschiedene Kurse einzuschreiben.
Ich hing noch ein wenig in der Wohnung herum und badete in meinem Selbstmitleid. Was tut man, wenn plötzlich alle Pläne, die man geschmiedet hat, ihr Gültigkeits-Datum verlieren? Wenn von heute auf morgen alles anders ist und die Zukunft sich nicht mehr für einen interessiert?
Richtig. Man liegt auf dem Bett, starrt an die Decke und macht kleine Abstecher in die Küche, wo man sich mit der Schokolade verbündet.
Um elf war mir dann schlecht. Ich brauchte etwas Bitteres und einen Tapetenwechsel, in anderen Worten einen Kaffee bei der schönen Kellnerin von gestern.
Eine halbe Stunde später sass ich wieder an demselben Tisch, doch heute hatte ein grosser, hagerer Kellner, der mein Vater hätte sein können, Dienst. Ich bestellte einen doppelten Espresso und blätterte dann eine Weile in einer Tageszeitung rum. Dann, zeitgleich mit meinem Espresso, tauchte der Mann mit dem Waldhorn wieder auf. Er setzte sich an den Tisch, wo gestern der Student gelesen hatte und bestellte sich laut aber nicht unhöflich einen Pfefferminztee.
„Très bien, Monsieur le docteur ...“, antwortete der Kellner, der den Gast zu kennen schien.
Überall Ärzte, dachte ich frustriert.
Ich horchte in die Stille meiner Gedanken, um den rettenden Gedanken zur Lösung meiner Situation nicht zu verpassen. Leere.
Der Arzt nahm sein Waldhorn wieder hervor und pustete in das Mundstück. Er nickte dem Instrument zu und murmelte leise etwas vor sich hin.
War der Typ wirklich Arzt, fragte ich mich, oder irgendein Halbverrückter mit zu viel Zeit? Wer, ausser abgelehnte Studenten wie ich, konnte es sich schon leisten an einem normalen Wochentag im Kaffeehaus zu sitzen?
Der Mann interessierte mich, vielleicht nur damit ich mich von meinem missglückten Leben ablenken konnte, aber irgendwie kam er mir bekannt vor - nicht nur, weil ich ihn gestern schon gesehen hatte. War er vielleicht ein bekannter Schauspieler in einer der Ärzteserien, die ich mir früher angeschaut hatte? Woher kannte ich sein Gesicht? Ich konnte ihn nirgends einordnen.
So nippte ich immer wieder an meinem Kaffee, um in den Momenten, wo er wieder sein Waldhorn polierte, zu ihm hinüber zu schielen. Ich war mir nun fast sicher, dass ich den Mann kannte. Weniger sein Äußeres als seine Ausstrahlung waren es, die mir bekannt vorkamen. Die Kleidung, die er trug, war schlicht, aber irgendwie gestylt: schwarze Jeans, dunkelblaues Jackett, ein weißes Seidenhemd. Dass er keine Krawatte trug, gab allem eine legere Note.
Dann war meine Espressotasse leer. In dem Moment schaute der Mann in meine Richtung, lächelte mich kurz an und zeigte mit seinem Finger auf meine Tasse.
„Tu prends un autre?“, fragte er mich.
Wieso fragte ein wildfremder Mann mich, ob ich noch einen Kaffee wollte? War das seine Revanche, dass ich ihn und sein Waldhorn so lange angestarrt hatte?
Ich schüttelte den Kopf. „Non“, antwortete ich, ging dann aber nicht weiter auf ihn ein.
Ich fühlte mich ertappt, wenn auch nichts Bedrohliches von ihm ausging. Das Gefühl von Peinlichkeit, überspielte ich, indem ich auf die Zeitung vor mir starrte. Mit meinem besten französischen Akzent rief ich dann den Kellner und bezahlte mit meinem letzten Geld, das ich von Gareth geliehen hatte, den Espresso. Bevor ich mich erhob, schaute ich schnell, ob mein vermeintlicher Bekannter mich immer noch im Visier hatte. Er schaute immer noch zu mir herüber und zwinkerte mir zu. Träumte ich? Um der befremdenden Situation zu entgehen, wandte ich mich dem Ausgang zu, nahm meine leichte Jacke von der Garderobe und ging zur Tür. Ich öffnete sie und als ich gerade hinausgehen wollte, geschah es: Er rief mich.
Das war der Anfang.
Mit einer klaren und kräftigen Stimme forderte er mich mit einem einfachen Monsieur zum Warten auf. Ich drehte mich um. Fragend schaute ich ihn an. Einerseits wusste ich schon damals, dass es wohl so hatte kommen müssen, andererseits hatte ich nicht die schlichteste Ahnung, was der Fremde von mir wollte.
Wer kennt nicht diese eigenartigen Erlebnisse, die man Déjà-vu nennt? Es war zwar kein striktes Déjà-vu, aber etwas in mir wusste unmissverständlich, dass alles so seine Richtigkeit hatte.
Er blickte mich an, als wären wir seit Jahren engste Vertraute. Mit einer bestimmten Handbewegung hiess er mich warten, während er seinen Tee bezahlte und sein Waldhorn in einer hellbraunen Ledertasche verstaute. Dann kam er zu mir herüber. Er hatte ungefähr meine Größe, war schlank und bewegte sich elegant als sei er von Beruf Tänzer. Als er bei mir angelangt war, klopfte er mir kameradschaftlich auf die Schulter und sagte in reinstem irischen Akzent: „Let’s go.“
Dann ging er voraus.
2
Nareks wundersame Welt
„Das Wichtige im Leben kommt genau so auf einen zu, wie man auf es zugehen kann. Gewisse Ereignisse trifft man, ob man still steht oder ihnen entgegen eilt.“
Callineb Elwedig, Adnod 5
Meine Verwirrung war groß und ich trottete ihm nach wie ein Schaf seinem Hirten. Draußen blieb er unter dem Vordach des Eingangs stehen. Er musterte den Himmel, streckte die Hand in den Regen und sagte nichts. Nach ein paar Momenten brachte ich ein fragendes Ja? hervor.
Ich hatte instinktiv Englisch gesprochen und war jetzt verunsichert, daher schob ich ein Monsieur? nach.
Er drehte sich mir zu und sagte: „Ich denke, du könntest etwas Hilfe brauchen?”
Wieder sprach er Englisch, und es klang so ehrlich, dass ich leer schlucken musste. Ich verstand zwar hinten und vorne nicht, was er damit meinte, aber ich nickte. Wieso es leugnen?
„Es wird bald aufhören zu regnen. Lass uns warten.“, sagte er und begann fröhlich vor sich her zu summen. Ich wartete also mit ihm und paffte so lange an einer Zigarette. Doch innerlich war ich nicht ganz so cool. Wie will der Mann mir helfen, fragte ich mich still. Woher weiss er überhaupt, dass ich Hilfe brauche? Kann man mir denn noch helfen?
Nach einigen Minuten hörte es tatsächlich auf zu regnen. Die Sonne schaute hinter den Wolken hervor.
„Et voilà“, sagte er und freute sich anscheinend, dass seine Prophezeiung eingetroffen war. Ein spitzbübisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er schaute mich mit nach oben weisenden Händen an. Die Tatsache, dass ein erwachsener Mann, den ich nicht kannte, mich derart ehrlich anstrahlte, war ungewohnt. Und die Vorstellung, dass er ein Waldhorn mit sich herum trug, machte die Sache nicht weniger originell.
Mit einer gekonnten Drehung nahm er mich in den Arm und zog mich zielstrebig vorwärts Richtung Meer, welches von diesem Quartier aus in gut zehn Minuten Fußmarsch zu erreichen war. Man musste lediglich einige Straßen überqueren.
Ich lief also an seiner Seite und fühlte mich in dieser Situation einerseits deplatziert, andererseits seltsam zuhause. Dann schaffte er es, mich total zu verwirren.
Wir hatten zuhause in unserer Familie stets Irisch miteinander gesprochen und ich hatte erst in der Schule Englisch gelernt. Irisch ist eine der alten keltischen Sprachen, die nichts mit dem Englischen zu tun hat, und von Fremden nur schwer zu erlernen ist. Selbst in Irland gibt es nicht mehr viele Muttersprachler und die Sprache ist trotz den Bemühungen des Staates langsam vom Aussterben bedroht.
Ich war also wirklich verblüfft, als er mich diesmal nun auf Irisch fragte, wie viel Zeit ich zur Verfügung habe. Meine verschiedenen Welten prallten aufeinander und mir wurde ein wenig schwindlig.
Zunächst räusperte ich mich, bevor ich ihm dann auf Irisch antwortete, dass ich alle Zeit der Welt habe.
Er nickte zufrieden.
Verunsichert fragte ich ihn, ob er Irländer sei, was mir eigentlich fast als selbstverständlich galt. Aber weit gefehlt.
Er sagte beiläufig, er sei aus Armenien und ging dann nicht weiter darauf ein. Wir gingen an einigen Straßenkünstlern vorbei, wobei er mich mangels Platz losließ und voraus ging.
Ich betrachtete den Mann, dessen Name ich nicht einmal kannte, und trottete hinter ihm her. Währenddessen herrschte in meinem Kopf ein reger Jahrmarkt der Sprachen: Irisch, Englisch und Französisch, alles bunt gemischt.
Als wir die Straßenkünstler hinter uns gelassen hatten, wollte ich es dann aber doch wissen, schließlich war das Ganze zu eigenartig, um es einfach auf sich beruhen zu lassen.
„Woher sprechen Sie so akzentfrei Irisch?“
Er erwiderte, er würde mir gerne die ganze Geschichte erzählen, aber lieber später, wenn ich noch etwas warten könne, und wahrscheinlich würde sich die Frage von selbst beantworten.
„Das tun Fragen üblicherweise sowieso.”, fügte er an.
Ich ließ es dabei, um die Höflichkeit zu wahren, war aber neugierig und schon mit heftigstem Spekulieren beschäftigt, als vor uns das Meer auftauchte und uns mit einem Windstoß begrüsste. Anfang Oktober war der Tourismus fast vorüber, und der Hafen von Marseille machte einen nicht ganz so hektischen Eindruck. An manchen Stellen standen ein paar Fischer herum und vereinzelt sah man Möwen, die auf dem Asphalt nach Fischabfällen suchten.
„Wie soll ich dich nennen?“, fragte er mich und betrachtete mich aus seinen für einen Armenier viel zu irisch - blauen Augen.
„James“, antwortete ich, fand die Formulierung der Frage aber etwas fremd.
„James Tannot, heisse ich. Und Sie?“
„Narek Altounian. Das ist ein armenischer Name, schwierig?“ Wieder dieses kindliche Lächeln.
„Kein Problem“, sagte ich und sprach den Namen nach, so gut ich konnte.
„Also, James, darf ich dich zum Mittagessen einladen, da vorne?“ Er zeigte auf ein Restaurant weiter vorne.
„Gerne“, erwiderte ich.
Das war der Zeitpunkt gewesen, wo ich die Situation nicht mehr so sehr hinterfragte, sondern mich einfach fügte und die Dinge geschehen ließ. Der Gedanke, dass das alles recht ungewöhnlich war, stieg seltener in mir auf. Vielmehr kam es mir wie logisch vor, dass ich mit Narek Altounian essen ging. Warum auch immer.
Auf dem Weg zum Restaurant fanden wir ein gutes Gesprächsthema. Wir beide liebten das Meer leidenschaftlich. Ich vor allem die Weite und das Gefühl der Grenzenlosigkeit, als auch die Frische; er schwärmte vom Rauschen der Brandung.
Beim Restaurant angekommen, öffnete er die Tür und der Duft von Pfeifentabak kam uns entgegen. Wir setzten uns etwas abseits an einen Tisch und warteten auf die Bedienung, die auch schon bald erschien.
Eine rundliche Frau, Mitte fünfzig, brachte uns mit einem freundlichen Lächeln die Karte, wobei sie aber nur Narek im Visier hatte. Sie kennt ihn, dachte ich, und da fing sie schon an, in starkem Dialekt auf ihn einzureden. Ich verstand nicht allzu viel, es ging mir zu schnell. Dennoch entging mir nicht, dass sie ihn andauernd „Monsieur le Docteur“ nannte. Ich hielt mich zurück, da sie sich anscheinend besser kannten, und dabei kamen wieder vermehrt Zweifel in mir hoch.
Wieso sollte ein Doktor spät am Morgen in einer Kneipe einen jungen, trostlosen Mann ansprechen und ihn dann auch noch zum Essen einladen, obwohl er ihn doch gar nicht kannte. Und wieso um Gottes Willen wusste er, dass ich Englisch sprach? Dass er dann vor allem Irisch mit mir gesprochen hatte, diese Frage stellte ich mir erst gar nicht, das hätte meine innere Fragerei zu kompliziert gemacht.
Während er mir die Karte gab und mir kurz zuzwinkerte, rief die Frau - wahrscheinlich die Chefin - einem Mann quer durch den ganzen Esssaal zu: „Max, le docteur est là, veng vite!“, worauf dann eben auch Max sich zu uns gesellte, und nun schien das Gespräch erst richtig loszugehen. Die drei lachten zusammen, wobei der Wirt immer wieder Nareks Hand nahm und sie tätschelte, während er sich immer wieder bedankte. Ich schaute dem Treiben zu und gab mir Mühe, lächelnd so zu tun, als sei ich mit von der Partie, bis sich Max und Madame schließlich verzogen und ich wieder mit Le Docteur alleine war.
Er fragte mich, ob ich schon was ausgesucht hätte. Die Frage hätte sich aber erübrigt, da ich die Karte noch gar nicht geöffnet hatte.
„Ich nehme eine Fischsuppe.“, improvisierte ich.
„Gute Wahl!“, war seine Antwort. Er begann die Karte zu studieren.
Kurze Zeit später hatten wir unsere Wünsche der Kellnerin mitgeteilt und er fragte mich, was mir auf der Leber herumkrieche, und wieso ich so deprimiert sei. Ich sähe aus, als ob ich schon seit Wochen nicht mehr getanzt habe.
Wieder, nicht wirklich der beste Vergleich, fand ich, aber ich wusste ja, auf was er mich ansprach. Und vielleicht war er ja wirklich Tänzer und fand Tanzen deswegen eher wichtig.
Ich begann kurz und ohne Details von dem Brief zu erzählen und wie er meine Zukunft ruiniert hatte. Ich berichtete über meine familiäre Situation, darüber, dass mein Vater für die meisten Behandlungen der Tiere nichts verlangte, da viele Bauern in Irland an chronischem Geldmangel leiden, und dass daher das Gehalt meiner Mutter für alles reichen musste.
Er hörte mir aufmerksam zu und stellte geschickte Zwischenfragen, so dass ich bald doch ausführlicher von meiner Großmutter und von meinem lang gehegten Wunsch, Arzt zu werden, zu erzählen begann.
Da ich dies alles auf Irisch berichtete, was zu verstehen ihm scheinbar gar keine Mühe machte, ließ ich auch meinen Gefühlen immer mehr feien Lauf und begann meine Verzweiflung wieder stärker zu spüren. Ich muss mich damals recht in meine ausweglose Situation hineingesteigert haben, denn dazu kam ein Gefühl der Verwirrung. So war es eine Erleichterung für mich, als das Essen serviert wurde. Das gab mir die Möglichkeit, wieder Abstand zu gewinnen und nicht als totale Memme dazustehen.
Ich tunkte ein Stück Baguette in meine Suppe und begann deprimiert zu essen. Die Suppe war kräftig mit Knoblauch gewürzt und schmeckte gut, doch das ganze Essen über schwiegen wir. Ich war in meine Gedanken versunken, und eine in mir aufkeimende Hoffnung malte sich aus, wie Narek, ein berühmter und reicher Arzt, mir gleich mitteilen würde, dass er meine Ausbildung finanzieren und mit seinen Beziehungen zur Uni dafür sorgen würde, dass ich doch noch an der Uni Marseille studieren durfte. Kurz, dass ich mir keine Sorgen mehr zu machen brauchte.
Er schien aber eher aus Prinzip nicht zu reden, nicht während dem Essen. Kaum war er mit seiner Suppe fertig, schob er den Teller beiseite und schaute mich an.
„Wieso willst du denn überhaupt Arzt werden?“, fragte er und blickte mir dabei scharf in die Augen. Ich überlegte eine kurze Weile. Ich hatte mir diese Frage selbst unzählige Male gestellt.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete ich, „es ist einfach wie ein Drang, als ob ich es tun müsse. Ich habe mich auch schon gefragt, ob ich mir dieses Gefühl nur einbilde, ob ich vielleicht innerlich einfach zu verbissen bin und deswegen von dieser kindlichen Lieblingsidee nicht loskomme. Aber ich kann mir so viele Gedanken darüber machen, wie ich will. Der Wunsch bleibt. Also nehme ich an, dass es der richtige Weg für mich ist und versuche ihn zu gehen. Aber jetzt scheint das Schicksal ja gesprochen zu haben. Deutlich. Denn wenn ich nicht studieren kann, hilft mein intensiver Wunsch ja auch nichts …“
Ich blickte Mitleid erheischend zu ihm hoch. Doch als ich realisierte, dass ich wie ein winselnder Welpe da sass, fing ich mich wieder und setzte mich etwas aufrechter hin.
Narek ließ mir zudem auch keine Zeit, die Verzweiflung zu genießen.
„Um was geht es denn in der Medizin? Deiner Meinung nach?“
Mit einer eindringlichen Strenge beobachtete er mich jetzt.
„Vielleicht um die Fähigkeit helfen zu können, dort Hoffnung und Hilfe zu spenden, mit Rat und Tat beizustehen, wo das Wissen und die Kraft der Mitmenschen aufhören …“, begann ich laut zu denken. „Ärzte müssen für mich Menschen sein, die wissen, was man wie heilen kann und wie man Krankheiten vorbeugen kann. Und dieses Wissen um die Zusammenhänge, das einem befähigt helfen zu können, zieht mich an, glaube ich.“
Er schwieg und statt auf meinen geistreichen Beitrag einzugehen, drehte er sich zur Theke und winkte Max zu uns an den Tisch. Max flog förmlich herbei.
Ob ich auch einen Kaffee nehme, fragte er mich. Ich bejahte, obwohl es erst knapp eine Stunde her war, dass ich den letzten gehabt hatte.
Narek drehte sich wieder zu mir. Das Verhör ging weiter.
„Also, das Wissen zieht dich an?“
Ich überlegte kurz. „Nein, es ist vor allem, dass man das Wissen anwenden kann. Wissens-Sammlerei ist intellektuelle Selbstbefriedigung, das machen schon genug viele Leute. Ich möchte helfen können, wobei da natürlich der Aspekt des Prestiges, den man dabei gewinnt, schon auch eine Rolle spielen mag, aber nur eine kleine Nebenrolle. Wie ich mich dabei fühle, wenn ich jemandem helfe, ist für den Patienten im Endeffekt nicht relevant. Das Helfen ist das Wichtigste, glaube ich.“
Narek nickte und es schien, als hätte er auch gerade etwas sagen wollen, da drang aus der anderen Ecke des Restaurants ein lautstarkes Gefluche zu uns. Der Lärm kam von zwei Männern mittleren Alters, die kurz davor waren, aufeinander loszugehen; beide ziemlich besoffen und aggressiv.
Zwischen ihnen stand jetzt Max, der versuchte, sie zu beschwichtigen. An ihrem Tisch saß weinend ein Mädchen mit langen zu Zöpfen geflochtenen blonden Haaren, etwa sieben Jahre alt. Noch bevor ich die Situation recht erfasst hatte, war Narek schon aufgestanden und schnurstracks zu den Streithähnen rüber gegangen. Er ging an ihnen vorbei, und setzte sich neben das Mädchen.
Ich sah ihm von weitem zu, wie er seinen Arm schützend um die Kleine legte und ruhig auf sie einsprach. Zuerst hatte ich gedacht, er wollte Max dabei behilflich sein, etwas Vernunft in die Kerle zu bringen, aber genau das tat er, indem er sich um das Mädchen kümmerte. Der eine, wohl der Vater des Mädchens, hielt inne und registrierte, dass seine Tochter weinte. Auch der andere war plötzlich nicht mehr ganz so streitsüchtig. Alle drei standen sie da, plötzlich seltsam still, und sahen Narek zu, wie er die Kleine tröstete. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ der Größere das Restaurant, während der Vater des Mädchens einfach nur herumstand. Es schien mir fast eine Ewigkeit zu dauern, bis Narek die Kleine endlich hoch hob und zu ihrem Vater trug. Er sagte ihm laut, so dass ich es verstehen konnte, sie habe etwas Fieber und er solle sie heim ins Bett bringen, und zu Max gewandt sagte er, dass die Rechnung der drei auf ihn ginge. Bevor er wieder zu mir kam, wünschte er dem Mädchen gute Besserung und legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. Ihre Blicke trafen sich kurz. Dann ging der Vater mit Tochter auf dem Arm, sichtlich ernüchtert, zur Tür und verliess das Restaurant. Narek erwähnte mir gegenüber kein Wort von dem Vorfall, als sei die Sache nicht der Rede wert.
Max brachte die beiden bestellten Kaffees und bedankte sich bei ihm, aber diesmal nur mit einem knappen Merci, dann ließ er uns wieder allein.
Ich wartete einen Moment, um sicherzugehen, dass Narek wirklich nicht über den Vorfall sprechen wollte und suchte nach einem geeigneten Wiedereinstieg in unser Gespräch. Um meine überaus große Neugierde endlich zu zähmen, fragte ich ihn schließlich, ob er Arzt sei, da alle ihn Le Docteur nannten. Ich dachte, das sei nach unserem Gespräch weder frech, noch unangebracht.
„Ja“, erwiderte er, und das war’s auch schon.
Dann setzte er wieder an, als hätte es nie eine Unterbrechung unseres Gedankenaustausches gegeben.
„Hast du dich denn schon mit Medizingeschichte auseinandergesetzt?“, wollte er wissen.
„Ein klein wenig …“, entgegnete ich.
„Ich frage nur, weil du eine ziemlich detaillierte Meinung über den Arztberuf hast.“
Ich verstand nicht ganz, auf was er hinauswollte, und fragte ihn, wie er das meine.
„Meinungen sind etwas sehr Gefährliches, wenn sie nicht auf Sachkenntnis beruhen. Das Wort Meinung kommt, wie du sicherlich weißt, vom altirischen Mian. Mian aber bedeutet letztendlich Wunsch. Das heißt, was du dir als Meinung bildest, wird dich prägen, weil Wünsche sich selbständig zu machen pflegen und uns beeinflussen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass du deine Meinungen gut fundiert auf Wissen baust und nicht auf Ahnungen beruhen lässt. Deine Wirklichkeit schränkt dich sonst arg ein.“
Ich konnte nicht nachvollziehen, was er gesagt hatte. Was mich aber doch wieder stutzen ließ, war seine enorme Kenntnis der irischen Sprache, die anscheinend sogar das Altirische mit umfasste. Das interessierte mich fast noch mehr als das Philosophische. Selten genug, dass die Iren wirklich fließend Irisch sprechen, aber ein Armenier, der es fließend spricht und sogar Altirisch beherrscht, nun ja, das ließ mir keine Ruhe. Ich kam aber nicht dazu, ihn nochmals zu fragen, denn er hielt mir einen längeren Vortrag über die Grundbedingungen des Arztseins. Äußerst aufschlussreich, fand ich. Der Mann schien eindeutig Ahnung zu haben.
Nach dem Vortrag bezahlte Narek die Rechnung und wir verließen das Restaurant. Wir gingen an den Yachten entlang, bei denen er immer wieder einmal stehen blieb. Es war offensichtlich, dass er das Meer und die Schifffahrt liebte und auch dort recht Bescheid wusste. Er berichtete begeistert von seinen Ferien, die er, als Zwanzigjähriger, an der Küste von Georgien verbracht hatte. Wir sprachen miteinander, als wären wir seit langem Freunde. Dabei war ich so sehr im Moment, dass mir die Selbstverständlichkeit unseres Gesprächs erst nachher aufging.
Er fragte mich, ob ich Fischerknoten machen könne. Eindeutig ein Thema, bei dem ich mitreden konnte, denn ich war oft mit Gareth im Segelboot seines Onkels vor Dun Laoghaire, einem Hafen in der Nähe von Dublin, gekreuzt. Das war unser Bermudadreieck, in dem wir ständig auf verschollene Dreimaster und längst vergessene Yachten trafen - unsere Fantasie trieb uns zu Seeungeheuern und zu sprechenden Walen. Kaum zu glauben, dass wir irgendwann den Schulabschluss gemacht hatten, waren wir doch immer in kindlich überbordender Vorstellungskraft unseren Abenteuern nachgegangen.
Knoten knüpfen hatte ich also wirklich gelernt und ich berichtete Narek von Palstek, Wiedehopf und Großer Klemme, als er mich unterbrach.
„Warum gibt es denn so viele Knoten?“, wollte er wissen. Mir war klar, dass er das wusste und keine alltägliche Antwort hören wollte, so wie: „Je nach Seildicke und Zugspannung, Festigkeit und Notwendigkeit des schnellen Lösens“. Doch einfach etwas dahinzusagen, um schlau zu wirken, war fehl am Platz, das hatte er mir schon klargemacht. Ich zuckte also mit den Schultern und sah ihn an.
„Die Knoten wollen doch alle das Gleiche, aber auf ganz verschiedene Art und Weise. Selbst wenn du nur drei beherrschst, kannst du schon ein Schiff takeln und vertäuen. Aber erst wenn du in jeder Situation den optimalen Knoten anwendest, bist du ein kompletter Segler. Mit dem wahren Arztsein ist es wie mit den Knoten.“
Er hatte ein Funkeln in den Augen.
„Und dann ist da noch so viel mehr zu lernen.“ Er machte eine lange Pause. Wir gelangten zu einem Parkplatz, wo Narek auf einen Austin Mini zusteuerte und ihn aufschloss. Er streckte mir die Hand entgegen.
„Sehen wir uns morgen wieder im Café?“, fragte er.
Ich wollte eigentlich noch weiter mit ihm umher ziehen, mehr hören, Fragen stellen und sicher sein, dass Le Docteur wirklich berühmt und reich sei und mein Sponsor werden wollte. Doch er meinte es ernst mit dem Abschied, daher sagte ich: „Auf jeden Fall!“, und schlug ein. Er stieg in den Wagen, ließ ihn an und kurbelte das Fenster runter.
„Ein Arzt muss Knoten machen können, aber zunächst sollte er wissen, auf welchem Schiff er gerade ist!“, sagte er.
Dann brauste er davon. Für einen Moment dachte ich, ich hörte aus dem Wagen den Klang seines Waldhorns und dann Narek, wie er irgendetwas schrie. Aber ich verwarf den Sinneseindruck sofort. Ich hatte so schon genug Verwirrungen erlebt mit all den Sprachen. Er fuhr davon, ein wenig sehr schnell, hatte ich den Eindruck.
Ich blieb noch einen Moment lang stehen und ließ die Begegnung in mir nachklingen, dann machte ich mich auf den Heimweg.
Je länger ich unterwegs war, desto weniger war ich mir aber sicher, ob diese Begegnung mit Narek überhaupt real gewesen war. Seltsam war es auf jeden Fall gewesen.
Am nächsten Morgen saß ich mit Gareth beim Frühstück. Ich hatte im Traum keine fliegenden Mediziner getroffen, sondern von einer schönen und intelligenten Frau mit hellbraunen lockigen Haaren geträumt. Doch trotz meines süssen Traums roch es am Morgen wieder intensiv nach Knoblauch, und ich beschwerte mich bei Gareth. Er aber hatte gar nichts mit Knoblauch gekocht, sondern Croissants gebacken und fühlte sich in seiner Würde als Bäckermeister angegriffen. Wir ließen deshalb das geruchsintensive Thema auf sich beruhen und ich schrieb das Phänomen einer Sinnestäuschung zu, was aber nicht einfach war, weil der Knoblauchgeruch konstant meine Nase herausforderte.
Ich genoss die Aussicht auf einen weiteren Tag in Marseille mehr als am Tag zuvor. Gareth bemerkte das natürlich und wollte wissen, warum ich denn so plötzlich wieder einen Sinn darin sähe, hier zu bleiben.
Ich hatte Gareth nur kurz davon erzählt, wie ich Narek getroffen und mit ihm unterwegs gewesen war. Aber die verwirrende Tatsache, dass ein Armenier mit mir Irisch gesprochen hatte, verschwieg ich, auch dass er irgendwas mit Medizin zu tun hatte. Da wollte ich erst mal mehr Gewissheit bekommen, was für eine Bekanntschaft ich da gemacht hatte. Aber eine Ahnung kam in mir auf, und zwar: dass ich so schnell nicht mehr auf Gewissheiten bauen können würde.
Den ganzen Morgen war ich mit Gareth unterwegs. Wir beobachteten die Einheimischen und Touristen und versuchten ihre Berufe zu erraten.
Gareth war ganz begeistert von seinem neuen Arabisch-Lehrbuch. Ich musste ihn immer wieder das Vokabular der ersten Lektion abfragen. Er war begabt im Sprachen lernen, musste ich neidlos anerkennen. Er hatte doch gerade erst angefangen und konjugierte doch schon diverse Verben ohne Mühe in der Gegenwart.
Nach dem Mittagessen trennten wir uns, und ich steuerte das Café an. Ich wusste ja gar nicht, um welche Zeit Narek da sein würde und wollte nicht zu spät kommen.
Er war noch nicht da. Und er kam auch in den nächsten drei Stunden nicht. In dieser Zeit las ich Le Matin und Paris-Soir, soweit es mein Französisch gestattete, trank zwei Café au lait und einen Tee und war kurz davor, Narek als Hochstapler und mich als Opfer eines begabten, aber geltungssüchtigen Arbeitslosen einzustufen. Um etwa vier Uhr kam dann aber die junge Kellnerin auf mich zu und fragte mich, ob ich James sei.
„Le Docteur lässt ausrichten, dass er leider aufgehalten wurde und Sie in einer Stunde am Hafen bei den Schiffen nach Château d’ If erwartet.“, sagte sie mit einer gewissen Hochachtung, als ob es etwas Besonderes sei, dass Le Docteur Verabredungen aussprach. Sie fragte mich noch, ob ich ihn schon länger kenne, und ich erzählte ihr kurz von unserem Treffen. Sie war nett, verblasste aber vor der jungen Frau aus meinem Traum, die ich schlicht atemberaubend gefunden hatte.
Ich bezahlte mit dem Geld, das ich diesmal Frau Hendrige ausgeliehen hatte und brach zum Hafen auf, wo ich Narek um etwa fünf Uhr in ein Gespräch mit einem alten Fischer vertieft antraf. Dieser gestikulierte wild und deutete riesige Umrisse an. Unsicher zeigte er abwechselnd auf sein Boot und dann Richtung Meer. Narek schien ihn mit wenigen Worten zu beruhigen, denn als sie sich verabschiedeten, bedankte sich der Mann und legte die rechte Hand auf sein Herz, um dann ruhig zu seinem Kutter zu gehen. Narek kam zu mir, begrüßte mich mit dem mir schon bekannten grossen Lächeln und entschuldigte sich für seine Verspätung.
„Es sind zurzeit erstaunlich viele alte Bekannte hier, da muss ich aufpassen, dass ich die Zeit nicht total vergesse.“ Und sogleich ging es weiter mit den Geschichten über Meer und Wind. Aus irgendeinem Grund nahm ich ihm seine Verspätung nicht übel, Zeit schien in unserer Beziehung keine Rolle zu spielen. Das erstaunte mich, denn wenn ich etwas nicht ausstehen konnte, dann waren es unpünktliche Leute. Nur bei ihm störte es mich damals gar nicht.
Wir schlenderten dem Hafen entlang und Narek schlug vor, einen Schiffsausflug nach Cassis und wieder zurück zu machen.
Wir waren die einzigen Gäste auf dem mittelgroßen Schiff, einem umgebauten Fischkutter. Der Kapitän und sein Hund begrüßten uns eher etwas steif. Man konnte nicht sagen, ob der Kapitän es mühsam fand Kundschaft zu kriegen oder ob er grundsätzlich einfach in die Welt blickte, als bestehe sie aus Zitronen, in die man beissen müsse. Dann ging die Fahrt aber los. Bald hatten wir den Hafen hinter uns gelassen.
Narek war gerade dabei, mir eine Geschichte von einem großen Sturm, den er auf hoher See erlebt hatte, zu erzählen, als er plötzlich innehielt und wie gebannt auf’s Meer hinaus zu starren begann. Er ging zum Hund des Kapitäns, der in unserer Nähe stand. Auch der Hund starrte gebannt auf dieselbe Stelle und bellte leise mit aufgeblähter Schnauze und langsam wedelndem Schwanz. Narek kniete sich nieder, streichelte das Köpfchen und sprach ruhig mit ihm. Ich ging etwas näher an die beiden heran. Tatsächlich sprach er in ernstem Ton mit dem Hund und dieser schaute abwechselnd zu Narek und zum Meer, wobei sein Schwanz jetzt schneller wedelte und das Bellen auch überzeugter wurde. Ich beobachtete, was mir nach einem intimen Zwiegespräch aussah, und suchte dann das Meer mit meinen Blicken nach irgendetwas Interessantem ab, das die beiden so innig beobachteten. Ich fand aber nichts Auffälliges, also stand ich da und wartete. Und wartete lange, denn das Gespräch dauerte. Schließlich klopfte Narek seinem neuen vierbeinigen Freund auf die Hüfte und dieser zog seiner Wege.
Narek kam zurück. „Welch interessanter Zeitgenosse.“, sagte er.
„Wer?“, wollte ich wissen.
„Der Hund.“
„Was hast du denn da draußen gesehen?“
Aber die Antwort, die ich erhielt, hatte ich nicht erwartet.
„Ah, einen wunderschönen Meerriesen, selten einen so großen gesehen.“
„Einen was?“, fragte ich ihn.
„Einen Meerriesen, eine eher seltene Erscheinung im elementaren Reich, aber umso beeindruckender. Ich dachte mir schon, dass er in der Nähe ist. Der Fischer vorher hatte auf seine Art auch schon von ihm gesprochen.“
Ich hatte richtig gehört. Wahrscheinlich hätte ich nicht viel mit dieser Aussage anfangen können, wäre da nicht meine Großmutter gewesen, die immer von Waldriesen gesprochen hatte.
Trotzdem war ich verdutzt und erstaunt. Narek schaute in unregelmäßigen Abständen immer wieder zu derselben Stelle aufs Meer hinaus. Ich natürlich auch, aber ohne viel zu sehen, was wie ein Meerriese aussah. Ich trat näher an ihn heran und wartete einen Moment. Dann begann ich ihm zu erzählen, dass ich als Kind auch glaubte, Riesen und Zwerge gesehen zu haben und manchmal sogar mit ihnen gespielt hatte.
Narek nickte unbeeindruckt.
„Meine Großmutter hatte immer gesagt die Ärzte müssten wieder lernen ihre Augen aufzumachen. Sie sprach manchmal von den Wiesengeistern, die man beim Heilen berücksichtigen sollte. Weisst du etwas darüber?“, fragte ich.
Narek blickte mich ernst an.
„Wir werden wohl noch dazu kommen …“, sagte er und ergänzte dann, dass das von mir abhinge.
„Was hängt von mir ab?“, fragte ich.
Wir setzten uns auf eine Bank mit Blick auf die Küste und der Kapitän fuhr nun mit voller Kraft voraus.
Narek holte aus: „Nun, du möchtest Arzt werden und so wie ich dich verstehe, kein normaler Arzt, sondern ein besonderer Arzt. An die Uni kannst du nicht, also brauchst du Hilfe, und deshalb hab ich im Café auf dich gewartet.“
Er beendete den Satz ganz selbstverständlich und sah mich an.
„Natürlich“, dachte ich und hatte noch nicht erfasst, was der irische Armenier, der mich immer mehr verblüffte, gesagt hatte. Und als es mir dämmerte, war ich so perplex, dass ich gar nichts erwidern mochte.
Karussell. Er hatte auf mich gewartet, um mir zu helfen?
„Der Brief der Universität ging in doppelter Ausführung raus, einmal zu dir und einmal nach Irland, zu deinen Eltern. Und weil deine Großmutter eine gute Freundin von mir ist, bat sie mich, dir meine Hilfe anzubieten.“
Mein Gehirn ratterte und versuchte zu verstehen, was er hier von sich gab.
„Aber meine Großmutter ist tot.“, warf ich ein.
„Ja, ich weiß, sie ist momentan anderweitig beschäftigt, deshalb hat sie ja mich gefragt, ob ich dir helfen könne.“
Logisch, wieso hatte ich nicht gleich daran gedacht? Wahrscheinlich hatte meine Großmutter den Hund als Kurier aus dem Jenseits geschickt, und Narek war in Wirklichkeit ein Meerriese. Nicht, dass eine allzu große Ironie in mir aufstieg, nur wurde es langsam etwas viel.
„Woher kennst du meine Großmutter?“, fragte ich ihn, denn ich dachte, dass ein paar Erklärungen mich nicht noch mehr verwirren konnten.
„Deine Großmutter war eine Studienkollegin von mir.“, sagte er.
Dass sie wahrscheinlich gute dreissig Jahre älter als er gewesen war, schien ihn keineswegs in seiner Aussage zu verunsichern. War ich auf einen Geisteskranken getroffen, der mich geschickt getäuscht und meine verzweifelte Stimmung ausgenützt hatte, um sich zu amüsieren oder sich zu bestätigen?
Ich ließ die letzten zwei Tage noch einmal an mir vorbeiziehen, um etwas zu finden, was mir Sicherheit in der Beurteilung meines armenischen Bekannten gab. Aber alles schien echt: die Kellnerin im Café, die ganz und gar nicht so tat, als wäre Narek verrückt, die Tatsache, dass er fließend Französisch, Englisch, Irisch und wahrscheinlich auch Armenisch sprach; weiter, dass Max und seine Frau ihn mit Monsieur le Docteur ansprachen. Alles Indizien, die darauf schließen ließen, dass er nicht verrückt war.
Ich schwieg und brütete, während er sich erhob und auf einem Bein einmal um die Bank hüpfte. War er wahnsinnig? Meine Großmutter hatte meines Wissens nach nie studiert, sondern ihr Wissen und Können von einem alten Mann in Wales gelernt. Und das wahrscheinlich zu einer Zeit, als Narek noch nicht einmal auf der Welt gewesen war.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nicolas David Carter
Cover: Liam Carter
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5178-6
Alle Rechte vorbehalten