Manchen Menschen steht ihr Lebensweg ins Gesicht geschrieben. Sie strahlen Angst aus und bekommen nur wenige Chancen in ihrem Leben. Misserfolge und Selbstvorwürfe fressen sie auf, sie sind nicht mehr als eine Randerscheinung der Gesellschaft.
Dann gibt es Menschen, die eine undurchdringbare Furchtlosigkeit besitzen und alle Situationen ohne Probleme meistern können. Als ein solcher Mensch war Jouni Manninen bekannt. Wer ihm auf die Füße trat, bezog eine Tracht Prügel.
Während aus den großen Lautsprechern in den Straßen der berühmte finnische Tango von Reijo Taipale erklang, saß Jouni auf dem Dach eines alten Gebäudes und beobachtete das Treiben aus weiter Ferne. Die Menschen feierten ausgelassen, doch er selbst konnte mit dem finnischen Tango nicht viel anfangen. Er half ihm, nicht dabei zu überleben.
Er blickte auf das Viertel. Sein Viertel. Ein ungeplantes, beengtes Durcheinander von Gebäuden, die ihre besten Jahre schon gesehen hatten.
Ein Gefängnis ohne Mauern. Dort unten galt das Recht des Stärkeren. Wer hart und rücksichtslos war und keine Gnade zeigte, war der Held. Jouni war so ein Mensch: Seine Art, Stärke und Zielstrebigkeit zu zeigen, war ein Erbe aus diesem Stadtteil. Er hatte gelernt, dass er nur so überleben konnte.
Und doch riss ihn der melancholische Tanz, der unter ihm auf den Straßen wirbelte, mit sich. Zum ersten Mal im Leben zweifelte er, ob er das Richtige tat.
Jouni sah in den Himmel. Der Mond verschwand immer wieder hinter dicken Wolken, Sterne waren keine zu sehen.
Er zitterte ein wenig, aber nicht vor Kälte. Es war die Unruhe, die in seinem Körper wütete. Das Durcheinander seiner Gedanken, das wie ein Sturm durch sein Gehirn fegte. Wer war er? Was wollte er?
Die Pistole in seinem Hosenbund drückte in seinen Rücken. Ein trügerisches Werkzeug der Macht, welches er in den nächsten Stunden benutzen würde. Denn wer sich mit ihm anlegte, der hatte es nicht anders verdient.
»Jouni.«
Er vernahm Schritte hinter sich, kurz darauf setzte sich jemand neben ihn.
Lange herrschte Schweigen zwischen den beiden Personen.
»Jenseits von dem weiten Meer, da liegt versteckt ein Land, wo die Wellen endlich schlafen an dem fernen Strand«, wiederholte eine Stimme die ersten Zeilen des Liedes, welches unter ihnen auf der Straße gespielt wurde.
»Was willst du damit sagen, Ville?«
Ein Lachen ertönte neben ihm. »Sehnst du dich nicht nach der Ferne, in der du alles vergessen kannst?«
»Es geht um meinen Ruf … Vaters Ruf.« Jouni löste seinen Blick vom Himmel und sah zu der Person neben sich. Ein Junge in seinem Alter. Blonde zerzauste Haare, stechend blaue Augen. Sein bester Freund … nein, sie waren keine Freunde mehr. Er hatte ihm die Freundschaft gekündigt, als er von seinen Plänen erfahren hatte. Ville war zu weich für diese Welt.
»Es wird dich zerstören.«
»Was weißt du schon.«
Ville zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass du nicht der bist, für den dich einige da unten halten.«
Stimmte es? Er wusste es nicht. Er wusste, dass er in eine Tiefe gezogen wurde. Einen Abgrund, auf dessen Grund die Dämonen auf ihn warteten.
Er zog die Waffe aus dem Hosenbund und betrachtete sie. »Pekka hat meinen Onkel ins Krankenhaus geprügelt.«
»Und was wird danach passieren? Wenn du ihn getötet hast?«
Ville stand auf. »Denk darüber nach. Aber ich sage dir, das wird die Gewaltspirale nicht beenden.«
Jouni spürte die Hand seines Freundes auf der Schulter. »Du bist nicht dein Vater. Es wird Zeit, dass du dir darüber klar wirst, was du willst.«
Die Hand entfernte sich wieder von seiner Schulter, es waren Schritte zu hören und dann war Jouni wieder alleine.
Was wollte er vom Leben? Wohin sollte sein Weg überhaupt gehen? War er nicht dazu bestimmt, seinem Vater zu folgen, so wie es auch schon dessen Vater getan hatte? Immerhin war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich niemand mit der Manninen-Familie anlegte. Und wer ein solches Gesetz brach, musste bestraft werden. Dieses Mal war er eben derjenige, der die Strafe ausführte. Sein Vater würde stolz auf ihn sein.
Er stand auf. Sein Blick war wieder auf die Straßen unter sich gerichtet. Die schwarzen Haare wehten im Wind, sein Herz schlug aufgeregt gegen die Rippen.
Das Lachen, welches von unten hochdrang, klang seltsam fremd in seinen Ohren. So ausgelassen lachten die Menschen in Rööperi selten.
Er steckte die Waffe in den Hosenbund. »Doch flügellos in Fesseln bin ich gefangen auf der Erde«, sang er leise mit. Dann drehte er sich rum und verließ das Dach. Er hatte heute Nacht noch einen Job zu erledigen.
»Flieg‹, mein Lied, in’s ferne Märchenland, beeile dich, flieg‹ dorthin, wo die Geliebte wartet schon auf mich«, hallte es durch die Lautsprecher des kleinen Cafés.
Jouni stach seine Gabel in den Käsekuchen und schob den Bissen in den Mund. Er sah zum Fernseher hoch, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Es lief gerade ein Tango-Wettkampf, doch das Paar konnte ihn nicht beeindrucken. Die junge Frau machte mit ihren langen dünnen Beinen viel zu viele Fehler.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«
»Nein danke«, antwortete er.
Die junge Kellnerin sah auf den Platz ihm gegenüber. Dort standen einsam eine Kaffeetasse und ein Teller, auf dem ein Stück Sahnetorte lag. »Ihr Freund verspätet sich wohl?«
Er lächelte. »Dafür ist er bekannt, deshalb habe ich schonmal bestellt.«
Jouni sah sich um und ließ das Café auf sich wirken. Er war schon einmal hier gewesen, aber nur, um ein Stück Kuchen zum Mitnehmen zu kaufen. Es hatte hohe Decken, hell verputzte Natursteinwände und eine weite, offene Bar.
»Wirklich ein schönes Lokal. Es wurde einiges aus dem Gebäude gemacht … wissen Sie, früher bin ich oft hierhergekommen.« Er nickte in Richtung Decke. »Oben auf dem Dach, dort war mein Lieblingsort.«
»Sie sind hier aufgewachsen?«
»Kaum zu glauben, was aus dem Viertel geworden ist.« Sein Blick fiel aus dem Fenster. »Es strahlt so viel Wärme aus. Nichts ist mehr übrig vom alten, trostlosen Rööperi.«
»Ja, es ist sehr schön hier.«
Als die junge Frau wieder gegangen war, wandte sich sein Blick wieder nach draußen. Morgen würde auf den Straßen, wie jedes Jahr, wieder Tango-Musik aus den Lautsprechern schallen.
Eine Gruppe von Jugendlichen stand an der gegenüberliegenden Straßenseite und es war nicht schwer, für ihn auszumachen, wer von den Halbstarken die Gruppe anführte: Ein großer mit Muskeln bepackter Kerl.
Jouni stach ein weiteres Stück von dem Käsekuchen ab, während er die Gruppe beobachtete. Immer wieder wurden Leute angepöbelt, die vorbeigingen. Scheint, als hätte sich doch nicht alles in Rööperi geändert, dachte er. Vielleicht sollte er rausgehen und dem Kerl eine Lektion verpassen?
»Kinder dieser Tage.«
Jounis Blick löste sich abrupt von den Jugendlichen und er sah zur Seite. Ein Mann um die Dreißig stand vor seinem Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein breites Grinsen schmückte sein Gesicht. »Sie denken, umso mehr Freunde sie haben, desto stärker sind sie. Dabei reicht ein einziger zuverlässiger Freund.«
»War es früher anders?«, fragte Jouni.
Ville setzte sich gegenüber von ihm an den Tisch und kratzte sich am Hinterkopf. Dann lachte er. »Keine Ahnung, ich hatte immer nur einen Freund.«
Jouni sah wieder auf die Gruppe der Jugendlichen. »Und der war kein besonders zuverlässiger.«
»Ach, nun machst du dich aber selbst runter!« Ville begann mit dem Kerzenwachs zu spielen, der stätig von der langen Kerze in der Mitte des Tisches tropfte. Schon als kleiner Junge hatte er dieser Versuchung nie widerstehen können. »Du warst ein guter Freund.« Wieder lachte Ville. »Ich meine natürlich, du bist ein guter Freund.«
»Sagst du das über alle Menschen, die auf dich geschossen haben?«, hakte Jouni melancholisch nach.
Villes rechte Hand löste sich von der Kerze und fuhr für einen winzigen Moment an seine Schulter. Dort hatte ihn vor zehn Jahren die Kugel aus Jounis Waffe getroffen.
Der Blonde ließ die Hand auf sein Bein sinken. »Nur über einige wenige«, sagte er dann.
Jouni seufzte. »Wenn du nicht gekommen wärst … ich hätte ihn erschossen.«
»Das weißt du doch nicht.« Ville nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich bin davon überzeugt, dass du auch ohne mich Pekka nicht erschossen hättest.«
»Immerhin habe ich dir deine Schulter zertrümmert, weil du nicht zur Seite bist.«
»Ich habe mir fast in die Hose gemacht.« Villes Mundwinkel zogen sich nach oben. »Aber am Ende hat alles ein gutes Ende genommen.«
»Du siehst wohl in allem etwas Positives?«
»Man muss aus allem, was einem widerfährt, das Beste für sich herausnehmen«, antwortete Ville ihm.
»Und was war daran das Beste?«
»Dass ich einen Freund gerettet habe … vor der Hölle, in der ich ihn nicht sehen wollte.«
Jouni lächelte. Manchen Menschen steht ihr Lebensweg ins Gesicht geschrieben, dachte er. Es gibt diejenigen, denen man Misserfolge und Selbstzweifel ansieht und es gibt diejenigen, die furchtlos in die Zukunft blicken. Ein solcher Mensch war Ville Karpinen. Und er war froh darüber, dass er ihn seinen Freund nennen konnte.
Lektorat: Luisa W.
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2016
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