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„Hör mal, Rach! Ich hol mir jetzt einen Kaffee. Willst du auch irgendwas?“
Rachel Garrett richtete sich auf und fuhr sich mit dem Rücken ihrer behandschuhten Hand über die Stirn. Seit sie vor zwei Stunden zur Arbeit gekommen war, hatte sie zwischen Schüttelfrost und erhöhter Temperatur geschwankt. Im Augenblick befand sie sich wieder in der fiebrigen Phase. Schweißtröpfchen sammelten sich auf ihrem Rücken und ihrer Kopfhaut. Offenbar brütete sie gerade etwas Übles aus.
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Fast eins. Erst zwei Stunden vorbei – sechs lagen noch vor ihr. Sie hätte beinahe laut gestöhnt. Sechs lange Stunden. So, wie diese Grippe sich ankündigte, bezweifelte sie, dass sie auch nur die Hälfte durchhalten würde.
„He! Alles in Ordnung, Rach? Du siehst echt beschissen aus!“
Rachel verzog schmerzlich das Gesicht, als ihr Assistent auf sie zutrat und ihr die Stirn fühlte. Beschissen? Männer konnten so taktvoll sein.
„Kalt. Feucht.“ Er runzelte die Stirn und fragte: „Fieber und Schüttel- frost?“
„Es geht mir gut.“ Verlegen und gereizt schob Rachel seine Hand weg, dann holte sie ein paar Münzen aus der Tasche.
„Also gut, Tony. Vielleicht kannst du mir einen Saft oder etwas Ähnliches mitbringen.“
„Na klar. Ich kann ja sehen, dass es dir gut geht.“
Etwas in seinem Ton irritierte Rachel. Dann wurde ihr plötzlich klar, dass sie den Kittel beiseite geschoben und die Hand in die Hosentasche gesteckt hatte, ohne den blutigen Gummihandschuh auszuziehen. Na wunderbar.
„Vielleicht solltest du –“
„Es geht mir wirklich gut“, sagte sie erneut. „Es wird mir gleich wieder besser gehen. Verschwinde jetzt.“
Tony zögerte, dann zuckte er die Achseln.
„Na gut. Aber du könntest vielleicht in Erwägung ziehen, dich hinzusetzen, bis ich wiederkomme.“
Rachel tat, als ob sie den Vorschlag nicht gehört hätte, und wandte sich wieder der Leiche zu, als Tony sich auf den Weg machte. Tony war ein netter Kerl. Na ja, vielleicht ein bisschen seltsam. Zum Beispiel bestand er darauf, wie ein Goodfella aus der Bronx zu reden, obwohl er in Toronto geboren und aufgewachsen war und die Stadt nie verlassen hatte. Er war auch nicht italienischer Herkunft. Ebenso wenig, wie er wirklich Tony hieß.
Sein Geburtsname lautete Teodozjusz Schweinberger. Rachel konnte gut verstehen, dass er seinen Namen geändert hatte, aber sie verstand nicht, wieso zu dem neuen Namen offenbar auch ein neuer Umgangston gehörte.
„Achtung!“
Rachel schaute kurz hoch zur offenen Tür des Sektionsraums.
Sie legte das Skalpell hin, zog den Gummihandschuh von der rechten Hand und ging den Männern mit der Bahre entgegen.
Dale und Fred. Nette Jungs. Sanitäter, die sie selten zu sehen bekam. Normalerweise brachten sie ihre Kunden lebendig ins Krankenhaus. Selbstverständlich starben einige nach der Ankunft, aber dann waren diese beiden für gewöhnlich schon wieder weg. Dieser Patient musste im Krankenwagen gestorben sein.
„Hallo, Rachel. Sie sehen, äh, gut aus.“
Höflich ignorierte sie Dales kleines Zögern. Tony hatte ihrsehr deutlich zu verstehen gegeben, wie sie aussah.
„Was haben wir denn da?“
Dale reichte ihr ein Klemmbrett mit mehreren Blättern Papier.
„Schusswunde. Als wir ihn vom Tatort wegbrachten, glaubte ich für einen Moment noch einen Herzschlag zu hören, aber vielleicht hab ich mich auch geirrt. Für die Akten ist er unterwegs gestorben. Doc Westin hat ihn für tot erklärt, als wir hier eintrafen, und uns gebeten, ihn hierher zu bringen. Sie werden eine Autopsie wollen, die Kugel und so weiter.“
„Hmm.“ Rachel ließ die Formulare wieder auf das Klemmbrett zurückfallen, dann ging sie zum Ende des Raums, um eine der speziellen Bahren aus rostfreiem Edelstahl zu holen, die bei Autopsien benutzt wurden. Sie rollte sie zu den Sanitätern.
„Könnt ihr ihn hierhin legen, während ich unterschreibe?“
„Klar.“
„Danke.“ Sie überließ die beiden ihrer Arbeit und ging währenddessen zu dem Schreibtisch in der Ecke, um einen Stift zu suchen. Nachdem sie alle notwendigen Formulare unterschrieben hatte, kehrte sie zu den Sanitätern zurück, die inzwischen den Toten umgebettet hatten. Das Laken, das ihn auf seinem Weg durch das Krankenhaus bedeckt hatte, fehlte nun. Rachel blieb stehen und starrte die Leiche an.
Der Neuzugang in der Prosektur war ein gut aussehender dunkelblonder Mann, nicht älter als dreißig. Rachel betrachtete sein blasses, scharf geschnittenes Gesicht und wünschte sich, sie hätte ihn gesehen, als er noch lebte, und würde wissen, wie er mit klarem Blick ausgesehen hatte. Der Gedanke, dass die Objekte ihrer Arbeit einmal lebendig gewesen waren, kam ihr nur selten. Sie hätte ihren Job nicht ausüben können, wenn sie sich jedes Mal vor Augen geführt hätte, dass die Toten, die man ihr als Pathologin zur Untersuchung brachte, Mütter waren, Brüder, Schwestern, Großväter … Aber bei diesem Mann war das anders. Sie stellte sich vor, wie er lächelte und lachte, und in ihrer Fantasie hatte er silberne Augen, wie Rachel sie in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte.
„Rachel?“
Sie blinzelte verwirrt und starrte Dale an. Die Tatsache, dass sie jetzt saß, erschreckte sie ein wenig. Die Sanitäter hatten offenbar den Schreibtischstuhl herübergerollt und sie dazu gebracht, sich hinzusetzen. Beide beugten sich besorgt über sie.
„Ich glaube, Sie waren kurz vor einer Ohnmacht“, sagte Dale.
„Sie schwankten und waren ganz blass. Wie geht es Ihnen jetzt?“
„Oh.“ Sie lachte verlegen und machte eine beschwichtigende Geste.
„Mit geht es eigentlich ganz gut. Wirklich. Aber ich befürchte, bei mir ist eine Grippe im Anzug. Schüttelfrost und Fieber.“
Sie zuckte die Achseln.
Dale legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn und machte ein bedenkliches Gesicht. „Vielleicht sollten Sie heimgehen. Sie glühen ja richtig.“
Rachel befühlte ihre Wangen und stellte erschrocken fest, dass er recht hatte. Und sogleich begann sie inständig zu hoffen, dass das Tempo und die Intensität, mit der diese Krankheit begann, kein Omen für einen schlimmen Verlauf wäre. Und wenn es doch so schlimm kommen sollte, dass sie dann ebenso schnell wieder gesund würde. Rachel fand es unerträglich krank zu sein.
„Rachel?“
„Was?“ Sie sah die besorgten Gesichter der Sanitäter über sich und versuchte sich zusammenzureißen.
„Oh, tut mir leid. Ja, ich sollte lieber heimgehen, wenn Tony wieder zurück ist. Ich habe die Papiere für den Toten unterzeichnet; es ist alles erledigt.“
Sie behielt die für sie wichtigen Unterlagen und gab ihnen den Rest auf dem Klemmbrett zurück. Dale nahm es entgegen, dann warf er Fred einen zweifelnden Blick zu. Beide schienen unschlüssig, ob sie sie allein lassen konnten.




Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.


Impressum

Texte: Egmont LYX Verlag ISBN: 978-3802581717
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2011

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