„Achtung an Bahnsteig sechs. Bitte zurücktreten. Der Zug fährt ein!“
Finn erhob sich von der Bank und griff nach seiner kleinen Reisetasche. Es war kurz nach halb neun. Um 08:15 Uhr hätte die Bahn eigentlich da sein sollen. Aber bei dem Wetter wollte er sich nun auch nicht beschweren. Obwohl er noch früh am Morgen war, war es warm und so ließ sich die längere Wartezeit gut aushalten.
Er sah den Bahnsteig hoch und verfolgte, wie der Zug einfuhr und kurz darauf zum Stillstand kam.
Die Leute sammelten sich vor den Türen, die sich synchron öffneten. Er wartete geduldig auf die aussteigenden Gäste, ehe er in Richtung der Zugtüren schlürfte und als einer der Letzten einstieg. Das Warnsignal ertönte und hinter ihm schlugen die Zugtüren krachend zu.
Der ICE setzte sich wieder in Bewegung, während Finn auf der Suche nach einem freien Platz durch die Gänge streifte. Da ein langes Wochenende anstand, war der Zug voll besetzt und er begann sich bereits zu ärgern, dass er keine Platzreservierung vorgenommen hatte, als er sein Ticket gezogen hatte.
Als er zwei Wagons hinter sich gelassen hatte, fand Finn schließlich doch einen Sitzplatz, der zudem am Fenster lag. Perfekt! Er stellte sich auf Zehenspitzen, verstaute sein Gepäck in der Ablage und rutschte in die Sitzbank hinein. Sein Blick ging aus dem Fenster. Sie hatten die Stadt bereits hinter sich gelassen und die flache Landschaft unter blauen Himmel flog an ihm vorbei. Auf den Weiden standen braune Kühe, die beim Vorbeifahren des Zuges die Köpfe hoben.
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, wenn er daran dachte, wie June und er als kleine Kinder davon überzeugt waren, dass braune Kühe Kakao geben würden.
June. Sein Herz hüpfte bei dem Gedanken an das blonde Mädchen aufgeregt in seiner Brust.
June und er hatten viel gemeinsam gehabt. Wie seine Eltern waren auch die von June oft umgezogen. Zwei Jahre nachdem er nach Münster gekommen war, hatte es auch Junes Eltern durch ihren Beruf in die westfälische Kleinstadt verschlagen. Weil sie für ihr Alter sehr klein waren und oft krank, zogen sie beide die Bücherei dem Fußballplatz vor.
So waren sie Freunde geworden.
Gemeinsam hatten sie Stunden in der Bibliothek verbracht, in der sie mit Büchern in fremde Welten abtauchten. Welten, in denen sie die Helden waren. Welten, in denen sie geschätzt wurden, geliebt und immer Spaß hatten. Welten, in denen es immer Sommer war. June hatte den Sommer geliebt.
„Was gibt es besseres, als den Sommer?“, hallte ihre Stimme in seinem Kopf wider.
Die Klassenkameraden hatten sie oft geärgert, doch solange sie zusammen waren, hatte es sie nicht gekümmert.
Als sie Älter wurden, hatte Finn gespürt, dass ihn und June so viel mehr verband. Heute war er davon überzeugt, dass es sogar Liebe war, was er für June empfunden hatte. Und er war davon überzeugt, dass diese Jahre mit June der Grund waren, weshalb er sich heute so schwer tat eine Freundin zu finden. Er war Achtundzwanzig und dennoch hatte er noch nicht die Frau getroffen, die wie June war. Diese Verbindung, schien es nur einmal in der Welt zu geben.
Als Jugendlicher hatte geglaubt, dass es immer so sein würde. Dass er und June nichts trennen konnte. Doch dann kam der Tag, an dem sich alles ändern sollte: Als er Sechszehn wurde, kam der nächste Umzug seiner Eltern. Noch heute erinnerte er sich an den Tag des Abschieds, als wäre es gestern gewesen. Ein trauriger verregneter Sommertag.
June hatte ihm Briefe geschrieben, ihm darin jede Kleinigkeit berichtet, die sich zugetragen hatte. Aber mit der Zeit wurden die Briefe immer weniger, bis er nichts mehr von ihr hörte.
Als er nach dem Abitur für das Studium nach Münster zurückkehrte, hatte er erfahren müssen, dass sie nicht mehr da war. Noch bis heute erinnerte er sich ganz genau an den Moment, als ihm jemand Fremdes die Tür öffnete. Die Tür des Hauses, in dem June gewohnt hatte. Sie sei nach Bayern gezogen, hatte man ihm erklärt. Wohin, das wisse man aber nicht.
Seine Welt war zusammengebrochen. Er hatte sich Tage den Kopf darüber zerbrochen, wie er June finden sollte. Er hatte alles versucht, doch nie Erfolg gehabt.
Doch vor fünf Wochen hatte er sie durch einen Zufall wiedergefunden. Sofort waren sie sich darüber einig gewesen, dass sie sich wiedersehen mussten und er hatte ein Zugticket nach München gebucht, wo June inzwischen wohnte.
Seine Hand fuhr sanft über die Taschen seines Kapuzenpullovers. Darin lag ein Brief. Ein sehr wertvoller Brief. Er hatte ihn begonnen zu schreiben, nachdem sie das Treffen vereinbart hatten. Er war voll von Dingen, die er ihr sagen wollte.
Von Dingen, die sie hören sollte.
Das waren so viele.
„Verehrte Fahrgäste. Wir erreichen in Kürze München Hauptbahnhof. Der Zug endet dort.“
Finn beobachtete, wie urplötzlich in seinem Abteil Hektik ausbrach. Die Menschen standen auf, zogen sich an und hoben die Koffer von den Ablagen. Er selbst erhob sich erst, als der Zug am Münchener Hauptbahnhof zum Stehen kam. Da der ICE ohnehin hier enden würde, hatte er Zeit genug und bis auf seine kleine Reisetasche hatte er auch nichts dabei.
Er spürte, wie seine Nervosität anstieg. Seine Hände waren feucht und sein Herz klopfte schnell in seiner Brust. Gleich war es so weit und er würde June nach so vielen Jahren wiedersehen. Ob er sie wohl sofort erkennen würde? Ob sie sich überhaupt noch mochten? In seinem Kopf suchten tausende Fragen gleichzeitig nach seiner Aufmerksamkeit, als er in Richtung der Zugtür ging.
Als er hinaustrat, schlug ihm Hitze entgegen. Eine feuchte, schwüle Hitze unter blauem Himmel. Es waren sicherlich über dreißig Grad.
Finns Finger umgriffen den Henkel seiner Reisetasche fester, als er sich in der Mitte des Bahnsteiges stellte und sich einen Überblick verschaffte. Seine Augen scannten die Gesichter der Menschen um ihn herum.
Wo war sie nur, wo war sie nur.
Sein Herz beschleunigte sich abermals und er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals formte. Was, wenn sie ihre Meinung geändert hatte und ihn nicht mehr sehen wollte?
Die grelle Sonne blendete ihn und er musste seine Augen verschließen. Nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder und dann sah er sie: June. Er erkannte sie sofort.
Ihr liebliches schmales Gesicht, die langen blonden Haare und die strahlenden blauen Augen. Sie war immer noch eine zarte, eher kleine Person. June hob schüchtern die Hand ein Stück und er erwiderte den Gruß, während er auf sie zuging.
Sie standen sich schweigend gegenüber und langsam wurde es ihm peinlich. Auf der einen Seite, da merkte er, dass diese Verbindung von vor einigen Jahren immer noch aktiv war; auf der anderen Seite war er auch unsicher, ob er sich das nicht vielleicht einbildete.
June machte einen Schritt auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich, als wären die letzten Jahre nicht gewesen. Er konnte ihr Parfüm riechen. Süßlich und weich.
„Es ist so schön, dass wir uns endlich wiedersehen“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich habe dich vermisst!“
„Ich dich auch“, brachte er leise hervor und merkte, wie sich June langsam wieder von ihm löste.
Sie lächelte ihn an. „Erinnerst du dich an unseren letzten Sommer?“
Nur zu gut erinnerte er sich an den letzten Sommer. Ein Lächeln schlich sich über sein Gesicht. „Du hattest mich geküsst … also nur zum Üben natürlich.“
„Es war der schönste Kuss meines Lebens“, erwiderte June. Ein Glücksgefühl durchströmte seinen ganzen Körper. Und da wusste er, dass sich die Gefühle seiner Jugend nicht geändert hatten. Er liebte sie immer noch, obwohl sie sich so viele Jahre nicht gesehen hatten.
„Schade, dass ich damals nicht mutig genug war … inzwischen hast du sicherlich eine Freundin, oder?“
Finn beugte sich etwas nach vorne und gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn. Mit den Fingern umspielte er ihre langen Haare und strich sie hinter das Ohr. „Niemand in meinem Leben war wie du.“
„Niemand?“
Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
„Niemand“, wiederholte er, ehe er sie abermals küsste.
Seine June, die so schön und zart war, wie der Sommer.
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2016
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