Mette Tegethoffs Herz schlug wie verrückt, ihr Puls raste. Sie hielt inne und lauschte in den Wald. Da! Da war es wieder. Das Rascheln und ein leises Knirschen, wie es schwere Schuhe auf einer festen Schneedecke verursachten. Sie drehte sich langsam im Kreis, spähte in die Dunkelheit. „Niels?“, flüsterte sie in ihr Headset. „Wo zur Hölle bist du! Er ist hier, verstehst du? Direkt hinter mir!“ Niels Jäger, ihr Kollege beim Kriminalkommissariat K11, der Dienststelle für Tötungsdelikte, antwortete nicht. Die Leitung blieb stumm. „Niels! Antworte … er ist hier!“Auch dieses Mal bekam sie keine Antwort von ihrem Freund und Kollegen.
Das Geräusch kam näher, dann sah sie eine Gestalt auf den Weg springen. Mette rannte los. Ohne den kleinsten Augenblick zu zögern, hastete sie querfeldein in den dichten Stadtwald hinein. Nur weg, dachte sie, schnell weg! Ihre Joggingschuhe sanken tief in den Schnee und für einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht einen Fehler beging, sich vom zumindest ansatzweise geräumten Weg zu entfernen, als sie geglaubt hatte, dass er ihr folgte: Er, der Mörder von mindestens drei Frauen. Frauen mit langen roten Haaren – wie die ihren. Niels hatte ihr erklärt, dass sie dadurch der perfekte Köder sei. Und er hatte Recht behalten, wie es schien. Doch es gab einen Denkfehler im Plan ihres Freundes: Anders als versprochen, war er nicht in ihrer Nähe.
Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst, sagte ihre innere Stimme.
Sie hatte einen dicken Kloß im Hals und versuchte vergeblich ihn herunterzuschlucken. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, als an die totale Einsamkeit und Finsternis des Waldes. Mettes rotes Haar wehte im kalten Wind, während sich der nasse Schnee in ihre Joggingschuhe fraß. Ihre Lunge fühlte sich an, als steckten in ihr tausende Messerklingen. Am liebsten würde sie sich fallen lassen, doch sie verstand, dass dann alles vorbei war, also riss sie sich zusammen und rannte weiter. Sie trieb viel Sport, sie würde es schaffen dem Mörder zu entkommen.
Der Mond blitzte durch die Wipfel der Bäume hindurch und spendete zumindest etwas Licht. Der Wind ließ die schwarzen und kahlen Äste, wie die Gebeine von Toten, klappernd aneinanderschlagen.
Ich habe keine Angst.
Sie hörte die Schritte hinter sich näher kommen, traute sich jedoch nicht, sich umzusehen. Ihr Blick war starr nach vorne gerichtet. Mette spürte die Gefahr in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers. Fühlte, wie die Panik sie einnahm und wie ein Tornado in ihrem Inneren wütete. Äste und Zweige zerkratzen ihre Arme, Dornen bohrten sich durch ihre dünnen Joggingklamotten in die Haut, aber das hatte jetzt keine Bedeutung. Jeder Gedanke galt der Flucht. Ein Zweig streifte ihre rechte Gesichtshälfte und hinterließ einen tiefen Kratzer. Blut rann über ihre Wange und dann den Hals entlang. Sie duckte sich und wich einem dicken Ast aus, der auf Kopfhöhe über dem Weg hing. Mette bereute es immer mehr, dass sie nicht auf dem Weg geblieben war. Vielleicht wäre sie dort anderen Menschen begegnet. Auch wenn es später Abend war, so waren bestimmt noch ein paar Leute unterwegs, oder nicht? Hier, mitten in dem dichten und finsteren Wald, da war sie ganz alleine.
Unachtsam stolperte sie über eine Wurzel und schlug hart auf den Waldboden auf. Ihr Oberkörper landete auf dem harten gefrorenen Boden und für einen Augenblick blieb ihr die Luft weg. Sie riss den Kopf herum, ihre grünen Augen fixierten die Gestalt, die immer näher kam. Ein Schluchzen steckte in ihrem Hals. Wo nur ist Niels?
Im selben Moment hörte sie ein Lachen. Ein gieriges, schallendes Lachen, das durch die kalte Luft auf sie zurollte. Sie hätte am liebsten vor Angst geschrien, doch kein Laut wollte ihrer Lunge entkommen.
„Ich bekomme dich Rotkäppchen!“, jauchzte die dunkle Gestalt. Mette erschauderte. Sie kannte diese Stimme! Sie gehörte Markus Wolf, dem gut aussehenden und charmanten Krankenpfleger aus dem Altenheim.
Sie hatte Angst.
Die Todesangst trieb ihren Körper hoch und sie rannte wieder los. Ausgerechnet Markus Wolf. Sie hatte ihn von dem ersten Augenblick des Einsatzes an nett gefunden und ihm vertraut. Niemals hätte sie ihn für einen Mörder gehalten. Einen Mann, der seine Opfer schminkte und ihnen dann die roten Haare als Trophäe abschnitt. Konnte sie ihr Schicksal abwenden, wenn sie sich hier und jetzt als Polizistin zu erkennen gab? Nein, sicher nicht. Vielleicht würde er ihr nicht glauben, oder aber es war ihm egal. Die Angst um Niels arbeitete sich wieder in ihr hoch. Wo war er? Hatte Wolf ihn umgebracht? Hatte er bemerkt, dass es eine Falle ist und Niels kaltblütig ermordet? Der Gedanke daran versetzte ihrem Herz einen Stich. Das durfte nicht sein. Niels ist eine sanfte Seele. Ein Gutmensch, ihr Anker.
Sie triefte vor Schweiß, ihre Beine fühlten sich steif an und sie zitterte.
Ihr Herz tat weh.
Markus Wolf lief schnell und holte immer mehr auf. Sie war die Beute und das spürte sie jetzt in jeder Phase ihres erschöpften Körpers. Dabei hatte doch bisher alles perfekt geklappt. Es war nicht schwer gewesen, ihre Großmutter davon zu überzeugen mitzuspielen und sie als Bewohnerin in dem Heim anzumelden. In dem Heim, wo die Verbindung zwischen den drei Opfern gelegen hatte. Alle drei Frauen hatten dort eine Großmutter, die sie mehrmals die Woche besucht hatten. Alles, was sie von diesem Augenblick an tun musste, war, ihre Oma jeden Tag zu besuchen, bis der Fisch anbiss. Sie hatte sogar manchmal Wein und Kuchen mitgebracht. Apfelkuchen, den hatte ihre Oma besonders gern.
Von ihren Gedanken abgelenkt, wäre Mette beinahe über eine Wurzel gefallen, aber im letzten Moment hatte sie ihr Gleichgewicht wiederfinden können.
Er stürzte. Einige Meter hinter sich hörte sie seinen Fall und Fluchen. Ohne sich umzudrehen rannte sie weiter und kurz darauf war er zurück. Sie hörte sein schnelles Atmen, seine Schritte und das Knacken der Äste unter seinen schweren Schuhen. Die Panik wurde immer größer. Ihr Herz trommelte in ihrem Brustkorb und dröhnte in ihren Ohren wieder. Mette fror. Sie zitterte. Das Zeitgefühl hatte sie verloren. Wie lange rannte sie nun schon? Fünfzehn Minuten. Zwanzig Minuten? Vermutlich eher fünf.
Wolf holte wieder auf. Sie konnte seinen Atem spüren. Sie war müde, fast all ihre Kraft aufgebraucht. Wie lange konnte sie das noch durchhalten? Sie rechnete damit, dass jeden Augenblick die Hände der Bestie in ihren Rücken schlugen, sie zu Boden zerrten.
„Rotkäppchen, bleib doch stehen!“
Mette blieb nicht stehen. Noch war sie nicht gewillt aufzugeben! Sie rannte einfach weiter, hoffte darauf, dass sie ihn vielleicht doch noch abhängen konnte, oder Niels auftauchte. Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen. Was war passiert, dass er sie im Stich ließ? Sie schaffte es nicht mehr länger, und begann zu weinen. Dicke Tränen kullerten ihre Wangen herunter und landeten auf dem Waldboden, wo sie gefroren. Ihre Sicht verschwamm, weil immer neue Tränen flossen. Sie war voller Angst, voller Panik, voller Verzweiflung …
Sie wollte noch nicht sterben. Sie wollte das Leben in vollen Zügen auskosten. Das Beste hatte sie doch noch vor sich.
„Rotkäppchen!“
Seine Stimme klang nun ganz nahe. Mette schluckte die Tränen herunter und rieb sich durch die Augen, um die Sicht wieder zu klären. Falls er Niels umgebracht hatte, würde sie ihn dafür bezahlen lassen!
Aber Mette merkte schnell, dass einzig ihr Wille sie noch vorantrieb. Mit jedem Schritt wurde der Wind eisiger und ihre Beine schwerer. Bei einem Sprung über eine Wurzel begann sie zu straucheln, konnte nur mit Glück einen Sturz abfangen. Ihre Kräfte schwanden. Sie war total erschöpft.
Noch ehe sie Zeit hatte zu reagieren, stürzte er sich auf sie und riss sie zu Boden. „Hab ich dich, mein Rotkäppchen.“ Er grinste zufrieden und obwohl sie ihn trat, ließ er sich nicht abschütteln. Seine dünnen langen Finger drückten sie auf den Waldboden und er presste ihr einen Kuss auf den Mund. Angewidert drehte sie ihren Kopf zur Seite, wehrte sich jetzt noch energischer, doch er hatte seinen Unterarm wie einen Drehstock auf ihren Brustkorb gedrückt, nahm ihr so all ihren Spielraum. „Lassen Sie mich gehen, Wolf!“, schrie sie verzweifelt. „Was haben Sie mit Niels gemacht!?“
Er grinste schief. „Ruhig, Rotkäppchen …“
Wolf griff in seine Jackentasche und zog einen Lippenstift heraus. Er öffnete die Kappe und drehte daran und drehte die Spitze des feuerroten Stiftes weit heraus. Dann beugte er sich zu ihr herunter. „Mein hübsches Rotkäppchen“, flüsterte er ins Ohr. Mette zog den Kopf harsch zur Seite, als er den Lippenstift ansetzte, wodurch er den Stift viel weiter zog, als eigentlich beabsichtigt.
„Wirst du wohl stillhalten, du widerwärtiges Biest?“, fauchte er. „Ich will dir nicht wehtun müssen.“
„Bitte lassen sie mich gehen“, flehte Mette tonlos. „Bitte!“
Er fuhr durch ihr Haar. „Das kann ich nicht, Rotkäppchen.“
„Ich heiße Mette … bitte!“
Er drückte ihr seine Hand vor den Mund. „Shhh... Ich will keinen Ton hören.“
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper und wusste, dass dieses Mal nicht die Kälte dafür verantwortlich war.
Markus Wolf griff erneut in seine Jackentasche, zog ein Taschenmesser heraus und klappte es auf. Er lächelte sie an, küsste sie abermals. „Bald, Rotkäppchen … bald!“, raunte er. Wolf griff nach der ersten Haarsträhne, zog das Messer daran entlang und Mette spürte, wie einzelne Haarsträhnen auf ihrer Wange landeten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihre Panik stieg ins Unendliche. Das war es also. So würde ihr Leben zu Ende gehen. Unsanft zog Markus Wolf ein neues Haarbüschel hervor, senkte erneut das Messer.
„Lassen Sie sie los!“
Markus Wolf verharrte in seiner Bewegung und Mette spürte, wie sich der Griff ihres Peinigers etwas lockerte. Sie sah an Wolf vorbei und erkannte Niels. Blut klebte in seinen blonden lockigen Haaren, lief die Schläfe herunter und sammelte sich auf seiner blauen Jacke. Er stand mit gespreizten Beinen da, die Waffe auf Wolf gerichtet. „Lass jetzt ganz langsam das Messer fallen!“
Mette konnte sehen, wie Wolf zögerte. Das Messer schwang in seiner Hand leicht auf und ab.
„Messer fallen lassen! Es gibt keinen Ausweg für Sie!“
Markus Wolf ignorierte die Anweisung und drehte sich zu Mette. Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. „Bist du bereit Rotkäppchen?“, raunte er. Wolf hob das Messer noch ein Stück höher und ihrer Erleichterung wich einmal mehr die Angst. Noch war es nicht vorbei, noch konnte er sie töten.
Ein Schuss fiel.
Wolf zuckte zusammen, als das Projektil unmittelbar hinter ihm in den Baum einschlug.
„Der nächste Schuss trifft!“, schrie Niels. „Also, fallen lassen!“
Mette nutzte die Ablenkung des Angreifers, befreite sich aus der Umklammerung und packte den Messerarm. Mit einer kraftvollen Bewegung, die den Mann aufschreien ließ, riss sie den Arm nach hinten und das Messer landete auf dem Boden.
„So. Das war’s!“, presste sie außer Atem hervor, während sie Markus Wolf auf die Erde drückte. Wolf zappelte und brüllte aus Leibeskräften. Er verfluchte und beschimpfte sie, doch Mette behielt die Oberhand und ließ nicht locker. Sie sah in die blauen Augen von Niels. „Wird’s bald. Die Handschellen!“
„Ja … natürlich!“ Er machte drei große Schritte auf sie zu und reichte ihr das Paar Handschellen, die sie um die Handgelenke von Wolf zuklappen ließ. Mit zittrigen Beinen zog sie den Mann von der Erde hoch.
„Pech gehabt, Wolf. Der Jäger ist pünktlich gekommen, um das Rotkäppchen zu retten!“, zischte sie und sah zu Niels. „Wenn er auch lange gebraucht hat.“
Der junge Kommissar sah zur Erde und lächelte verlegen, wobei sich kleine Grübchen bildeten. „Der Held kommt immer in der letzten Minute.“
Mette sah sich um. „Wie weit ist es bis zum Parkplatz?“
„Nicht sehr weit“, erklärte Niels, nahm ihr Markus Wolf ab und ging voraus. Mette folgte ihnen mit etwas Abstand. Ihr Körper bebte noch immer vor Angst. Vor Angst und Kälte.
Niels löste die rechte Hand von Markus Wolf, griff nach seinem roten Schal und zog ihn vom Hals, um ihn ihr hinzuhalten. „Hier, Mette. Du bist ganz durchnässt.“
Sie lächelte und umgriff den Schal, um ihn über ihrem Oberkörper auszubreiten. Zum Glück war er schön breit und glich ausgefaltet einem Parka.
„Mein Rotkäppchen …“, flüsterte Wolf wie in Trance und Mette wich automatisch ein paar Schritte zurück. Erst hatte sie überlegt sich den Schal vom Körper zu reißen, doch dann siegte der Stolz. Sie würde vor Wolf keine Schwäche zeigen.
Später, wenn sie mit einem Glas Wein auf dem Sofa sitzen würden, dann würde Niels erzählen, dass er niemals wieder eine solch riskante Aktion planen würde. Er war auf dem Parkplatz überrascht worden, als Wolf plötzlich aus dem Gebüsch gesprungen war und ihm eins übergezogen hatte. „Es war Glück, dass er die Waffe nicht mitgenommen hat. Sonst wäre alles ganz anders ausgegangen“, würde er sagen und dass ihr Chef vollkommen Recht hatte, als er ihm eine Verwarnung aussprach, weil er die Aktion nicht abgesprochen hatte. Er würde ihr berichten, wie er durch den Wald gehetzt war mit dieser dunklen Vorahnung in sich drin. Wie er vor Angst fast gestorben war und wie erleichtert er gewesen war, dass ihr nichts passiert war. Mette würde mit ihren Fingern sanft über seine Wunde an der Schläfe fahren und ihm ins Ohr flüstern, dass auch sie noch nie in ihrem Leben eine solche Angst verspürt hatte.
Bildmaterialien: lpixabay/ightstargod
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2016
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