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Kriminalkommissar Veikko Lindström schob den Rollstuhl neben die Bank und zog die Bremsen fest, ehe er die Wolldecke ein Stück höher zog, da sie auf dem Weg hierher weggerutscht war.

»Und? Willst du immer noch lieber in deiner muffigen Klinik bleiben?«, fragte er.

Die schmale, bleiche Person im Rollstuhl lächelte.

»Es hat geschneit«, antwortete Mikael mit seiner schwammigen und undeutlichen Aussprache.

Veikko setzte sich neben seinen Freund auf die Bank. »Ja, ich dachte, den ersten Schnee im Jahr willst du nicht verpassen? Unsere obligatorische Schneeballschlacht müssen wir allerdings verschieben.«

»Warum denn?«

Aus dem Augenwinkel sah Veikko, wie Mikael versuchte, sich in Richtung Boden zu recken. Er streckte den rechten Arm aus und brachte Mikaels Oberkörper wieder in die aufrechte Position. »Mach keinen Mist! Wir machen keine Schneeballschlacht!«

Veikko vernahm ein leises Schnaufen und löste seine Hand vom Oberkörper seines Freundes. Mikael war zwar am Rollstuhl festgeschnallt, riskieren wollte er es dennoch nicht, dass er irgendeinen Blödsinn anstellte.

Veikko sah sich die Umgebung an. Der Park der Klinik war groß, und in der Mitte befand sich ein kleiner Teich, dessen Ränder durch den ersten Frost angefroren waren. Auf der anderen Seite stand sich ein hellblauer Holz-Pavillon.

»Der Winter kommt mit riesigen Schritten, was?«

Veikko erhielt keine Antwort. Mikael war bereits wieder in seine eigene Welt versunken und starrte auf den See hinaus.

Vier Monate war sein Freund und Kollege von der Mordkommission nun schon in der Reha-Klinik. Beim Sturz von einer Klippe, auf einer der zahlreichen Schäreninseln vor Helsinki, hatte Mikael eine schwere Schädelverletzung davongetragen und mehrere Wochen im Koma gelegen. Jetzt kämpfte er sich zurück ins Leben. Dass es ein schwerer Weg werden würde, war ihnen bewusst gewesen, als sie die Diagnose gehört hatten. Wie schwer es tatsächlich war, merkten sie erst, als Mikael aus dem Koma aufgewacht war. Die ersten Tage konnte er überhaupt nicht sprechen. Alles, was um ihn herum geschah, schien er nur spärlich zu registrieren. In den ersten Tagen waren seine Worte kaum zu verstehen gewesen. Durch das Sprachtraining wurde es inzwischen immer besser, auch kehrten nach und nach seine geistigen und motorischen Fähigkeiten zurück. Ob es am Ende alle sein würden, konnte man weiterhin nicht sagen. Bereits seit über einer Woche gab es keinen Fortschritt mehr. Die linksseitige Lähmung war noch nicht ganz zurückgegangen. Er war verwirrt und wirkte oft weit weg, gefangen in seiner eigenen Welt.

Aus Veikkos Blickwinkel tat sich überhaupt nichts mehr.

Es schien nicht vorwärtszugehen.

Der Arzt versicherte ihnen dennoch immer wieder, dass es kleine Fortschritte gab. Es hieß, weiter Geduld zu haben. Nur leider gehörte Geduld nicht gerade zu Veikkos Stärken.

Der junge Kommissar fuhr sich durch seine schwarzen Haare. »Du wirst noch nicht aufgeben, oder?«, fragte er.

»Es wird Winter«, hörte er Mikael neben sich sagen.

Veikko sah nach rechts. »Ja«, antwortete er leise.

Dann blickte er wieder auf den See. Er hielt es kaum aus, seinen Freund so zu sehen. Da schien nichts mehr übrig zu sein von dem alten Mikael. Dem Mikael, der die Karriereleiter ohne Probleme erklommen hatte, der dicke Akten in wenigen Stunden las und über eine außerordentliche Kombinationsgabe verfügte. Das alles schien im Gehirn seines Freundes verschüttet zu sein. Derzeit war Mikael eine leere Hülle, die nur reagierte, wenn man sie direkt ansprach.

Sie saßen noch einige Zeit stumm nebeneinander, denn mit der Zeit waren Veikko die Gesprächsthemen ausgegangen.

Als Veikko sah, wie Mikael zu zittern begann, entschied er, dass sie lange genug draußen gewesen waren. »Sollen wir wieder rein gehen? Dir ist sicherlich kalt«, durchbrach er die Stille.

»Etwas.«

Veikko stand auf, fasste nach den Griffen des Rollstuhls und löste dann die Bremsen. »Ich soll dich übrigens von der Mordkommission grüßen. Wir vermissen dich im Präsidium. Alle fragen immerzu, wie es dir geht.«

Veikkos Turnschuhe und die Räder des Rollstuhls knirschten im Schnee.

Er sah herunter. Mikaels Haare hatten noch nicht wieder die Länge wie vor dem Unfall, als sie knapp über die Ohren gingen und wild gestylt waren. Die Narbe, die seinen Kopf überzog, war sichtbar. Es waren Sekunden gewesen, die das Leben seines Freundes für immer hätten auslöschen können.

Wenige Tage nach dem Unfall hatte Veikko für seine Ex-Frau tausende Papiere unterschrieben falls ihm etwas Ähnliches passieren würde. Sie lebten zwar schon seit Jahren getrennt, das hieß allerdings nicht, dass er sich nicht um sie und seine Tochter sorgen würde und alles geregelt haben wollte. Immerhin waren sie nach der Trennung gute Freunde geblieben, und beide bedeuteten ihm immer noch sehr viel.

 

Sie hatten inzwischen das Klinikgebäude erreicht, und Veikko drückte den elektrischen Türöffner, woraufhin die Tür mit einem leisen Summen aufging und er den Rollstuhl in das helle und freundlich gestaltete Foyer schob.

»Was ist mit Eva? Weißt du, ob sie heute noch kommt?«, fragte Mikael.

Veikko atmete tief durch und gab sich Mühe, nicht genervt zu wirken. Mikael hatte die Frage nach seiner Freundin heute bereits mehrmals gestellt, es aber immer wieder vergessen.

»Ja, heute Abend. Es ist erst Mittag. Du musst noch ein paar Stunden Geduld haben.«

»Heute Abend«, wiederholte Mikael leise.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: Carola Jürchott (Korrektorat)
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2016
ISBN: 978-3-7396-9440-5

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