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Prolog


Kalifornien



Das Auto schlingerte, bevor es quer über die Fahrbahn direkt auf die Böschung zuschoss. Leigh krallte sich am Sitz fest, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Mit ohrenbetäubendem Krachen stieß der Wagen durch die Leitplanke, bevor er von der Wucht weiter den Abhang hinuntergeschleudert wurde. Wieder und wieder überschlug er sich, prallte gegen Bäume und Felsen, bis er sich schließlich ein letztes Mal aufbäumte und dann mit den Rädern nach unten zum Stehen kam. Zischend entwich Dampf aus der zerbeulten Motorhaube. Das Geräusch klang unnatürlich laut in der plötzlichen Totenstille. Nichts rührte sich, sogar die Luft war wie erstarrt. Die Welt schien für einen langen Moment den Atem anzuhalten, bevor der Wind mit einem Seufzer wieder einsetzte und das Rauschen der Wellen, die sich an den vorgelagerten Klippen brachen, die ominöse Stille ablöste.
Langsam schlug Leigh die Augen auf. Nebel waberte vor ihren Augen, strich über ihre feuchte Haut. Er ringelte sich um ihre Hände, ihre Beine, ihren Oberkörper, schien sie gleichzeitig zu liebkosen und festzuhalten. Sie fühlte sich schwerelos, wie schwebend. Nur langsam drang die Welt um sie herum durch den Schock, verdrängte ein wenig das wattige Gefühl in ihrem Kopf. Warum war sie hier eingesperrt? Verwirrt wollte sie den Kopf schütteln, doch er schien sich nur in Zeitlupe zu bewegen. Was ging hier vor? Sie fühlte sich seltsam von allem losgelöst, als säße jemand anders hier. Müde. Sie war so müde. Wahrscheinlich hatte sie nur einen merkwürdigen Traum. Gerade wollte sie beruhigt ihre Augen schließen, als sie aus den Augenwinkeln einen Farbtupfer aufblitzen sah. Ohne große Neugier drehte sie den Kopf zur Seite, langsam, unendlich langsam, bis sie schließlich erkennen konnte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Boyd! Der Adrenalinstoß lichtete den Nebel weit genug, um zu erkennen, dass ihr Freund neben ihr saß. Sein Gesicht war abgewandt, die Hände lagen in seinem Schoß. Eine Blutspur zog sich von der Stirn über seine Wange und färbte die Schulter seines Hemdes rot. Wahrscheinlich war er gegen das Lenkrad geprallt und hatte sich dort verletzt.
»Boyd?« Ihre Stimme war selbst für sie kaum zu verstehen. Schwach und rau kam sein Name über ihre Lippen, ging im Rauschen ihrer Ohren unter. Leigh streckte die Hand aus und berührte vorsichtig seinen Arm. Er rührte sich nicht. Noch einmal versuchte Leigh es, diesmal etwas energischer. Seine Hand rutschte von seinem Bein zwischen die Sitze – die einzige Reaktion. Sorge um Boyd ließ den Nebel um Leigh weiter zurückweichen. Sie erkannte nun deutlicher, wo sie waren, und begann sich an das Geschehene zu erinnern. Ein Laut, halb Keuchen, halb Stöhnen, drang aus ihrem Mund. Sie mussten hier weg! Leigh versuchte, sich zu bewegen, sank aber mit einem Schmerzenslaut wieder zurück. Ihr Rücken brannte wie Feuer. Zumindest bis zu dem Punkt, wo sie überhaupt nichts mehr fühlte. Oh Gott, nein! Mühsam schob sie ihre Angst beiseite und wandte sich wieder Boyd zu. Sie musste ihn irgendwie wach bekommen.
Der Schmerz trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, als sie sich langsam zu Boyd umwandte, ihren Arm ausstreckte und mit den Fingerspitzen seinen Kopf berührte. Er kippte zurück, seine Augen starrten blicklos in ihre.
»Wir müssen hier raus! Kannst du …« Leigh brach ab, als sie erkannte, dass Boyd sie nicht hören konnte. Nie wieder. Unwillkürlich versuchte sie, von ihm wegzukommen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie erstarrt saß sie unter seinem leblosen Blick, das Rauschen in ihren Ohren wurde stärker, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihr Blick trübte sich, dann wurde sie erneut in den Nebel hineingezogen. Sie hörte weder die Rufe der Helfer noch das Kreischen von Metall, als sie aus dem Wrack herausgeschnitten wurde.

Kapitel 1


Washington, D. C., vier Jahre später



»Würden Sie mit mir essen gehen?«
Leigh blickte erstaunt auf. Stirnrunzelnd musterte sie den Mann, der vor dem Verkaufstresen stand und auf ihre Antwort wartete. Er hatte sie überrascht, bisher war noch keiner der Kunden von Books & More darauf gekommen, sie einzuladen. Und schon gar nicht mit diesen Worten.
»Nein.«
Ihr Gegenüber atmete enttäuscht aus, während er das Buch entgegennahm, das sie ihm reichte. Jedenfalls bildete sie sich ein, Bedauern in seinem Blick zu sehen, vielleicht war es auch Erleichterung darüber, nicht mit jemandem wie ihr ausgehen zu müssen. Andererseits hätte er sie dann wohl kaum eingeladen, oder?
»Warum nicht?«
Leighs Augenbrauen hoben sich. Anstatt den Laden zu verlassen, war der Mann vor ihr stehen geblieben und sah sie direkt an. Warum konnte er es nicht einfach dabei belassen? Ihr Blick zuckte zu ihren Beinen, die bewegungslos im Rollstuhl standen, dann zurück zu ihm. »Ich denke, das ist offensichtlich.«
Verwirrt sah er sie an. Es dauerte einige Sekunden, bis er seinen Fauxpas erkannte. Röte kroch seinen Hals hinauf. »Ich möchte es noch einmal anders formulieren …«
»Lassen Sie es, Sie würden nur Ihre Zeit vergeuden. Gehen Sie bitte, damit ich den nächsten Kunden bedienen kann.«
Gehorsam trat er zur Seite. Erleichtert atmete Leigh auf, während sie die Bücher des nächsten Kunden entgegennahm. Absichtlich hielt sie den Blick gesenkt, um nicht das mitleidige Lächeln der Umstehenden sehen zu müssen. Ärger darüber, dass der Fremde ihren Tag durcheinandergebracht hatte, mischte sich mit Bedauern. Sie vermisste die Gesellschaft eines Mannes. Sie reichte der Kundin das Wechselgeld und die büchergefüllte Tüte. Ein dezentes Räuspern ließ sie aus ihren Gedanken auffahren. Erneut blickte Leigh ruckartig auf, und dabei löste sich eine
Haarsträhne aus dem Knoten, den sie im Nacken trug. Warum konnte der Typ nicht endlich verschwinden? »Sie sind ja immer noch hier.«
»Ich möchte Sie gerne zum Essen einladen.«
Leigh blickte auf ihre Hände, dann schüttelte sie den Kopf. »Sie können es formulieren, wie Sie wollen, meine Antwort bleibt Nein.« Ihre Finger zupften unruhig an ihrem Ärmel. »Gehen Sie. Bitte.«
Er wirkte, als wolle er widersprechen, doch dann lächelte er nur. »Es wäre sicher ein netter Abend geworden. Ich hoffe, ich habe Sie nicht beleidigt.«
Sie spürte, wie sie rot wurde. »Nein, natürlich nicht. Vielen Dank für die Einladung. Und viel Spaß mit dem Buch.«
Leigh folgte ihm mit den Augen, bis er den Laden verlassen hatte und im Gewühl rund um den Dupont Circle verschwand. Bisher hatte noch kein Kunde versucht, mit ihr ein persönliches Gespräch anzufangen. Zum Teil lag es sicher an dem nicht zu übersehenden Rollstuhl, vermutlich aber auch an ihrer stets zurückhaltenden, geschäftsmäßigen Art. Selbst gegenüber den anderen Beschäftigten bei Books & More, einem Buchladen mit angeschlossenem Café, blieb sie eher auf Distanz. Mehr als ein paar freundliche, unpersönliche Worte wurden zwischen ihnen selten gewechselt, obwohl sie bereits seit einigen Monaten hier arbeitete. Sicher lag das zum Großteil an ihr. Sie war inzwischen so daran gewöhnt, sich von allen zurückzuziehen, dass sie nicht mehr wusste, wie man ein normales Gespräch führte. Früher hatte sie fast mehr Verabredungen und Verehrer gehabt, als ihr lieb gewesen war, doch seit sie im Rollstuhl saß, machten die meisten Männer einen Bogen um sie – und sie um die Männer. Wenn jemand Interesse an ihr zeigte, dann meist aus Mitleid, oder es war von ihren Geschwistern inszeniert. Sie meinten es gut, aber es tat weh, als Wohltätigkeitsfall angesehen zu werden.
Auch deshalb war sie nach Washington, D. C., gekommen: Sie hatte es einfach nicht mehr in der Nähe ihrer Familie ausgehalten. Obwohl Nähe natürlich relativ war. In San Francisco selbst lebte nur noch ihr Bruder Jay, seitdem ihre Zwillingsschwester Shannon zu ihrem Freund Matt nach San Diego gezogen war. Davor hatten die beiden Schwestern gemeinsam in einer Wohnung gelebt, die nach Shannons Auszug zu still für Leigh geworden war. Und es hatte sie auch genervt, dass Jay immer wieder seine Kollegen von der Polizei vorbeischickte, die sie zum Essen einluden. Oder es zumindest versuchten. Noch schlimmer waren allerdings die Besuche von Shannon und Matt gewesen. Leigh gönnte ihrer Schwester das Glück von Herzen, aber es war sehr schwer, es mit anzusehen, wenn sie selbst niemanden hatte, der ihre Hand hielt, sie küsste oder nachts im Bett neben ihr lag
und sie eng umschlungen hielt. Tränen traten ihr in die Augen. Mehr als einmal war sie in den letzten Jahren mit einem hohlen Gefühl in der Brust aufgewacht. Die Erinnerung daran, wie es gewesen war, sich einem Menschen nahe zu fühlen, war inzwischen verschwommen, fast vergessen. Leighs Hände krampften sich um die Lehnen des Rollstuhls. Sie hasste es, in diesem Ding gefangen zu sein und ihr Leben nur noch in einem so engen Rahmen führen zu können.

Erst Stunden später gönnte Leigh sich eine kurze Pause im Café der Buchhandlung. Meist aß sie hier, da sie abends, wenn sie nach Hause kam, keine Lust mehr zum Kochen hatte. Sie fuhr zu ihrem Stammplatz, der genügend Platz für einen Rollstuhl
bot, und winkte der Bedienung. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, hing sie ihren Gedanken nach.
Ihr ältester Bruder Clint lebte nicht weit entfernt in Richmond. Er war der Einzige in der Familie, der verstand, dass sie nicht ständig bemuttert werden wollte, sondern ihr eigenes Leben führen musste. Natürlich war er immer sofort zur Stelle, wenn sie Hilfe brauchte oder einfach nur jemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte, aber er drängte sich nicht auf. Einmal in der Woche telefonierte sie mit ihm oder seiner Freundin Karen, sie tauschten Neuigkeiten aus oder planten ihr nächstes Treffen. Die beiden hatten auch nie versucht, ihr ein Date zu verschaffen, obwohl Clint als Ausbilder bei den SEALs, einer Spezialeinheit der Navy, genug ungebundene Männer zur Verfügung standen, die er ihr auf den Hals hetzen konnte.
Sie verzog leicht die Mundwinkel. Für einen gut gebauten SEAL würde sie vielleicht sogar eine Ausnahme von ihrer Regel machen, sich nicht mit auf sie angesetzten Männern zu treffen. Ihr kurzer Anflug von Humor verschwand jedoch sofort wieder. Als ob sich ein gut aussehender, durchtrainierter, sportlicher Mann für sie interessieren würde! Ungebeten erschien das Gesicht des Fremden vor ihren Augen, der sie zum Essen eingeladen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein, und das hätte sie sicher, denn er stach eindeutig aus der Menge heraus. Es hatte sicherlich nicht nur an ihrer sitzenden Position gelegen, dass er ihr so groß und breitschultrig vorgekommen war, und sein markantes Gesicht mit den grünen Augen und den kurzen, rotblonden Haaren hatte sympathisch gewirkt. Früher hätte sie ernsthaft darüber nachgedacht, seine Einladung anzunehmen, doch heute war es gar keine Frage gewesen. Auch wenn seine ruhige, tiefe Stimme ein seltsames Verlangen in ihr ausgelöst hatte, nur dieses eine Mal zu vergessen, wer und wo sie war und warum es keine gute Idee war, sich mit einem Mann zu verabreden.
Seufzend rieb sie mit den Fingern ihre schmerzenden Schläfen. Heute Abend bekam sie bestimmt wieder Migräne. Ihr Arzt meinte, es läge an ihrer ständigen Anspannung. Vermutlich hatte er recht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich entspannt und zufrieden gewesen war. Wahrscheinlich lag es schon beinahe vier Jahre zurück. Überhaupt konnte sie ihr ganzes Leben deutlich in die Zeit vor und nach dem Rollstuhl trennen. Vorher hatte sie alles gehabt, jetzt hatte sie nichts. Leigh seufzte. Sie wusste nicht, was sie mehr deprimierte, ihr Leben oder ihr eigenes Unvermögen, etwas Positives darin zu sehen.

Logan Barker stand im Dunkeln auf seiner Veranda, als Leigh von dem mobilen Rollstuhltransportbus auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus abgesetzt wurde. Wie schon so oft beobachtete er, wie sie durch den Vorgarten auf die Rampe zurollte, die anstelle der vier Treppenstufen zu ihrer Haustür hinaufführte. Innerhalb von Sekunden beförderte der Elektromotor des Rollstuhls sie auf die kleine Veranda. Als würde sie seinen Blick auf sich spüren, drehte sie den Kopf in seine Richtung. Obwohl er in seiner dunklen Kleidung nicht zu sehen war, trat er einen Schritt zurück. Er hasste diese Geheimnistuerei, aber er wollte nicht, dass Leigh sich beobachtet vorkam.
Eigentlich hatte er bei seinem kurzen Abstecher heute Mittag nur erfahren wollen, ob es ihr gut ging. Stattdessen war ihm spontan eine Einladung zum Essen herausgerutscht, obwohl er wusste, dass das keine gute Idee war. Aber in dem Moment hatte er an nichts anderes mehr denken können, als endlich mit ihr reden zu können, sie vielleicht sogar berühren zu dürfen. Vermutlich wäre es besser gewesen, sich ihr nicht mehr zu nähern, aber ihm ging die Sehnsucht in ihren bemerkenswerten Augen nicht aus dem Sinn. Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, bevor wieder Zurückhaltung und Vorsicht die Oberhand gewannen, aber es war ihm dennoch aufgefallen. Er konnte keinen Abstand mehr zu ihr halten, wie er es sich eigentlich vorgenommen hatte. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, war er fasziniert von ihr, angezogen von ihrer Schönheit, aber auch von der Traurigkeit, die sie wie eine dunkle Wolke umhüllte.
Er beobachtete, wie Leigh im Innern des Hauses verschwand. Das Licht ging an und erhellte die Küche. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er sehen, wie sie den Raum durchquerte, eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm und sich ein Glas einschenkte. Wieder durchzuckte ihn das schlechte Gewissen, weil er in ihr Privatleben eindrang und ihre Intimsphäre verletzte. Trotzdem konnte er sich nicht abwenden. Etwas an ihr ließ ihn wünschen, bei ihr zu sein, sie zu beschützen, ihre Einsamkeit zu lindern. Er schnaubte. Wenn er noch nicht einmal die Leere in seinem eigenen Innern zu bekämpfen vermochte, wie sollte er dann ihr helfen?
Sie brauchte jemanden, der Freude und Leichtigkeit in ihr Dasein brachte. Dafür war er sicher nicht der Richtige, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal Freude empfunden hatte. Mit einem Fluch ließ er die Bierflasche wieder sinken, die er gerade an seine Lippen gesetzt hatte. Doch, er erinnerte sich noch sehr genau daran. Damals hatten Kate und er in Mena gelebt und einen Ausflug in den Ouachita National Forest unternommen. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Jedes Mal, wenn er durch sein stilles Haus ging, erinnerte er sich an diesen Tag und wie viel Spaß sie zusammen gehabt hatten. Aber das war lange her.

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Tag der Veröffentlichung: 15.02.2012

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