Toro hielt inne und lauschte angespannt. Schon seit einigen Minuten durchflutete seine Adern ein ungutes Gefühl.
Eine Hand klatschte auf seine Schulter. „Toro, hörst du mir überhaupt zu?“
Er kicherte aufgesetzt. „Aus deinem Mund kommt ja ohnehin nichts Vernünftiges“, erwiderte er kess, während er weiterhin den Korridor fixierte.
Jede Faser seines Körpers meldete Gefahr. Eine dunkle Aura begann immer näher zu kommen.
„Und du fragst dich, wieso du so wenige Freunde hast?“ Milo, ein Junge aus seiner Klasse, lachte laut und strich sich durch seine kurzen blonden Haare. „Aber echt mal, was gibt es da zu sehen?“ Milo’s Kopf wandte sich herum und er blickte in die Richtung, die Toro oberservierte. Dann lachte er wieder. „Da ist nicht einmal ein sexy Mädchen!“
Toro kam nicht dazu, zu antworten, denn etwas huschte um die Ecke des Korridors direkt auf sie zu. Es war halb Mensch, halb Vogel. Das Wesen hatte die Größe eines Menschen und auch die Beine eines solchen. Sein Oberkörper hingegen bestand aus pechschwarzem Gefieder wie bei einer Krähe. Der Schnabel des Tieres war leicht gekrümmt und sah aus, als hätte er die Schärfe einer Schwertklinge. Toro rannte los. Ohne den kleinsten Augenblick zu zögern, drehte er sich herum und stürmte den Korridor hinunter. Er musste das Wesen hinauslocken, weg von den anderen Schülern!
„Was ist denn nun los?!“, hörte er Milo schreien. „Oi, Toro!?“
„Ich habe was zu Hause vergessen!“, rief er nur.
Sie konnten nicht sehen, was ihn verfolgte. Sie würden es nicht verstehen. Seit er denken konnte, sah er Dinge, die andere Leute nicht sehen konnte. Geister, Dämonen sowie eigenartige, mystische Wesen, die man Skrimsli nannte. Nur Menschen mit einer spirituellen Gabe konnten sie wahrnehmen, für alle anderen waren sie unsichtbar.
Toro bog nach rechts in Treppenhaus ab und rannte ins Erdgeschoss, wobei er jeweils zwei oder drei Stufen auf einmal nahm.
Hinter sich hörte er ebenso schnelle Schritte. Es war ihm auf den Fersen!
Wie nur kam das Wesen in die Schule? Ein so großes Skrimsli hatte er hier noch nie gesehen. Nur kleinere, ungefährliche Skrimsli, aber nie ein solch großes Wesen. Zu welcher Gattung gehörte es? So ein Skrimsli war ihm bisher noch nie untergekommen und er hatte immerhin schon eine Menge Skrimsli in seinem Leben gesehen.
Von seinen Gedanken abgelenkt, wurde er unachtsamen. Sein Fuß rutschte von der glatten Stufe und er geriet ins Straucheln. Er verlor das Gleichgewicht und donnerte mit den Händen voraus einige Stufen herunter gegen die Wand. Toro verspürte einen Schmerz in seinem rechten Knie und den Handflächen, doch er bemühte sich, es für den Augenblick zu ignorieren und stemmte sich wieder hoch, um weiterzurennen. Im Erdgeschoss angekommen, riss er schnell die Tür auf, stürzte ins Foyer und wenig später aus der Eingangstür ins Freie. Regen fiel ihm ins Gesicht und lief über seine Wangen.
Toro beschleunigte seine Schritte einmal mehr. Seine Turnschuhe donnerten hart auf dem Asphalt. Er hörte die Schritte hinter sich näher kommen, traute sich jedoch nicht, sich umzusehen. Seine dunkelblauen Augen waren starr nach vorne gerichtet. Toro spürte die Gefahr in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers.
Wie weit konnte er sich vom Schulgebäude entfernen? Er wusste, dass er noch durchhalten musste. Auch wenn er mit seinen Mitschülern kaum engeren Kontakt pflegte, so wollte er dennoch nicht, dass sie in Gefahr gerieten. Eine Gefahr, die sie nicht einmal sehen konnten. Er musste einen Ort finden, an dem wenige Menschen waren.
Der Wind fuhr durch sein dunkles Haar, der Regen hatte seine Kleidung schon längst durchnässt und vermischte sich mit dem Schweiß auf seiner Haut.
Toro erblickte den kleinen Weg zum Wald. So weit war es also bereits gerannt. Er stürmte nach links und wäre um ein Haar auf dem feuchten, glitschigen Erdboden ausgerutscht, aber im letzten Moment hatte er sein Gleichgewicht wiederfinden können. Ein Nachteil war es dennoch. Das Skrimsli holte weiter auf.
Es war, als könnte er dessen Atem spüren. Er war müde, fast all seine Kraft aufgebraucht. Nun strafte es sich, dass er sich bereits in der vierten Stunde im Sportunterricht verausgabt hatte. Wie lange konnte er das noch durchhalten? Er rechnete damit, dass jeden Augenblick die Hände der Bestie auf seinen Rücken schlugen und ihn zu Boden reißen würden. Wie weit war es noch bis zum Wald? Konnte er es auch bereits hier riskieren sich dem Skrimsli zu stellen? Was sollte er tun, wenn ihn Mitschüler dabei sahen? Sein Herz trommelte in seinem Brustkorb und dröhnte in seinen Ohren wieder. Anderseits, wer sollte ihn hier schon sehen? Er war weit genug entfernt von der Schule, es regnete in Strömen, niemand würde sich freiwillig aus dem Gebäude wagen.
Er hatte sich zu viel Zeit für seine Entscheidung gelassen. Das Skrimsli hatte ihn eingeholt, stürzte sich auf ihn und riss Toro zu Boden. Das Wesen grinste zufrieden und obwohl er nach ihm trat, ließ es sich nicht abschütteln. Seine dünnen langen Finger umgriffen Toros Hals und drückten zu.
„Du bist ein Veiðimaður, oder?“, zischte das Skrimsli. „Du konntest mich sehen!“
Veiðimaður, so bezeichnete man Jäger. Menschen, die Skrimsli sehen konnten und diese exorzierten oder versiegelten.
Toro antwortete nicht. Er sah dem Wesen in die Augen, während er gleichzeitig mit der rechten Hand in seine Hosentasche griff und einen Papierstreifen hervorzog. Ein Talisman, auf dem ein Zauberspruch stand, das Skrimsli vertreiben konnte. Gegen dieses Exemplar würde es vermutlich nicht viel wirken, aber er hatte die Hoffnung, dass er es schwächen konnte. Vielleicht hatte er dann genügend Zeit einen Bannkreis zu zeichnen und den Skrimsli zu versiegeln?
Der Druck um seinen Hals wurde größer. „Du bist klein, Menschenkind.“
„Das sagt nichts über meine Stärke aus“, röchelte er hervor.
Endlich bekamen seine Finger das Papier zu greifen. Toro zog es blitzschnell heraus und drückte es gegen die Stirn des Skrimsli.
„Farið burt!“, rief er mit all seiner verbliebenen Kraft.
Das Papier leuchtete auf. Ein schrilles, schmerzerfülltes Heulen erfüllte die Luft. Das Skrimsli wich einige Meter zurück.
Toro nutzte den Augenblick, drehte sich auf die Knie und griff nach dem nächstbesten Stock, den er zu greifen bekam. Schnell begann er damit, einen Bannkreis um sich herum zu zeichnen. Dicht an dicht schrieb er die Runen in den Sand. Gleichzeitig nuschelte er Gebete hervor, um den Dämon auf Abstand zu halten.
Doch es schien nicht zu helfen. Das Skrimsli wich nicht zurück. Ganz im Gegenteil, es kam immer näher.
„Dafür wirst du büßen, Veiðimaður! Mit der schlimmsten Tortur!“, brüllte das Skrimsli und sprang auf ihn zu. Mit einem Mal wurde der Wind stärker, Toro hatte keine Zeit zu reagieren.
War es das nun?
War das sein Ende?
Seine Augen starrten auf das Wesen, das direkt auf ihn zuflog. Er wartete auf den Schmerz, von dem er glaubte, dass er wie ein Messer in ihn hineinfahren musste.
Doch er kam nicht.
Das Wesen war verschwunden, hatte sich vor seinen Augen in Luft aufgelöst. Toro drehte sich ungläubig um die eigene Achse. Wo war es hin? Hatte es sich im dichten Wald verkrochen? So musste es wohl gewesen sein, denn er war sich sicher, dass sein Talisman niemals stark genug gewesen war, um es auszulöschen.
Er verharrte noch einige Minuten auf der Stelle und lauschte in die Stille, doch als er nicht hörte oder die Präsenz eines Skrimsli spürte, setzte er sich in Bewegung und ging zurück in Richtung Schule. Wenn er wieder zuhause war, musste er auf jeden Fall mehr über das Wesen erfahren.
Die Augen seiner Mutter weiteten sich, als Toro nach der Schule in Sportklamotten in die Küche trat. Nach dem Zwischenfall war er bis auf die Haut durchgenässt gewesen und hatte sich in den Schultoiletten umgezogen. Zum Glück hatte er heute Sport und so Ersatzklamotten zur Verfügung gehabt. Nun hoffte er, dass er sich keine Erkältung zuzog. In wenigen Wochen würden die Prüfungen anstehen und da konnte er so etwas überhaupt nicht gebrauchen.
„Ich bin nass geworden“, erklärte er ihr. „Dieser plötzliche Regenguss.“
Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Seine Mutter konnte die Skrimsli nicht sehen und sie mochte es nicht, dass er trotz seiner siebzehn Jahre schon mit diesen Dingen zu tun hatte. Doch das waren Entscheidungen, die nicht sie traf, sondern das Oberhaupt der Familie, sein Großvater.
„Was hast du draußen gesucht?“, hakte sie nach.
„Ich war mit ein paar Freunden an den Fahrradständern. Wir wurden vollkommen überrascht.“
Anscheinend schien das für seine Mutter glaubwürdig genug gewesen zu sein. Sie fragte nicht weiter nach.
Toro verspeiste still sein Essen und machte sich dann an die Hausaufgaben, die er wie üblich schnell abarbeite. Am Abend ging er dann hinter das Haus und trainierte unter der Aufsicht seines Großvaters mit Pfeil und Bogen. Mit dem Bogen umzugehen, dass sei eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Jägers, predigte sein Großvater auch heute wieder, als er in drei der zehn Schüsse nicht direkt ins Schwarze traf, sondern unmittelbar daneben. War das nicht schon gut genug? Er hasste es, wenn sein Großvater in einen solchen Druck machte. Für einen Moment hatte Toro erwägt, ob er seinem Großvater von dem Skrimsli erzählen sollte, dass er heute an der Schule gesehen hatte. Am Ende entschied er sich aber dagegen. Vermutlich würde ihm sein Großvater ohnehin nur vorwerfen, dass er das Wesen entkommen lassen hatte. Er hielt ihn für schwach und ließ ihn das häufig spüren.
Nachdem er eineinhalb Stunden mit dem Bogen trainiert hatte, trug ihn sein Großvater noch auf, einige Bannsprüche auswendig zu lernen, eher er endlich entlassen wurde. Viel mehr brachte Toro an jenem Tag nicht mehr zu Stande. Er war froh, als er endlich in seinem Bett lag und sich seiner Erschöpfung hingeben konnte.
Der Wald war dunkel. Riesige Bäume standen dicht an dicht und ließen kein Mondlicht zu ihm herunter. Nebelschwaden waberten zwischen den Bäumen hindurch. Der Wind ließ die Äste, wie die Gebeine von Toten, klappernd aneinanderschlagen. Die Luft war feucht und der Boden matschig. Es roch nach brackigem Wasser. Toro beschleunigte seinen Schritt, war jedoch darauf bedacht auf dem modrigen Waldboden nicht auszurutschen. Hin und wieder huschte ein kleines Tier über den kleinen, schmalen Weg, und manchmal raschelte es gefährlich im nahen Gebüsch.
Ein Tier schrie auf. Laut und schrill.
Toro lauschte, wartete auf die Wiederholung des Geräusches, doch es rührte sich nichts in der Dunkelheit des Waldes.
„Bestimmt war es nur ein kleines Tier“, redete er sich ein. Unbewusst erhöhte er sein Tempo aber dennoch. Er war niemand, der schnell in Angst geriet, doch etwas stimmte hier nicht. Er hatte ein schlechtes Gefühl. Alle seine Sinne schlugen Alarm. Er spürte Skrimsli in der näheren Umgebung. Seine Schritte wurden immer schneller.
Die Anstrengung beschleunigte seinen Atem.
Er warf einen eiligen Blick über die Schulter, während er mit eiligen Schritten über den mit Wurzeln bestückten Weg hastete. Toro wurde das Gefühl nicht los, das ihm etwas folgte. Etwas beobachtete ihn.
Sein Herz klopfte wie ein Kolibri schnell gegen seine Brust. Wenn er sich beeilte, dann würde er den Wald sicher schnell hinter sich lassen.
Wieder Schreie. Dann ein Heulen und Jammern.
In den Baumkronen über seinem Kopf schreckten Vögel auf.
Wenn er sich beeilte, würde er sicher bald diesen Wald hinter sich lassen. Er warf erneut einen hastigen Blick über die Schulter.
Augen starrten ihn an!
Er rannte los, war jedoch unvorsichtig und stolperte über eine dicke Wurzel. Toro rappelte sich wieder auf, sah vorsichtig nach hinten. Die Augen waren noch immer da. Er hatte sie sich nicht eingebildet.
Nein, es war nicht nur ein Augenpaar, sondern mehrere. Sie beobachteten ihn. Sie verfolgten jeden seiner Schritte, jede seiner Bewegungen!
Toro hörte ein lautes Heulen und die Augenpaare preschten auf ihn zu. War es ein Wolfsrudel? Er wollte wegrennen, doch sein Körper setzte sich nicht in Bewegung. Er war starr vor Furcht. Ihre Pfoten und Krallen stampften über den Boden, und mit jedem Augenblick wurden sie größer und er konnte Umrisse erkennen. Sein ganzer Körper verkrampfte sich zunehmend. Ihm schossen tausende Gedanken durch den Kopf. Je näher die Schritte kamen, desto mehr Angst stieg in ihm auf. Panisch griff er über seine Schulter, nur um festzustellen, dass er seinen Bogen nicht dabei hatte. Er war unbewaffnet, dem Feind ausgeliefert.
Toro begann ein Schutzgebet aufzusagen, doch es half nicht. Die Umrisse wurden immer deutlicher und dann waren sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er war umzingelt von einer Gruppe Skrimsli. Ein Tier trat aus der Gruppe hervor. Ein Wolfswesen, groß, kräftig, wild. Die gelben Augen der Bestie fixierten ihn, während er Schritt um Schritt tat.
Torus Blick war wie festgenagelt auf die spitzen Zähne gerichtet, er machte einen Schritt nach hinten, doch als ein Knurren in seinem Rücken ertönte, wurde ihm klar, dass er nicht entkommen konnte.
„Du wirst sterben, Veiðimaður!“
Das Tier sprang mit ausgefahrenen Krallen in die Höhe, überwältigte ihn mit seinem riesigen Körper und packte nach seiner Kehle. Ihm blieb die Luft weg, seine Pupillen weiteren sich vor Panik. Ich sterbe, wurde ihm bewusst …
Zitternd fuhr er aus dem Traum hoch und schrie auf. Er hatte das Gefühl zu ersticken. In seiner Brust breitete sich ein dumpfes, beklemmendes Gefühl aus. All die wirren Bilder von grinsenden Fratzen, heulenden Skrimsli und betäubender Angst verschwanden zurück in den Nebel der Traumgespinste, die ihm die ganze Nacht über den Schlaf geraubt hatten.
Das Kissen unter seinem Kopf war nass vor Schweiß. Seine Finger hatten sich krampfhaft in die Decke gekrallt, seine Brust schmerzte fürchterlich. Wie oft er in den letzten Stunden aus Albträumen hochgeschreckt war, wusste er nicht mehr.
Toro schlug die Decke zur Seite und setzte die nackten Füße auf den Boden. Er streckte seine Hand aus und beobachte das leichte Zittern, welches durch seine Finger ging. Wieso hatte er solche Panik gehabt? Wieso hatten die Skrimsli ihn, wie ein kleines Kind, in solche Angst versetzen können?
Er holte einige Male tief Luft und stand dann auf. Blind griff er in seinen Kleiderschrank und zog sich einige Klamotten heraus.
Im Bad angekommen, schälte er sich mühsam aus seiner Kleidung. Seine Schlafsachen waren klitschnass und stanken nach Schweiß. Sein Mund war trocken. Er hatte schrecklichen Durst.
Er trat ans Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf, beugte sich herunter und nahm einige gierige Schlucke. Danach trat er unter die Dusche. Er drehe das kalte Wasser auf und ließ den eiskalten Strahl auf seinen Kopf niederprasseln, den er gegen die Fliesen lehnte.
Noch immer hatte er den Traum nicht aus seinem Gehirn vertreiben können. Es war das erste Mal gewesen, dass er so etwas geträumt hatte. Sicher, er war auch schon einmal in seinen Träumen von Skrimsli verfolgt worden, doch er hatte sie immer besiegen können. Nie war er … er schluckte … nie war er getötet worden.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann drang ein tiefes Klopfen zu ihm durch.
„Toro, du musst zur Schule. Bitte beeile dich!“
Es war die Stimme seines Vaters.
Er drehte das Wasser ab. „Ja, ich komm gleich!“
Toro verließ die Dusche, um sich abzutrocknen und wieder anzuziehen. Bevor er die Badezimmertür öffnete, atmete er ein letztes Mal tief durch.
Als er in die Küche kam, spürte er sofort den strengen Blick seines Großvaters auf sich.
„Du bist spät dran, Junge“, grummelte er hervor. „Nun wirst du nicht mehr vernünftig Essen können, ehe du zur Schule musst.“
„Ich werde mir eine Schnitte mitnehmen“, sagte er schnell, griff nach der Butter und der Wurst und machte sich eine Schnitte für den Weg fertig.
Seine Mutter stellte ihm eine Butterbrotdose neben den Teller. „Ich habe dir deinen Langbogen bereits in den Flur neben deine Schuhe gestellt.“
„Danke, Mama.“
„Du verwöhnst den Jungen zu sehr!“, mischte sich sein Großvater ein. „Wie soll aus ihm etwas Vernünftiges werden, wenn er sich nicht einmal um Alltagsdinge kümmern kann!“
„Ich habe das letzte Bogenturnier gewonnen und meine Noten sind auch hervorragend“, wehrte sich Toro.
Er hasste es, wenn sein Großvater darauf pochte, dass er die Zukunft der Familie auf den Schultern trug. Immer zu hieß es, er solle lernen, lernen, lernen. Manchmal, da hatte er das Gefühl, dass er überhaupt nichts mehr anderes tat.
„Deine letzte Mathearbeit hätte besser sein können“, kam es zurück.
„Meine Arbeit war die Beste, der ganzen Klasse“, erwiderte er, dann fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. „Oh, verdammt!“
Toro sprang auf, rannte in den Flur, zog sich schnell die Jacke über und die Schuhe an, dann griff er nach seiner Schul- und Bogentasche und schnappte sich anschließend noch sein Butterbrot, ehe er aus der Tür hechtete. Hoffentlich würde er es noch pünktlich zu Schulbeginn schaffen!
„Puh!“
Schwer atmend ließ sich Toro hinter seinen Tisch fallen. Er hatte es gerade noch vor dem Klingeln der Schulglocke in den Klassenraum geschafft. Die Schule war da besonders streng. Sobald die Glocke ertönte, wurde das große Tor vor dem Schulgebäude verschlossen und man kam nicht mehr heran. Die Zuspätkommer sollten nicht den Unterricht der fleißigen Schüler stören, hieß es in der offiziellen Begründung.
Es verging wohl weniger als eine Minute, da trat der Lehrer in den Klassenraum. Ein Mann, Mitte der Fünfzig. Toro fand ihn nicht besonders sympathisch, aber das schien wohl eine Einschätzung zu sein, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Bei ihrem letzten Vieraugengespräch hatte er zumindest erwähnt, dass er seine „Art“ gegenüber anderen Leuten ändern solle. Was auch immer er damit meinte.
Neben ihm stand ein Junge. Stimmt, heute war der Tag gewesen, an dem ein neuer Mitschüler kommen sollte. Er hatte braunes Haar, das ihm bis knapp über die Ohren ging, grüne Augen und ein schmales Gesicht.
Für die Mädchen schien er wohl ganz hübsch zu sein, zumindest hörte er die zwei Mitschüler hinter sich aufgeregt tuscheln und es fiel das Wort „sexy“.
„Guten Morgen, Leute“, begann der Lehrer, legte seine abgewetzte Tasche auf das Pult und fuhr fort: „Wir haben Zuwachs bekommen. Darf ich euch euren neuen Mitschüler vorstellen? Das ist Yngve Arctander. Er hat als Kind bereits in unserem beschaulichen Städtchen gewohnt und ist nun mit seiner Familie zurückgekommen.“
Der Neue nahm Kurs auf die letzte Bank in der Fensterreihe, während der Lehrer vorne bereits mit dem Unterricht begann.
Toro zog sein Mäppchen und sein Heft hervor und versuchte, den komplizierten Erklärungen zu folgen. Schnell gab er jedoch auf und begann damit die Kästchen in seinem Heft auszumalen.
Zum Glück war der Unterricht heute schnell rumgegangen und endlich war es Zeit für die Klubaktivitäten. Seit seinem ersten Jahr an dieser Schuler war Toro Mitglied im Bogenklub. Immerhin war es die Fähigkeit, auf die er als Jäger am meisten vertrauen musste. In seinem Klub war er mit Abstand der beste Schütze, aber das war sicherlich anhand des Trainings, das ihm sein Großvater aufbrummte, wohl keine große Überraschung.
Toro griff nach einem der Pfeile aus seinem Köcher und legte ihn an die Sehne. Während er tief einatmete, spannte er die Sehne und visierte die Zielscheibe an. Doch gerade als er den Finger löste, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er atmete nur noch röchelnd, der Bogen rutschte ihm aus der Hand und landete auf dem Boden. Seine Beine wurden mit einem Mal bleischwer, er fiel auf die Knie, während seine rechte Hand an seine linke Brust ging. Es war, als würde er innerlich verbrennen. Wieso bekam er keine Luft? Wo kamen diese Schmerzen her? Er hatte er das Gefühl ein Fisch auf dem Trockenen zu sein. Er traute sich schon bald gar nicht mehr, zu atmen, nur um diese Schmerzen zu entgegen, die jedes Mal durch seinen Körper zogen, wenn er einen Luftzug tat.
„Toro!“
Er spürte die Hand eines Mitschülers auf seiner Schulter.
„Toro, geht es dir gut? Hörst du mich?!“
„Ich …“, stammelte er mit bebender Stimme hervor. „Ich weiß nicht …“
Eine Wasserflasche tauchte in seinem Sichtfeld auf, die Hand wanderte auf seinen Rücken. „Hier, trink erst einmal was. Vielleicht kommt es von der Hitze. Heute ist es ja unerträglich.“
Mit zittrigen Fingern griff er nach der Flasche, die ihm fast wieder aus der Hand gerutscht wäre. Er verstärkte seinen Griff und schraubte den Verschluss auf, ehe er ein paar Schlucke zu sich nahm. Nach und nach verschwand der Druck auf seinem Brustkorb. Es fiel ihm wieder leichter, Luft zu holen.
Er sah sich um und blickte in die angstvollen Gesichter seiner Mitschüler.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte einer der Jungs.
Er nickte. „Ja, es ist alles wieder in Ordnung.“
Seine Hand griff nach dem Bogen und er richtete sich langsam wieder auf. Für einen Moment wurde ihm schummrig, doch dieses Mal hielt es nur für wenige Sekunden an und er bekam seinen Körper langsam wieder unter Kontrolle.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich für heute Schluss mache“, brachte er hervor.
Toro hatte sich bereits weggedreht und war in Richtung der Klubräume gegangen, als er hinter sich Befürwortungen für dieses Vorhaben hörte. Seine Beine fühlten sich kraftlos an und das beengende Gefühl in seinem Brustkorb war weiterhin vorhanden, wenn auch nur dumpf. In der Umkleide angekommen, ließ er sich erschöpft auf die Bank fallen und fuhr mit zittrigen Fingern durch seine schwarzen Haare. Was war das nur gewesen? War er krank? Vielleicht sollte er auf dem Weg nach Hause bei einem Arzt vorbeisehen, sich gründlich durchchecken lassen? Verkehrt war das sicher nicht. Wie hieße es so schön: Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Als sich sein Körper einigermaßen wieder beruhigt hatte, zog er sich um und packte anschließend Langbogen und Pfeile in seine Tasche, die er dann über die Schulter warf und sich in Richtung Fahrradständer begab.
Weit kam er jedoch nicht. Kurz bevor er die Fahrradständer erreicht hatte, erhaschte etwas seine Aufmerksamkeit. Er verharrte überrascht und sah auf den großen Rasen, der vor der Schule angelegt wurde. In der Mitte stand ein großer Eichenbaum, der im Sommer ein beliebter Treffpunkt war, da es unter ihm auch an den heißesten Tagen angenehm kühl war.
Unter dem Baum sah er den neuen Mitschüler, Yngve, der an dem wuchtigen Stamm lehnte. Doch das war es nicht, was ihn stoppen ließ. Es war die Tatsache, dass er mit jemandem redete. Oder besser mit etwas. Vor Yngve stand ein Skrimsli. Ein Steinnverur, ein Steinwesen, das ihm vielleicht bis zur Hüfte reichte. Er würde schätzen, dass es noch sehr jung war.
Wieso redete er mit dem Wesen?
Toro machte einen Schritt, dann einen weiteren. Sein Unterbewusstsein trieb ihn immer mehr an die Szene heran. Yngve schien ihn nicht zu bemerken, war vollkommen vertieft in die Unterhaltung und dann hörte Toro ihn aus vollem Herzen lachen.
Erst als er schon fast vor dem Paar stand, schien Yngve ihn zu bemerken. Sein Kopf drehte sich zu ihm und er lächelte.
„Wir sind in einer Klasse, nicht wahr?“
„Ja“, war alles, was er herausbrachte. „Ich bin Toro. Ich sitzte zwei Reihen vor dir.“
„Wolltest du sicher gehen, dass ich mich nicht verlaufen habe?“ Yngve löste sich von dem Baum. „Keine Sorge, ich habe nur ein schattiges Plätzchen gesucht.“
Toro sah auf das Skrimsli, dann wieder zu Yngve.
„Ich kann es sehen“, sagte er dann.
Nun war es Yngve, der überrascht schien. „Du kannst sie auch sehen?“, fragte er verblüfft.
„Ja.“
Yngve nickte. „Willst du dich dann vielleicht zu uns setzen?“
„Zu euch?“
Sein Gegenüber lachte laut. „Sag nicht, du bist schüchtern? Komm, hab keine Angst. Diese Wesen tun dir nichts.“
War er weltfremd? Natürlich waren Skrimsli nicht harmlos. Ganz im Gegenteil. Man musste immer vor ihnen auf der Hut sein. Sie waren hinterlistig und man durfte sich nicht auf sie einlassen. Das war es, was sein Großvater ihm von klein auf gepredigt hatte.
Toro griff in seine Hosentasche und zog einen Talisman heraus. „Du solltest nicht glauben, was das Wesen dir sagt“, erklärte er und machte einige Schritte auf das Skrimsli zu. „Sie sind gut darin, Menschen zu manipulieren.“
Er wollte gerade die Hand ausstrecken und den Talisman auf das Steinwesen kleben, da ergriffen ihn die Schmerzen, denen er gerade erst Einhalt geboten hatte, erneut. Seine Hand ging an die Brust und krallte sich in sein T-Shirt, wodurch der Talisman zerknüllte. Kurz darauf fand er sich abermals auf den Knien wieder. Er geriet ihn Panik, da plötzlich überhaupt keine Luft mehr in seinen Lungen ankommen wollte. Vor seinem Sichtfeld bereiteten sich schwarze Punkte aus. Er glitt immer mehr in einen dicken Nebel.
„Alles in Ordnung?“
Yngves Stimme klang seltsam weit entfernt.
„Mach bitte die Augen wieder auf! Hey …“
Yngve rüttelte ihn an der Schulter. „Komm, hey. Was ist denn los?“
Toro riss die Augen auf, versuchte, sich zu konzentrieren, aber der Schmerz war allgegenwärtig. Er war zu müde, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da waren nur diese Schmerzen, diese fürchterlichen Schmerzen. Und das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
„Ich … bekomme … keine Luft …“, keuchte er leise hervor.
„Alvarr, darf ich ihn an dich lehnen?“
Wer war Alvarr?
Als er etwas Hartes in seinem Rücken spürte, war es ihm plötzlich klar: Das Skrimsli.
Toro wollte sich wehren, doch schließlich gab er auf. Es fehlte ihm einfach die Kraft dazu.
Yngve griff nach seiner Hand, die noch immer in den Stoff des T-Shirts krallte, und löste sie sanft aus ihrer verkrampften Haltung.
„Versuch, ruhig zu atmen.“
Warum schaffte er es nicht, Luft in seine Lunge zu befördern? Er spürte, wie sein Puls raste. Das Zittern seines Körpers wurde stärker. Luft, verflucht, er brauchte Sauerstoff! Seine Gedanken wurden langsamer. Er erstickte.
„Komm mach es mir nach: Ein, aus, ein, aus …“
Er nahm erneut einen tiefen Atemzug, doch nichts kam an. Seine Lunge war leer.
Yngve legte behutsam die Hand unter Toros Kinn, zwang ihn dazu, ihn anzusehen.
„Toro, hör mir zu“, sagte Yngve mir ruhiger Stimme, „du musst ruhig atmen!“
„Ich … ich kann … nicht atmen“, presste er ohne Stimme hervor, „ich bekomme keine Luft…“
Yngve legte seine Hände auf Toros Schultern. „Sie mir in die Augen und dann, dann atmest du einfach ganz ruhig … ein und aus … ein und wieder aus. Mach einfach das, was ich dir sage, okay?“
Toro rang sich zu einem Nicken durch und folgte den Anweisungen seines Mitschülers.
„ein … und … aus … ein und wieder aus … ganz ruhig und gleichmäßig atmen. Gut machst du das, Toro, tief einatmen.“
Toro spürte, wie sein Körper langsam wieder ruhiger wurde. Die Schmerzen in seinem Brustkorb ebbten ab und er bekam immer besser Luft.
Die Schwärze vor seinen Augen verschwand und er sah in das Gesicht von Yngve.
„Geht’s wieder?“
„Ich denke schon“, murmelte er hervor. „Ich glaube, ich war zu lange in der Sonne. Ich war auf dem Weg zum Arzt, als ich dich hier gesehen habe.“
Toro stützte sich mit den Unterarmen von Boden ab und löste den Rücken von dem Stein. Nein, dem Steinwesen, fiel es ihm wieder ein. Hektisch fuhr er herum und brachte einige Meter zwischen sich und das Skrimsli.
„Alvarr wird dir nichts tun“, hörte er Yngve sagen.
„Er ist ein Skrimsli!“
„Er hat dir gerade geholfen“, erwiderte Yngve ruhig.
„Bestimmt nicht ganz uneigennützig!“
„Undankbares Menschenkind!“ Das Steinwesen sah ihn finster an und Toro griff instinktiv nach seiner Bogentasche. Einem Skrimsli sollte man nie schutzlos gegenüberstehen.
Yngves Hand legte sich auf seine. „Lass nur, er tut wirklich niemanden etwas. Er ist ein guter Skrimsli.“
„Ein guter Skrimsli“, wiederholte er ungläubig. „Es gibt so was wie einen guten Skrimsli nicht!“
Yngve setzte sich im Schneidersitz hin und grinste. „Ich kenne Alvarr schon seit meiner Kindheit. In ihm steckt nichts Böses, glaub mir.“
Toro sah das Wesen vor sich an, musterte es kritisch. Konnte er wirklich glauben, was ihm sein Klassenkamerad erzählte? Immerhin kannte er ihn gerade einmal ein paar Stunden.
„Redest du auch mit anderen Skrimsli?“
Yngve lehnte sich nach vorne. „Ja, wieso nicht? Auch in der Welt der Skrimsli gibt es Gut und Böse.“ Yngve lachte. „Oder, Alvarr?“
„Es ist nicht anders als bei euch Menschen“, bestätige Alvarr mit einer markanten, kratzigen Stimme. „Unter denen, die uns sehen können, da gibt es solche wie Yngve und die Jäger.“
Toro schluckte schwer, als er merkte, wie Alvarrs Augen ihn bei dem Wort „Jäger“ zu durchbohren schienen. Sicherlich hatte er ihn an dem Pfeil und dem Talisman erkannt.
„Hattest du schon mal mit Jägern zu tun, Toro?“
Er wusste nicht so recht, was er antworten sollte. „Ich …“
„Ich kann Jäger nicht ausstehen.“ Yngves Gesichtszüge verfinsterten sich. „Sieh die Alvarrs Schulter an. Sie haben ihn dort vor drei Jahren verletzt.“
Toros Augen fielen auf die Schulter des Steinwesens. Eine Stelle war viel Heller, als die restliche Haut des Wesens. Ein dünner Strich.
„Ein Pfeil hat ihn dort gestreift“, erklärte Yngve. „Sie schießen auf alles und jeden, egal, ob es ein dämonisches Skrimsli ist oder nicht.“
„Teufel sind das!“, schimpfte Alvarr. „Teufel, allesamt!“
Toro lachte unsicher. Ein schlechtes Gefühl überkam ihn. Er richtete sich langsam auf. „Ich sollte jetzt los … zum Arzt und so …“
„Sollen wir dich begleiten?“, fragte Yngve.
„Nein, lass nur. Es geht mir wieder gut.“
„Es macht uns wirklich keine Umstände“, versuchte Yngve erneut.
Toro schüttelte abermals den Kopf. „Es ist wirklich okay. Danke!“
Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, da griff Yngve nach seiner Schulter. „Sollen wir Handynummern tauschen? Dann kannst du mir sagen, ob du gut angekommen bist.“
Toro überlegte zunächst, ob er ablehnen sollte, schließlich stimmt er aber zu und gab ihm seine Handynummer.
Toro lag auf seinem Bett und sah an die Decke. Der Arzt hatte auf den ersten Blick nichts feststellen können, vermutete, dass er sich bei dem warmen Wetter einfach zu viel zugemutet hatte. Zur Sicherheit hatte er aber dennoch eine Blutprobe genommen und ließ sie im Labor untersuchen.
Er dachte zurück an das kuriose Treffen. Yngve und Alvarr. Ein komisches Paar. Alvarr war vollkommen untypisch von einem Skrimsli. Als er ihn mit Yngve beobachtet hatte, schien er gelacht zu haben. Es hatte einer normalen Unterhaltung zwischen zwei Freunden geglichen. Toro schüttelte den Kopf. Nein! So was konnte überhaupt nicht sein. Vielleicht hatte das Skrimsli Yngve ja mit einem Zauber belegt. Alles war möglich.
Toro nahm sich vor, dass er die Sache näher untersuchen würde. In ihm wuchs die Neugierde über Yngve. Er konnte diese Wesen sehen, war aber kein Jäger. In seinem bisherigen Leben war er nur Jägern begegnet. Sie alle vertraten die gleiche Meinung wie sein Großvater. Sie alle jagten die Wesen, verbannten sie aus dieser Welt oder versiegelten sie in Gefäßen. Yngve hingegen vertrat die Auffassung, dass es auch in der Welt der Skrimsli Gut und Böse war. Für ihn war das eine vollkommen neu Sichtweise. Sicher, auch sie hielten sich nicht an kleinen, unbedeutenden Skrimsli auf, das hieß aber nicht, dass sie der Meinung waren, dass in ihnen Gutes stecken würde. Sie waren nur weniger gefährlich als die anderen.
Er schnaufte und fuhr sich durch die Haare. „Ich versteh das Alles nicht!“, fluchte er. „Was hat das zu bedeuten?“
Umso mehr Toro sich mit den Gedanken auseinandersetzte, desto müder wurde er. Schließlich schloss er die Augen und driftete ab in tiefen Schlummer.
Dunkelheit umschlang seinen Körper. Unerträglicher Druck lastete auf ihm und Toro fürchtete, er würde zerquetscht. Er rang nach Luft, doch seine Lungen füllten sich nicht.
Sie schmerzen höllisch und gleichzeitig riss ihn etwas immer weiter in die Tiefe, vergrößerte den Druck auf seinen Brustkorb, zog ihn unerbittlich mit sich.
Irgendwann lichtete sich der Nebel und er fand sich in einem dichten Wald wieder. Toro sah sich um. War es der gleiche Wald wie in seinem ersten Traum? Er sah sich um, machte vorsichtig ein paar Schritte nach vorne. Er zuckte zusammen.
Ein gelbleuchtendes Augenpaar tauchte in der Dunkelheit auf, kam immer näher und dann zischte ein Schatten an ihm vorbei.
„Es fängt gerade erst an, Veiðimaður!“, hörte er ihn raunen, ehe er wieder in dem Schutz der Bäume verschwand.
Mit einem Schrei fuhr Toro hoch.
Er blinzelte, versuchte, seine hektische Atmung zu beruhigen. Toro schwang sich auf die Füße, schwankte ein wenig, fand sein Gleichgewicht und hastete aus dem Zimmer in Richtung Toilette, erbrach sich, bis er das Gefühl hatte, dass absolut nichts mehr in ihm drin war.
Keuchend lehnte er sich gegen die kalten Fliesen. Was zur Hölle hatten diese Träume zu bedeuten? Normalerweise hatte er nie Albträume, doch nun, da waren es bereits zwei in so kurzer Zeit gewesen.
Als er sicher war, dass sich sein Magen beruhigt hatte, richtete er sich schwerfällig wieder auf und wusch sich Mund aus, um den grausigen Geschmack zu beseitigen. Dann trieb es ihn raus an die frische Luft.
Die ersten Schritte waren wackelig, doch dann wurden sie immer stabiler und er bekam die Kontroller zurück. Sein Weg führte ihn in den Wald, der am anderen Ende der Stadt lag. Vielleicht hatte ihn sein Körper unbewusst hier hergelenkt, damit er sicher gehen konnte, dass es sich nicht um denselben Wald handelte wie in seinen Träumen. Dieser Wald war hell, strahlte eine freundliche Atmosphäre aus. Diesen Wald kannte er von seinen Spaziergängen und der Jagd. Es gab hier viele Skrimsli, der Großteil davon war es aber nicht würdig, dass man ihnen große Beachtung schenkte.
Toro sog die Luft ein und steckte die Hände in die Taschen. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, lenkte ihn von seinen Albträumen ab. Die unangenehme Anspannung war von ihm gewichten.
„Ich habe auch Kekse mitgebracht, genug für jeden.“
Toro blieb stehen. War das nicht die Stimme von Yngve gewesen? Neugierig folgte der der Stimme und kam wenig später in die Nähe einer Lichtung. Er lugte durch den Busch und beobachtete Yngve, wie er mit einigen Skrimsli im Kreis um eine Picknickdecke saß. Er hörte Lachen von Yngve aber auch den Skrimsli. Bis heute hatte er nicht gewusst, dass die Skrimsli überhaupt so herzlich lachen konnten. Er kannte nur finsteres, herausforderndes Lachen oder fletschende Zähne.
Rechts neben Yngve saß Alvarr, daneben konnte er noch ein Margiraugu sehen. Ein Skrimsli, welches wie eine junge Frau aussah und deren Arme von hundert kleinen Augen übersäht war. Auch einen Einnaugu konnte er ausmachen. Ein Wesen, welches nur ein großes Auge in seinem rundlichen Gesicht trug.
„Hast du noch Wasser, Menschenkind?“, fragte das Margiraugu und Toro beobachtete, wie Yngve Wasser in das Glas vor dem Wesen schüttete.
Er hockte sich hin und verfolgte die Szene still weiter. Sie gingen respektvoll miteinander um und schienen Spaß zu haben.
In seinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Erst letzte Woche hatte er auf einen Einnaugu geschossen und ihn nur knapp verfehlt. Sein Großvater hatte ihm daraufhin über eine halbe Stunde einen Vortrag gehalten, was nur aus der Familie werden solle, wenn er nicht einmal einen langsamen Skrimsli vernichten könne. Jetzt hatte er das Gefühl, dass es richtig gewesen war. Von dem Wesen schien keinerlei Gefahr auszugehen. Es war harmlos, schien geradezu freundlich, wenn seine Stimme auch grimmig klang.
Nachdem er eine Stunde in der Ferne gesessen hatte, richtete sich Toro wieder auf und trat den Heimweg an.
Angekommen führte sein Weg in die Bibliothek des Hauses, die er eigentlich immer mied, außer sein Großvater hatte ihm dicke Werke zum Lesen aufgetragen.
Er schritt die Regale entlang und griff nachdem Ratgeber über die Skrimsli, der schon seit Generationen in der Familie weitergegeben wurde. Er schlug den Eintrag zu dem Einnaugu auf.
„Kleine, einäugige Kobolde, die in allen Teilen des Landes bekannt sind. Sie haben ein einziges, ungeheures Auge, eine lange Zunge und tragen rasierte Köpfe und Roben wie kleine buddhistische Mönche“, las er laut vor. „In der Umgebung der Einnaugu ist Vorsicht geboten. Aus Überlieferungen geht vor, dass sich in ihrer langen Zunge Giftstoffe befinden, die ihr Opfer töten können.“
Toro geriet ins Zweifeln, ob das wirklich alles so stimmte. Das Wesen hatte alles andere als gefährlich gewirkt. Es war geradezu freundlich gewesen. Er überflog auch die anderen Beiträge zu den Skrimsli, die er gesehen hatte, musste aber feststellen, dass auch sie nicht zu seiner Zufriedenheit ausfielen.
Er klappte das Buch zu und ging die mit Büchern gefüllten Reihen entlang. Nach einiger Zeit fiel ihm eine unscheinbare Mappe auf, die in einem der oberen Regale stand. Toro stellte sich auf Fingerspitzen, bekam den Rand der Mappe zu fassen und zog sie hinunter.
Studien der Skrimsli, stand dort in alten Buchstaben geschrieben. Neugierig klappte er das dünne Heft auf und begann zu lesen.
Ich habe nun über Jahre die Skrimsli studiert und musste mit Entsetzen feststellen, dass unser Bild dieser Wesen ein vollkommen Falsches war. Unter ihnen gibt es eine Vielzahl von liebenswürdigen Gattungen, die es zu achten, und zu schützen gilt. In der Jagd sollten wir deshalb von nun an darauf bedacht sein, nur die Skrimsli von böser Natur zu töten oder zu versiegeln. In diesem Werk habe ich eine Liste derjenigen Skrimsli angefertigt, die es zu töten gilt. Hitotsume, 30.04.1965
Toros Augen weiteren sich, als der das Datum las. Es war über fünfzig Jahre her, seit das Heft verfasst wurde und es schien sich dennoch nichts geändert zu haben. War das Werk in Vergessenheit geraden? Was genau war der Grund dafür, dass es auf einem der obersten Regalbretter verstaubte. Es nagte in ihm, darüber mehr herauszufinden.
*
„Ich habe es dir nicht gezeigt, weil es Blödsinn ist!“
Auf der Stirn seines Großvaters trat eine Ader hervor, der Kopf lief rot an.
„Aber wäre es nicht möglich, dass vielleicht an diesen Forschungen, doch was dran ist?“, fühlte er vorsichtig nach.
„Nein!“
„Großvater, ich denke wirklich, dass wir auch in Betracht ziehen sollten, dass …“
„Es ist genug, Toro!“
Dieses Mal war es sein Vater gewesen, der ihn unterbrach.
Wieso wollten sie denn das nicht hören? Es ging doch hier schließlich um ihren Beruf? Um das, was ihnen seit Jahrzehnten mitgegeben wurde.
„Da ist ein Junge in meiner Klasse, er kann diese Wesen auch sehen und er …“
„Was für ein Junge!?“
Wieder ließ man ihn nicht ausreden. Die forsche Stimme seines Großvaters ließ ihn erneut verstummen.
„Wie ist sein Name?“, fragte sein Großvater mit Nachdruck.
„Yngve Arctander.“
Ein Lachen erfüllte den Raum. „Die Arctanders sind Feiglinge. Höre nicht auf die! Die verbünden sich mit den Skrimsli, weil sie schwach sind.“
„Aber das Buch hier, das wurde doch von einem Mitglied unserer Familie geschrieben“, setzte er an.
„Auch in unsere Familie gibt es Schwache.“ Die Augen des Großvaters schienen ihn zu durchbohren. „Du scheinst das beste Beispiel dafür zu sein.“
„Großvater, ich denke wirklich, dass wir auch …“
„Genug!“ Die Faust seines Großvaters knallte auf den Tisch. „Du wirst jetzt in dein Zimmer gehen und ich will dich den restlichen Tag nicht mehr sehen. Solche Worte werde ich in meinem Haus nicht dulden! Ist das klar?!“
Toro sah hilfesuchend nach seinem Vater, doch der schüttelte nur den Kopf. Also gab er auf und nickte stumm.
Wieso wollten sie nicht hören? Wieso war dieser Gedanke so abwegig? Und was war das mit den Arctanders?
„Und ich möchte nicht, dass du dich weiter mit diesen Jungen herumtreibst!“, fügte sein Großvater an.
„Er heißt Yngve“, flüsterte er.
„Es ist mir egal, wie er heißt. Du wirst ihn nicht wiedersehen!“
Toro nickte wieder, obwohl er bereits wusste, dass er diesen Befehl nicht befolgen wollte. Er hatte das Gefühl, als könnte ihm nur Yngve die Antworten geben, die er suchte.
Der Wald war dunkel und unheimlich. Bei jedem seiner Schritte knirschte es unter seinen Füßen und jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er meinte, weitere Schritte hinter sich zu hören. Wurde er verfolgt?
Da schon wieder! Er hechtete hinter einen Stamm einer wuchtigen Eiche und presste sich an die Rinde. Sein Herz schlug wild und es dauerte einige Zeit, bevor er den Mut aufbrachte einen Blick zu riskieren.
War sein Verfolger da? Wurde er überhaupt verfolgt?
Er schüttelte den Kopf und lachte über seine bescheuerte Angst, ehe er hinter den Baum hervortrat und zurück auf den Weg ging.
„Bald, Veiðimaður! Bald wirst du zu mir kommen!“
Toro wirbelte erschrocken herum.
Direkt hinter ihm auf dem Weg stand das Vogelwesen. Seine Augen funkelten ihn an und es lachte laut. Dann preschte es auf ihn zu. Nur kurz darauf beherrschten ihn Schmerzen.
Er schreckte aus dem Schlaf hoch und seine Hand ging an seine Brust. Er hatte das Gefühl, als würde sie jeden Moment zerspringen. Sein Herz schlug schnell und unrhythmisch, während seine Lungen panisch versuchten, Sauerstoff zu sammeln.
Dieses Skrimsli, hatte es etwas mit ihm gemacht? War es die Ursache für seine Albträume? Konnte ein Skrimsli so was wirklich vollbringen? Er schüttelte den Kopf, versuchte, den Gedanken aus seinem Körper zu verbannen. Das war Blödsinn, redete er sich selbst ein. Da war nichts dran. Es war davongelaufen an jenem Tag.
Toro hatte es versucht, doch er hatte keinen Schlaf mehr finden können. Er hatte die ganze Nacht über wach gelegen und über die letzten Tage nachgedacht. Außerdem waren die Schmerzen in seinem Brustkorb dieses Mal nicht vollständig abgeebbt und es herrschte ein unangenehmer Druck, als würde ein dickes Tier auf seinem Oberkörper liegen. Als sein Wecker klingelte, erhob er sich mechanisch, duschte und ging dann herunter in die Küche.
Sein Vater und sein Großvater sahen ihn nur kurz an und senken dann wieder ihre Blicke in Richtung Teller. Bei seiner Mutter war es anders. Nur unmittelbar, nachdem er sich gesetzt hatte, spürte er ihre kühle Hand auf seiner Stirn.
„Geht es dir nicht gut, mein Schatz? Du bist ganz blass und ich glaube du hast auch etwas Fieber.“
„Es geht schon“, wich er aus. „Ich habe nur schlecht geschlafen.“
„Ich hoffe, du hast die letzten Stunden genutzt, um über die Sachen nachzudenken, die du gestern gesagt hast“, sagte sein Großvater.
„Natürlich habe ich das“, log er.
Das restliche Frühstück verlief still und niemand aus der Familie sagte ein Wort. Es lag eine frostige Stimmung über der Küche und Toro war froh, als er endlich zur Schule aufbrechen konnte. Er schulterte seinen Taschen und verließ dann eilig das Haus. Heute war er extra früh dran, er hoffe, dass er vielleicht schon vor dem Unterricht mit Yngve reden konnte.
Doch zu seiner Enttäuschung war Yngve heute einer der letzten und er kam nicht dazu, ihn anzusprechen, bevor der Lehrer in den Klassenraum trat.
Toro lauschte dem Unterricht nur halbherzig. Einerseits waren seine Gedanken bei den Skrimsli, andererseits fühlte er diese Schwere über seinem Körper. Er war unheimlich müde, hinter seiner Schädeldecke hämmerte es unangenehm und der Klassenraum hatte sich durch die Sommerhitze aufgeheizt.
„Toro, würdest du bitte zur Tafel kommen, diese Aufgabe hier lösen?“
Er versuchte, sich auf den Lehrer zu konzentrieren und nickte. Er spürte einen leichten Schwindel, als er aufstand und den schmalen Gang zwischen den Tischen zur Tafel hinaufging.
Toro griff nach dem Stück Kreide und sah die Zahlen an, die zu einer weißen Brühe verschwammen. Alles geriet mit einem Mal in Schieflage. Er schloss die Augen für einige Sekunden, ehe er sie wieder öffnete. Es half nicht. Schweiß brach aus allen Poren, das Pochen in seinem Kopf wurde stärker. Der Boden unter ihm gab nach, verschwand. Er suchte nach Halt. Wie durch einen Schleicher hörte er weit entfernt die Stimme es Lehrers. Die Knie gaben unter ihm nach, er sank in eine Ohnmacht.
Schmerz durchfuhr seinen Schädel. Das Erste, was Toro wahrnahm, noch lange, bevor er die Augen zu öffnen wagte, war das Pochen hinter seiner Schädeldecke. Unangenehm zog es sich von seiner linken Schläfe, quer durch den ganzen Kopf. Mit einem Mal wünschte er sich die Ohnmacht zurück. Da hatte er zumindest keine Schmerzen verspürt. Toro versuchte, sich einen Weg aus der Dunkelheit herauszukämpfen und den seltsamen Nebel zu vertreiben. Sein Körper fühlte sich schwer an. Wo war er?
Er öffnete die Augen, presste die Lider aber wieder zusammen, als das Licht in seinen Augen stach. Beim zweiten Versuch lief es besser und die Augen gewöhnten sich langsam an die Umgebung.
„Du bist wieder wach“, ertönte eine Stimme.
Toro sah nach rechts und blickte geradewegs in das Gesicht von Yngve.
„Was ist passiert?“, flüsterte er.
„Du bist umgekippt, warst völlig weg“, erklärte ihm Yngve. „Du hattest ziemlich hohes Fieber, aber es hat schnell wieder nachgelassen.“
„Ich verstehe.“
„Deine Mutter wird vorbeikommen und dich abholen.“
„Dann solltest du vielleicht gehen“, nuschelte er hervor.
Yngves Stirn kräuselte sich. „Aus welchem Grund?“
„Ich war gestern nicht ganz ehrlich zu dir.“ Toro fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Ich … meine Familie … wir sind …“
„Ihr seid Jäger“, vervollständigte Yngve den Satz.
„Woher?“, erwiderte er überrascht.
„Mein Vater sagte, dass du bestimmt ein Jäger wärst, dein Nachname hat es ihm dann bestätigt.“
„Ich verstehe.“ Toro ließ den Kopf in sein Kissen sinken und sah an die Decke. „Ich hatte gehofft, es dir in Ruhe erklären zu können.“
„Ich bin nicht wütend. Vielleicht enttäuscht, dass du es mir nicht direkt gesagt hast, aber nicht wütend.“
„Ich habe dich gestern im Wald gesehen“, murmelte Toro.
„Ich dich auch“, gab Yngve zurück. „Wieso bist du nicht rübergekommen?“
„Für den Augenblick wollte ich nur schauen, die Skrimsli beobachten.“
Yngve lachte. „Ich hoffe, du hast wenigstens was dabei gelernt.“
„Eine Menge … ich würde gerne mehr darüber reden, über das Gute und Böse in der Welt der Skrimsli.“
Yngve wollte antworten, doch dann klopfte es an der Tür und wenig später kam seine Mutter in das Zimmer. Sie strich durch seine Haare und er spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf stieg. Musste sie das denn vor einem gleichaltrigen Freund machen.
„Was machst du denn für Sachen, Schatz? Wie geht es dir?“
Er richtete den Oberkörper auf. „Es geht schon wieder, vielleicht habe ich einfach zu wenig geschlafen und getrunken.“
„Ich habe einen Termin beim Arzt gemacht, wir werden gleich hinfahren und das überprüfen.“
Seine Mutter sah auf Yngve. „Danke, dass du ihm Gesellschaft geleistet hast.“
„Keine Ursache.“ Yngve erhob sich von seinem Stuhl und lächelte Toros Mutter an. „Ich werde dann jetzt zurück in den Klassenraum gehen. Ich werde dir schreiben, was wir als Schulaufgaben bekommen.“
In den Folgetagen hätte sich Toro am liebsten tief in seinem Bett vergraben. In der Nacht hatte er erneut Fieber bekommen und sich die Lunge aus dem Leib gehustet. Hinzu kamen Gliederschmerzen. Mal hatte er geschwitzt, dann kurz darauf erbärmlich gefroren. Dazu kamen ständige Albträume.
Immer und immer wieder hatte er sich in diesem Wald wiedergefunden.
Immer und immer wieder hatte er dem Vogelwesen gegenübergestanden, welches ihm versprach, dass er ihn holen würde.
Erst nach vier Tagen sank das Fieber und der Schüttelfrost verschwand.
Obwohl er sich noch immer schlapp fühlte, kämpfte er sich aus dem Bett und zog sich einen warmen Pullover über. Dann ging er nach unten und sagte seiner Mutter, dass er ein bisschen an die frische Luft wollte. Natürlich war sie dagegen, doch nachdem er ihr versichert hatte, dass es ihm wirklich gut ging, erlaubte sie es ihm. Er sollte sie aber anrufen, wenn es ihm schlechter ging.
Toro versprach, dass er das tun würde und brach dann auf. Er schlug ein hohes Tempo an, doch als ihm schnell die Luft ausging, wurde er langsamer. Dennoch hatte es nicht länger als fünfzehn Minuten benötigt und er stand vor dem Haus von Yngve. Ein kleines Einfamilienhaus, jedoch mit einem großen Garten.
Toro holte sein Handy aus der Tasche und rief dann bei Yngve durch. Es dauerte nicht lange und er meldete sich.
„Ich bin es, Toro“, sagte er. „Hast du Zeit für mich?“
„Sicher, soll ich vorbeikommen?“
„Ehrlich gesagt … ich stehe gerade vor deiner Tür.“
Er sah, wie jemand ans Fenster trat und die Vorhänge zur Seite schob. Er sah in Yngves Gesicht.
„Ich komme sofort runter“, versprach er und legte dann auf.
Wenig später wurde die Tür geöffnet und Yngve öffnete ihm das Gartentor. „Du hättest ruhig klingeln können“, sagte er und lachte. „Wie geht es dir?“
„Besser“, antwortete er und folgte Yngve durch den Garten in Richtung Haus.
„Hast uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“
„Muss wohl doch eine Grippe gewesen sein.“ Toro kratzte sich am Kopf. „Ich bin zwar noch etwas müde, aber ansonsten bin ich wieder auf dem Damm.“
Inzwischen waren sie in dem schmalen Hausflur und Toro zog sich die Schuhe aus, um sie wenig später in eine Reihe mit denen von Yngve und seiner Familie zu stellen.
„Hast du noch Geschwister?“, fragte er.
„Wieso fragst du?“
„Na, wegen der vielen Schuhe.“
Yngve lachte. „Du scheinst wirklich ziemlich fit im Kopf zu sein. Ich habe noch einen Bruder und eine Schwester. Und du?“
„Ich bin Einzelkind.“
Sie wollten gerade weitergehen ins Yngves Zimmer, da ertönte eine tiefe Stimme aus einem der Räume: „Hast du einen Freund hier, Yngve?“
„Ja, aus der Schule.“
„Willst du ihn mir nicht vorstellen.“
Toro sah, wie Yngve zögerte.
„Es ist schon okay“, sagte Toro.
„Er wird wissen, wer du bist“, flüsterte Yngve ihm zu.
„Genau deshalb bin ich hier, ich will wissen, ob meine Familie all die Jahre falsch gehandelt hat.“
Yngve nickte ihm zu und Toro folgte seinem Freund in Richtung Wohnzimmer.
Ein großer, stämmiger Mann saß in einem Sessel und stand auf, als er sie erblickte. Er reichte ihm die Hand und drückte sie so fest, dass er Angst hatte, dass ihm gleich die Knochen brechen würden.
„Gungir“, stellte er sich vor.
„Toro“, erwiderte er und merkte sofort, wie sich die Gesichtszüge seines Gegenübers verhärteten. „Ich bin hier, damit mir Yngve mehr über Skrimsli erzählen kann. Ich denke, dass es da vielleicht mehr gibt, als mein Vater und mein Großvater mir lehren“, fügte er schnell an.
Nun begann Gungir zu lächeln. „Jyrki war schon immer ein Narr.“
„Sie kennen meinen Großvater?“
„Sicher, sicher … deine Familie ist immerhin die mit dem größten Einfluss unter den Jägern. Als Jugendlicher war ich bei einigen Treffen, aus reiner Neugier, aber ich verstand schnell, wieso mein Vater sich von diesen Verbindungen gelöst hat. Nichts als Hass wird dort geschürt.“
Er nickte in Richtung Sofa. „Komm, setz dich, was willst du wissen?“
„Ich weiß nicht … vor einigen Tagen, da habe ich in der Bibliothek dieses Buch gefunden. Es hatte ein Vorwort, in dem stand, dass wir seit Jahren falsch handeln würden und es Zeit wäre für eine Änderung.“
„Ah, sicher von Kollsvein. Ein Bruder deines Urgroßvaters, wenn ich mich recht erinnere. Er hat die Skrimsli intensiv studiert. Das Buch hat er kurz vor seinem Tod verfasst.“
„Ich … wie ist das? Jagt ihr überhaupt nicht oder nur die Skrimsli, die böse Absichten in sich tragen. Wie erkenne ich die Guten von den Bösen? Woran mache ich fest, was eine böse Absicht ist? Kann man wirklich mit einem Skrimsli befreundet sein?“
Die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus. Immer neue Fragen fanden den Weg über seine Lippen.
Irgendwann hob Gungir die Hand. „Wenn du wie ein Wasserfall redest, wirst du keine Antworten erhalten“, sagte er.
Toro presste die Lippen zusammen und knetete nervös seine Hände.
„Wir haben ein paar Gebete, um uns zu verteidigen, wenn uns ein Skrimsli angreift, aber wir gehen nicht bewusst auf die Jagd wie dein Großvater und Vater es tun“, erklärte ihm Gungir. „Was deine zweite Frage angeht. Ich denke, man lernt es mit der Zeit, was ein gutes und was ein böses Wesen ist. Es gibt leichte Unterschiede in der Aura, die sie ausstoßen. Ich denke, dass beantwortet auch deine dritte Frage.“
Toro nickte.
„Was war da noch?“
„Ob man mit einem Skrimsli befreundet sein kann“, wiederholte Toro.
Gungir sah zu seinem Sohn. „Ich denke, die Frage kann dir auch Yngve beantworten.“
Yngve kratzte sich am Kopf. „Zumindest ich und Alvarr sind schon seit einer Ewigkeit Freunde. Du hast ihn ja getroffen. Er ist ein toller Kerl.“
„Ja … ich denke schon.“
Toro musste zugeben, dass ihm das Ganze doch unangenehm war. Er hatte nicht gerade gut auf Alvarr reagiert und vermutlich war das Steinwesen immer noch nicht gut auf ihn zu sprechen. Vielleicht sollte er sich bei ihm entschuldigen?
„Ist Alvarr auch hier?“
„Er ist in den Wald, mit ein paar Freunden spielen“, antwortete Yngve. „Aber, wenn du Glück hast, dann kommt er später noch. Manchmal da schläft er bei uns im Garten, er mag den Platz unter der alten Buche.“
„Ich glaube, ich habe keinen guten Eindruck bei ihm hinterlassen.“
Gungir lachte aus voller Kehle. „Er hat den Abend lange über dich geflucht, ja. Aber inzwischen hat er dir sicherlich verziehen.“
Toro zupfte an seinem Pulloverärmel. „Wenn es möglich wäre, dann würde ich gerne mehr über Skrimsli erfahren … also andere Dinge, als diejenigen, die meine Familie mir lehrt.“ Er sah zu Yngve. „In den letzten Tagen, da habe ich durch Yngve das Gefühl bekommen, dass ich bisher falsch über die Skrimsli gedacht habe.“
„Dir ist nicht in den Sinn gekommen, dass Yngve vielleicht falsch in der Annahme ist, sich mit diesen Wesen zu befreunden? Ihr kennt euch immerhin erst einige Tage.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nie. Oder zumindest schnell nicht mehr.“
„Du bist immer hier willkommen“, erklärte Gungir und stand auf. „Will jemand von euch ein Eis oder etwas anderes?“
„Ich nehme ein Eis“, antwortete Yngve. „Du auch, Toro?“
„Wenn es keine Umstände macht“, antwortete Toro.
Nach einigen Minuten kam Gungir mit drei Eis am Stiel zurück und hatte außerdem einen Bogen über die Schulter gelegt. „Ich habe gehört, dass ein geübter Jäger einen Pfeil aus spiritueller Energie formen kann.“
„Ja, das stimmt.“
„In meiner Familie haben wir das Bogenschießen nicht mehr weitergegeben, mein Vater war der Letzte, der es konnte. Willst du es uns vielleicht vorführen?“
„Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dass es in dieses Haus passt, in dem alles so friedvoll ist, was die Skrimsli anbelangt.“
„Zur Selbstverteidigung halte ich den Gebrauch von Pfeil und Bogen nicht für verkehrt. Es mag zwar viele gutartige Skrimsli geben, aber auch solche, die man nicht an sich heranlassen sollte. Gefährliche, hasserfüllte Wesen.“
Toro nickte, stand dann auf und nahm Gungir den Bogen ab. „Ich bin noch nicht so gut wie mein Vater oder Großvater“, merkte er an und begann dann ein Gebet zu murmeln, während er gleichzeitig den Bogen spannte. Nach und nach bildete sich an der Sehne ein Pfeil aus hellen Lichtpartikeln.
„Beeindruckend!“, rief Gungir. „Du musst über viel spirituelle Kraft verfügen, wenn du es in deinem Alter schon so gut kannst.“
Toro lächelte und stolz erfüllt ihn. Nie hatte er Lob von seinem Großvater bekommen, für das, was er in seinen jungen Jahren schon erreicht hatte. Immer hatte es geheißen, dass er hätte schon viel weiter sein können.
Dann erstarben seine Gesichtszüge. Seine Muskeln begannen zu zittern und kurz darauf breitete sich wieder einmal das beengende Gefühl in seine Brust aus. Er bekam keine Luft, musste Husten. Er geriet in Panik, als der Hustenanfall kein Ende finden wollte. Seine Lunge brannte, als hätte man sie angezündet.
Wieso bekam er keine Luft? Wieso ständig diese Anfälle?
Tränen bildeten sich in seinen Augen, da der Schmerz und der Husten nicht aufhörten.
Sein Herz raste und stolperte, und es fühlte sich an, als würde es nicht wieder zu seinem Rhythmus zurückfinden. Er erstickte …
„Toro? Hörst du mich?“
Er merkte, wie alles um ihn herum sich zu drehen begann und sich vor seinen Augen schwarze Punkte sammelten. Sein Brustkorb fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen. Er bekam kaum Luft, das Blut pochte ihm heftig in den Schläfen ..
„Wenn du mich hörst, dann nickst du, ja?“
Er rang sich zu einem Nicken durch.
„Ich nehme dir jetzt den Bogen aus der Hand, okay? Versuch, ruhig zu atmen.“
Eine starke Hand umgriff seine Finger und löste sie von dem Bogen, den er krampfhaft umfasste.
„Gut machst du das. Ich lege dich jetzt auf das Sofa, ja?“
„Ich bekomme keine … Luft“, keuchte er hervor.
„Du musst versuchen, ruhig zu atmen.“
Toro versuchte den Anweisungen zu folgen, doch als es nicht klappte geriet er in Panik. Die Schmerzen waren unerträglich und er merkte, wie er langsam in Dunkelheit hinabsank.
Eine Hand klatsche gegen seine Wangen. „Versuch, jetzt wach zu bleiben, Toro“, sagte eine harte Stimme. „Nur nicht einschlafen. Du darfst nicht einschlafen, hörst du?“
„Wieso nicht? Ich bin so müde …“
„Toro, tu mir den Gefallen und mach die Augen wieder auf, ja?“
„Ich bin müde …“, murmelte er. „Will schlafen.“
Wieder spürte er harte Schläge. „Nur nicht schlafen, komm, wachbleiben!“
„Was ist denn mit ihm, Papa?“
Eine Hand legte sich auf seine Brust. „Vielleicht ein Fuglverur …“ Dann wieder Schläge. „Toro, bist du in den letzten Tagen einem Fuglverur begegnet?“
Seine Augen öffneten sich einen Spalt und vor ihm tauchte verschwommen das Gesicht von Gungir auf. „Ein Fuglverur?“, nuschelte er unter schweren Atemzügen hervor.
„Ein Wesen, halb Mensch halb Vogel. Hast du es gesehen?“
Seine Lider wurden schwerer. Er wollte schlafen, nur schlafen. Alles andere war ihm egal. Er war so fürchterlich müde, wollte nichts anders als sich der bleienden Ohnmacht geschlagen geben.
Doch die nagende Stimme wollte ihn nicht schlafen lassen. „Nicht einschlafen, Toro. Bitte antworte mir. Hast du ein Fuglverur gesehen?“
Seine Lider fühlten sich an, wie mit Steinen beschwert. Er wollte nichts mehr als sich der Dunkelheit geschlagen geben, die sich um ihn ausbreitete. Ein letztes Blinzeln, dann sank sein Kopf zur Seite. Von ganz weit weg vernahm er die aufgeregte Stimme von Gungir, die in immer weitere Ferne rutschte, ehe sie verstummte.
Toro fand sich an einem ihm bereits bekannten Ort wieder. Er stand in dem dunkeln Wald, lauschte nervös den Geräuschen. Über ihm schreckten Vögel auf und flogen davon. Irgendetwas lauerte in der Dunkelheit. Er war sich ganz sicher, dass dort etwas war.
Dann hörte er ein lautes Zischen und etwas preschten auf ihn zu.
War es wieder dieses Skrimsli-Rudel? Sein Atem ging flach und schnell. Seine Augen weiteten sich erschrocken, als ihm bewusst wurde, was sein Gegner war. Eine achtköpfige Riesenschlange, die ebenso viele Schwänze besaß. Das Brüllen der Kreatur brachte Toro zum Erzittern. Ihre gelben Augen funkelten ihn an und ehe er sich versah, senkte sich einer ihrer Köpfe zum Angriff. Pfeilschnell preschte das Tier auf ihn zu. Es war alleine seiner Agilität zu verdanken, dass er dem Kiefer im letzten Moment ausweichen konnte und sich am Boden abrollte. Ein zweiter Kopf zischte auf ihn zu und traf nur wenig Meter neben ihm auf. Er rollte sich weg, duckte sich, tat alles um den Köpfen des Tieres zu entkommen, dass ihn als sein Abendessen auserwählt hatte.
Die Kreatur versuchte einen erneuten Angriff. Diesmal mit zwei Köpfen zur gleichen Zeit. Er versuchte, beide abzuwehren, doch er wusste, er würde keine Chance haben. Während einem Kopf auswich, bohrte sich der Kiefer des anderen schmerzhaft in seinen Arm. Der scharfe, heiße Schmerz, ließ ihn beinahe ohnmächtig werden. Ein lautloser Schrei entglitt seinen Lippen.
Irgendwie schaffte er es, sich zu ergeben. Seine Beine zitterten unter ihm und er hatte das Gefühl, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Irgendwie brachte er sich dazu, loszulaufen. Er wusste, dass er keine Chance hatte gegen dieses Wesen. Er rannte, so schnell es ging. Toro spürte, wie warmes Blut seinen Arm herablief, von seinen zitternden Fingern herabtropfte und von dort zu Boden tropfte. Die Schmerzen der Verletzungen zogen sich durch seinen gesamten Körper.
Der Blutverlust begann sich langsam bemerkbar zu machen und er spürte, wie ihm seine Sinne immer mehr schwanden.
Doch er kämpfte sich weiter vor.
Wenn er sich eine Pause gönnte, dann würde das Monster ihn einholen und er würde sich über seine Schmerzen keine Sorgen mehr machen brauchen.
Er beschleunigte seine Schritte, als er das Brüllen der Kreatur hinter sich vernahm.
Er musste sich konzentrieren, um nicht über die feuchte Erde zu rutschen. Die weißen Punkte vor seinen Augen wurden mehr und er schüttelte den Kopf, um die Sinne wieder klar zu bekommen.
Doch es schien nur noch wenig zu helfen. Neuer Schwindel erfasste ihn und er stolperte unvorsichtig zu Boden und rutschte ein Stück weiter.
Erschrocken stellte er fest, wie der Boden unter ihm nachgab und er in die Tiefe stürzte. Er versuchte, nach etwas zu greifen, doch die Wurzel, die er mit seinen Fingern umschlang, konnte sein Gewicht nicht halten und riss. Er rutschte mit dem Schlamm den Abhang herunter. Seine Hände suchten abermals nach Halt, schlürften dabei unangenehm auf. Er rutschte über einen Felsen, kam auf einem anderen wieder auf. Der Aufprall schlug ihm die Luft aus den Lungen. Er riss den gesunden Arm an die Felsenwand, machte abermals den Versuch den weiteren Sturz zu verhindern, doch versagte. Neue Wunden taten sich auf. Er verlor immer mehr die Orientierung. Mit voller Geschwindigkeit knallte er mit dem Kopf gegen einen plötzlich aus dem Boden ragenden Felskanten, ohne noch ausweichen zu können. Seine Augen verdrehten sich und er sackte bewusstlos zusammen, während sein Körper weiter den Abhang herunter schlitterte.
Als er wieder zu sich kam, spürte er Schmerzen am ganzen Körper. Er schmeckte Blut und sein Kopf dröhnte, dass er glaubte, er würde gleich platzen. Aber er lebte noch und war darüber hinaus der Kreatur entkommen. Toro versuchte, seinen Körper hochzustemmen, fiel jedoch zurück auf die Erde, als fürchterliche Schmerzen seinen rechten Arm durchzuckten. Der Schlangenbiss kam ihm wieder in den Sinn und er betrachtete den Arm. Das Tier schien seinen Knochen und seine Muskeln verletzt zu haben. Der Arm war unbrauchbar.
Notdürftig riss Toro ein Stück von seiner Kleidung ab und stabilisierte damit seinen Arm, indem er eine Schlinge darum band. Anschließend zog er seinen Pullover ein Stück nach oben und betrachtete seinen Oberkörper. Seine linke Seite war von einem großen Hämatom gekennzeichnet. Er drückte vorsichtig mit den Fingern darauf, bereute es jedoch sofort. Die kleinste Berührung, ließ ihn vor Schmerzen laut aufschreien.
Er schloss für einige Minuten die Augen, riss sie jedoch wieder auf, als ein schriller und lauter Schrei ihn zusammenzucken ließ. Was war das? Wo war er nun wieder gelandet? Toro zog sich nun schwermütig mit dem linken Arm nach oben. Er spürte, wie er für einen Augenblick das Gleichgewicht verlor und sich alles um ihn drehte. Toro drückte ein paar Mal die Augen zusammen und wartete darauf, dass der Schwindel ihn verließ. Er sah sich um.
Nebel.
Nichts als dichter Nebel umgab ihn.
Die grauweißen Schwaden umkreisten ihn wie ein schweres Band.
Er hörte wieder Schreie. Konzentriert blickte er umher, um sich nicht von einem Gegner überraschen zu lassen. In dem dichten Nebel begannen sich Silhouetten abzuzeichnen, die wie Gespenster umherwanderten. Direkt vor ihm, tauchte eine alte Dame auf, die vor sich hinmurmelte. Der Blick aus ihren matten Augen wirkte abwesend. Tot. „Wer sind Sie? Wo bin ich hier?“, sprach Toro sie an. Sie lief weiter, reagierte nicht auf seine Rufe. Er lief ihr hinterher, packte nach ihrer Hand, doch auch jetzt erhielt er keine Reaktion von der Frau. Er lockerte seinen Griff und sah, wie sie wieder im Nebel verschwand.
Toro sah sich um. Wo war er hier nur gelandet? In dem dichten Nebel sah man die Hand vor Augen nicht. Hilfeschreie erfüllten die Luft und er blieb wie angewurzelt stehen. Von wo waren die Schreie gekommen? „Hallo!“, rief er in den Nebel. Er erhielt keine Antwort und ging weiter, ohne dass er überhaupt wusste, in welche Richtung er gehen musste. Ziellos streifte er weiter, wohlwissend, dass er sich schon lange in diesem Nebel verloren hatte und Glück brauchte, um wieder herauszufinden aus diesem Labyrinth aus Nichts.
„Ich werde niemals glücklich sein, ich werde niemals glücklich sein.“
Ein Mann lief an ihm vorbei, wiederholte diese Worte wie ein Mantra.
Toro hatte versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch es hatte keinen Zweck gehabt. Er erhielt keine abermals Antwort.
Langsam wurde ihm bewusst, dass dies kein normaler Nebel sein konnte. Er schien die Leute in den Wahnsinn zu treiben. Deshalb war niemand, den er hier vorfand, bei klarem Verstand.
Er hastete los, Panik erfasst ihn. Er musste hier raus kommen!
Toro spürte, wie die Erschöpfung schon nach wenigen Metern nach ihm griff.
Seine Lungen schmerzten. Er konnte nicht mehr! Warum schaffte er es nicht, die nötige Luft in seine Lungen zu pumpen?
Er stolperte, fiel hin und stand stöhnend wieder auf, rannte und rannte.
Er rannte so lange, bis er gegen etwas prallte und längs auf den Boden fiel. Von dem harten, plötzlichen Schlag auf seine Brust, blieb ihm die Luft weg. Ihm schwanden die Sinne und für einen kurzen Moment tanzten weiße Lichtpunkte vor seinen Augen. Er zog sich schwer atmend wieder hoch und betrachtete seine zitternde Hand. Er sah sich um, konnte aber nicht ausmachen, was ihn zu Fall gebracht hatte.
„Du musst jetzt die Ruhe behalten“, ermahnte er sich und schritt nun wieder bedachter durch den Nebel.
Doch auch jetzt, schien die Umgebung ihn einzukesseln. Seine Bewegungen wurden träger, er taumelte und stürzte immer öfter, bis er es schließlich nicht mehr schaffte, sich zu erheben.
„Du bist erbärmlich“, höhnte eine Stimme. Er sah nach oben. „Großvater“, entkam es ihm leise. Sein Großvater stand über ihm und lachte über seinen Anblick. „Nenn mich nicht Großvater! Hörst du? Nie wieder!... Du hast nicht nur mich enttäuscht, sondern hast der Familie eine Schande zugefügt, die nie wiedergutzumachen ist!“
„Großvater …“
Seine Stimme klang, wie die eines zehnjährigen Jungen, der nichts sehnlicher wollte, als seinem Großvater zu gefallen.
Sein Großvater packte ihn, drückte seine Kehle zu.
Er schnappte nach Luft, seine linke Hand umgriff das Handgelenk seines Vaters. Er wollte, dass er den Griff lockerte. Er brauchte dringend Sauerstoff.
„Ich habe dir gesagt, dass ich nicht mehr dein Großvater bin! Du bist dem Stand eines Jägers nicht würdig! Du und deine dummen Ideen bringen uns um unseren Ruf!“ Der Griff um seinen Hals lockerte sich und er keuchte nach Luft. „Bitte, ich werde dich nicht wieder enttäuschen … Großvater, bitte!“
Er erschrak, als er ihn abermals an den Haaren emporzog.
„Ich will mich nicht noch einmal wiederholen müssen! Du hast dir diese Stellung nicht verdient! Du bist ein Nichtsnutz. All meine Hoffnung habe ich auf dich gesetzt, doch jetzt muss ich wieder von vorne anfangen!“
Er ließ Toro wieder fallen und er blieb kauernd auf der Erde hocken.
„Ein Nichtsnutz … du hast keinen Wert“, murmelte er immer und immer wieder.
Die Worte hallen durch seinen Kopf, ließen ihn nicht mehr los. Drückten ihn zusammen, ließen ihn wie einen kleinen Jungen wirken. Er wollte stark sein und sich diesen Gedanken nicht hingegeben. „Du bist erbärmlich … hast keinen Wert für diese Welt.“
Er begann zu weinen, wischte mit der schmutzigen unverletzten Hand die Tränen übers Gesicht, so dass es mit Blut und Dreck verschmierte. „Bitte Großvater … schenk mir deine Liebe … bitte, ich werde alles für dich tun!“, schrie er in den dichten Nebel, ohne das er eine Antwort erhielt.
Toro wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann drang eine Stimme zu ihm durch, die immer und immer wieder seinen Namen rief und ihn an den Schultern rüttelte.
„Toro, wach wieder auf! Du musst wieder aufwachen.“ Das Rütteln wurde stärker. „Das ist nur ein Traum. Alles wird vorüber sein, wenn du aufwachst.“
„Ich bin erbärmlich, seiner nicht würdig“, flüsterte.
„Du bist deine eigene Person und du bist nicht erbärmlich. Ganz im Gegenteil, du bist stark.“
„Ja?“
„Wach auf, bitte. Du hast alles überstanden, du musst nur noch aufwachen.“
Nur aufwachen …
Sein Körper fühlte sich schwer an.
Wo war er?
Er hörte ein beharrliches Piepen von einem furchtbaren Zischen untermalt. Es roch nach Desinfektionsmittel. Er kannte diese Sinneseindrücke nur zu gut. Er war in einem Krankenhaus.
Toro blinzelte, öffnete seine Augen einen Spalt und presste die Lider dann wieder zusammen, als das grelle Licht in den Augen brannte. Er machte einen zweiten Versuch und diesmal gewöhnten sich seine Augen langsam an das Licht.
Er sah sich um. Ja, definitiv Krankenhaus. Die vielen Kabel, Schläuche und Geräte, von denen er umgeben war, ließen keinen anderen Schluss zu.
An dem Fenster saß eine Person, die lächelte.
„Schön, dich wach zu sehen.“
„Yngve“, murmelte er leise.
„Erinnerst du dich, was passiert ist?“
Er schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich nur noch daran, dass plötzlich alles um ihn schwarz wurde, er sich in diesem Albtraum wiederfand.
Toro hielt inne. Wieso hatte er Schmerzen in seiner Schulter, obwohl er nun wach war? Langsam drehte er den Kopf und blickte auf einen dicken, weißen Verband. „Wie … ?“
„Du warst von einem Fuglverur besessen.“
„Ein Fuglverur?“
„Ein gefährliches Skrimsli, halb Mensch halb Vogel.“
Nun fiel es ihm wieder ein. Vor der Schule, das Wesen, was plötzlich verschwunden war.
„Es hat dich über Tage geschwächt und schließlich in seine Welt gezogen. Eine mächtige Welt, in der es die Macht über weitere Skrimsli hat und seine Besucher psychischen Qualen aussetzen kann.“
„Aber meine Verletzung, wieso?“
„Es heißt, dass man alle Verletzungen, die man in dieser Welt erfährt, mit in die reale Welt nimmt.“ Yngve lächelte. „Aber keine Sorge, es ist schon wieder fast verheilt.“
„Wie lange … ?“
„Wie lange du schon hier bist?“
Er nickte.
„Fast zwei Wochen. Mein Vater hat schnell reagiert, als du zusammengebrochen warst, aber es hat trotzdem lange gedauert, bis das Skrimsli aus deinem Körper gewichen ist. Erst vor zwei Tagen ist es uns gelungen“, berichtete Yngve. „Mein Vater und dein Vater haben sich mit der Zeremonie abgewechselt, haben alles versucht, um es zu schwächen und schließlich zu exorzieren.“
„Aber ich war nur wenige Stunden dort“, presste er mühevoll hervor.
„Die Zeit in der Welt des Fuglverur vergeht langsam. Genau das ist das Tückische daran. Es gibt Leute, die haben über Jahre dort festgesessen.“ Yngve sah zu Boden. „Einige tun es immer noch, sagt mein Vater.“
Die Tür öffnete sich und Toros Vater trat herein. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, als er sah, dass er wach war.
„Endlich!“
Er trat ans Bett und griff nach Toros Hand, drückte sanft zu. „Ich habe solche Angst um dich gehabt. Gott sei dank ist alles gut gegangen. Wie geht es dir?“
„Müde“, nuschelte er.
„Das ist verständlich, nach all dem, was du durchmachen musstest.“ Toro meinte, Tränen in den Augen seines Vaters blitzen zu sehen. „Es tut mir leid, dass ich die Symptome nicht habe richtig deuten können. Zum Glück hat Gungir schnell reagiert und sofort damit begonnen Bannsprüche zu sprechen. Ich habe ihn sicherlich dein Leben zu verdanken.“
Toro schluckte. Es gefiel ihm nicht, dass sein Vater von solchen Dingen sprach. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass er hätte tot sein können.
„Vater, darf ich … ich würde gerne weiterhin zu Gungir gehen, damit er mich lehrt.“
Sein Vater nickte. „Natürlich, ich werde deinen Wunsch vor Großvater verteidigen. Immerhin war Gungir es, der dazu beigetragen hast, dass wir dich noch bei uns haben.“
In den nächsten Tagen ging es Toro immer besser und nach einer Woche durfte er das Krankenhaus verlassen. Zuhause hatte seine Mutter sein Lieblingsessen gekocht und sein Vater hatte auch Gungir und Yngve zu dem „Festessen“ eingeladen. Sein Großvater war nicht gekommen, er wollte sich nicht mit dem „Gesindel der Familie Arctander“ an einen Tisch setzen. Auch sonst hatte Toro mit seinem Großvater nur wenige Worte gewechselt. Tief in sich drin, da glaubte er, dass er sich vielleicht Vorwürfe machte, dass er nicht erkannt hatte, dass das Fuglverur in seinem Enkel gewütet hatte. Er hoffte, dass sich ihr Verhältnis in den nächsten Tagen wieder normalisieren würde, auch wenn ihre Beziehung ohnehin nie besonders eng gewesen war. Dafür hatte er neue Freunde gefunden. Gungir und Yngve hatten ihn dazu eingeladen in den Sommerferien gemeinsam eine Reise durch das Land zu machen und die verschiedenen Skrimski zu studieren. Er hatte gerne angenommen und sich vorgenommen wie damals der Bruder seines Urgroßvaters ein Buch über die Wesen zu verfassen. Es war an der Zeit, das alte Halbwissen zu verbannen, fand er.
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2017
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