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Thomas träumte von Musik, als ihn das durchdringende Klingeln des Telefons aus dem Schlaf riss. Trotz der Umstände, die ihn nach Europa geführt hatten, war es ein leichter, sanfter Refrain, der ihm auch dann noch durch den Kopf ging, als er bereits die Augen geöffnet hatte. Sein Blick wanderte automatisch zum Ringbuch auf dem Tisch, das er heranzog, kaum dass er sich aufgesetzt hatte. Mit der einen Hand hielt er rasch die Noten auf dem Blatt fest, mit der anderen griff er nach dem Telefon und klappte es auf.
„Ja?“, meldete er sich beiläufig, da er noch immer in erster Linie damit beschäftigt war, die Melodie so zu notieren, wie er sie gehört hatte.
„Thomas? Da du nicht angerufen hast, muss ich wohl davon ausgehen, dass du Mutters Telefon nicht orten konntest, richtig?“, begann Bastien ohne weitere Vorrede. „Aber ich rufe an, um mich davon zu vergewissern und um dich wissen zu lassen, dass ich eine Blutlieferung veranlasst habe. Sie wird dir etwa bei Sonnenuntergang oder kurz danach gebracht werden.“
„Sonnenuntergang?“, wiederholte Thomas verwundert und legte den Stift weg. „Ich glaube, bei Sonnenuntergang werde ich nicht hier sein. Ach ja, und ihr Mobiltelefon lässt sich tatsächlich orten. Ich hatte im Penthouse angerufen, um dir das zu sagen, aber da hat sich nur der Anrufbeantworter gemeldet.“ „Ich bin schon den ganzen Morgen im Büro und warte auf deinen Rückruf. Das Telefon konnte geortet werden?“, fragte Bastien neugierig.
„Ja, und du wirst nicht glauben, wo Tante Marguerite ist“, gab Thomas zurück.
„Wo ist sie?“, wollte Bastien wissen, dem ein gewisses Unbehagen anzuhören war.
„In Amsterdam.“
„Amsterdam?“, rief er ungläubig. „Nein, das kann nicht sein. Hast du das noch mal nachprüfen lassen?“
„Natürlich habe ich es nachprüfen lassen“, erwiderte Thomas ein wenig ungehalten. „Beide Male kam dabei Amsterdam heraus, allerdings mit zwei unterschiedlichen Standorten“, fügte er nur widerstrebend hinzu.
„Amsterdam“, wiederholte Bastien, dem unüberhörbar nicht gefiel, was diese Ortung ergeben hatte. „Italien hätte ich noch glauben können, auch irgendwo in England … aber Amsterdam?“
Thomas konnte sich vorstellen, wie sein Cousin dabei den Kopf schüttelte. Er sprach den Namen der Stadt aus, als habe er es mit einem Sünden- pfuhl wie Babylon zu tun. „Sie und Tiny suchen in Europa nach Christians leiblicher Mutter“, erklärte er. „Vielleicht lebt die Frau ja dort jetzt irgendwo.“
„Das kann natürlich sein“, stimmte Bastien ihm widerstrebend zu. „Soll ich ein Ticket für dich besorgen und …“
„Ist längst erledigt“, unterbrach ihn Thomas gereizt. „Ich dachte mir, dass der Firmenjet bereits auf dem Rückflug nach Kanada ist, also habe ich nach der Bestätigung durch die zweite Ortung einen Flug nach Amsterdam gebucht.“
„Wirklich?“, fragte er und fuhr brummend fort: „Du hättest mich anrufen können, dann hätte ich das mit dem Flug für dich regeln können.“
„Bastien, ich bin kein hilfloses Baby. Ich weiß, wie man einen Flug bucht“, knurrte Thomas mürrisch. „Ich fliege um 18 Uhr 50 ab.“
„Ich weiß, dass du nicht hilflos bist. Aber ich hätte es über die Firma erledigen können. Du machst das für die Familie, da solltest du die Kosten nicht allein tragen müssen. Ich hätte … Hast du gerade 18 Uhr 50 gesagt?“, unterbrach sich Bastien plötzlich.
„Ja“, bestätigte Thomas amüsiert. „Wieso?“
„Ist England fünf Stunden weiter als Toronto? Ich bin mir sicher, dass …“
„Ja, in England ist es fünf Stunden später als bei euch in Kanada“, antwortete Thomas geduldig und fragte sich, wie spät es sein mochte. Inez sollte ihn aufwecken, wenn sie gebadet hatte, also konnte es höchstens kurz nach acht am Morgen sein. Seine Telefonate hatten ihn so viel Zeit gekostet, dass er davon überzeugt gewesen war, sie werde ihn wachrütteln kommen, nachdem er gerade erst eingedöst war.
Langsam drehte er sich um seine eigene Achse und hielt nach einer Wanduhr Ausschau. Er selbst trug nie eine Armbanduhr, was normalerweise auch kein Problem darstellte. In diesem Moment allerdings wünschte er sich, er würde eine Uhr tragen. Dann entdeckte er die Wanduhr am Sims über dem offenen Kamin, und gleichzeitig rief Bastien aufgebracht: „Dann ist es bei euch jetzt halb fünf, Thomas!“
„Ja, das sehe ich auch gerade“, gab Thomas zurück und fragte sich, wieso Inez ihn nicht nach dem Bad geweckt hatte. „Ich lege besser auf und komme in Gang. Bis zum Flughafen brauche ich eine Stunde, und ich muss eine Stunde vor Abflug dort sein.“ „Aber das Blut ist noch nicht eingetroffen“, wandte Bastien ein. „Das kommt erst bei Sonnenuntergang.“
Thomas ging zum Fenster und teilte die dichten, schweren Vorhänge, dann zuckte er zurück, als er in das grelle nachmittägliche Sonnenlicht getaucht wurde. Sofort ließ er die Vorhänge wieder zufallen. „Wenn du mich fragst, wird es noch ein paar Stunden dauern, bis die Sonne untergegangen ist. Wenn du nichts unternehmen kannst, damit mir das Blut in den nächsten zwanzig Minuten geliefert wird, dann muss ich mich ohne Blut auf den Weg machen.“
„Kein Kurier wird es innerhalb von zwanzig Minuten bis zum Dorchester schaffen, nicht bei dem Berufsverkehr in London. Und du wirst nicht ohne Blut abreisen.“
„Bastien, wenn ich das Blut nicht kriegen kann, bevor ich das Hotel verlasse, dann bleibt mir keine andere Wahl. Meine Maschine geht um zehn vor sieben. Wenn ich rechtzeitig am Flughafen ankommen will, muss ich hier um zehn vor fünf aufbrechen“, machte er ihm geduldig klar, auch wenn ihn diese Aussicht selbst nicht erfreute. Normalerweise trank er drei oder vier Blutbeutel pro Tag, und die Minibar im Firmenjet war gut bestückt gewesen, doch vor lauter Sorge um Marguerite hatte er nur einen Beutel trinken können. Jetzt plagte ihn daher der Hunger.
„Und …“ Bastien zögerte kurz. „Ist Inez noch da?“
„Inez?“, wiederholte Thomas verwirrt, da er nicht wusste, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte. Er stand auf und ging in seiner Suite von Zimmer zu Zimmer, um überall nach der Frau zu suchen. „Nein, ich glaube nicht. Eigentlich sollte sie mich nach ihrem Bad wecken, aber das hätte sie dann schon vor Stunden tun müssen.“
„Ich nehme an, du hast ihr nichts davon gesagt, dass die Suche in Amsterdam fortgesetzt wird. Vermutlich wollte sie dich einfach schlafen lassen, um in der Zwischenzeit meinen Wagen mit den getönten Scheiben anzufordern.“
Thomas nahm diese Neuigkeit mit einem Brummen zur Kenntnis. Da sein nächstes Ziel Amsterdam war, kam dem Wagen keine Bedeutung mehr zu.
„Zu schade, dass sie nicht da ist“, redete Bastien weiter. „Sonst hätte ich vorgeschlagen, dass du von ihr trinkst, bevor du zum Flughafen fährst.“
„Was?“, rief Thomas erschrocken, während er vor der Badezimmertür stehen blieb.
„Tu nicht so entsetzt“, ermahnte ihn Bastien. „Du musst schließlich etwas zu dir nehmen.“
„Sicher, aber das ist doch nun alles andere als eine Notlage“, betonte Thomas. „Der Rat wird meinen Kopf fordern, wenn ich …“ „Du bist in England, Thomas“, machte Bastien ihm klar. „Der europäische Rat verfährt nach anderen Regeln als unserer. Viele ältere Unsterbliche sind dort zu Hause, die ihre Traditionen pflegen und gegen Veränderungen sind. Etliche von ihnen weigern sich sogar, ein solches Verhalten zu verbieten. Dort ist es immer noch erlaubt, von Sterblichen zu trinken, wenn es einen guten Grund dafür gibt.“
„Gut, aber unser Rat …“ „… kann dich nicht für etwas bestrafen, das dort zugelassen ist“, führte Bastien den Satz zu Ende. „Außerdem wirst du trinken müssen.“
Thomas missfiel, was er von seinem Cousin zu hören bekam. „Kannst du mir nicht Blut nach Amsterdam bringen lassen?“ „Ja, aber bis dahin dauert es noch ein paar Stunden. Thomas, mir gefällt es nicht, dass du zusammen mit zahllosen Leuten in einem Flugzeug unterwegs bist, solange du Hunger hast.“
„Mir passiert schon nichts.“
„Du hattest auf dem Hinflug nur eine Konserve.“
„Spionierst du mir nach?“, konterte Thomas.
„Darum geht es hier nicht“, sagte Bastien voller Unbehagen. „Es geht darum, dass du nur einen Beutel zu dir genommen hast. Und wenn jetzt auch noch nicht mal Inez bei dir ist …“
„Sie hätte ich sowieso nicht gebissen“, versicherte Thomas ihm.
„Wieso nicht?“, wollte Bastien mit einer Spur zu viel Interesse wissen.
„Weil sie ganz nett zu sein scheint“, antwortete er ausweichend. „Ganz nett? Als sie zu dir ins Hotel kam, hätte sie dir am liebsten den Kopf abgerissen“, gab Bastien belustigt zurück. „
Ja, aber sie sah süß dabei aus“, bestätigte Thomas. „Außerdem glaube ich nicht, dass es zu ihrer Stellenbeschreibung gehört, mich von ihrem Blut trinken zu lassen.“
„Nein, da hast du natürlich recht“, stimmte Bastien ihm seufzend zu. „Und normalerweise würde ich das auch gar nicht in Erwägung ziehen, aber Mutter ist verschwunden, und je länger sich die Suche nach ihr verzögert … Abgesehen davon passiert Inez ja gar nichts, und es ist schließlich so etwas wie ein Notfall.“ Als Thomas nichts erwiderte, seufzte Bastien frustriert. „Du musst auf einen späteren Flug umbuchen.“
„Nein“, protestierte der sofort. „Ich schaffe das schon, Bastien. Bis Amsterdam halte ich auf jeden Fall durch.“
„Und wenn neben dir ein Passagier mit Flugangst sitzt? Er wird nervös sein und schwitzen, und er wird dich mit seinem Geruch locken. Oder wenn sich die Stewardess in den Finger schneidet? Oder stell dir vor, du stehst in der Schlange am Flughafen und jemand bekommt Nasenbluten! Nein, das ist alles viel zu riskant, Thomas.“
„Bastien“, wandte Thomas ein, verstummte aber, als im Schlafzimmer ein Licht anging. Irritiert ging er zur Tür und warf einen Blick in den Raum, wo er zu seinem großen Erstaunen Inez entdeckte, die an einem kleinen Tisch saß. Offenbar hatte sie dort im Schein der Nachmittagssonne gesessen und gearbeitet, und nun, da es allmählich dämmrig wurde, sah sie sich gezwungen, die Tischlampe einzuschalten. So konnte sie besser sehen, was sie notierte, während sie über das Zimmertelefon mit jemandem sprach.
„Was ist los?“, fragte Bastien.
Inez schaute zur Tür, entdeckte Thomas und lächelte ihn an, telefonierte dabei aber weiter. Er zwang sich, ebenfalls zu lächeln, dann wirbelte er herum und entfernte sich einige Meter von der Tür. „Sie ist hier.“
„Mutter?“, rief Bastien aufgeregt.
„Nein, Inez“, stellte Thomas klar.
„Oh … ach so … gut. Trink von ihr. Nur so viel, dass du den Flug hinter dich bringen kannst, ohne dich an deinem Sitznachbarn vergreifen zu wollen“, fügte er noch rasch hinzu, bevor Thomas abermals protestieren konnte. „Danach löschst du ihre Erinnerung und fährst zum Flughafen.“
Da Thomas nichts erwiderte, fuhr Bastien mit einem Seufzer fort: „Ich verstehe ja, dass du das nicht machen möchtest, Thomas. Aber du weißt so gut wie ich, dass du dich nicht inmitten von Sterblichen aufhalten solltest, wenn du hungrig bist.“ „Ich weiß“, lenkte Thomas ein. „Also gut.“
Er wartete nicht ab, ob Bastien noch mehr zu sagen hatte, sondern klappte das Telefon zu und dachte darüber nach, was er zu tun hatte. Der Gedanke, Inez beißen zu sollen, weckte in ihm tatsächlich Widerwillen. Dabei war er ein Vampir und hatte sich immer nur direkt von Sterblichen ernährt, bis vor rund fünfzig Jahren die erste Blutbank gegründet wurde. Seitdem bekam er seine Mahlzeiten im Plastikbeutel geliefert, und der Gedanke, nun wieder einen Menschen zu beißen, machte ihn nervös. Doch der eigentliche Biss war nicht der Grund für seine Unruhe, vielmehr war es der Gedanke daran, wie sehr er es genießen würde. Er fürchtete sich regelrecht davor. Blutkonserven waren kalt und weitestgehend geschmacklos, wenn man sie mit frischem Blut verglich. Dem Blut aus dem Plastikbeutel fehlte der Geruch seines Eigentümers, es besaß keine Individualität, und es brachte nichts von den Lustgefühlen mit sich, wenn sich warmes, pulsierendes Blut in den Mund ergoss. Es war ein Unterschied wieder zwischen einem Fertigessen im Flugzeug und einer frisch zubereiteten Mahlzeit.
Natürlich konnte seine Art sich in den Night Club begeben und spezielle Drinks bestellen, die immer noch gewisse Charakteristika ihrer Spender in sich trugen. Diabetiker hatten beispielsweise süßlicheres Blut, dennoch war es kalt und nicht so köstlich wie welches direkt von der Quelle … Und es war schon sehr lange her. Was, wenn er zu viel trank oder wenn er die Technik verlernt hatte, die Lust mit seiner Spenderin zu teilen und so zu verhindern, dass sie den Schmerz wahrnahm?
„Thomas?“ Er drehte sich um und sah Inez in der Tür zum Schlafzimmer stehen, von wo aus sie ihn fragend anschaute. Als beim Blick in sein Gesicht ihre Augen größer wurden, vermutete er, dass ihm seine Schuldgefühle deutlich anzusehen waren, sodass er sich prompt um ein besänftigendes Lächeln bemühte.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie noch hier sind“, sagte er und setzte eine fast vorwurfsvolle Miene auf, als er fortfuhr: „Sie hätten mich nach Ihrem Bad eigentlich wecken sollen.“
„Ja, ich weiß. Aber ich dachte, Sie sind von dem langen Flug bestimmt noch erschöpft, darum habe ich Sie schlafen lassen“, erklärte sie. „Ich habe den Tag damit verbracht, in verschiedenen Hotels in der Stadt nach Marguerite zu fragen. Da das nichts ergeben hat, versuche ich es jetzt bei den Autoverleihern, aber da konnte ich bislang auch noch keinen Treffer landen.“ Stirnrunzelnd ergänzte sie dann: „Mir ist allerdings auch der Gedanke gekommen, dass sie unter dem Namen dieses Mannes eingecheckt haben könnte, mit dem sie unterwegs ist. Über ihn weiß ich aber nur, dass er Tiny heißt. Ich habe keine Ahnung, ob das der Vor- oder der Nachname ist, und ich weiß nicht mal, ob er überhaupt wirklich so heißt. Daher konnte ich nicht nach ihm fragen.“
„Tiny ist sein richtiger Vorname. Mit ganzem Namen heißt er Tiny McGraw … glaube ich jedenfalls“, antwortete Thomas und begann zu grübeln, ob Tiny vielleicht doch nur ein Spitzname war.
„McGraw?“
Thomas verdrängte diese Überlegung und schaute zu Inez, die sich abrupt umdrehte und dann im Schlafzimmer verschwand. Irritiert ging er zur Tür, blieb stehen und sah, dass sie sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. Nach kurzem Zögern folgte er ihr. Hinter Inez blieb er stehen, seine Nasenflügel bebten, als ihr Duft ihn einhüllte. Sie trug kein Parfüm, da ihr nach dem Bad hier im Hotelzimmer nichts zur Verfügung gestanden hatte. Das Einzige, was den von ihr ausgehenden Wohlgeruch leicht überlagerte, war der Duft von Seife und Badelotion, sodass ihm praktisch nur ihr natürliches, leicht süßliches Aroma in die Nase stieg.
Sein Blick wanderte über ihren Rücken bis zu ihrem Nacken, während sie vornübergebeugt dasaß und Tiny McGraws Namen aufschrieb und daneben etwas notierte. Ihre Haare waren nach vorn gefallen, sodass sie ihr Gesicht verdeckten und zum Teil ihr Hals zu sehen war. Die Haut dort war glatt und makellos, ein Abschnitt vollkommener Haut, die sich über Muskeln und Adern zog. Es waren die Adern, vor allem eine von ihnen, die sein Interesse weckte. Er konnte fast sehen, wie das Blut durch diese Gefäß gepumpt wurde.
Als ihm bewusst wurde, dass das, was er mit Augen und Nase wahrnahm, ihn dazu brachte, sich genüsslich die Lippen zu lecken, wurde ihm klar, Bastien hatte recht gehabt. Der Hunger in ihm erwachte zu ungestümem Leben, obwohl er nur darüber nachgedacht hatte, sie zu beißen. Er konnte sich nicht in einem überlaufenen Flughafen oder in einem voll besetzten Flugzeug aufhalten, umgeben von zahllosen Sterblichen, ohne dabei zu gleich in Versuchung geführt zu werden, einen von ihnen in ein stilles Eckchen zu locken und sich ein paar Schlucke Blut zu gönnen. In diesem Zeitalter, in dem aus Angst vor Terroristen Überwachungskameras jeden noch so unverdächtigen Winkel beobachteten, war es absurd, überhaupt mit einem solchen Gedanken zu spielen.
Plötzlich richtete sich Inez auf und trat einen Schritt nach hinten, woraufhin sie sich vor Erstaunen versteifte, als sie mit dem Rücken gegen ihn stieß.
„Oh“, sagte sie, drehte sich um und ging zur Seite, wobei sie ihn mit großen Augen ansah. „Das tut mir leid. Ich wusste nicht …“
Der Rest blieb unausgesprochen, da sie argwöhnisch sein Gesicht betrachtete. Thomas vermutete, dass ihm sein Hunger anzusehen war, daher verwunderte es ihn nicht, als ein Hauch von Unsicherheit in ihren Augen aufblitzte und ihr Herz schneller zu schlagen begann. Es war eine ganz natürliche Reaktion auf die Gegenwart eines Jägers, der er ganz zweifellos war. Allein die Tatsache, dass er sich ihres Herzschlags bewusst war, ließ erkennen, wie schnell sein alter Jagdinstinkt wiedererwacht war. Das deutlich bessere Hörvermögen, das den Angehörigen seiner Art vergönnt war, stellte auf der Jagd eine nützliche Fähigkeit dar. Aber normalerweise blendete er die Geräusche aus, die er dadurch wahrzunehmen in der Lage war – zumindest seit Blutbanken zu einer festen Einrichtung geworden waren.
Jetzt hörte sich ihr Herzschlag in seinem Kopf wie ein Konzert an, wie der Tanz der Gejagten. Unwillkürlich machte er einen Schritt auf Inez zu und schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein. Thomas begann zu lächeln, als ihr Herz davonzurasen schien und zwischendurch einen Schlag übersprang, ehe es in einen gleichmäßigen, aber hastigen Rhythmus wechselte. Ihr Blick zuckte nervös zu dem riesigen Bett, dann wanderten ihre Augen rasch weiter. Er musste lächeln, als sich ihr Duft zu verändern begann. Die Pheromone, die ihr Körper nun abgab, waren eine Mischung aus beißender Angst und tiefem Verlangen. Zwar machte er sie nervös, aber zugleich wollte Inez ihn, und diese beiden Gefühle lieferten sich in ihrem Inneren eine erbitterte Schlacht.
„Sie haben noch gar keinen Tee getrunken.“
Thomas zog angesichts dieser Worte verwundert die Brauen hoch, und im nächsten Moment durchquerte Inez auch schon das Schlafzimmer. Sofort folgte er ihr, da ihr Duft es ihm unmöglich machte, ihr nicht nachzustellen. Sie war ein Reh auf der Flucht, er war der Wolf, den der Instinkt zu seiner Beute führte. Thomas ließ sie glauben, sie sei auf dem Weg in die Freiheit, bis sie das Schlafzimmer verlassen hatte. Ihre Angst ließ spürbar nach, als sie das Bett nicht mehr sah, und genau in dem Augenblick fasste er ihren Arm und drehte sie zu sich um.



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Impressum

Texte: Egmont LYX Verlag ISBN: 978-3802583230
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2011

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