Seit einigen Wochen finde ich mich in jeder Nacht in einer seltsamen Traumwelt wieder. Ich stehe auf einer großen Wiese und blicke auf einen alten Eichenbaum. Darunter, da sitzt ein Junge in meinem Alter. Er trägt Jeans, Turnschuhe und einen schwarzen Kapuzenpullover, dessen Kapuze er tief bis in sein Gesicht gezogen hat. Vor sechs Tagen habe ich zum ersten Mal mit ihm gesprochen. Er heißt Tjelvar und er ist ein Traumfresser. Traumfresser, das sind Wesen, die Albträume fressen. Und genau da liegt das Problem. Ich hatte schon seit drei Monaten keinen Albtraum mehr. Tjelvar hat mir erklärt, dass das der Grund ist, weshalb er sich seit einigen Wochen nicht mehr rühren konnte und meine Träume verlassen hatte. Albträume sind seine Nahrungsquelle und dadurch, dass ich derzeit keine mehr hatte, fehlt es ihm an Kraft.
Ich frage mich, was passiert, wenn ich weiterhin keine Albträume hätte. Wird Tjelvar dann verhungern und sterben?
Auch heute finde ich mich wieder an genau der gleichen Stelle wieder. Als ich einschlafe, stehe ich auf einer großen, mit Blumen gespickten Wiese, und blicke auf den alten Eichenbaum, dessen Krone mit gesunden, gründen Blättern gefüllt ist. Ich schließe die Augen, ziehe den Duft der Blumen durch die Nase ein und genieße die warmen Strahlen der Sonne auf meiner Haut.
Dann öffne ich die Augen wieder und sehe auf den Eichenbaum. Tjelvar sitzt an den Stamm gelehnt und hat die Knie an seinen Körper gezogen, auf denen sein Kopf liegt. Ich gehe auf ihn zu und stelle mich vor ihn. Einige Sekunde betrachte ich ihn still. Er sieht müde aus, scheint mich nicht zu bemerken. Auf jeden Fall lässt er es sich nicht anmerken. Tjelvar hat sich nicht gerührt, seit ich an den Baum getreten war. Ich setze mich neben ihn und lehne den Rücken an den Baumstamm. »Es ist heute ein schönes Wetter, nicht?«
»Ja«, kommt es leise zurück.
»Kannst du das mit gesenktem Kopf überhaupt sehen?«
Tjelvar hebt seinen Kopf ein Stück. »Ich kann keine Farben sehen.«
Ich sehe ihn erstaunt an. »Oh, Traumfresser können also nur schwarz und weiß sehen?«
»Ja.«
Mein Blick geht in den blauen Himmel und ich beobachte die Wolken dabei, wie sie vorbeiziehen. Tjelvar saß also an einen so schönen Ort fest und nahm alles nur in eintönigen Schwarz und Weiß wahr? »Wie schmecken eigentlich Albträume?«
»Wieso fragst du?«
»Du ernährst dich von Albträumen. Die müssen doch bitter schmecken.«
»Ja, sie sind bitter.«
»Und magst du Dinge, die bitter schmecken?«
Tjelvars Blick war nach vorne gerichtet, er sah mich nicht an, als er antwortet. »Nein, nicht wirklich.«
»Also willst du lieber süße Sachen essen?«
»Nicht, wirklich.«
Ich kichere. »Du bist heute nicht wirklich gesprächig, was?«
»Manchmal, da schmecken wirklich schlimme Albträume für einen winzigen Augenblick süß.« Ich sehe, wie sich bei dem Gesagten in Tjelvars Gesicht ein sanftes, fast unscheinbares Lächeln abzeichnet.
»Ich verspreche dir, dass ich bald wieder Albträume haben werde.«
»Das ist ein Versprechen, dass du nicht machen kannst«, antwortet er und senkt dann den Kopf wieder auf seine Knie.
»Was passiert, wenn ich keinen Albtraum bekomme? Was wird dann aus dir?«
»Du wirst einen Albtraum bekommen«, sagt er.
Ich lehne den Kopf an den Baum und schaue durch die dichte Krone, beobachte einen Sonnenstrahl, der seinen Weg durch das dichte Laubwerk fand. Tjelvar wollte nicht darüber reden, was passiert, wenn ich keinen Albtraum bekomme. Sicherlich bedeutet das, dass er wirklich sterben würde. Er würde hier an diesen Ort festsitzen und irgendwann, dann würde er verhungern. »Wieso kannst du dich nicht von guten Träumen ernähren?«, frage ich.
»Die guten Träume sind für euch Menschen da, wir dürfen sie nicht anrühren. Uns sind nur die schlechten Träume bestimmt, damit ihr sie vergessen könnt.«
»Und wenn ich dir erlaube, einen meiner guten Träume zu essen?«
Tjelvar schüttelt den Kopf. »Nein, das würde ich nicht annehmen. Es verstößt gegen die Regeln.«
»Was passiert, wenn man gegen die Regeln verstößt?«
»Dann werde ich vor ein spezielles Gericht müssen.« Er hebt seinen Kopf von den Knien und sieht mich an. »Auf das Ernähren von guten Träumen steht die Todesstrafe.«
Ich schlucke. Das wollte ich nun auch nicht, dass Tjelvar wegen meines Angebots sterben musste.
Das Leben eines Traumfressers war wirklich kein leichtes. Es schien eine trostlose Welt zu sein, in der es nur wenig Hoffnung gab. »Bist du gerne ein Traumfresser?«
Er zuckt mit den Schultern. »Darüber habe ich nie nachgedacht.«
»Mhm.« Zwischen uns breitet sich wieder Stille aus. Es vergingen Sekunden, dann Minuten und schließlich Stunden, in denen niemand etwas sagt.
Ich verfolge, wie die Sonne untergeht.
»Ein schöner Sonnenuntergang«, höre ich Tjelvar sagen.
Überrascht schaue ich zur Seite. »Ich dachte, dass du keine Farben sehen kannst?«
»Ich spüre ihn durch deine Gefühle. Die Gefühle, der Menschen, die kann ich in ihren Träumen spüren. Die Schlechten und die Guten.«
Ich nicke. »Ja, ein schöner Sonnenuntergang.«
Als die Sonne fast hinter dem Horizont verschwunden war, verblasst der Ort, bis alles um mich herum weiß ist und ich aus meinem Traum erwache.
Ich begann den Tag mit einem Lächeln, denn noch wusste ich nicht, dass es der letzte Tag sein würde, an dem ich Tjelvar getroffen hatte …
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2017
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