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Game Over

Liam Wagner saß auf der Matte unter der Boulderwand, trank aus seiner Wasserflasche und betrachte die Wand vor ihm. Er würde nicht den Hauch eine Chance haben. Sebastian hatte einen schwierigen Weg ausgesucht.

»Bist du bereit? It’s Competition-Time!«

Er sah zur Seite. Sebastian, mit dem er schon seit Jahren befreundet war, grinste breit und stemmte die Hände gegen seine Hüften. Er zuckte mit den Schultern. »Wie ist es, wenn Matthias anfängt?«

Der Angesprochene griff nach seiner Wasserflasche und nahm einige große Schlucke daraus. »Von mir aus«, antwortete er und reichte ihm die Flasche zurück.

»Okay! Ich stoppe die Zeit«, rief Sebastian und kurz darauf hing Matthias auch schon an der Wand. Er wendete sich, schwang sich von einem Klettergriff zum anderen und hatte schon ziemlich bald das Ende der Wand erreicht. Leichtfüßig sprang er herunter und landete vor ihren Füßen.

»Du hättest wenigstens so tun können, als wäre es schwer für dich«, schimpfte Sebastian sofort und hielt Matthias das Handy hin, um ihm die Zeit zu zeigen.

Sebastian wandte sich Liam zu: »Und jetzt bist du dran.«

Er seufzte. Er würde ganz sicher Letzter werden. Abermals. Liam stieg einmal mehr in die Wand ein. Er überwand die ersten Meter, doch als schwierigere Griffe kamen, merkte er, wie er bereits an seine Grenzen geriet. Doch noch war er nicht am Ende. Er war sich sicher, dass er es dieses Mal bis nach oben schaffen würde. Kreuzgriff, Overhead. Seine Finger ertasteten die feinen Öffnungen in den Griffen. Er erreichte die schwierigste Stelle der Wand. Sein Körper hing alleine an seinen Fingern. Seine Muskeln zitterten, seine Atmung beschleunigte sich.

»Du packst das! Mit dem linken Fuß den rechten Griff«, hörte er von unten Matthias‹ Anweisung. Er pendelte, nahm Schwung und setzte den Fuß auf den nächsten Griff. Er hatte wieder Halt und schaffte es problemlos, die letzten Meter zu nehmen. Als er wieder auf der Matte landete, presste er die Hände auf seine Knie und schnappte nach Luft. Er hatte definitiv noch einen weiteren Weg zu bestreiten. Die kleine, einfache Wand war ihm vorgekommen wie der Everest.

Sebastians Gesicht tauchte über ihn auf und er grinste. »War doch nicht so übel, aber die Griffe waren an der Stelle wohl etwas zu weit auseinander.«

»Mach es erst einmal besser«, grummelte er leise und setzte sich dann auf.

Sein Freund lachte. »Sieh mir zu!«, sagte er dann und drückte Matthias das Handy in die Hand. Sebastian schmiss sich an die Wand. »Allons-y!«

»Du schaust zu viel Doctor Who!«, rief ihm Matthias hinterher.

»Definitiv«, stimmte Liam zu und beobachtete Sebastian an die Wand.

Sebastian hangelt sich von Griff zu Griff und stand Matthias in Nichts nach. Als er es bis nach oben geschafft hatte, sprang er herunter und lachte laut. Ein schallendes, ansteckendes Lachen. »Und?«

»Du warst langsamer«, antwortete Matthias und hielt ihm das Handy hin.

»Du hast sicher später gedrückt! Da bin ich mir sicher!« Sebastian nahm sein Handy zurück. »Lass uns ein Unentschieden daraus machen.«

Der eigentliche Sieger zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Kommt, lasst uns an die Bar.«

 

Sebastian stellte Liam den Saft vor die Nase. »Und wie läuft es an der Heimatfront? Hat die Fresssucht schon nachgelassen?«

Liam lächelte und wühlte in seiner Sportasche. Wo hatte er es nur hingetan. Es musste doch hier irgendwo sein. Er schob seine Anziehsachen hin und her, ehe er endlich fündig geworden war. »Es wird ein Mädchen!«, erklärte er mit einem breiten Grinsen und hielt den Beiden das Foto hin, welches sie heute beim Frauenarzt gemacht hatte. Seine Frau, Nele, war zum zweiten Mal schwanger und ein Mädchen würde ganz sicher ihre kleine Familie perfekt machen.

Matthias nahm das Foto entgegen. »Und was ist das da?«

Sebastian lachte. »Da sieht man, dass du keine Kinder hast Mats. Sieht man doch, die Nabelschnur!«

»Mats?« Matthias zog die Augen zusammen. »Du sollst mich nicht so nennen!«

Sebastian winkte ab. »Jaja.«

Matthias reichte Liam das Foto zurück. »Ich freue mich für euch. Frau, Kinder, Hund … du scheinst der Spießer von uns geworden zu sein.«

»Was soll das heißen?«, fragte er gespielt empört nach.

Matthias schlug ihn mit der Hand auf das Schulterblatt. »Na, dass ich mich für dich freue. Du hast den Jackpot geknackt.«

»Das sagt ihr jetzt«, warf Sebastian ein.

»Geschiedene Männer dürfen hierbei nicht mitreden«, konterte Matthias und lachte, während Sebastian einen dicken Schmollmund machte.

Liam drehte sein Glas in den Händen hin und her. Er dachte über das Gespräch mit seiner Frau nach, was er gestern geführt hatte. Er hatte das Angebot bekommen, an der Uni zu lehren. Das Problem war nur, dass er sich bis zum Ende der Woche entscheiden musste.

»Liam?«

Jemand rüttelte ihn seicht am Arm und er kehrte aus seinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.

»Wo warst du?«, hakte Sebastian nach.

»Habe über das Angebot von der Uni nachgedacht.«

»Ich denke ja, dass du es annehmen solltest«, setzte Matthias ein. »Schon allein, um unsere alten Dozenten zu ärgern.«

Sebastian nickte synchron dazu. »Aber dann musst du uns unbedingt ein Bild mit ihren Gesichtern schicken. Jerkov, ich kann mir jetzt schon bildlich vorstellen, wie er reagieren wird.«

»Ihr seid nur auf den Spaß aus.« Er schob sein Glas von einer Hand in die andere. »Es bedeutet aber auch viel Arbeit. Die ganzen Vorbereitungen und so.«

»Ist sicher nicht viel mehr Arbeit als in deinem jetzigen Job«, sagte Matthias.

»Ja. Vielleicht.«

Sie waren noch eine Stunde in der Kletterhalle geblieben, ehe sie aufbrachen. Es war schon nach 21:00 Uhr und Liam war sich sicher, dass Nele zu Hause bereits auf ihn wartete. Er schulterte seine Sportasche, während Matthias seine in das Auto von Sebastian warf.

»Und du willst wirklich nicht mitfahren?«, fragte Sebastian.

»Nein, lass mal. Ich laufe dir paar Kilometer bis zur Bushaltestelle.«

»Es ist wirklich kein Umstand«, versuchte Sebastian ihn zu überreden.

»Es ist wirklich in Ordnung. Mach dir keine Gedanken.«

Sebastian seufzte. »Wie du meinst. Dann sehen wir uns spätestens in der nächsten Woche.«

Liam hob die Hand zum Abschied und drehe sich dann von dem Auto weg, um in die andere Richtung zu gehen.

Die Straßen waren dunkel, die Beleuchtung war schlecht, und es begann zu regnen. Vielleicht hätte er das Angebot doch annehmen sollen? Er beschleunigte seinen Schritt. Wenn er Glück hatte, dann würde er es bis zur Bushaltestellen schaffen, ehe der Regen stärker werden würde.

Als er an einer schmalen Gasse vorbei kam, sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten und plötzlich stieß ihn etwas oder jemand mit voller Wucht an. Er war vollkommen unvorbereitet gewesen und stolperte einige Schritte nach vorne. Ein brennender Schmerz breitete sich von seinen Rippen in seinem ganzen Körper aus. Er drehte den Kopf nach links und erkannte eine Frau. Sie lächelte und umklammerte etwas. Was war es? Ein Messerknauf, ein Knüppel? Dann kamen erneut Schmerzen. Es ließ sich nicht ausmachen, wo sie begannen und wo sie aufhörten. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Nein, sein ganzer Körper wollte es nicht. Sie stieß ihn zu Boden und er blieb auf den Rücken liegen. Instinktiv drückte er die rechte Hand an die Stelle, von wo der Schmerz ausging. Er fühlte warmes Blut an seinen Fingern und als er die Hand hob, war sie rot. Er sah zu der Frau. Sie hielt ein japanisches Kampfmesser in der Hand, das im Licht der Laterne aufblitzte.

»Bist du bereit zu sterben?«, fragte sie und kniete sich zu ihm herunter.

Er vernahm gepresste Atemzüge nah an seinem Ohr. Er hörte Geräusche. Stimmen. Gelächter, die Geräusche eines lustigen Abends in der Altstadt. Was er erlebte, war eher ein Albtraum. Er machte den Versuch zu schreien, doch was seinem Mund entkam, war ein kläglicher Laut, begleitet von einem Schwall Blut. Sie hob die Hand und knallte den Messerknauf auf seine Hände, die er verzweifelt auf die Wunde gepresst hatte, um den Blutfluss zu stoppen. Eine neue kaum auszuhaltende Schmerzwelle durchzuckte ihn und er stöhnte leise auf.

»Es wird das letzte Gefühl sein, welches du hast …« Sie hob die Messerspitze und wollte sie senken, dann hörte er schnelle Schritte auf dem Asphalt. Die Frau sprang auf und rannte davon.

»Du bist ohnehin schon fast tot. Sie werden dich nicht retten können«, zischte sie noch.

»Liam!«

Er versuchte die Person zu fixierten, zu der die Stimme gehörte. Die Konturen waren unscharf, doch er glaubte, dass es Matthias war.

»Halt durch, ja?«

Er spürte klebriges, warmes Blut unter seinen Rücken fließen.

»Wieso bist … du hier?«, flüsterte er.

»Du hast dein Handy in meiner Tasche vergessen, erinnerst du dich, du hattest die Sachen in meinem Spint, weil du dein Kleingeld vergessen hattest.«

»Ja … stimmt«, nuschelte er hervor.

Matthias zog sein T-Shirt aus und presste es auf die Wunde. »Versuch, wach zu bleiben. Bekommst du das hin?«

Es war so kalt.

»Liam!«

Matthias tätschelte seine Wangen, rüttelte ihn sanft.

»Bleib wach Liam! Versuch, stark zu sein, für deine Frau und die Kinder.«

Liam riss die Augen auf, versuchte, sich zu konzentrieren, aber der Schmerz umhüllte ihn wie eine Blase. Er war zu müde. Er konnte nicht klar denken. Da waren nur diese Schmerzen, die nicht nachlassen wollten. Er fühlte nichts. Er sah Nele Lächeln, so ehrlich und liebevoll. Er sah sich, wie er mit Oskari und dem Familienhund im Garten spielte. Familie. Er hatte eine Familie. Der Junge, der niemanden an sich heranließ, hatte eine Familie. Er hatte es doch ganz gut hinbekommen. Vielleicht hatte er ja nicht immer nur Pech in seinem Leben? Immerhin hatte er wahre Freunde gefunden. Matthias, der verwöhnte Richtersohn saß vor ihm und versuchte ihn in dieser Welt zu halten. Wer hätte das vor einigen Jahren gedacht? Er hatte ihm einmal seine Nase blutig geschlagen, weil er ihn auf der Schule als Gossenkind beschimpft hatte.

Die Schreie nach ihm wurden lauter. Klang er etwa verzweifelt?

»Liam! Komm schon. Bleib hier!«

Das Blut lief immer weiter. Das Zittern wurde schlimmer, seine Muskeln bebten. Sein Atem ging so schwer, dass er am liebsten den Reflex unterbinden wollte Luft zu holen. Irgendwas stimmt nicht. Es fühlte sich an, als würde er ertrinken. »Scheiße! Bleib bei mir!« Hatte er im Leben alles erreicht, was er wollte? Ihm wurde immer kälter. Es war, als könnte er spüren, wie das Leben aus seinen Körper sickerte. Die kalten Krallen des Todes zerrten an ihm und er war zu erschöpft ihnen zu widerstehen.

»Liam! Bitte!«

Ich sterbe, waren seine letzten Gedanken, ehe alles Schwarz wurde.

 

Als er wieder zu sich kam, stand er in einem langen Flur. Ein dicker Pfeil mit der Aufschrift »Bitte folgen« leuchtete neben ihm auf.

War er gemeint? Wie war er überhaupt hierhergekommen?

Er starrte auf den Pfeil, las die Worte immer und immer wieder.

Bitte folgen.

Er war in der Kletterhalle gewesen, dann nach Hause gegangen und dann? Was war dann gewesen?

Bitte folgen.

Ganz langsam und bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen und schritt den schmalen Gang hinauf, ehe er vor einer Tür stand.

»Der Nächste, Bitte«, raunte eine kratzige Stimme von der anderen Seite.

Zögerlich nahm er die Klinke in die Hand und drückte die Tür offen. Er fand sich in einem kleinen, weißen Raum wieder. Nur einem Meter vor ihm, saß ein gelangweilt aussehender Mann im Anzug hinter einem dicken, hölzernen Schreibtisch. Der Mann sah ihn mit desinteressierten Augen an, als ob er bereits zig Besucher, wie ihn, am heutigen Tag empfangen hatte.

Der Mann richtete sich hinter seinem Schreibtisch auf. »Hierher bitte«, sagte er. »Setzen Sie sich.«

Liam zögerte, starrte den leeren Stuhl für einige Sekunden an, ehe er hinüberging und sich darauf niederließ.

Dann drückte der Anzugträger einen roten Knopf, der in den Tisch eingelassen war und Liam verfolgte, wie sich die Platte des Schreibtisches öffnete und ein Monitor hinauffuhr. Für wenige Sekunden war er komplett schwarz, doch dann leuchteten zwei Wörter auf.

»Game Over«, las Liam laut vor.

»Ich verstehe nicht«, richtete er an den Mann. »Was hat das zu bedeuten?«

»Sie, Herr ...« Sein Gegenüber machte eine Pause und sah hinunter auf einige Papiere, ehe er fortfuhr: »…Wagner. Sie wurden am 05. November, um 21:05 Uhr in einer Messerattacke getötet.«

Liam starrte ihn an, verstand nicht. Das musste ein schlechter Witz sein. Ein ziemlich makabrer Witz, fügte er in seinen Gedanken hinzu.

Der Mann vor ihm seufzte. »Zu diesem Zeitpunkt, ist ihr Spiel offiziell ›vorbei‹.«

Plötzlich kamen die Erinnerungen wieder. Die plötzlichen Schmerzen, das viele Blut, die Kälte …

»Ich … ich bin … tot?«, fragte er mit dünner Stimme.

Liam meinte, auf dem Gesicht seines Gegenübers so was wie Sympathie zu erkennen. »Ja, Herr Wagner«, sagte er in einer mitfühlenden Stimmlage. »Ich fürchte, Sie sind tot. Doch nun müssen Sie eine Auswahl treffen.«

Der Mann drückte einen weiteren Knopf auf seinem Schreibtisch und nun erschienen vier neue Worte unter dem Game Over. Auf der linken Seite stand »Spiel beenden« auf der rechten Seite »noch einmal versuchen.«

Er starrte die beiden Auswahlmöglichkeiten an. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

»Sie können nur aus einer der beiden Alternativen wählen. Sie können entweder das Spiel beenden, welches Sie Leben nennen und verlassen diesen Raum in Richtung des Himmels oder der Hölle.«

Als Liam nickte, fuhr er fort: »Oder, sie wählen › noch einmal versuchen‹.«

»Noch einmal versuchen?«, hakte er nach. »Was genau muss ich darunter verstehen?«

»Die ›Noch einmal Versuchen-Option‹«, sagte der Anzugträger, »bedeutet, dass der Spieler – in diesem Fall Sie – die Möglichkeit hat, dass Spiel von Beginn an neu zu starten. Alle Aktionen und Konsequenzen des ursprünglichen Spiels werden überschrieben.«

»Es wird alles, was ich bis zu diesem Punkt habe verschwunden sein?«, fragte er.

»Ja.«

»Und nichts wird exakt gleich sein?«

»Das hängt von den Entscheidungen ab, die Sie treffen«, antwortete der Mann. »Wir können die Ereignisse nicht steuern, die in Ihrem neuen Spiel auftreten werden.«

Ein Gedanke huschte durch sein Gehirn. »War ich schon einmal hier und habe diese Option gewählt?«

»Dazu darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

Er dachte daran, was es bedeuten würde, wenn er sich für die Option entschied, sein ganzes Leben von vorne zu beginnen. Es schien verlockend. Er dachte an die Fehler, die er gemacht hatte. All diese falschen Entscheidungen, die er getroffen hatte. Beim zweiten Mal da könnte er es besser machen. Oder aber, es würde alles haargenau so verlaufen wie beim ersten Mal. Er würde exakt die gleichen Entscheidungen treffen und wieder hier landen. Hier in diesem weißen Raum, gegenüber von dem Mann im Anzug.

Er dachte an das Gesicht seiner Frau und seines Sohnes. Er erinnerte sich daran, wie er sie kennengelernt hatte, wie sie sich verliebt hatten, ihre Hochzeit, das erste Kind und die Frohe Botschaft der erneuten Schwangerschaft. Wenn er es noch einmal versuchte, dann würde er all das verlieren. Wollte er das wirklich? Hatte er die Garantie, dass er sie erneut treffen würde? Was, wenn er dieses Mal Entscheidungen traf, durch sie sie sich niemals begegnen würden?

»Was muss ich tun, wenn ich meine Entscheidung gefällt habe?«, fragte er.

»Sie wählen den Button aus, auf der ihre Entscheidung steht.«

Liam nickte und beugte sich nach vorne und drückte den Finger auf den Bildschirm.

Kurz darauf blinkte das Wort »Spiel beenden« auf …

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Tag der Veröffentlichung: 18.06.2017

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