Einer von den „Festen“ war er, das erzählt man sich noch jetzt an den Lagerfeuern, wenn die Plackerei und Mühsal eine Pause macht und die Sterne hoch und klar stehen zum Beispiel über dem Frankenland oder über Sachsen oder über den kaiserlichen Erblanden, man erzählt es sich kopfschüttelnd jetzt, wie man es früher ehrfurchtsvoll tat.
Ein Bauer war er, der Heinrich, einer von ihnen, einer, der vom Hof davonlief, als der Krieg ihm nicht mehr übrig ließ als Trümmer und erstochenes Vieh und zerschlagene Truhen und eine geschändete Frau, die er kopfüber im Mühlbach wiederfand, ins hakelige Gezweig der Uferböschung geschwemmt. Da war er 19 Jahre alt, in der Blüte seines Lebens und doch schon längst darüber hinaus, an jenem Tag, als das Tillysche Heer abzog aus seinem Dorf im Niedersächsischen, und er sich entschloss, ab jetzt mit zu fressen statt gefressen zu werden von den blutigen Zeiten.
Mit einem Trupp Pikeniere ging er, bekam ein Handgeld, weil er sich werben ließ von dem Hauptmann dieses zusammen gelaufenen Häufleins, Geld, das zu nichts taugte, weil die Münzen von Kippern und Wippern geschlagen worden waren, dafür aber mit lustigen Wappen protzten, die Heinrich noch nie gesehen hatte. Die Pieke, die er in die Hand gedrückt und der Harnisch, den er umgehängt bekam, waren von einem gefallenen Kameraden, ihm war’s egal, er zog nun mit dem gierigen Lindwurm, der sich von Nord nach Süd und von West nach Ost wälzte und schnell fiel er auf, weil er in jedes Scharmützel ging, wie er einst auf seine Felder zog, unbekümmert und gewissenhaft, er wich nicht vor der Mansfeldschen Reiterei und auch nicht vor den Feldschlangen des dänischen Königs. Keine Kugel streifte ihn, kein Dolch, kein Schwerthieb erwischte ihn, dabei war er regelmäßig vorn dabei, stakte durch das Blut der Unglücklicheren und brummte nur, wenn sein Kriegswerkzeug zerbrach, und er nach etwas anderem greifen musste, einem Holzstiel oder einem Beil im Getümmel, um nicht schutzlos da zu stehen.
Man begann zu munkeln, welchen Zauber dieser Piekenier im Tillyschen Gefolge wohl nutzte, denn ein heiliges Wundermittel musste es sein, das ihn unverwundbar machte. Man drang auf Heinrich ein, manchmal von hintenrum, manchmal ganz direkt und seine verdutzte Art, mit der er zuerst reagierte auf die Fragen, wie viel sein Geheimnis denn kosten würde, das machte ihn nicht sympathisch, war doch klar, dass er nur den Preis in die Höhe treiben wollte mit seiner naiv-tuenden Masche. Ob es eine Zauberformel sei oder eine Tinktur oder gar ein Splitter vom Kreuze des Herrn, wollte man wissen. Aber Heinrich blieb verstockt, stumm hockte er da mit seinem breiten Bauernschädel und wusste nichts als dümmliches Grinsen bei all der Insistiererei, schließlich kannte er sich nicht aus mit Magierkram, wollte nur seine Ruhe, seine Pflicht tun, war stets nur ein einfältiger Christenmensch gewesen und abergläubisch nur insofern, als es die überlieferten Regeln seines verflossenen Landmann-Lebens betraf.
Also schickte man ihn Kriegsweibel ins Zelt, Huren, die ihr Auskommen und ihren Schutz im Gefolge der Söldner suchten, sie sollten ihm hübsche Augen machen und mit blanken Brüsten und allerlei üppiger Weiblichkeit locken und ihm in einem schwachen erregten unachtsamen Augenblick das dringend benötigte Geheimnis preis geben lassen. Aber Heinrich griff nicht zu bei der fleischlichen Pracht, blieb unwirsch, in sich gekehrt, keusch, wand sich aus den fordernden fremden Armen, murmelte etwas von einem lebenslangen Gelöbnis, das er einst gegeben hatte und wollte nur an seinem Brot kauen oder sich am Feuer wärmen oder vor sich hin stieren. Das machte ihn umso suspekter, man sah in ihm Hoffart, meinte, er würde sich als etwas Besseres fühlen, aber mit Gewalt traute man sich schon längst nicht mehr an ihn heran, keiner der sich finden ließ, ihn im Schlaf mit einem Messer an der Kehle zu überraschen.
Anno 1629 dann, Heinrich war in das Wallensteinsche Herr gewechselt und hatte dabei die Pieke mit dem Musketier getauscht, belagerte man Stralsund. Drei Tage brandete die erbitterte Schlacht an den Festungswerken der Hafenstadt, Wallenstein höchst selbst war aus seinem Friedländischen angereist, den abtrünnigen Pommern Mohres zu lehren, drei Tage metzelte und zerfleischte und metzgerte es unter schönster Juni-Sonne, der äußere Mauerring war überwunden, die eingeschlossenen dänischen und schottischen und schwedischen Garnisonen schmolzen dahin, aber ebenso schmolzen auch die kaiserlichen Truppen, Hunderte lagen tot in den Gräben und Tausende schwärten verstümmelt auf ihren Wundlagern, so dass sich der oberste Heerführer seine Gedanken machte und seine Sorgen und die Schlacht abbrechen ließ und abrückte mit dem, was noch übrigblieb von seinen Mannen.
Heinrich war unter jenen, die mit abzogen, der einzige seines Fähnleins, was nun selbst den höheren Chargen auffiel, so dass er nicht mehr anders konnte als Antwort zu stammeln bei den bohrenden Worten seines Obersten. Heinrich wusste nicht, warum er ausgerechnet sagte, er hätte seiner Frau die Treue geschworen für ewig und halte sich daran, vielleicht sei es ja das, was ihn so fest mache, so unsichtbar für die feindlichen Waffen. Er wusste es tatsächlich nicht, drehte seinen Filzhut verlegen in den Händen, trielte vor Aufregung, sprühte Speichel bei jedem spröden Wort. Nach jener Raub- und Mordnacht, die sein Leben veränderte, war es das Einzige, was ihm Halt gab, der Gedanke an sein verflossenes Lebensglück an der Seite seiner Frau. Das erschien ihm einleuchtend genug als Grund für das elende Gewese, das man nun um ihn machte, denn was sonst sollte ihn unterscheiden vom Rest der Kreaturen, die kamen und starben? Ihm war es recht, als man ihn nach jener Befragung endlich ungestört ließ, die scheelen heimlichen Blicke von der Seite, die kannte er bereits, auch das Getuschel so manches Mal in seiner Nähe, auch, dass man sich im kriegerischen Treffen möglichst bei ihm hielt, so wie man ihn ansonsten eher mied.
Ein Jahr später war auch der ehedem so feste Heinrich, niedersächsischer Landmann und Pikenier und Musketier im kaiserlichen Heer des dreißigjährigen Krieges, tot. Still starb er an Auszehrung, wie man so sagte, ein heller Septembermorgen wollte gerade nahe Pasewalk aufziehen, da verröchelte seine Seele, und er blieb krummbeinig und grau eingesunken im Stroh liegen.
Was er in seinem letzten Lebensjahr nicht mitbekommen hatte: Dass seine Worte vor dem Oberst rundum Widerhall fanden, zuerst in seinem Regiment, späterhin auch in anderen, die Kunde von einem treuen, keuschen Leben, das fest, das unverwundbar mache, zirkulierte eine Saison lang, erreichte sogar Österreich, sogar Italien, die Ängstlichen, die Gepressten sahen in dem Rezept, bei Plünderungen nicht auch noch zu vergewaltigen, einen Weg, der sich einfach verfolgen ließ, um magische Kräfte zu erlangen. Und so waren die deutschen Lande für wenige Monate dank eines trauernden Mannes ein wenig weniger mörderisch.
Seien wir doch mal ehrlich, die Alte hat einen Haumich, einen ganz schwer an der Waffel, huckenhackendumm ist die, wackelt jeden Morgen ihre Runde durch den Ort, zum Fleischer Beck, zum Bäckermeister Kloten, auch zum Edeka spirrt sie buntgekleidet, kauft hier und dort und alles, was sie so meint zu brauchen für Zwei, jeden Morgen ihr Gang, zackzackzack, stolz und hoch erhobenen Hauptes, füllt ihr Tragetäschchen mit allerlei, Kaffee ist manchmal dabei, zwei Wecken und braunfrischduftendes Brot, ab und wann auch ein Glas Honig, italienische Cervelat immer, die mag er doch so gern, lächelt sie dann regelmäßig, schön ist sie anzusehen dabei, eine Schönheit hier in unserem Dorfe, das muss man ihr lassen, eigentlich eine Schande, ein mordsteufeliger Mist von nahem betrachtet, dass ausgerechnet die es treffen musste, dass ausgerechnet sie von Gottes Hand mit einem Dachschaden gesegnet werden musste, einem himmelhochjauchzenden Schaden ersten Kalibers, wenn man genau ist, läuft also rundherum, immer zur gleichen Zeit, wenn drüben die blitzernsilbernen Milchkannen vom letzten noch funktionierenden Bauernhof gefahren werden in aller Früh, klappert in ihren damenhaften Schühchen oder stolziert in ihren sommerluftigen Sandaletten die schmale Hauptstraße hoch und runter, prüft, redet mit den Katzen, die ihr tageslichtblinzelnd an der Tasche hängen, grüßt manchmal sogar mit artiger Geste, schaut sehr gepflegt, redet nicht viel, tagweis’ gar nichts, geht nach Haus dort oben im Neubaugebiet an der Streuobstwiese, ist verschwunden mindestens für einen Vormittag, reckt ihr Näschen dann wieder hervor, harkelt manchmal ein wenig im Garten, macht dann wieder ihre Runde, kauft ein für seine Leibspeise, immer das Gleiche, Bratwürste mit Kartoffelpüree und Feldsalat, immer und immer und immer wieder der gleiche Dreck, verschwindet und kocht und brät das Zeug, man kann es schon nicht mehr riechen in der Nachbarschaft, fragen Sie da mal an, die werden Ihnen was erzählen, dieses ewige Bratwurstgedünst, nicht einmal der Pfarrer konnte der was, hat es wieder und wieder probiert, auch nicht die wenigen hier im Ort, die noch Mitleid hatten und Hilfe anboten und sorgenvoll mit Ärzten kamen, mit Wunderheilern und Quacksalbern und Telefonnummern reichten von Organisationen in der Stadt, aufgegeben haben auch die irgendwann, verstanden die Welt nicht mehr, so etwas von halsstarrig und uneinsichtig und blöd verschlossen ist die, flötet bei jedem gut gemeinten Ratschlag nur Belangloses, lenkt ab, redet dann plötzlich von Astern im Spätherbst oder fällt ins Wort mit dem Hinweis, sie müsse den Wagen bald in die Werkstatt bringen, sanftmütig schaut sie dabei, gütig von oben herab, lässt nichts und niemanden an sich heran, zum Haareausreißen, sage ich, verflixt und zugenäht, geht stattdessen jeden Sonntag zur Kapelle, eine eigene Kirche haben wir ja schon lang nicht mehr, legt bündelweis Blumen vor das weiß gekalkte Mäuerchen, murmelt dann viel, das wissen alle, haben alle schon gehört, murmelt von Reisen, die sie noch mit ihm unternehmen möchte, das ist verbürgt, auch von Kindern, die sie bald haben will und für die doch einst das Haus gebaut wurde, singssangt die Namen, die sie ihnen geben könnte, schwelgt leis in Vorfreude, seufzt, wie schön gerade der Tag sei, erzählt, dass sie ihm etwas Aufregendes zum Geburtstag schenken wird, fragt, weißt Du noch? und fleht manchmal, sie nicht zu vergessen – dabei ist ihr Mann schon längst tot, verstehen Sie?, gestorben vor Jahren an einer Lungenentzündung, ein netter Bursche war das, wir haben ihn auch gemocht, aber ist das ein Grund, sein Leben wegzugeben, sie ist doch noch jung, könnte doch jeden haben hier, könnte doch neu anfangen – kapiere einer die Welt!
Der Mann neben mir ist Psychiater und zufällig ein Freund. Er nippt an einer Flasche Dinkel naturtrüb, lächelt kennerisch, tippt auf eine Klosterbrauerei irgendwo im Oberpfälzischen und kündigt einen gesalzenen Grand an. Die Karten fliegen, das Kontra bleibt aus, eine Zigarette verglimmt im improvisierten Aschenbecher, späterhin wird abgerechnet: Mit Vieren, Spiel Fünf, Bock und so weiter und so fort.
Im Zerdrücken der Kippe sagt mein Freund und Psychiater genießerisch, er müsse uns was erzählen. Das sei ihm in dieser Woche in seiner Praxis widerfahren. Eine Frau wäre dagewesen, so Mitte Dreißig, ihr erster Termin. Große Schuldgefühle. Die ganze Oper hoch und runter. Selbstanklage. Fehler im Umgang mit anderen noch und nöcher. Falsche Worte zu falschen Zeiten. Gefühlskälte. Täuschungen, Selbsttäuschungen vor allem. Sie sei ehrlich verzweifelt gewesen an jenem Nachmittag in seiner Sprechstunde, ihre Hände fahrig, das rote Haar strähnig, sie wüsste nicht mehr ein und aus. Einmal ihre Frage, ob sie rauchen dürfe. Er hatte nichts dagegen, so dass sie da saßen, Aug’ in Aug’ und schweigend minutenweise inhalierten, dabei bemerkte er, dass ihre Hände zitterten, ganz still und im Gegensatz zu ihren großen Worten, die manchmal künstlich verzweifelt wirkten.
Sie hätte ihn nicht mehr ertragen können und wollte ihn doch als Freund, als unverbindlichen Mann in notwendigen Stunden, da sie jemanden brauchte, der zuhört, nicht verlieren. Daher ihre Abwehr, ihr geschäftliches Auftreten von mal zu mal, ihr nüchtern-sachlicher Stil, um ihn zu kränken, um ihn auf Abstand zu halten, um ihn und seine dummen Gefühle zu ihr, die so lächerlich aus der Luft gegriffen wären und bemitleidenswert und dann auch wieder so hoffnungslos-abgrundtief-traurig verschwendet, zu ersticken. Sie hätte Probleme genug gehabt, was wollte da noch dieser Mann, den sie zugegebenermaßen einmal innig und über ein langes Jahrzehnt geliebt habe, aber das gäbe ihm noch lange nicht das Recht, diese Vergangenheit wieder herauf zu beschwören mit aller kindischen Macht. Berührungen hätte er sogar von ihr erfleht, erfleht in der widerlichst-beschämenden Art und Weise, was sie erst recht zurückzucken ließ, seine plötzlichen Hände an ihren Hüften, unversehens auf einer Party oder immer diese Nackenkraulerei. Er bemerkte nichts und verstand nichts. Dass sie nicht reagierte auf solche Annäherungen, dass sie kalt dabei blieb, dass es geduldet wurde, aber ohne Interesse, aber ohne Wohlgefühl. Das hätte er alles in seiner bodenlos-verliebten Schuljungenart nicht mit bekommen. Natürlich hat er gelitten, natürlich war selbst er nicht so blind, dass er nicht verstanden hätte, dass sie unerreichbar blieb, aber irgendwie, auf befremdend traumtänzerische Weise wirkte er in ihrer Nähe immer so, als ob ihn die Realität nichts angehen würde. Diese Ferne von jeglicher Bodenhaftung wäre ohnehin das Schlimmste gewesen. Terror im Kleinen. Nichts hätte man ihm recht machen können und wenn man ihn deutlichst seinen Platz verwies, dann kam er mit Vorwürfen daher, konnte ellenlang, nächtelang, quälendlang reden und immer wieder reden und sich im Reden im Kreis drehen und verheddern und verquaken.
Es habe sie auf Dauer gelangweilt, auch immer weniger berührt und die Fassade, ihm eine geneigte Freundin zu sein, fiel ihr schwieriger von Mal zu Mal bei all den sermonreichen Treffen, aus denen er sich offensichtlich immer beleidigter verabschiedete und stiller und in sich gekehrter und irgendwann einmal sogar dem Schicksal ergeben. Sie hätte gedacht, dass er es nun endlich verstanden habe, dass ihm ein Lichtlein aufgegangen sei, dass er akzeptiert hätte, wozu sie ihm reichlichst über zwei Jahre Nachdenkens Zeit gegeben hatte.
Aber sie habe sich getäuscht, er wäre losgelaufen, wahllos in die Fußgängerzone dieses norddeutschen Kleinstädtchens hinein, das doch vor Monaten in der Presse stand überall und hätte begonnen, auf Menschen zu schießen, auf Pärchen vorzugsweise, immer hinein in die maien-verliebte Zweisamkeit, sieben Männer und Frauen, Jugendliche sogar, seien dabei zu Tode gekommen, etliche schwer verletzt, wir haben ja davon gehört, er hätte gewütet und gewütet, späterhin, als die Kugeln ihm ausgegangen seien, traktierte er mit seinem Gewehr kolbenweise noch ein Schaufenster in seiner Raserei und vergaß augenscheinlich darüber ganz und gar, sich selbst zu liquidieren. Nun sitze er staatlich verwahrt in einem Hochsicherheitstrakt und könne nicht mehr wüten und sie nicht mehr mit Nähe quälen, aber dass er noch lebe, empfinde sie als Last und Versuchung zugleich, schließlich wäre er immer noch erreichbar.
Und dann sagte sie noch: „Er hätte sich erschießen müssen. Er hat es mit Absicht nicht getan. Das war seine Rache an mir.“
Wir sitzen in einer der vielen namenlosen Bars, haben gerade Zeit, reden über dies und das, während draußen bei geöffneten Türen stürmige Böen durch den sonnigen Tag treiben, dumpf dröhnend in den Dächern sich verfangend.
„Machen wir uns nichts vor. Zwischen Hoffnung und Erfüllung, da klaffen manchmal meilenweite Gräben“, sagt er mit blitzenden Augen. „Hoffnung ist die Philosophie für Schwache, für die Ohnmächtigen, für alle, denen nichts anderes übrig bleibt. Mit Hoffnung verdammt man zum Warten, zum Ausharren, zum Erdulden. Mit Hoffnung baut man sich unerreichbare Luftschlösser und ganz besonders gute Baumeister solcher Fata Morganen waren schon immer die Kirchen mit ihren Verheißungsreligionen im Gepäck. Im Jetzt leben? Ich bitte Dich, wer so denkt, stellt Ansprüche und anspruchsvolle Untertanen waren noch nie wohl gelitten. Dieses Jenseitsversprechen, dass wir alle irgendwann auf einem Wölkchen schweben und es uns endlich gut gehen lassen können bis in alle Ewigkeiten, wozu führt das denn? Zu nichts anderem als dass wir uns auch im Diesseits vertagen lassen, ohne aufzumucken!“
„Ja, Du hast sicherlich recht“, erwidere ich und wende zugleich ein. „Doch wer nicht hoffen kann, der gibt auch schneller auf. Wer nicht glaubt, dass sich etwas erfüllen kann, der wird sich auch nicht aufraffen, um tatsächlich etwas in Angriff zu nehmen. Wir müssen also glauben, um etwas zu schaffen oder etwas zu ändern.“
Vor der Bar eilen nun Kellner, um Sonnenschirme herunter zu klappen, Tischschmuck zu retten und Stühle aus den Windschneisen zu sortieren. Die Straße leert sich, so wie sich die Bar füllt mit vom launigen Wetter getriebenen Zufallsgästen.
„Glauben, glauben, glauben! Das ist doch nicht Dein Ernst“, ruft er mir nun etwas unwirsch ins Gesicht. „Wollen heißt die Zauberformel. ‚Ich will jetzt!‘, nur damit öffnest Du Dir die Tore zum Paradies. Alles andere ist doch nur das viel zitierte Opium, welches Dich einschläfert, bis Du im Grabe liegst. Wer sich auf den Glauben, auf die Hoffnung verlässt, für den ist der Sarg die Wiege der Freiheit.“
Ich spiele mit dem Aschenbecher, der vor mir auf der Theke steht, sehe ihn und mich in dem hinter den aufgestellten Flaschen an die Wand gehängten Spiegel, zwei melancholisch grau melierte Aufrechtsitzende, in Cordsakko und Rollkragenpullover mit den Accessoires der Arrivierten ausgestattet. Zwei, die etwas erreicht haben in ihren bisherigen Leben, die gesund sind, sportlich, souverän. Die zu genießen wussten, die freundlich behandelt wurden vom Dasein und die vor sich selbst sich nichts zu Schulden haben kommen lassen.
„Für welches Lebensalter bestimmt uns denn die Geburt?“, will er nun wissen. „Für welchen Augenblick, für welchen Abschnitt erziehen wir unsere Kinder, für welches Versprechen genau investieren wir denn unsere Zeit?“
„Seine Frage“, denke ich, „passt nicht zu unserem Spiegelbild.“
„Ist es nicht so, dass mit unseren allgemein verbreiteten Lebensentwürfen das Kind dem Jugendlichen, der Jugendliche dem Erwachsenen und der Erwachsene dem Alten aufgeopfert wird? Ist es nicht so?“
„Naja, von Opfer würde ich nicht gerade sprechen. Guck uns doch an. Wir hatten es bisher doch recht gut“, spreche ich nun meinen Gedanken aus.
„Aber das meine ich nicht! Es geht nicht um den Einzelfall, sondern darum, auf was unser Menschsein hier auf der Erde angelegt ist. Vergeuden wir mit Hoffen und Streben nicht unsere Existenz, unser Glück? Ich erzähle Dir dazu eine Geschichte, wir haben ja noch Zeit, oder musst Du los?“
Mein Kopfschütteln weist auch auf das aufziehende Schlechtwetter hin.
„Also, ein Junge kommt zur Welt, ein Einzelkind, wie sich später den enttäuschten Eltern offenbart, deren Ei- oder Samenleiter über die Anstrengung einer ersten Zeugung nicht hinaus kommen wollen. Der Junge, Ulf-Johann, wird daher noch einmal heißer und inniger geliebt, als wenn er nur einer von einer Reihe stolz behüteter Nachkommen gewesen wäre. Er avanciert im Augenblick seiner Geburt zum Prinzen der kleinen Familie, und so wie ein Prinz wird er in diesen Status eingesperrt wie in den berühmten goldenen Käfig. In ihn werden alle von Dir so gepriesenen Hoffnungen der Eltern projiziert, er soll eines Tages ihre Wünsche und Ansprüche erfüllen können. Sein Lebensweg soll sich mit Können und Leistungen und Erreichen für den Stolz revanchieren, den sein Vater und seine Mutter ihm täglich mit einer erdrückenden Wut schenken. Doch Ulf-Johann ist alles, nur eines nicht: Stark. Und so muss er sich mit freundlich-fester Hand führen lassen mit Geboten und Anregungen und Ermahnungen, die ihm wohl zu meinen scheinen und die ihn doch nur fesseln in herzlicher Fremdbestimmung. Er entlohnt diese Liebe den Eltern mit aufblühender tyrannischen Art und des allen Tyrannen zu eigenen Charakterzuges, der zynischen Verachtung.
Er wächst heran in intelligenter Unterwerfung, ohne eigenen Willen und ohne Gelegenheit, sich selbst im Augenblick zu spüren. Aber er häuft kleine auf größere Erfolge, wird Bester in der Schwimmschule, wird Klassensprecher, versteht es, gegen einen Haufen schönes Geldes einen Haufen unansehnlicher Sachen auf den örtlichen Flohmärkten zu verkaufen und zeigt List und Witz und Tücke bei der Übernahme einer Ortsgruppe einer liberalen Partei, zu dessen Vorsitzenden er sich als Geradeachtzehnjähriger krönt. Kurz, er zeigt all diese hoffnungsvollen Anzeichen, im späteren Leben einmal erfolgreich zu sein und bis es so weit ist, agiert er wie ein dressierter Affe.
Wie auch anders? Er kennt es ja nicht anders. Weiß nichts von Müßiggang und Seinlassen und Träumerei im Jetzt. Er kennt nur Zukunft, nur die Leiter, deren Sprossen unendlich in den Himmel ragen und dort mit einer unsichtbaren Belohnung locken. Und so wird er schließlich von einer Schweizer Elitehochschule am Bodensee mit offenen Armen empfangen, die so weit geöffnet wie es leider ihre zu füllenden Taschen tief sind. Trotz verbissener Anstrengungen seiner Eltern, ihm diese Universität finanziell ermöglichen zu können, muss er neben dem Studium der Wirtschaftswissenschaften einen Job annehmen. Er tut es gerne, diese kleine zusätzliche Mühsal, die ihn noch weiter entfernt von jeglicher Freiheit und Selbstbestimmung, weil er längst an sich und seine Aussichten glaubt.
So wie zu Hause sein von Arbeit gehetzter Vater und seine von Sparwillen gefaltete Mutter von ihm schwärmen, von ihrem Ulf-Johann. Ungefragt wird den Verwandten und Bekannten und den selten werdenden Freunden von ihm erzählt, seinem Fortkommen und seiner Berufung für Höheres. Mindestens Firmenlenker oder der kaufmännische Leiter einer renommierten Klinik würde er werden, ihr Sohn, ihr Ein-und-Alles, vielleicht sogar internationale Leviten in der Volkswirtschaft, gar großartige Preise einheimsen eines Tages.“
Er hebt nun sein Glas und prostet mir zu.
„Ja, hörst Du: Sie dachten immer und immer nur ‚eines Tages‘ und an die Zukunft ihres Sohnes, die sich so strahlend und sich so großartig abzeichnete dort hinten am Horizont. Den Horizont aber erreichte ihr Ulf-Johann nicht, eine kleine böse Tücke machte allem ein Strich durch die Rechnung. In dem Unternehmen, in dem der zum König bestimmte Prinz seinen Ferienjob tat, wurde er von einem schnöde umstürzenden Regal voller Milchfässer erschlagen… Die Hoffnung, der so angeblich beseelende Glaube, wurde hinweg geschwemmt von einem Schwall weißer, fettiger Brühe aus Hunderten von Kuheutern.
Und nun kommst Du.“
Sagt es und blinzelt mir schelmisch zu.
„Lumpig übers Ohr gehauen, das ist er damals. Richtig lumpendreist und fies.“
Sie bläst Zigarettenrauch kringelweis in blaues Geleucht, irgendeine Designerlampe, die da herumwirft mit kühlem Licht und sie hohlwangig aussehen lässt, spitzknochig, fiepsig.
„Schließlich war es nicht seine Schuld, was sollte er denn machen? Aber die Amis, die haben es ihn büßen lassen. Natürlich. Immer druff auf die kleinen Leute.“
Dabei hat sie nichts Kleinbürgerliches an sich, nicht im entferntesten, geschmackvoll sitzt sie in ihrer marinierten Küche, glänzend alles um sie herum, chromedelstahl-zinkig-zickig und der Wohlstand noch in jedem Pfannenstiel, noch in jedem italienischem Vorratsbehältnis, noch in den Spitzen der sortiert über der Spüle hängenden Korkenzieher und Weinflaschenverschlüsse. Eine Küche ohne Zufall und ohne Hinweis, dass hier auch gekocht würde oder zubereitet außer vielleicht eines Glases mit sprudelndem Kopfschmerzmittel.
Schließlich ist Megel ein Name, weithin bekannt, der für etwas steht, für Wirtschafts- und Bankenpolitik, für präsidiale Ämter in einflussreichen Verbänden und für ein saturiertes Bankenhaus noch immer in Familienbesitz, das zumindest in Bayern und Österreich und Tschechien und auch in der Schweiz mit gewissen Dependancen einen wohlklingenden Namen besitzt bei Ungenannten, die ihr Geld eher unauffällig anlegen lassen möchten.
„Er hätte es natürlich merken müssen, aber dazu war er gottgewollter Weise immer zu naiv, irgendwie zu vertrauensselig“, sagt sie und unterbricht sich mit Handreifgeklimper und einem Blick, der nachzuschmecken sucht, ob nun gottgewollt oder naiv unpassend wirkt im Zusammenhang mit seiner Person.
Denn ich, der ihr gegenüber sitzt, manchmal auch steht und hastig Schritte macht durch das aufgeplusterte Küchenmobiliar einer Bogenhausener Jugendstilvilla, wusste längst, was mir diese gutbeschälte und lustig plappernde Witwe da auf das Butterbrot schmieren will.
Ein Bild, das sie schon ewig zeichnet in studierter oder über die Jahre hinweg mittlerweile selbst geglaubter und mit charmantem Lächeln verteidigter Pose. Das Bild ihres lieben, guten, leicht tölpelhaften Gatten, der vor etlichen Jährchen das Zeitliche gesegnet hat. Dass er noch einige weitere Jahre davor im großdeutschen Reich zu viel Geld gekommen war, welches er Immobilien- und Unternehmensanteilsweise der jüdischen Prominenz abzupressen wusste, das bleibt nur ein Vorwurf, ein haltloser noch dazu und ruft bei ihr Augenblinzeln hervor und eine gekräuselte Stirn und ein ironisches Lächeln.
„Ich muss es doch wissen. Oder meinen Sie, er wäre sonst nicht auch nach Argentinien gegangen? Wie all die anderen, die sich dann eingerichtet haben auf Rinderfarmen, mit Geld und Gold, das ihnen der katholische Nuntius über spanische Schleichwege noch extra eigens nachschicken ließ!“
Das müsse mir doch einleuchten! Hätte er sich schuldig gemacht, ihn hätte doch nichts gehalten in diesem deutschen Trümmerfeld, in diesem hunger-und-bomben-zerfressenen Land, das grau und staubig und perspektivlos dalag trotz bedingungslosem Kapitulationsfrühling.
„Also, so naiv war er dann auch nicht. Wenn er sich wirklich an die reichen Juden heran gemacht hätte und sie vor ihrem Exil noch bedrohte mit allerlei Schnickschnack, was man ihm ja anhängen wollte noch und nöcher, dann wäre er doch erst recht untergetaucht. Dass die alle zurück kommen und noch mächtig genug sein würden, um sich an ihm schadlos zu halten und sich zu rächen, das war doch sonnenklar und menschlich erst recht und das hätte selbst er sich an allen fünf Finger abzählen können.“
Aber er ist geblieben und das sei allein doch schon Hinweis genug für seine Unschuld. Und sie schaut dabei, als ob ich nun in ihrer argumentativen Falle steckte, zappelnd, hilflos, nach Luft schnappend wie Schollen in dänischen Fischerbooten oder märzliche Singvögel, die in den Fangnetzen der Norditaliener als Delikatesse ihr Leben aushauchten.
Ich dagegen überlege nur, ob sie ihn mit dieser Sturheit und Unnachgiebigkeit verteidigt, weil sie ihn als Menschen immer noch liebt oder als das, was er als Vermächtnis zurück ließ, ein großes Vermögen. Das Megel-Vermögen, wie auch heute noch nach ungezählten Jahren seines Ablebens in Journalisten-Deutsch apostrophiert wird. Und von dem immer noch nur eingeweihten Kreise zu wissen scheinen, woher es stammt.
„Damals mit meinem Mann, das war doch so. Der war Treuhand bei der bayerischen Landesbank, ein reiner Verwaltungsposten, den hatte er auch schon während der Weimarer Republik inne. Der war politisch überhaupt nicht interessiert, geschweige denn engagiert. Den hat man ausgenutzt. Der olle Weber, dieser versoffene Bauernlümmel, vorneweg. Den hat es mit den Nazis ja ganz nach oben gespült hier in Bayern, der hat immer damit geprahlt, dass er einer der ganz wenigen sei, der den Hitler duzen durfte. Ein richtiger Zuhälter-Mensch, das war der Christian Weber, einer, der nur auf Geld aus gewesen ist, schon beim Putsch von ’23 ist der nicht mit marschiert, sondern mit Partei-Lastwagen ab zu prallen Tresoren, um dort zu kassieren mit vorgehaltener Waffe und neuen Staatsmacht-Allüren. Und als der dann wirklich im Sattel saß ab Dreiunddreißig, ist er eines Tages zu meinem Mann gekommen und hat gesagt, es wäre ja nun einmal allgemein bekannt, dass die Juden raus müssten aus Deutschland, die Allgemeinheit aber nie und nimmer bereit wäre, diesen Geldsäcken auch noch eine lustige Schiffsreise zu finanzieren, das waren die Worte vom Weber. Wenn die schon nicht bestraft würden für ihr jahrhundertelanges Schmarotzertum am deutschen Volk, dann sollten sie wenigstens finanziell bluten, das sei abgemacht und besiegelt von oberster Reichsstelle. Was hätte mein Mann denn tun sollen? Saß da plötzlich der Münchner Gauleiter in seinem Büro und schwadronierte von Anweisungen und drohte auch ein bisschen mit guten Kontakten zu Göring und noch weiter hoch hinaus.“
Für seine Funktion des Treuhänders von eingezogenem Judenvermögen wäre dem Megel dann eine eigene Stabsstelle beim bayerischen Innenministerium eingerichtet worden, um ihn besser kontrollieren und unter Druck setzen zu können, versicherte die Witwe. Nur deshalb sei er so eine Art Staatssekretär geworden. Und natürlich hätte er, ihr armer verflossener Mann, mit den Juden verhandeln müssen, der Weber und seine Brut, die wären fein im Hintergrund verblieben, ganz unsichtbar.
Aber was hieß da schon verhandeln? Nur wer einen bestimmten Prozentsatz seines Vermögens in die Treuhand des bayerischen Staates gab, dem erlaubte man das ungeschorene Exil.
„Mein Mann musste auch schon einmal Andeutungen machen, das hat man ihm aufgetragen, damit besonders interessante Transfers schneller abliefen, reibungsloser. Das hat man ihm später vorgeworfen, immer wieder, dabei saß er doch selbst im Schlamassel. Meinen Sie, das hätte er freiwillig gemacht? Und dann kam eines Abends ein Telefonanruf, daran erinnere ich mich noch genau, wir wollten eigentlich in die Oper, Aida wurde gegeben, und wir waren mit Freunden verabredet, aber dazu kam es nicht. Der Weber meldete sich kurzfristig an, wollte mit meinem Mann unter vier Augen sprechen. Was meinen Sie, was für ein Anliegen der hatte? Ein extra Konto ließ der sich einrichten von meinem Mann, auf das ein Teil des transferierten Vermögens abgezweigt wurde an der Parteileitung vorbei. Dazu musste mein Mann in den offiziellen Büchern die Taxierungen der jüdischen Werte herabsetzen, der Überschuss ging dann direkt an den Weber. Der hat damit seine aufwendigen Spielchen bezahlt, Sie wissen schon, die Nächte der Amazonen mit nackigen Reiterinnen und sein ganzes sündhaft teures Gestüt, der war doch so ein Pferdenarr und irgendwie abartig im Umgang mit Frauen und großmannssüchtig. Meinem Mann hat er gedroht, dass man in Berlin keinen Spaß verstünde, wenn das Doppelgeschäft herauskäme, denn da stünden dann ja nur die Unterschriften vom Megel, aber nicht vom Weber, das hat er wohl ziemlich listig meinem Mann ins Gesicht geplaudert und so ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als mit zu machen bis zum Schluss für nichts und wieder nichts, denn das ganze veruntreute Geld ist in die Weber-Taschen geflossen und ändern konnte er auch nichts. Was hätte er denn machen sollen? Man hatte ihn auf diesen Posten gesetzt und ihm blieb keine andere Wahl. Aber dass die Amerikaner ihn späterhin auch noch dafür verurteilten, das finde ich infam. Nur weil sie den sauberen Herrn Weber nicht mehr belangen konnten und alle anderen aus seinem Dunstfeld sich aus dem Staub gemacht haben.“
Eine alte Geschichte, denke ich, alles bekannt schon lang, denke ich, wofür hält die mich?, denke ich, der Megel ist doch nur auf Bewährung verurteilt worden, läppisch, denke ich, wieso dieser Gerechtigkeitsfimmel, denke ich, steinreich ist der Megel geworden, das muss ja irgendwoher gekommen sein so plötzlich nach dem Krieg, denke ich, dieses süße, dieses betroffene, dieses gekünstelte Herauswinden, denke ich, ich müsste ihr über den Mund fahren, harsch und böse und ihr die geschmeidigen Ohrringe aus den faltigen Läppchen reißen, denke ich, alles bezahlt auch mit meiner Familie Leben, denke ich, diese Grande Dame, wie sie da sitzt mit ihrem Rotwein und der Zigarettenspitze, man müsste ihr die Fresse polieren, denke ich, dass sie aufwacht aus ihrem Geplapper und endlich einmal etwas Gewissen an sich heranlässt, denke ich, was interessiert mich der Weber? und auch der zu Staub zerfallene Megel-Leichnam interessiert mich nicht, denke ich, der Mann hat sich später in den KZs doch noch an ganz anderen Sachen vergriffen, denke ich, natürlich nur fein von seinem Ministerialsessel aus, denke ich, sie soll endlich aufwachen oder ihr Spiel aufgeben und wenigstens etwas Wahrheit an sich heranlassen, denke ich, bevor auch sie ins Gras beißt, lang kann es ja nicht mehr dauern und dann ist es zu spät, denke ich.
Und was mache ich nun? Das war doch niemals so vorgesehen, dass ich jetzt hier stehe, ausgerechnet hier, ausgerechnet in der ersten Reihe und neben mir der Clasen mit seinen so vorschriftsmäßig geschnittenen Haaren. Der macht sich jetzt keine Gedanken, da verwette ich die Laube meiner Eltern drauf, der freut sich wahrscheinlich sogar, dass endlich einmal was los ist.
Aber ich? Ich wollte doch immer nur meine Ruhe. Mein Gott, wenn mich die Bettina jetzt sehen könnte, die würde mich vorwurfsvoll angiften in ihrer immer so verzweifelten Art, da wette ich. Als ob sie in die Zukunft gucken könne und es deshalb vorher schon längst gewusst hätte, so, haargenau so guckt die jedes Mal, wenn etwas schief zu gehen droht. Mit diesem zynischen Mund, den nur sie so formvollendet dünnlippig hinbekommt. Ich habe es Dir schon damals gesagt, immer wieder habe ich es Dir vorgebetet, aber Du wolltest es nicht hören. Mit gehangen, mit gefangen. Wer sich die Suppe einbrockt, muss sie auch selbst auslöffeln. Solche Sprüche darf man sich dann anhören, immer dann, wenn man keine Sprüche, sondern Trost oder Ratschlag hören mag.
Das war auch so, als unser Michael plötzlich die Meningitis bekam, wie aus heiterem Himmel fieberte und schrie vor Schmerzen in seinem Köpfchen und sich übergab und der Arzt etwas von verschleppter Mittelohrentzündung murmelte, von Hoffnung und Antibiotika und lebensbedrohlicher Lage und Daumendrücken, da hörte ich durch ihre Tränen auch nur Anklage, nur Vorwurf, nur Besserwisserei. Dass sie die Ohrenschmerzen nicht auf die leichte Schulter genommen hätte, aber ich, ich ja was von Verweichlichung faseln musste und dass echte Jungs das locker wegstecken und so in einem fort, ich mit meiner Besserwisserei, mit meiner Pseudomännlichkeit, meiner Überheblichkeit, mit meinem Gehabe und meiner Verantwortungslosigkeit im letzten Sinne.
Das ist ihre Masche. Immer nur alle Schuld bei mir. Erst alles laufen lassen, sich nicht in den Weg stellen bis auf schwaches Dauernörgeln und wenn es dann soweit ist, wenn sich das Schiefgehen abzeichnet, dann schlau daher reden. Als ob ich dem Michael die Meningitis gewünscht hätte! Und dazu ihre Tränen, jede einzelne eine einziger Salzsee voller Vorverurteilung und dazu ihr Schluchzen und ihr Heulen, welches reinstes Mitleid mit dem Jungen vorgab, und daher kein Mitgefühl mit mir mehr erlaubte.
Ach, Bettina, warum ich ausgerechnet jetzt an Dich denke? Ausgerechnet an Dich, die Du mir nun die geringste Hilfe wärst. Bewirb‘ Dich doch woanders, hattest Du gesagt. Du wirfst Dich weg. Du hast das Zeug zum Werksleiter, so gut wie Du organisieren und planen kannst. Mach‘ was anderes aus Dir, ich sage nicht etwas Besseres, das waren ihre Worte, nur etwas anderes und all das klingelt mir jetzt in den Ohren, völlig nutzlos, während der dämliche Clasen neben mir schon ganz aufgeregt ist, das kann man ja fast riechen, so freut der sich: Endlich was los! Der würde mir auf jeden Fall in den Rücken fallen, wenn ich mir jetzt was überlege, der wäre todsicher skrupellos. Auf einen mehr oder weniger käme es dem doch nicht an.
Und dann noch unser Chef Erdenthal, dieser Choleriker, bei dem brennen doch immer nur die Sicherungen durch, bei dem sublimieren sich Gedankenlosigkeit und Hormone in Schreierei und ausgemacht engstirniger Intelligenzlosigkeit. Was anderes als rot anlaufen kann seine Spießerbirne nicht, so ein dummes Vieh ist der, aber Vorgesetzter werden, das kann er. Typisch für dieses ganze beschissene System, in dem solche Erdenthals, die zu Hause keine zwanzig Schafe hüten könnten, die Verantwortung für zwei Hundert Menschen bekommen.
Ach, es ist wirklich alles verquer gelaufen in meinem Leben. Wenn der Erdenthal wenigstens irgendetwas Menschliches hätte, etwas, was mit sich reden ließe, wenn es darauf ankommt. Aber nein, ausgerechnet dieser Stiernacken, diese Fresse mit der schiefen Nase, so einen Parteisoldaten kriegt man vorgesetzt. Diesen verdammten Zinken hat der sich angeblich bei einer Kneipenschlägerei geholt, weil jemand gegen den Oberzampano geredet hätte. Jaja, Kneipenschlägerei. Jaja, Oberzampano. Der ist doch nur von der Treppe gestolpert, dieser olle Schluckspecht. Aber ist ja auch egal, was dieser Erdenthal gemacht hat, Fakt ist, dass der in dieser Situation jetzt der absolut Falscheste ist, den man sich vorstellen kann.
Mein Gott. Jetzt hört man sie schon skandieren. Wie das hallt! Das klingt richtig bedrohlich, wie ein Mann. Wie im Film, da klang das auch immer so. Wenn ich bloß wüsste, warum die auf die Straße müssen, da hat sie doch keiner hin beordert. Was wollen die überhaupt? Sollen die doch zu Hause bleiben, dann hätte ich jetzt nicht meine Bettina im Ohr mit ihrer zu Brei zerstampften Klagestimme. Und diesen stinkenden Hanswurst von Clasen neben mir. Der hat jeden Knopf einzeln poliert, was anderes kann der doch nicht, als akkurat wichtig zu sein.
Und überhaupt! Meine Bettina… manchmal denke ich, dass da ja wohl der Grundfehler liegt. Denn bei uns beiden ist kein Hauch von ‚Wie in guten, so in schlechten Zeiten‘. Bei ihr ist immer alles schlecht, alles-alles ist gegen sie und schrecklich falsch und die Welt überall genauso, wie sie es voraus gesagt hat, nämlich hintertrieben. Für Optimismus kein Platz, für Vorfreude und Daseinsbejahung auch nicht, und weil das so ist, muss ich starke Schultern für zwei haben, immer eine für sie und eine für mich. Anders herum geht das nicht, ich könnte sie auf Knien anflehen, dass sie mir doch auch einmal Mut einhauche, ein einziges Mal nur, jetzt beispielsweise, genau jetzt in diesem Augenblick, da man sie schon im Stakkato rufen hört, ein Ruf aus Tausend Kehlen, ein Ruf wie eine Urgewalt, und ich armes Würstchen hier am runden Eck, Angst schwitzend und mit verkniffenem Arschloch und völlig hilflos.
Darauf hat mich kein Lehrer vorbereitet, die Eltern nicht, keiner aus der Partei, auch keiner von den Oberschlaumeiern in all den Kadern. Man stolpert einfach so hinein in diese Situation, als ob man sich in den falschen Bus gesetzt hätte. Plötzlich fährt mich der sonst wohin, dabei wollte ich nur nach Hause, in meinen Feierabend, in mein kleines Leben.
Wie spät es wohl ist? Jetzt im November wird es ja schon früh dunkel. Vielleicht 20 oder 21 Uhr? Was würde denn passieren, wenn ich jetzt einfach ginge? Mit den Schultern zuckte und sagen würde: Was geht mich das alles an? Mein Michael wartet zu Hause und meine Bettina auch. Meine – haha! – und ich habe beiden versprochen, heute Abend noch das Fahrrad des Sohnemanns zu reparieren, da ist nämlich eine heftige Acht im Hinterrad, und die muss ich herausziehen, damit mein Michael morgen zur Schule kommt. Und das ist ja wohl allemal wichtiger, als hier zu stehen und zu warten, zu warten auf dieses vielbeinige Rufgetier, dem wir den Weg verstellen sollen, vielleicht mit den entschlossensten Mitteln.
Wer das wohl entscheidet? Der Erdenthal ganz sicher nicht, der kann nicht entscheiden, der kann nur schreien. Ob in der Runden Ecke jetzt jemand am Telefon sitzt und mit Berlin spricht? Und dieses ferne, anonyme Berlin dann ganz selbstbewusst und ruhig und mit größter Selbstverständlichkeit anordnet? So ganz ohne Hysterie und Vorwurf in der Stimme?
Ach, das wäre doch genau die starke Schulter, die ich jetzt bräuchte. Ein jemand, der weiß, was richtig ist. Unbedingt und einfach richtig. Ganz ohne Zweifel. Ganz ohne einen Unterton, dass man sich mit dem, was man gleich vielleicht tun muss, nicht mehr im Spiegel begegnen mag. Und wenn ich tatsächlich nun ginge? Ich könnte ja so tun, als ob mir schlecht würde. Das mit dem Fahrrad und mit dem Michael ist ja Quatsch. Das geht hier auch keinen etwas an. Und glaubt einen ja auch keiner. Aber eine Magen-Darm-Grippe, die erwischt einen doch überall. Da kann keiner was sagen. Wäre ja nicht einmal gespielt, so wie es in meinen Gedärmen rumort. Und wenn alles vorbei ist, und man mich Feigling nennt hinter meinem Rücken, na und? Wäre das so schlimm? Wäre ich dann weniger Mensch? Könnte ich dann schlechter Achten aus einem Hinterrad ziehen? Würde mir Michael bei Gutenacht-Geschichten weniger zuhören? Und könnte ich mir schlechter das Gejammer meiner Frau anhören? Wer weiß? Vielleicht würde die mir das erste Mal sogar beipflichten, mich in den Arm nehmen und mir ins Ohr flüstern, dass ich richtig gehandelt hätte, ganz richtig. Würde stolz auf mich sein. Würde mich so von unten angucken, wie man einen richtigen Mann anguckt, so wie es die Nachbarin, Frau Heribert, bei ihrem Mann macht. Die ist zwar ein bisschen trutschig, aber himmeln kann die und das braucht man als Mann doch ab und zu.
Gott! Was für Hirngespinste, die ich hier ausbrüte. Bettina und himmeln! Bettina und flüstern! Ich fall‘ doch immer wieder auf meine eigenen Fantasien herein. Hat alles keinen Sinn. Sowenig wie der Clasen und Erdenthal und Berlin. Ich muss mich konzentrieren, muss mich besinnen, was mir angeordnet wurde, muss mich nicht heraus denken aus Reih und Glied. Das macht alles nur komplizierter, das ist die ganze Wahrheit. Dafür ist doch Vater Staat da, dass der für einen denkt und später die Absolution erteilt und Schulter klopft und dem Erdenthal einen Urlaub am Schwarzmeer bei den rassigen Bulgarinnen verehrt und uns eine Woche Ostsee. Ist alles geregelt, alles pipapo fest gelegt und so einfach wie das Polieren von Knöpfen…
Was singen die? Das klingt doch wie die Internationale, oder? Ist das jetzt Hohn oder Wahrheit? Wollen die sich mit uns verbrüdern? Aber die stehen doch auf der anderen Seite, wie sollte das denn gehen? Wie stellen die sich das vor? Dass wir mitsingen, dass wir hier in Reihe und Glied mit schunkeln gar? Warum muss immer alles so kompliziert sein, warum ist nichts so, wie man es in den Schulbüchern und dann auf der Polizeischule präsentiert bekommen hat? Hier wir, die Guten. Dort der Klassenfeind, die Schlechten, die Wühler, die Gefährder, die Parasiten, die uns von innen aushöhlen, uns alle Erfolge missgönnen, uns alle Fortschritte nehmen und uns zurück stoßen wollen in die Knechtschaft.
Aber stehe ich denn freiwillig hier, bin ich jetzt nicht auch nur ein Knecht, zumindest der Knecht vom Erdenthal? Ach, was mache ich nur? Hätte ich mir doch früher Gedanken gemacht, jetzt ist es zu spät. Jetzt kommt kein klarer Gedanke mehr, kein Geistesblitz, keine Erleuchtung. Ausgerechnet die Internationale, da ist man ja zwangsläufig wie gelähmt, das ist einem doch jahrelang eingetrichtert worden, bei solchen Liedern den Kopf auszuschalten. Das kann kein Zufall sein, da steckt garantiert die planende Hand der kapitalistischen Geheimdienste dahinter. Wir sollen uns ins Sicherheit wiegen, natürlich, jetzt wird mir einiges klar, wir sollen glauben, dort kommen unsere Brüder und Schwestern anmarschiert mit lauteren Absichten, und wenn die nah sind, paff, reißen die ihre Masken herunter und werden uns überrennen, wahrscheinlich haben die Totschläger und Fahrradketten dabei und kennen kein Pardon. Ach was, die haben doch wohl auch richtige Waffen vom Klassenfeind erhalten, immer sachte in Diplomatenkoffern geschmuggelt aus der BRD zu uns, zur Buchmesse und so.
Die werden keine Skrupel haben, die nicht. Ob das viele sind? Das klingt jedenfalls nicht nach Hunderten, mehr nach Tausenden. Da können wir doch gar nichts ausrichten, da ist mein Magazin mit 32 Schuss doch schon leer, wenn die erste Reihe von denen bei uns ist. War ja klar, dass ich hier vorne stehen muss, um mich ist es nicht schade, werden die wohl gedacht haben, der ist immer so wankelmütig und grüblerisch. Aber komisch, der Clasen steht ja auch hier, den hätte ich aber oben in einem der Gebäude links und rechts des Rings postiert mit einem Maschinengewehr. Der wird garantiert nicht grübeln, wenn es darauf ankommt, der hält drauf, bis der Lauf überhitzt ist oder die Muni leer. Der Clasen ist zuverlässig in so etwas, mit Sicherheit. Der hat auch keine Bettina zu Hause und wenn der eines Tages hinab steigt, um sich die Radieschen von unten anzuschauen, war für den der heutige Tag ein Tag wie jeder andere. Was hat Tante Ulrike immer gesagt? Richtig: Selig sind die geistig Armen, denen gehört das Himmelreich. Hat da mal einer genauer drüber nachgedacht bei den Christen? Wollen die denn wirklich alle in den Himmel, wenn es da nur so wimmelt von Vollidioten und Schwachmaten?
Wir sind das Volk! , rufen die nun, da kommen die ersten auch schon um die Ecke gebogen. Was soll das heißen: Wir sind das Volk? Wieso die? Ich bin auch Volk, das steht ja wohl fest. Nicht einmal einen Trabbi haben wir, und in so einer schönen modernen Wohnung auf der Platte wohnen wir auch nicht und im Konsum steht Bettina auch wie alle an. Wie neulich, da gab’s doch Himbeermarmelade, richtig mit Früchten drin…
Aber was wabert jetzt Himbeermarmelade in meinem Kopf herum? Habe ich jetzt was verpasst? Sollen wir entsichern? Jetzt hat sich auch noch der dämliche Gurt verdreht, das ist doch Scheiße und bewegen darf ich mich auch nicht, könnte ja von den anderen als Panik gedeutet werden. Ach, mir ist alles egal. Sollen die doch kommen. Ich schieße in die Luft, dann werden die schon rennen und wenn es Tote gibt, kann ich nachher trotzdem noch in den Spiegel schauen, war ja nicht meine Schuld. Ich habe nicht gezielt drauf gehalten.
Wieso schwankt denn der Clasen jetzt so vom linken auf den rechten Fuß? Der ist doch wohl nicht auch nervös? In den würde ich nun gerne hinein schauen, nicht dass der dasselbe denkt wie ich. Wer hält uns dann die Meute vom Hals, wenn wir alle in die Luft ballern? Die werden uns dann ja in Stücke reißen, erbarmungslos, nur weil wir gutmütig waren. Aber wenn Berlin den Befehl gibt, müssen wir schießen, da führt doch nichts daran vorbei, sonst werden wir zur Rechenschaft gezogen.
Ist das jetzt eigentlich Krieg? Stehen wir unter Kriegsrecht? Droht uns bei Ungehorsam die Todesstrafe? Es ist zum verzweifeln, nichts weiß man, nichts jedenfalls von Bedeutung. Die beschissene Internationale kann ich mitsingen bis zur letzten Silbe, aber ob mich der Erdenthal hinrichten lassen kann, das weiß nicht.
Na toll! Ist das nicht der Pfarrer von der evangelischen Gemeinde da vorne? Wir sollen uns nicht provozieren lassen, hat man uns gesagt, und der Pfarrer ist ja auch nachgerade nicht als Gewaltmensch bekannt. Aber was weiß ich schon mehr als dieses Gerede, welches uns in den Polizeikasernen als Latrinenparolen erreicht hat? Da kann man doch nichts darauf geben. Vielleicht ist der Mann ja ein vom CIA angeheuerter Agitator. So haben es die Schweine doch auch in Vietnam gemacht und in Afghanistan, haben so lange aufgestachelt und Zwietracht gesät, bis sie ihren Krieg hatten. Wenn man das einmal früher wüsste, dann ließe sich so etwas im Keim ersticken, dann wäre jetzt vielleicht die letzte Gelegenheit, dem Treiben Einhalt zu gebieten und eine viel größere Katastrophe zu verhindern.
Wo bloß der Erdenthal bleibt? Die sind doch schon ganz nah und alles nur, weil die in Berlin es nicht geschafft haben, das Westfernsehen abzudrehen. Da hätte ich doch Störsender an der Grenze postiert, eine ganze Batterie und dann wäre da nichts von diesem kapitalistischen Zeug herüber gekommen und hätte die Sinne unserer braven Arbeiter und Bauern vernebelt. Aber mich fragt man ja nicht, ich muss jetzt nur meinen Kopf hinhalten.
Oh verdammt, die machen gar keine Anstalten, anzuhalten, die kommen immer näher, die rennen gleich los. Wieso sieht das denn keiner hier? Wofür haben wir denn die Knarren? Da! Da kramt doch schon einer in seinem Rucksack, der holt doch was heraus, das ist doch eine Wumme, das sieht man doch! Ich lass mich nicht abschlachten hier, ich nicht. Ich seh’s doch, die führen was im Schilde, singen die Internationale und skandieren harmlose Sprüche und fingern klammheimlich die Waffen raus. Noch dreißig Meter, noch zwanzig. Jetzt muss doch was geschehen! Ach Scheiße! Jetzt haben die uns am Schlawittchen…!
Was macht denn die Hand da vom Clasen? Was will denn der mit seiner Pranke? Was sollen denn diese Grobheiten? Da vorne steht doch die Meute! Was will denn der von mir? Ach so? Die steht, die Meute? Die macht gar nichts, die reden nur mit uns? Und was ist mit der Wumme aus dem Rucksack? Ach so, das ist nur ein Fotoapparat? Und was zischt mich der Clasen da an? Der soll mich in Ruhe lassen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll, aber so etwas von gestrichen! Was? Ich soll die PSM wieder weg stecken, aber schleunigst und unauffällig? Jetzt kapiere ich gar nichts mehr. Wie kommt die denn in meine Hand? Das Koppel war eben doch noch verdreht…
Glauben Sie, ich hätte das so gewollt? Glauben Sie, ich hätte mir ausmalen wollen, dass neben all der Trauer und dem Schmerz auch noch die Schmach kommen würde? Dass die Leute, die ach so wohl meinenden Nachbarn, die Gemüsehändler und Bäcker und Schlachter und sogar die Müllmänner, diese orangefarbenen Muselmänner, des Viertels mit Fingern auf mich zeigten und hinter meinem Rücken zu tuscheln begännen? Glauben Sie wirklich, so etwas wäre mir vor Monaten nur überhaupt in den Sinn gekommen?
Er schaut mich rundheraus an. Sein knittriges Gesicht ist unrasiert, die Bartstoppelchen zittern grau und nahezu unmerklich. Man sieht: Er weiß sich eigentlich zu beherrschen, lässt sich normalerweise nicht aufbringen, kennt seine Grenzen und sucht sie zumeist nicht zu überschreiten. Doch dies hier, dies geht über seine Kräfte.
Lau grün schwimmen seine Augen, die einst von Lachfältchen rundherum dort umschwirrt wurden, wo nun Lebensschwere sich hinein zeichnet und während er Luft holt zum Atmen und zum Überlegen, wie er sich rechtfertigen könnte vor mir und der Welt und den Nachbarn und den Händlern des Viertels, denke ich mir Mitleid und was man sagen könnte, um eben jenes auszudrücken.
Dann aber schlägt er, statt weiter zu sprechen, die Hände flach vor das Gesicht. Ich sehe ihn beben dahinter, jede Faser möchte endlich zerfließen, endlich sich auflösen aus Selbstbeherrschung und lang geprobter Gefasstheit, der Schmerz kämpft sich sichtbar nach vorn, gewinnt Oberhand, und seine Tränen werden hörbar durch stoßweises Ausatmen.
Dabei schmettern Buchfinken ringsherum ihre kräftigen Kurzmelodien und die Sonne haucht auf junges Baum- und Buschgrün, und wenn der Wind ein wenig ins Gezweig fährt, huschen Schattenspiegelbilder über die Wasseroberfläche zu unseren Füßen und am anderen Flussufer dämmern Stadthausfassaden in den Frühlingstag. Meine Hand legt sich auf seine Schulter. Mehr kann ich nicht tun, als nah und still neben ihm auf der Parkbank zu sein, wartend, dass es ihn nicht mehr schüttelt und krampft, und er weiter reden kann, von just dieser Bank, auf der wir nun sitzen und auf der er einst saß gemeinsam mit ihr, als sie sich kennen lernten.
Auch da gab es die Fassaden jenseits des Wasserbandes schon und wahrscheinlich die eine oder andere Weide, die ihre spitzigen Blätter hinab sinken lässt an elastisch-müden Zweigen, auch den Himmel gab es bereits und weiße Wolken, die vom Westen her heraufziehen, auch die Straße links, die in der Brücke mündet, welche seither schon mit emaillegrauen Geländer einen Bogen spannt von hier nach drüben und so manches Mal gnädig Ausflugsdampfer und Kohleschuten und Motorbötchen unter sich her dampfen oder tuckern oder ziehen ließ.
Lang ist es her, dass sie auf dieser Bank das erste Mal Händchen hielten, ganz aufgeregt und voller Freude schließlich, dass sie sich gefunden hatten. Goldene Hochzeitsspannen sind vergangen seither, und trotzdem ist der weiße Mantel mit den großen schwarzen runden Köpfen noch erinnerlich, wie bei einem Schneemännchen, weshalb er sie dann auch immer Schneefrau rief ein Leben lang, und auch ihr kastanienfarbenes Haar mit der weißen Schleife tänzelt noch vor seinen Augen und dass sie den Abend für sich hatten, das weiß er auch noch und dass sie sich schon am nächsten Tag küssten, weil sie es sich beide vorgenommen hatten, das haben sie später immer wieder erzählt.
In der Maschinenschlosser-Lehre war er, und sie ließ sich gerade zur Krankenschwester ausbilden, und als er bei den Hogarth-Werken drüben am anderen Ende der Stadt übernommen wurde, da gaben sie sich das Ja-Wort, ein Wort für ein ganzes Leben.
"Aber was heißt schon ganz?", fragt er mich unvermittelt. "Ganz waren wir doch nur gemeinsam!"
Und während er das sagt, streichelt er behutsam über die Bank und unten ziehen Stockenten vorüber, paddeln ruderfüßig gegen den langsam schweren Strom, werden vom Schatten der Brücke verschluckt, entschwinden.
Drei Kinder haben sie groß gezogen, alle wohl geraten. Die Älteste ist sogar Professorin geworden und die beiden Jungs haben sich jeweils selbstständig gemacht, der eine als Grafiker, der andere mit einem Ingenieurbüro. Das Schicksal meinte es gut mit ihnen. Viel gereist sind sie, er und seine Schneefrau, als sie die Kinder bei den Großeltern abgeben konnten und die finanziellen Verhältnisse es ermöglichten. Zunächst ging es nach Kalabrien, nach Istrien, nach Bornholm, später dann durch die Anden, durch die Rocky Mountains, zum Tafelberg. Da war er schon Prokurist und Werksleiter und trotz aller Arbeit fanden sie immer Zeit für einander, weil sie es so wollten, weil die Liebe es so wollte, weil die Sehnsucht umeinander es so bestimmte. Irgendwann gingen die Kinder aus dem Haus, eins nach dem anderen, die Rente kam, das Leben blühte in Herbstastern und trotz Weltenbummelei kamen sie wieder häufiger zu ihrer Bank, sahen Nebelgedünst gegen die Sonne und Jogger, die verbissen gegen sich anrannten und einmal eine kleine Schiffskollision mit einem der Brückenpfeiler.
Ruhig konnten sie dort sitzen und schauen und vertraut wie eh und je die Hände halten, bis eines Tages der Schmerz hinterrücks die Idylle überfiel, er nistete sich als glühender Schmarotzer in ihr ein, bohrte sich durch die Beine, von unten herauf, ließ ihr jeden Schritt zu Höllenfeuer werden, nahm die Tage und Nächte hinfort und brachte blanke Angst vor jeder neuen Attacke. Schmerzmittel halfen nur noch phasenweise. Ihr Krebs war unheilbar, denn die Metastasen zerfraßen ihr schon die Knochen. Sie konnte sich nur noch im Rollstuhl fort bewegen, und eines Abends bat sie ihn, sie zu ihrer Parkbank zu schieben.
Dort saßen sie dann noch einmal, und sie hatte eine Flasche Sekt mitgenommen und zwei Gläser und ein Frisör hatte ihr die Haare gemacht und sogar eine weiße Jacke hatte sie an, und sie lächelte neben ihm und dann erklärte sie ganz ruhig und wie selbstverständlich, dass sie heute sterben möchte und dafür seine Hilfe benötigte, denn sie schaffte es nicht mehr allein aus dem Rollstuhl über das Brückengeländer.
"Verstehen Sie? Sie bettelte nicht, sie fragte nicht einmal. Sie wusste einfach, dass ich ihr aus Liebe helfen würde, so wie wir uns im ganzen Leben immer beigestanden hatten."
Sein Gesicht ruhte nun wieder, die Hände lagen im Schoß, nur seine Stimme blieb brüchig und flattrig und schwach im Angesicht dessen, was nun kommen sollte.
„Wir nahmen also Abschied auf dieser Bank hier, ich hatte sie aus dem Rollstuhl gehoben, so dass wir noch einmal neben einander sitzen konnten, so dass wir noch einmal die Sonne schauen konnten, wie sie sich langsam zu den Häusern herab sehnte, so dass wir noch einmal unsere Arme umeinander legen konnten still und warm. Und manchmal flüsterte ich ‚Meine Schneefrau‘ und dann war es dunkel und der Sekt getrunken und die Straße über der Brücke menschenleer und schließlich sagte sie, dass es nun an der Zeit sei und dass sie im Jenseits dieses Dasein noch einmal führen möchte mit mir, so Gott will, und ich schob sie herauf, dorthin, wo die eine Laterne steht, sehen Sie? Dort hob ich sie aus ihrem Gefährt, sie war ja schon ganz leicht, ganz zärtlich hob ich sie auf wie einen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen war und sie strich mir noch einmal über den Kopf und dann sprang sie, war einfach weg, weg für immer. Nur ihr leerer Rollstuhl blieb am Geländer und ich daneben und ein Wind rauschte durch die Bäume, als ob sie mir noch einmal etwas zu säuseln würde. Ich hätte wahrscheinlich bis zum nächsten Tag dort gestanden, aber irgendwann hielt ein Autofahrer und fragte, was ich da tun würde. Ich habe es ihm gesagt, frank und frei und dass es schön wäre, wenn man meine Kinder benachrichtigen könne. Und dann fand ich mich auf einer Polizeistation wieder, gelblich war alles dort, gelblich vor allem das Angesicht des Beamten, der von mir alles noch und noch und noch einmal wissen wollte. Aber das war mir da egal, ich sah durch ihn hindurch und sah nur meine Schneefrau am Geländer und sah ihren rechten Fuß als letztes von ihr. Heute aber, nach Beweisaufnahme und Gerichtsverhandlung und Presse allüberall, nach heuchlerischer Anteilnahme und dogmatischer Aburteilung, nach all den Monaten, da sich niemand nach ihr und mir erkundigte, nicht nach den zwei Menschen hinter dieser Geschichte, sondern immer nur nach der Tat, nach den Gefühlen, die ich dabei gehabt haben müsse, nach Schuldigsein und Unschuldigsein – heute also wäre ich schon längst weggezogen, hätte sogar unseren ehemals gemeinsamen Hausstand aufgelöst und hätte Nachbarn und Metzgern und Müllmännern mit ihren verhohlen neugierigen Blicken Verachtung gezeigt. Doch es gibt etwas, was mich hier hält, was ich nicht verlassen möchte – und das ist diese Parkbank hier, auf der wir gerade sitzen. Denn hier bin ich nicht allein ohne sie.“
„Ich war nicht dabei“, lächelte er abwinkend, aber er habe alles recht buchstabengetreu vom Saint-Simon. Von Louis de Rouvroy Duc de Saint-Simon, genauer gesagt, Sohn des einstigen französischen Großjägermeisters, Offizier, liebevoller Ehemann und sich mit seinen Memoiren ein Denkmal setzender notorischer Fabulierer. Und der müsste es wissen, denn der war dabei gewesen.
In Heidelberg war das, irgendwann kurz vor dem Jahrtausend-Untergang, so ganz genau erinnert man sich ja nicht immer. Unser klapperdürrer Reiseführer stand zittrig vor der Schlossruine, alles roter Sandsteinfirlefanz und Renaissance-Ehemaligkeiten im Hintergrund, das weiß ich dann aber doch noch und auch, dass der spätherbstliche Wind das Männlein böig zittern ließ. Dabei war der nicht einmal 65 Jahre alt. Ich konnte gar nicht so richtig hinschauen, wie der sich abmühte, wie der sogar den Königsstuhl von unten herauf stakelte, nur um uns diese
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Tag der Veröffentlichung: 26.01.2015
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