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Dylan machte einen Bogen um die Stelle, an der das Bild der toten Frau flackerte. Sie verließ den Pfad und kletterte den dicht bewaldeten Abhang hinauf. Ein paar Minuten ging sie so und genoss die Stille. Die aufragenden Gipfel aus Sandstein und Basalt hatten etwas Uraltes, geradezu Mysteriöses. Dylan blieb stehen, um Fotos zu machen, und hoffte, etwas von dieser Schönheit für ihre Mutter einfangen zu können.
Höre mich.
Zuerst sah Dylan die Frau nicht, sondern hörte nur den verzerrten Tonfall ihrer geisterhaften Stimme. Aber dann bemerkte sie ein weißes Aufblitzen. Die Frau stand weiter oben am Abhang auf einem Felsgrat, auf halber Höhe einer der steilen Felsklippen.
Folge mir.
„Keine gute Idee“, murmelte Dylan und beäugte die schwierige Kletterstrecke. Sie war extrem steil, ein Durchkommen ungewiss. Und obwohl der Blick von da oben einfach atemberaubend sein musste, hatte sie nun wirklich nicht die Absicht, ihrer neuen Geisterfreundin auf die Andere Seite zu folgen.
Bitte … hilf ihm.
Ihm helfen?
„Wem helfen?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass der Geist sie nicht hören konnte.
Das konnten sie nie. Kommunikation mit ihrer Spezies war immer eine Einbahnstraße. Sie erschienen einem einfach, wenn sie Lust dazu hatten, und sagten, was sie sagen wollten – wenn sie denn überhaupt etwas sagten. Und dann, wenn es zu schwer für sie wurde, ihre sichtbare Form aufrechtzuerhalten, verblassten sie einfach und verschwanden.
Hilf ihm.
Die Frau in Weiß oben auf dem Berg begann, durchscheinend zu werden. Dylan schirmte ihre Augen von dem dunstigen Licht ab, das durch die Bäume fiel, und versuchte, sie im Blick zu behalten. Mit einer unguten Vorahnung begann sie, weiter aufwärtszustapfen, und hielt sich dabei an Fichtendickicht und Buchengestrüpp fest, um über die schwierigsten Stellen des Geländes zu kommen.
Als sie auf den Felsgrat hinaufkletterte, wo die Erscheinung gestanden hatte, war die Frau fort. Vorsichtig ging Dylan den Felsvorsprung entlang und bemerkte, dass er breiter war, als es von unten den Anschein hatte. Der Sandstein war dunkel und durch den ständigen Einfluss der Elemente verwittert, so dunkel, dass ein tiefer vertikaler Spalt ihr erst jetzt auffiel.
Und aus diesem schmalen, lichtlosen Spalt hörte Dylan nun wieder dieses körperlose, geisterhafte Geflüster.
Rette ihn.
Sie sah umher, und alles, was sie sah, war nur Wildnis und Felsen. Hier oben war niemand. Und keine Spur mehr von der ätherischen Gestalt, die sie so weit den Berg hinaufgelockt hatte, allein.
Dylan sah sich wieder um und warf einen Blick in die Düsternis der Felsspalte. Sie steckte die Hand hinein und spürte, wie kühle, feuchte Luft über ihre Haut strich.
In diesem tiefen schwarzen Spalt herrschte völlige Stille. Grabesstille.
Wenn Dylan jemand gewesen wäre, der daran glaubte, dass an den alten Legenden von gruseligen Ungeheuern durchaus etwas dran sein konnte, hätte sie sich vielleicht vorstellen können, dass an einem so abgeschiedenen Ort welche hausten. Aber sie glaubte nicht an Ungeheuer und hatte es auch nie. Abgesehen davon, dass sie ab und zu Tote sehen konnte, die ihr nie etwas zuleide taten, war Dylan extrem pragmatisch veranlagt – man konnte sie manchmal sogar zynisch nennen. Die Reporterin in ihr war es, die jetzt neugierig wurde, was wohl in dieser Felsspalte zu finden war. Wenn man mal davon ausging, dass man dem Wort einer Toten glauben konnte – wer brauchte ihrer Meinung nach Hilfe? Lag dort drin etwa ein Verletzter? Konnte sich jemand verlaufen haben, als er diese steile Felsklippe hinaufgeklettert war? Aus einer der Außentaschen ihres Rucksacks nahm Dylan eine kleine Taschenlampe. Sie hielt den Lichtstrahl in die Öffnung, und da bemerkte sie außen und innen am Rand der Spalte schwache Meißelspuren, als hätte jemand versucht, sie zu verbreitern. Aber so verwittert, wie ihre Kanten aussahen, musste es schon lange her sein.
„Hallo?“, rief sie in die Dunkelheit. „Ist da jemand?“
Nichts als Stille.
Dylan nahm ihren Rucksack ab und fasste ihn mit der einen Hand, die andere schloss sie fest um den schmalen Griff ihrer Taschenlampe. Sie passte gerade noch durch den Spalt, aber jemand, der größer war als sie, musste sich wohl seitlich hineinzwängen.
Das enge Stück dauerte nicht lange an, dann weitete sich der Raum. Plötzlich stand sie mitten im massiven Felsgestein des Berges, der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe tanzte auf glatten, gerundeten Wänden. Es war eine Höhle – und außer ein paar Fledermäusen, die über ihrem Kopf aus dem Schlaf aufgeschreckt das Weite suchten, war sie leer.
Aber so wie es aussah, war dieser Ort zum größten Teil von Menschenhand geschaffen. Die Decke hob sich mindestens sechs Meter über Dylans Kopf. An jeder Wand der kleinen Höhle waren eigenartige Wandgemälde, die wie seltsame Hieroglyphen wirkten, eine Mischung aus kruden Stammeszeichen und ineinandergreifenden,
Fasziniert von der Schönheit dieser seltsamen Kunstwerke trat Dylan näher an eine der Wände heran. Sie ließ den kleinen Lichtstrahl ihrer Taschenlampe nach rechts wandern und sah staunend, dass die kunstvolle Wandbemalung sich überall um sie herum fortsetzte. Sie ging einen Schritt weiter in die Mitte der Höhle. Mit der Spitze ihres Wanderstiefels trat sie gegen etwas, das auf dem Boden lag. Es klapperte hohl, als es zur Seite rollte. Dylan ließ den Lichtstrahl über den Boden gleiten und keuchte auf.
Ach du Scheiße.
Es war ein Schädel. Weißer Knochen schimmerte im Dunklen, der menschliche Schädel starrte mit leeren, blicklosen Augenhöhlen zu ihr auf.
Wenn die Tote ihn gemeint hatte, den Dylan retten sollte, war sie etwa ein Jahrhundert zu spät dran.
Dylan ließ den Lichtstrahl weiter in die Dunkelheit wandern, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, aber zu fasziniert, um wieder zu gehen. Noch nicht. Der Lichtstrahl huschte über einen weiteren Knochenhaufen – Himmel, da waren ja noch mehr menschliche Überreste auf dem Höhlenboden verstreut.
Gänsehaut breitete sich auf Dylans Armen aus, ein Luftzug strich durch die Höhle, Gott weiß, woher der so plötzlich kam.
Und da sah sie es.
Am anderen Ende der Dunkelheit stand ein großer, rechteckiger Steinblock. Er war überzogen von eingemeißelten Ornamenten, genau den gleichen, mit denen die Wände bedeckt waren.
Dylan musste nicht näher herangehen, um zu erkennen, dass sie in einer Gruft stand. Über dem Sarkophag lag eine dicke Steinplatte. Sie lag leicht schräg, als hätten unglaublich starke Hände sie zur Seite geschoben.
Copyright © Egmont LYX Verlag
Texte: ISBN: 978-3802581731
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2011
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