Hibiko eilte die große Steintreppe hoch und schritt durch die Drehtür. Sie sperrte ihren Rucksack weg und ging dann weiter. Bücherregale zogen sich an beiden Seiten des Gangs entlang, bevor sie sich zu einem freien Bereich öffneten, in dem Tische aber auch Sessel und Sofa standen. In einer Ecke stand ein kleiner Kaffeeautomat und man konnte auch kleine Snacks kaufen. Die Luft war erfüllt von einem Duft nach Kaffee, der sich mit dem Geruch von alten Büchern vermischte. Sie liebte diesen Ort. Es war der Platz, an dem sie sich zurückziehen konnte und an dem sie all die schlechten Dinge auf einen Schlag vergaß.
In der Bibliothek war es still, man hörte nur die leisen Schritte zweier Leser, die zwischen den Regalen hin und her gingen.
Zielsicher begab sie sich in das Regal, in welchem Bücher standen, die nicht zur Ausleihe freigegeben waren. Sie wusste bereits ganz genau, wo das Buch stand, welches sie suchte, nachdem sie es in den letzten Tagen so oft gelesen hatte. Doch als sie sich auf Zehenspitzen stellte und danach greifen wollte, folgte die Enttäuschung. Das Buch war nicht da! Stattdessen griff sie in eine Lücke. Hibiko machte einige Schritte nach hinten, bis sie mit den Rücken an das gegenüberliegende Regal anstieß und sah hinauf. Tatsächlich, ihr Buch fehlte.
Sie sah sich um. Es waren so wenig Besucher da und dennoch hatte jemand von ihnen ihr das liebste Buch weggeschnappt. Sie machte wieder zwei Schritte nach vorne, ging die Bücher daneben durch und suchte sich schließlich ein anderes Buch aus. Damit würde sie sicher genau so viel Spaß haben. Die Bücher waren hier immerhin für alle da, da konnte sie ja nicht eines einfach für sich beanspruchen.
Hibiko ging den langen Gang entlang zu einem der großen Fenster, die die Bibliothek mit Licht fluteten. In den Fensterrahmen eingesäumt befand sich eine kleine Sitzbank mit weichem Polster. Dort saß sie am liebsten und las in einem der vielen tausenden Bücher, die sie in eine andere Welt entführten. In eine Welt, in der sie sie selbst sein durfte, niemand sie schief ansah, weil sie Klamotten trug, die nicht der neusten Mode entsprachen. Eine Welt, die sie an vielen Tagen der realen Welt vorzog. Eine Welt …
Sie verharrte, konnte ihren Augen nicht trauen. Nicht nur ihr liebstes Buch wurde ihre heute gestohlen, sondern auch ihr liebster Platz und als sie näher kam, sah sie auch von wem. Auf der Sitzbank saß Leikr, der Schwarm der ganzen Schule und die Person, die sie am meisten verabscheute. Sie verstand ihn einfach nicht. Er konnte jedes Mädchen der Schule haben, doch egal, wer ihm seine Liebe gestand, er lehnte sie alle ab. Sie wusste nicht einmal, was genau an ihm schön sein sollte. Er hatte kurzes gebleichtes Haar, trug ein schwarzes Hemd mit einer hell grauen Weste darüber. Dazu zwei dicke schwarze Nietenarmbänder um die Handgelenke. Von weitem konnte man ihn zudem an seinen großen, neongrünen Kopfhörern erkennen. Auch jetzt hatte er sie auf den Ohren. In einer Bibliothek!
Entschlossen stürmte Hibiko auf Leikr zu und zog ihm die Kopfhörer von den Ohren. Erschrocken wirbelte er herum und seine grünblauen Augen sahen sie fragend an.
»Was soll das?«, fragte er.
»Das hier ist eine Bibliothek. Ein Ort der Stille!«
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. »Du bist die Einzige, die laut ist«, sagte er mit einer ruhigen, tiefen Stimme.
Sie wedelte den Kopfhörer auf und ab. »Kopfhörer in eine Bibliothek? Wirklich?!«
Leikr streckte seine Hand aus und nahm ihr den Kopfhörer ab. »Die Musik ist ganz leise gestellt, man hört sie ja überhaupt nicht.« Er hielt die Kopfhörer wieder ein Stück in ihre Richtung. »Willst du es nachprüfen?«
»Wozu?«
»Ich dachte nur …«
Leikr zuckte mit den Schultern und wendete sich dann wieder dem Buch zu, welches er gerade las. Ein älteres Buch, mit einem hellblauen Umschlag.
Hellblauen Umschlag? Hibiko machte einen Schritt nach vorne, beugte sich hinunter und klappte den Buchdeckel auf, sodass sie den Titel lesen konnte. Da war es also, ihr Lieblingsbuch.
»Hey, was ist denn nur los mit dir?« Leikr klappte das Buch zu und drehte sich in ihre Richtung. »Ich wollte hier in Ruhe lesen.«
Hibiko sah auf die Erde, wich seinem stechenden Blick aus. »Ich weiß nicht … ich dachte, dass du die anderen Leute mit deiner Musik stören würdest und überhaupt, was suchst du hier?«
»Hier?«
»Na, in der Bibliothek?« Sie sah wieder hoch. »Ich habe dich noch nie hier gesehen! Bücher, die passen doch überhaupt nicht zu dir.«
»Ich bin jeden Dienstag und Freitag hier«, antwortete ihr Leikr unbeeindruckt. »Und wer entscheidet, ob Bücher zu mir passen?«
Jeden Dienstag und Freitag. Hibiko konnte ihren Ohren nicht trauen. War das wirklich sein Ernst? War er wirklich so oft hier? Irgendwie passte das so überhaupt nicht so ihm. Er schien eher der Schul-Rowdy zu sein. Er war jemand, der immer von Leuten umgeben war, wie passte er da in diese Welt? Dienstag und Freitag, das waren die Tage, an denen sie nach der Schule ihren Bruder vom Karate abholte und deshalb nicht herkam. Aber …
»Wir haben Mittwoch«, stelle sie fest.
Leikr lachte. Ein sanftes Lachen, nicht laut war und doch so intensiv, dass sie still lächeln musste. Er war irgendwie ganz anders, als sie sich vorgestellt hatte. Er hielt das Buch in seiner Hand hoch. »Ich bin fast am Ende. Es war so spannend, da konnte ich nicht bis Freitag warten«, erklärte er. »Kennst du es?«
Hibiko nickte. »Ich lese es immer am Montag, Mittwoch und Donnerstag.«
»Oh.« Leikr schlüpfte mit den Füßen in seine Schuhe und stand auf. Er hielt ihr das Buch hin. »Dann ist heute dein Tag, nicht?«
Sie sah ihn an, ihre Blicke trafen sich und Hibiko spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie schüttelte hastig den Kopf. »Ist schon gut, ich … ich habe mir ein anderes Buch genommen.«
»Ein anders Buch?« Er beugte sich hinunter und hielt den Kopf schief. »Das ist gut, ich habe es vor einigen Monaten gelesen.«
»Du liest viel?«, fragte sie leise.
»Ich finde, Lesen öffnet Türen in andere Welten. Ich kann nirgends so entspannen, wie beim Lesen.«
Hibikos Blick löste sich vom Boden und sie sah ihn an. Seine Wangen waren von einem kräftigen Rot gezeichnet und er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Das klingt dumm, oder?«
»Nein … ich, natürlich nicht«, stammelte sie. »Ich denke … ich denke das Gleiche.«
Leikr hielt ihr das Buch hin. »Ich muss jetzt los, aber ich denke, ich werde jetzt öfter am Mittwoch in die Bibliothek gehen. Vielleicht können wir ja danach noch etwas gemeinsam machen? Es gibt ein Café die Straße runter, wir könnten uns über Bücher unterhalten.«
»Ich …«
»Wir sehen uns dann nächste Woche.«
Hibiko stierte auf das Buch in ihrer Hand. Ihre Hände fuhren sanft über den blauen Umschlag. Sie drehte sich herum und sah Leikr hinterher, der den Gang zwischen den Büchern in Richtung Ausgang hinaufging und sich die Kopfhörer über die Ohren stülpte.
»Bis nächste Woche«, flüsterte sie und merkte, wie ihr Herz bei den Gedanken daran einen Sprung machte. Sie wollte unbedingt mehr über ihn erfahren …
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2017
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