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Der Puppenmacher

Als Jonas Winter den Laden betrat, kündete eine Glocke über der Tür sein Kommen an. Der dreißigjährige Kriminalkommissar ließ den Blick schweifen. Es war ein kleiner dunkler Laden, dessen Regale, bis oben mit Puppen vollgestopft waren. Puppen in Wiegen, Puppen in Kinderwagen, Puppen verschiedenen Alters, Puppen mit unterschiedlichsten Arten von Kleidern, die zum Teil sogar einen modernen Schnitt hatten.

„Gruselig“, flüsterte er. Schon als kleiner Junge hatte er Puppen nichts abgewinnen können. Er fand es einfach nur beunruhigend, wie sie ihn mit ihren großen Augen anstarrten. Er rümpfte die Nase. Es roch unangenehm nach Staub, gemischt mit dem muffigen Geruch alter Kleidung.
Den Ladenbesitzer fand Jonas allerdings nicht vor. Auf das Läuten der Tür hatte niemand reagiert.
„Herr Schmidt?“, rief er in den leeren Laden.
Es blieb still.
„Herr Schmidt. Kriminalkommissar Jonas Winter. Ich hätte ein paar Fragen an Sie.“

Jonas machte einige Schritte nach vorne in Richtung Verkaufstresen. „Sind Sie da, Herr Schmidt?“
„Ich komme sofort!“, schrie eine kratzige Männerstimme und es waren Schritte zu hören.
Ein alter Mann kam aus dem Hinterzimmer. Er hatte eine Nickelbrille aufgezogen und trug eine schmutzige Schürze. Der grauhaarige Ladenbesitzer musterte ihn mit seinen stechend blauen Augen an. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich hätte einige Fragen.“ Jonas hielt ihm seinen Ausweis vor die Nase. „Es dauert auch sicherlich nicht lange.“
„Fragen?“ Er Alte sah ihn skeptisch an. „Was denn für Fragen?“
„Es geht um die Mordserie … Sie haben doch sicher davon gehört.“
Nun nickte der Ladenbesitzer. Es hätte Jonas auch überrascht wäre es anders gewesen. Die Zeitungen waren voll vom sogenannten Puppenmacher. Einen Serienmörder, der seine Opfer zurecht machte wie Puppen. Nun klapperte das ermittelnde Polizeiteam alle Spielzeugläden der Stadt ab, in der Hoffnung, dass einer der Ladenbesitzer jemanden kannte, der ein großes Faible für Puppen hatte oder sich anderweitig verdächtig benommen hatte. Denn jemand, der sich so für Puppen begeisterte, der verkehrte sicherlich in solchen Kreisen.

„Ihr Laden“, erklärte der Kriminalkommissar und sah sich dabei einmal mehr in dem Verkaufsraum um. „Wir wollen uns ein Bild von dem Täter machen, vielleicht können Sie uns dabei helfen.“
Der Grauhaarige zog die Stirn in Falten, nickte aber schließlich. „Ich kann es wohl nicht vermeiden“, stieß er schon fast genervt aus. „Kommen Sie mit, ich habe noch zu tun.“


Jonas nickte und folgte Thomas Schmidt in das Hinterzimmer des Ladens.
In dem Raum waren Regale aufgebaut, die bis unter die Decke reichten und deren obere Ablage man nur mit der Leiter erreichen konnte. Auf den Regalbrettern lagen zahlreiche Kleidungsstücke akkurat gefaltet. Auch einige Stoffbahnen konnte Jonas ausmachen.
„Stellen Sie schon ihre Fragen, ich habe noch andere Dinge zu tun!“, ertönte die erboste Stimme von Thomas Schmidt.
Jonas löste ertappt den Blick von den Regalen und sah zum Ladenbesitzer. Der stand an einer Werkbank und arbeitete gerade an einer Puppe. „Sie fertigen auch selber Puppen?“
Der Alte sah auf. „Was denken Sie?“
„Ich weiß nicht …“ Jonas versenkte die Hände in den Taschen seiner Jeanshose. „Ich dachte, es wäre vielleicht ein gewöhnlicher Spielzeugladen.“
„Es steht doch draußen an meinem Laden!“ Der Alte schnaufte durch die Nase. „Ein toller Polizist sind Sie.“
Der schwarzhaarige Kommissar lächelte verlegen. „Ich hatte nicht auf das Schild geachtet. Es tut mir leid.“
„Alle Puppen da draußen sind von mir.“ Thomas Schmidt griff nach einem Pinsel und tunkte ihn in etwas braune Farbe und begann die Augen der Glaspuppe mit Leben zu füllen. „Aber Sie sagten, sie sind wegen diesem Mörder hier.“
„Ja … natürlich.“ Jonas fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Die Sache ist die, Herr Schmidt. Wir wollen den Mann besser verstehen, suchen daher nach Hilfe.“
„Wie tötet er seine Opfer?“, frage Schmidt.
„Darüber kann ich ihnen keine Auskunft geben.“
„Wie soll ich Ihnen dann helfen?“
Da war etwas Wahres dran, fand der junge Kriminalkommissar. „Er entführt sie, erstickt sie und dann kleidet er sie mit Puppenkleidern …“, berichtete Jonas Winter.
„Noch etwas?“
„Er schminkt sie … ziemlich blass und setzt sie dann so in Szene, dass sie fast wie echte Puppen wirken.“
Jonas sah zu, wie der Alte den Pinsel in etwas rote Farbe tunkte und die Lippen der Puppe vor ihm nachzeichnete.
Thomas Schmidt sah von seinem Objekt auf. „Nur fast?“
„Sie wissen schon, wie ich das meine …“
„Nein, weiß ich nicht.“ Schmidt wandte sich wieder seiner Puppe zu. „Fast klingt für mich, als wäre es dem Mörder nicht ganz gelungen.“
Jonas Blick haftete auf dem Arbeitstisch. Er sah zu, wie der Alte der Puppe ein weißes Kleid anzog.
„Ich werde sie Annelie nennen“, sagte Schmidt fast beiläufig.
„Annelie“, wiederholte Jonas flüsternd. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken und sein Herzschlag beschleunigte sich. Jonas Winter starrte die Puppe an. Das letzte Opfer des Puppenmachers hatte genau dieses weiße Kleid getragen und ihr Name war Annelie gewesen. Auch die Haarfarbe und die Augen stimmten überein.
Er presste ein Lächeln heraus. „Ein wirklich schöner Name.“
„Sehr lieblich, oder?“
Jonas nickte mechanisch. In seinem Kopf arbeitete es. Der Mann war unbewaffnet, also könnte er ihn Hier und Jetzt festnehmen. Er musste es sein. Der Alte war der Puppenmacher!
Jonas rechte Hand fuhr an seine Waffe. „Sie sind der Mörder von Annelie und all den Anderen. Sie haben sie umgebracht.“
Der Alte sah auf, zeigte aber keinerlei Reaktion auf das Gesagte.
„Ich muss Sie festnehmen, ist ihnen das bewusst?“
Wieder erhielt Jonas keine Antwort.
Der junge Kommissar umgriff seine Pistole. Im selben Moment und mit einer blitzschnellen Bewegung, die man dem alten Mann nicht zutrauen würde, riss Thomas Schmidt das Messer von dem Tisch. Kaum hatte Jonas die drohende Gefahr registriert, steckte ihm schon die Klinge zwischen den Rippen. Ein lautloser Schrei kam den jungen Kommissar über die Lippen. Mit großen Augen sah er den Mann gegenüber von sich an.
Schmidt zog die Klinge aus seinem Körper. „Sie hätten nicht herkommen sollen …“, sagte er mit einem Grinsen. „Alles hätte so schön sein können.“
Das Adrenalin sorgte dafür, dass Jonas es irgendwie zu Stande brachte aufrecht stehen zu bleiben. „Wieso …“, presste er leise heraus.
„Wissen Sie, wie schwer es ist eine Puppe nach der anderen zu schaffen? Ich brauche Inspiration … und dann … vor drei Wochen … da war da diese junge Frau an der Supermarktkasse.“
Jonas nickte. Maria Hansen war vor drei Wochen das erste Opfer gewesen.
„Sie war perfekt … hat mir neue Inspiration gegeben.“
Jonas kniff die Augen zusammen, seine Beine wurden zittriger. Schwindel überkam ihn.
„Und als Dank, da habe ich auch sie zur Puppe gemacht … Sie sollten aufgeben, Herr Kommissar. Lassen Sie sich einfach fallen.“
„Das … kann ich nicht.“ Jonas zog unter großem Kraftaufwand die Waffe vollständig aus dem Holster und zielte auf den Alten. „Sie … Sie nehmen jetzt das Messer runter!“
Thomas Schmidt lachte laut auf. „Ist das Ihr Ernst?“
„Das Messer runter!“, schrie Jonas.
„Sofort runter damit! Sonst schieße ich.“ Seine Stimme zitterte, seine Hände zitterten, doch er riss sich nach Kräften zusammen.
„Das geht nicht …“ Thomas Schmidt lächelte. „Es wartet doch schon die neuste Puppe.“
„Wie? …“
„Mia.“ Schmidt machte einen Schritt auf ihn zu. „Sie heißt Mia.“
„Bleiben … bleiben Sie stehen!“

Ein Schuss fiel. Die Kugel traf Schmidt in der Brust und ließ ihn rücklings zu Boden gehen. Jonas Winter starrte auf den Alten. Der Schuss war nicht aus seiner eigenen Waffe gekommen … es musste ein Kollege gewesen sein.
Mit einem Mal verließ ihn alle Kraft. Ihn durchfuhr ein unerträglicher heißer Schmerz und er sank auf die Knie, ehe er vorne über kippte und liegen blieb.

Ihm war so kalt. 

„Jonas!“ Jemand dreht ihn auf den Rücken, tätschelte seine Wangen. Er versuchte die Person zu erkennen, zu der die Stimme gehörte. Die Konturen waren unscharf, doch er glaubte zu erkennen, dass es Hauptkommissar Jasper Backkamp war.
„Halte durch, ja? Einfach durchhalten“
Jonas spürte klebriges, warmes Blut unter seinem Rücken. Sein eigenes Blut.
Backkamp zog seinen Pullover aus und drückte ihn auf die Wunde. „Versuch wach zu bleiben. Bekommst du das hin?“

Ihm war so kalt. Ihn überkam Dunkelheit.

„Jonas!“ Backkamp tätschelte seine Wangen, rüttelte ihn sanft. „Bleib wach! Versuch stark zu sein, für deine Familie.“
Jonas riss die Augen auf, versuchte, sich zu konzentrieren, aber der Schmerz war allgegenwärtig. Er war zu müde, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da waren nur diese Schmerzen, diese fürchterlichen Schmerzen.
Er sah das Lächeln seiner Frau. Er sah sich, wie er mit seiner Tochter und seinem Sohn im Garten spielte.
Die Schreie nach ihm wurden immer lauter und verzweifelter. „Jonas! Komm schon. Mach jetzt keinen Scheiß!“

Sein Zittern wurde schlimmer, die Muskeln bebten.
Irgendwas stimmt nicht. Es fühlte sich an, als würde er ertrinken.
„Scheiße! Bleib bei mir!“
Ihm wurde immer kälter. Die kalten Krallen des Todes zerrten an ihm. Hatte er in seinem Leben alles erreicht, was er wollte? War er glücklich gewesen?
„Jonas! Bitte!“

Ich sterbe, waren seine letzten Gedanken, ehe alles Schwarz wurde.

 

 

 

 

Jonas bemühte sich, einen Weg aus der Dunkelheit zu finden. Sein Körper fühlte sich schwer an. Wo war er? Er hörte ein beharrliches Piepen von einem furchtbaren Zischen untermalt. Es roch nach Desinfektionsmittel. Er kannte diese Sinneseindrücke nur zu gut. Er war in einem Krankenhaus.

Jonas blinzelte, öffnete seine Augen einen Spalt und presste die Lider dann wieder zusammen, als das grelle Licht in den Augen brannte. Er machte einen zweiten Versuch und diesmal gewöhnten sich seine Augen langsam an das Licht.
Er sah sich um. Ja, definitiv Krankenhaus. Die vielen Kabel, Schläuche und Geräte, von denen er umgeben war, ließen keinen anderen Schluss zu.

An dem Fenster saß eine Person, die lächelte.
„Schau an, wer sich entschieden hat, wach zu werden.“
„Backkamp“, murmelte er leise.
„Erinnerst du dich, was passiert ist?“
Jonas nickte vorsichtig.
„Das ist gut. Du hast uns wirklich Angst gemacht … verdammt, zum Glück war ich rechtzeitig da.“
„Wieso?“, nuschelte er hervor.
„Wieso ich da war?“
„Ja …“
„Mein Spielzeugmacher hat mir den Namen von Thomas Schmidt genannt mit dem Anhang, das er nicht ganz dicht sei.“ Backkamp lächelte. „Ich habe Eins und Eins zusammengezählt, als du dich nicht gemeldet hast am Funk.“
„Er hat von einer Mia geredet … hast du?“
„Ja, wir haben das Mädchen im Keller des Laden gefunden, unversehrt.“
Jonas schloss müde die Augen. „Das ist gut …“

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Nolin Mikaelson
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2016

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