Alex riss aus dem Schlaf hoch. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass er frei war. Er atmete ein und aus, um den Körper nach einem Albtraum wieder in Gang zu bringen. Den Herzschlag und die Atmung zu normalisieren. Er lauschte der Stille. Er war erstaunt darüber, dass die Geräuschlosigkeit seiner Wohnung in ihm Beklemmung und Panik auslöste. Im Gefängnis war es niemals still gewesen. Es gab immer Geräusche, am Tag und in der Nacht. Schlüssel, die sich in den Schlössern drehten. Rufe durch die Fenster, um mit Gefangenen in anderen Zellen zu kommunizieren, schlagende Stahltüren. All das würde er nicht mehr hören. Nach zwei Jahren Haft war er endlich von den Vorwürfen freigesprochen worden.
Er war frei.
Aber war er wirklich frei?
Die zwei Jahre hinter Gitter würden ihn nie wieder loslassen. Sie hatten ihn geprägt und für das Leben gezeichnet. Er konnte seinen Beruf wieder ausüben, aber würde ihm von den Kollegen das gleiche Vertrauen entgegengebracht werden? Würde er seinen Job überhaupt noch in gleicher Weise ausführen? Vermutlich nicht. Er hatte sich verändern…nein, der Knast hatte ihn verändert. 24 Monate sind eine lange Zeit. Eine Zeit in der man viel einsteckt und lernt, wie man sich über Wasser hält. 24 Monate in denen man herausfindet, wem man aus dem Weg geht und mit wem man sich gut stimmt, wenn man überleben will. 24 Monate in denen man sich immer mehr von seinem alten Ich entfernt.
Freiheit, gab es das wirklich?
Er erinnerte sich an das Glücksgefühl, als sich das Gefängnistor hinter ihm geschlossen hatte. Doch es verschwand binnen Stunden. Seine Familie hatte ihn zum Kaffee eingeladen. Das Haus seiner Eltern hatte sich in den Jahren nicht verändert gehabt und alles war noch an den gleichen Platz gewesen. Und doch war alles anders gewesen: Er hatte nicht mehr hinein gepasst. Verschwunden waren all die Dinge, die er sich im Gefängnis ausgemalt hatte, um sie direkt nach seiner Entlassung zu tun. Er hatte sich vorgenommen, stundenlang in der Badewanne zu sitzen. Ein Privileg welches es ihm Gefängnis nicht gegeben hatte. Die einzige Körperhygiene, die einem dort zuteilwurde, waren zwei Duschtage in der Woche. Er wollte eine riesige Portion von seinem Lieblingsessen verdrücken. All das hatte er nie gemacht. Kaum war er draußen gewesen, hatte er keinen Gedanken mehr an diese Dinge verschwendet. Er war ein Gefangener des Alltagstrotts geworden.
Konnte er überhaupt frei sein?
Die ersten Tage in Freiheit waren ein Albtraum gewesen. Er hatte versucht eine Struktur in seinem Tagesablauf zu bekommen, wollte aber nicht die Angewohnheiten aus dem Gefängnis übernehmen. Er wollte nicht zulassen, dass sein Tagesablauf streng nach Uhrzeiten geregelt war und doch erwischte er sich immer wieder dabei, wie ihn um Punkt zehn Uhr die Unruhe packte und er an die freie Luft stürmte. Im Gefängnis war es der Zeitpunkt gewesen, an dem sich die schwere Stahltür aufschob und der Wärter zum Hofgang bat. Es war die Stunde am Tag gewesen, in der man nicht in der Zelle eingesperrt war, oder Arbeiten verrichtete.
Er war Gefangener in Freiheit.
Er versuchte noch einmal Schlaf zu finden, doch die endlose Stille machte es nicht möglich. Es war ungewohnt, neu. Langsam quälte sich Alex aus seinem Bett und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Das ist doch zum verrückt werden, du solltest die Stunden in Freiheit genießen“, schimpfte er leise. Er schlüpfte in eine Jeans und einen Pulli, zog sich die Schuhe an die Füße und griff beim Aufstehen nach seiner schwarzen Lederjacke.
Die innere Unruhe führe ihn an die Luft. Er ging ohne Ziel durch die Nacht, nur um der erdrückenden Einsamkeit, dieser unaufhaltbaren Stille, die ihn in seiner Wohnung lähmte, zu entkommen. Es war ungewohnt, dass er sich so frei bewegen konnte und eine solche große Strecke ohne Betonmauern, die ihn einschränkten, zurücklegte. Er streunte einige Stunden umher, bis er sich am Rheinufer wiederfand. Er setzte sich auf eine der hölzernen, mit Graffiti vollgeschmierten Bänke und sah auf den Dom, der gegenüber von ihm mit Scheinwerfern hell beleuchtet wurde. Er stellte fest, dass er das Wahrzeichen der Stadt, seiner Stadt, irgendwie imposanter, größer in seinem Gedächtnis hatte. Seine Augen schlossen sich und er atmete die kühle Luft ein. Sogar das Atmen fühlte sich in Freiheit komplett anders an. Verrückt!
Er lauschte den Geräuschen um sich herum und war froh, dass er zumindest für wenige Stunden der Stille seiner Wohnung entkommen konnte. Er war dankbar dafür, dass Köln ihm den Gefallen tat und auch in der Nacht von allerlei Klängen überlagert war. Um sich herum hörte er es in den Büschen leise rascheln. Vielleicht ein Igel oder ein Häschen. Die Grillen zirpen und etwas weiter entfernt rauscht die Straße. Ab und an erfüllten sogar Stimmen von nachtschwärmenden Menschen die Luft.
Er öffnete die Augen und hob den Kopf in Richtung Nachthimmel. Über ihm leuchtete die Milchstraße am Sternenhimmel. In den vielen ungezählten Stunden, Tagen und Nächten hinter Gittern, war das eines der Dinge, die er irgendwann vermisst hatte. Den Sternenhimmel. Die Weite und Freiheit des Weltalls.
Er seufzte und richtete sich von der Bank auf. Es würde noch Wochen, vielleicht sogar Monate, dauern, bis er endlich frei war.
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2015
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