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Prolog

Ein Lichtstrahl in tiefer Dunkelheit.
Der Meister aus dem Reich des Todes zog den Umhang schützend vor das Gesicht, damit ihn das intensive Leuchten nicht so stark blendete. Vergeblich

. Denn die Frau war in seinem Kopf und glänzte wie flüssiges Gold. Das Feuer ihrer Seele drang heiß durch die Schleier, die die Welt der Sterblichen von den Zwielichtlanden trennte, und strich sanft über seine Haut. Sie, die Sonne, war mächtig genug, selbst ihm zuzusetzen.
Von seinem dunklen Versteck aus spähte er in ihr Zimmer. Das Bett gemacht, das Kopfkissen unberührt. Er war zu früh erschienen, um auf den wilden Wellen ihrer Träume zu reiten und ihre nagenden Schmerzen und Sorgen zu lindern, damit sie sich ausruhen konnte. So hatte er es seit ihrer Kindheit getan. Dass das Inventar des Krankenzimmers unbenutzt in eine Ecke gepfercht stand, gefiel ihm. Volle Sauerstoffflaschen warteten neben Maschinen, die mit aufgerollten Kabeln untätig vor sich hinsummten.
Mit dem Pinsel in der Hand saß sie auf einem Stuhl vor ihrer Staffelei und musterte ein tiefes dunkles Dreieck, das der Schein der Nachttischlampe herausschnitt. Während sie in seine Schattenwelt blickte, betrachtete er staunend die ihre. Auf die vor ihr stehende Leinwand hatte sie eine Märchenlandschaft gemalt: Satte Hügel, gesäumt von einem dunklen Wald, leuchteten im Licht der Sterne. Dahinter erstreckte sich das weite graue Meer.
Ihr Herz verkrampfte sich, und je näher ihre Zeit rückte, desto durchlässiger wurden die Schleier zwischen ihnen. Ebenso sehr wie er sich freute, als ihr plötzlicher Schmerz in ihm widerhallte, wehrte er sich dagegen, etwas von ihr

zu spüren.
Sie rang nach Luft, ihre Hände fielen auf die Knie herab. Die Spitze des Pinsels hinterließ einen grünen Farbfleck auf dem Rock ihres Kleides. Als sie die Zähne zusammenbiss und ihr Herz zurück in einen gleichmäßigen Rhythmus zwang, bewunderte er ihre Stärke. Seltsam, dass sie ihr Talent dazu nutzte, ein Bild von den Zwielichtlanden zu malen, wo sie doch so am Leben hing.
Er schlich weiter in die grauen Schattierungen ihres Zimmers, bis er ihren Geruch wahrnahm – den klaren Geruch, der auf ihrer Haut tanzte und in ihren Haaren hing, den Moschusgeruch der Farbe an ihren Fingern, die sich nie ganz abwusch, und etwas Intensives, Rätselhaftes, das nach Frau roch und nach Sterblichkeit.
Er spürte, wie sie all ihre Energie zusammennahm, spürte ihre grimmige, von Verzweiflung durchzogene Entschlossenheit, mit der sie ihr junges Herz antrieb, so lange weiterzuschlagen, bis sie etwas Bleibendes für die Nachwelt geschaffen hatte. Während sie ihre Welt subtil und zugleich einschneidend veränderte, strömten ihre Gefühle über ihn wie ein wilder Fluss, aber er war nicht in der Lage, ihre Gedanken zu entschlüsseln, die Grundelemente ihres Geistes, ihres inneren Antriebs und ihrer Kreativität. Das war Schönheit und Kraft der Sterblichkeit. Wenn sie nur wüsste …
Sie riss sich zusammen. Hob den Pinsel hoch, führte die Spitze zur Leinwand, hielt inne und neigte den Kopf zur Seite.
»Bist du da?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Ihre Schwester befand sich im Nebenraum, außer Hörweite, und starrte auf ein silbrig leuchtendes Fenster, in dem sich Lichter bewegten und aus dem Gelächter schallte.
»Ich weiß, dass du da bist«, sagte sie, wandte den Blick dabei jedoch nicht von ihrem Gemälde ab. Der Pinsel setzte sich erneut in Bewegung. »Du kannst genauso gut herauskommen und ausnahmsweise mit mir sprechen.«
Aha. Sie sucht nach mir. Endlich ist es so weit, aber irgendwie ist es noch zu früh

. In seiner Brust loderte eine kleine Flamme, doch er zwang sich, wieder in die Dunkelheit zurückzuweichen, und zog den Umhang fester um seine Schultern.
Sie seufzte. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
Wieder hielt sie inne und sah sich im Zimmer um, ihr Blick fiel auf diese Ecke und jenen leeren Stuhl, streifte ihn und spähte nur noch neugieriger in die tiefe Dunkelheit auf der anderen Seite.
Sie lachte kurz und ironisch auf. »Dass du Angst vor mir haben könntest, ist originell. Das dürfte eine Premiere sein.« Allerdings

. Die meisten fürchteten sich allein bei dem Gedanken an ihn. Nicht aber sie.
»Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben – nun, nicht wirklich zusammen, aber du weißt schon, was ich meine –, wünsche ich mir, einmal mit dir sprechen zu können. Andererseits nehme ich an, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir uns ohnehin begegnen. Dann haben wir genügend Zeit.«
Das stimmt nicht

. Sie würde nur kurz in den Zwielichtlanden verweilen, bevor sie weiter in die nächste Welt reiste. Die Zwielichtlande bildeten nur den Übergang. Sie konnte dort nicht lange bleiben, egal, wie sehr er versuchte, ihre Überfahrt hinauszuzögern. Und das würde er. Er konnte sie nicht einfach verglühen lassen wie eine flackernde Kerze, die das Ende des Dochts erreicht hatte. Nicht dieses strahlende Licht.
Die Dunkelheit lastete schwer auf seinem Rücken, und es reizte ihn, seinen Umhang abzuwerfen. Sie spürte seine Anwesenheit bereits. Und ihr Bild bewies, dass sie die Zwielichtlande schon sehr deutlich sehen konnte.
Was sollte schon passieren?

Wenn er sie nicht lange in den Zwielicht- landen halten konnte, durfte er sich hier vielleicht einen Augenblick stehlen. Jetzt.


Er zerriss einen dünnen Schleier, den letzten, der noch vor ihrem Übergang in die andere Welt lag, und trat aus den Zwielichtlanden in das schwach erleuchtete Zimmer. Die Gerüche der sterblichen Welt umfingen ihn. Es waren zu viele, als dass er einzelne erkennen konnte. Bis auf ihren. Mit einem einzigen Atemzug nahm er sie in sich auf.
Schließlich erblickte sie ihn. Der Pinsel fiel zu Boden. Ihre bereits blasse Haut wurde kreidebleich. Ihre Lider flatterten wie Schmetterlingsflügel, blau umrandetes Indigo mit einem geschwungenen schwarzen Rand.
»Ruhig«, sagte er und machte mit der Hand eine beschwichtigende Geste, um ihren Schock und ihre Überraschung zu lindern, die ihr den Atem raubten.
Als sie seiner Gegenwart gewahr wurde, füllten sich ihre Augen mit Tränen, während ihr Verstand zugleich die Gestalt des Todesboten nach dem Bild formte, das sie tief in ihrer Seele von ihm bewahrte. Sein Wesen blieb immer dasselbe; er war für immer und ewig der letzte Bote. Der letzte Gast. Der Kapitän des kleinen Bootes, das sie von der Welt der Sterblichen über die Gewässer der Zwielichtlande fuhr und sie an der Küste dahinter absetzte.
Aber in welcher Gestalt

er erschien, das blieb ihrer Vorstellung überlassen. Wenn Sterbliche nur wüssten, welche Macht sie besaßen, könnten sie die drei Welten mit einem einzigen Gedanken umgestalten. Vielleicht würden sie es eines Tages tun.
Was sah sie, als sie ihm schließlich ihren Blick zuwandte? Einen Furcht einflößenden Albtraum, eine groteske, unvorstellbar alte Gestalt? Das geschah ziemlich häufig. Diejenigen, die sich vor der dunklen Reise fürchteten, machten aus dem Äther eine Horrorvorstellung und aus ihm eine Horrorgestalt.
Nein

. Sie fürchtete sich nicht vor der Zeit oder dem Tod. Sie zitterte nicht, als er sich ihr näherte. Als er vortrat, um ihr Gemälde zu betrachten.
Ein paar Sachen hatte sie falsch eingeschätzt: Der dunkle Wald war noch dunkler, pechschwarz, tiefschwarz wie klägliche Angst. Sie hatte auch die Rauchsäule vergessen, die in der Mitte aus dem Feuer der Wut aufstieg. Aber er war da. Er hockte im Vordergrund, eine von grauem Wind umhüllte Gestalt. Von einem stürmischen Wind. Eine Gestalt, die angriff oder abwehrte, eine Kraft aus sich selbst heraus. Das hatte sie genau begriffen, aber sein Gesicht hatte sie nicht gemalt.
Was hatte sie gesehen?

Die Frage beschäftigte ihn.
»Habe ich dich gut getroffen?« Die Angst trieb ihre Stimme in die Höhe.
Er wandte ihr seinen Blick zu. »Ja.«
Sie atmete tief ein und beruhigte sich. »Was ist hinter dem Meer?«
Darüber sann er selbst häufig nach. »Das weiß ich nicht. Ich komme nie dorthin.«
»Aber ich.«
Es war keine Frage gewesen, dennoch nickte er bestätigend.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort. Dann streckte sie ihm eine leicht zitternde Hand entgegen. »Ich bin Kathleen O’Brien. Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen. «
Aha, ein Freund. Ein Gefährte

. Das war gut. Er wusste nicht, ob er es ertragen hätte, wenn sie sich vor ihm fürchtete. Wenn sie in ihm ein Monster sähe.
Er kannte das Ritual, war über Jahrtausende hinweg sein Zeuge gewesen, aber immer noch staunte er, als er ihre Hand ergriff und Zwielicht ihre sterbliche Haut berührte. Sie fühlte sich warm und zart an und war trotz ihrer Zerbrechlichkeit stark wie die Gezeiten. Er spürte in ihren Fingerspitzen ihren Herzschlag, was ein fremdes Gefühl in ihm auslöste. Seltsam

.
Sie atmete vorsichtig ein. »Und wie heißt du?« Er hatte über die Jahre hinweg viele Namen erhalten, aber die lehnte er alle ab.
Er wollte nicht, dass sie diese Namen mit ihren Lippen formte. »Ich habe keinen Namen.«
»Jeder hat einen Namen.«
»Dann habe ich ihn vergessen. Such einen für mich aus. Ich schwöre, ich werde ihn nicht wieder vergessen.« Er lieferte sich ihr aus und wartete, dass sie seiner Seele einen Namen gab, war gespannt, wie er wohl klingen würde.
Ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und ihre Erheiterung vertrieb ihr letztes Unwohlsein. Allein deshalb hatte es sich gelohnt, die Grenze zu überschreiten, komme was da wolle.
»Für mich bist du der Schattenmann. Für … nun, für immer.«
»Dann bin ich der Schattenmann für immer.«
Sie hielt seine Hand. Und er die ihre. Sie waren fest verankert, und doch trieben sie dahin. Im Geiste verwandt, aber aus unterschiedlichen Welten.
Ihre strahlende Seele verfinsterte sich. »Ist meine Zeit gekommen? «
»Nein. Noch nicht.« Mit seinem Geist strich er prüfend über den glänzenden Schleier. Die Membrane war zwar dünn, aber ein Sterblicher konnte sie noch nicht durchdringen. »Ich glaube, heute noch nicht.«
Als sie die Stirn runzelte, bildeten sich Falten zwischen ihren Brauen. »Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin zu gehen, aber ich bin es leid zu warten.«
Er lächelte schwach. Alle Sterblichen waren ungeduldig. Für sie hatte alles einen Anfang und ein Ende, als stünden in der Landschaft des Lebens feste Meilensteine. Dieser Umstand bewirkte, dass sie ständig auf das nächste Ereignis warteten. Nicht so in den Zwielichtlanden, wo sich alles zwischen allem erstreckte und die Bewohner die Zeit in ihre Mitternachtsmusik woben.
»Weißt du, wann?«
»Nein. Das weiß niemand. Würdest du es denn wirklich wissen wollen?«
Sie blickte zu ihm auf und sah ihn mit angespannter Miene an.
»Nein. Und doch. Ja. Ich will es wissen … oder verstehen. Ich bin mein ganzes Leben lang krank gewesen. Wozu leben, wenn man nie wirklich leben kann? Ich will …« Ihre Stimme erstarb. Sie holte noch einmal tief Luft. »Wahrscheinlich will ich nur begreifen, warum.«
Durch ihren Körper, ihren Arm hinunter und über ihre Fingerspitzen strömte Verzweiflung und Einsamkeit in seine Hand. Es war kaum zu ertragen. Und ganz sicher konnte er es nicht einfach so hinnehmen.
»Schönheit hat keinen Grund. Sie ist einfach da.« Das war ein schwacher Trost, wie er wusste. »Vielleicht wirst du in der nächsten Welt eine bessere Antwort finden.« Er deutete mit der Hand auf den Horizont auf ihrem Bild. »In der Welt hinter dem Meer.«
»Und du kannst nicht dorthin?«
»Nein. Nur du. Todesboten ist der Zutritt verboten.«
»Das soll es also gewesen sein.« Sie drehte sich wieder zu ihm herum, in ihren Augen schimmerte frischer Schmerz. »Das ist die ganze Zeit, die mir bleibt?«
Er antwortete mit einem Nicken, aber langsam, zögerlich. Er wusste nicht genau, was sie meinte, deshalb konnte er nicht völlig zustimmen. Nicht bei diesem seltsamen Leuchten in ihren Augen. Nicht bei dieser seltsamen Sehnsucht, die aus ihr in ihn hinüberströmte, nicht bei diesem samtweichen Verlangen, das sich in seinem Körper bildete.
»Berühr mich«, sagte sie plötzlich. »Ich meine – willst du mich berühren?«
Doch kein Freund. Oder zumindest nicht nur ein Freund. Was hatte sie gesehen?


Sie waren nur einen Hauch voneinander entfernt. »Ich will etwas Echtes spüren, solange ich noch kann. Du bist mein ganzes Leben lang da gewesen und hast gewartet. Unsichtbar. Ich hatte gehofft, dass wir … dass du und ich …« Sie senkte den Blick und schüttelte verzweifelt den Kopf.
Du und ich

. Ja. Mehr war nicht nötig; mit diesen wenigen Worten hatte sie eine Wahrheit ausgesprochen, die auf beiden Seiten des Schleiers Kraft besaß.
Er spürte, wie ihr Entschluss sich festigte. Langsam hob sie den Kopf und begegnete seinem Blick. »Bitte berühr mich.«
Nein

. Indem er sich überhaupt in diesem Zimmer aufhielt und mit ihr sprach, verstieß er bereits gegen die Gesetze der Zwielichtlande. Das würde Konsequenzen haben. Aber ihr Herz schlug in seinem Kopf und vertrieb seine Bedenken. Verlangen erwachte in seiner Brust. Blind tastete er mit dem Geist nach der Kälte des Schattens. Er hätte nicht herkommen dürfen; die Gesetze der Zwielichtlande existierten nicht ohne Grund. Das war ihm jetzt klar.
»Schattenmann.«
Bei dem Klang seines Namens hielt er abrupt inne.
Sie ließ ihn los, streckte ihre Hand nach seinem Gesicht aus und tastete sich in seine dunkle Kapuze vor. Als sie seine Wange berührte, zuckte ihre Hand gerade so weit zurück, dass sie mit ihren Fingerspitzen seine Lippen streifte.
»Ich kann das nicht«, sagte er. Er musste sich sofort aus ihrer Reichweite entfernen und die Schatten aus dem Reich des Todes fest um seine Schultern ziehen. Er durfte nie mehr herkommen. Er würde ihr in den Zwielichtlanden begegnen, vielleicht schon bald. Das musste reichen.
Dennoch schmiegte er sein Gesicht in ihre Hand, und ihre weiche Haut ließ seinen restlichen Widerstand schmelzen. Ihr sterblicher Wille war stärker als alles, was er aufbringen konnte.
Er konnte nicht den genauen Augenblick benennen, in dem er schwach geworden war. Vielleicht, als er aus dem Schatten herausgetreten war. Oder als er Luft geholt hatte, um das erste Wort zu formen, Ruhig

. Oder Jahre zuvor, als er hergekommen war, um sie von seinem dunklen Versteck aus zu beobachten, obwohl er dazu keinen Auftrag hatte. »Schattenmann?«
Aber als er nun den Kopf neigte und zum ersten Mal ihre Lippen berührte, war er verloren. Der dunkle Most ihrer Lippen schmeckte köstlicher als irgendetwas in irgendeiner Welt oder zwischen irgendwelchen Welten. Nur einmal ausgiebig naschen, nur einmal, dann würde er gehen.
Durch die Verbindung, die sie zwischen sich gebildet hatten, schlug ihr Herz kräftig. Alles andere als schwach. Vielleicht konnte sie durch seine Berührung ewig leben.
Er wich zurück. Als er sie nicht mehr spürte, fühlte er sich augenblicklich vollkommen leer. »Es gibt Gesetze, und tief in deinem Inneren weißt auch du ganz bestimmt, dass man nicht gegen sie verstoßen darf.«
»Das ist mir egal. Ich bin viel zu lange vernünftig gewesen.«
Nur eine Sterbliche konnte so mutig sein. Sie wusste, dass ein Ende nahte und damit ein neuer Anfang. Aber für einen Unsterblichen waren die Konsequenzen einfach und unendlich. Sie hatte keine Ahnung.
»Du hast es selbst gesagt«, beharrte sie. »Es wird nicht heute geschehen. Vielleicht morgen oder übermorgen, aber mir bleibt noch das Jetzt

. Verstehst du das?«
»Kathleen …« Sein Protest erstarb auf seinen Lippen. Noch nie zuvor hatte er ihren Namen ausgesprochen.
»Mein ganzes Leben lang bist du an meiner Seite gewesen, hast das Schlimmste besser und die schrecklichsten Augenblicke erträglicher gemacht. Wieso? Du musst mich lieben.«
»Das tue ich.« Vollkommener Irrsinn

.
Sie schwieg, hielt die Luft an und wartete, dass er ihr ein Zeichen der Hoffnung gab. Wartete auf ihn

. Unfassbar.
Wie hielten Sterbliche das aus? Nach einem einzigen Wimpernschlag von ihr konnte er es nicht länger ertragen. Um bei ihr, bei Kathleen zu liegen, nur einmal Licht in die Dunkelheit zu bringen, würde er alles riskieren. Keine Strafe konnte ihn davon abhalten, seinem Verlangen nachzugeben. Es gab keine Pein, die er nicht bereits erlitten hatte, als er in den dunklen Ecken ihres Zimmers ausgeharrt hatte.
Wenn die Anspannung in seiner Mitte, die ihn drängte, sie zu berühren, seinen Körper mit ihrem zu verschmelzen, das war, was die Menschen als Leidenschaft bezeichneten, war er dazu durchaus in der Lage. Er konnte sich in sie ergießen. Einen wundervollen Moment geben und nehmen.
Und ja

! – jetzt begriff er – die Zeit war knapp. Ihre Ungeduld war ansteckend. Er befand sich zwar erst seit wenigen Augenblicken hier, aber schon nagte sie stetig an ihm und kribbelte in seinen Fingerspitzen.
Er legte eine Hand auf den baumwollenen Rock direkt unter ihrer Taille. Er fühlte sich griffig an, ganz anders als die Seidenstoffe auf seiner Seite der Grenze, die nur unzulänglich Fall und Funktion der Kleidung der Sterblichen nachahmten. Dieser Stoff hier besaß Gewicht, den seltsamen Zauber von Masse. Trotz seiner Leichtigkeit war einige Anstrengung vonnöten, um den Rock nach oben zu ziehen. Durch seine überraschende Geste geriet die Luft in Bewegung und wehte den süßen, rätselhaften Geruch ihrer Haut zu ihm. Dazu wäre er ohne seine Gestalt, das Geschenk dieses Körpers, nicht in der Lage gewesen.
Kathleen. Ihre Macht war wirklich beeindruckend. Gefährlich. Du lädst mich ein. Hier bin ich. Du gibst mir eine Gestalt, und für kurze Zeit kann ich die Luft der Sterblichen atmen. Du bittest mich, dich zu lieben, mein Lichtblick, und lässt damit zugleich den tiefsten Wunsch desjenigen wahr werden, der dir diesen Traum erfüllt.


Als er ihr Kleid hochschob, bebte sie, hob jedoch die Arme, damit er es leicht über ihren Kopf streifen konnte. Die Haut darunter war von reinem Weiß. Sie hatte so wenig Sonne gesehen. Er warf seinen dunklen Umhang ab, der sich wie Rauch von seinem Körper hob. Zum ersten Mal entblößte er vollkommen seine dunkle Haut aus den Zwielichtlanden.
Sie öffnete die Lippen, fasste den Gedanken, der in ihrem Geist aufblitzte, jedoch nicht in Worte.
Was hatte sie gesehen? Hatte sie am Ende doch Angst vor ihm?


Er folgte ihrem Blick und sah an sich hinunter.
Sie hatte aus ihm einen Mann gemacht. Einen starken und gut gebauten, der erregt war und begehrte, wenn so etwas möglich war. Er wusste nicht, wie groß ihre Lust war und wie stark die seine. Es spielte keine Rolle. Irgendeine sterbliche Magie versetzte ihn in die Lage, sie zu lieben. Das war alles, was zählte.
»Du bist schön«, sagte sie und errötete. Er musste lächeln.
Wenn sie wüsste, dass sie ihn nach ihren Vorstellungen geformt hatte.
Er strich ihren Arm hinauf, bis zu der empfindlichen Haut in ihrer Armbeuge. Ein Regenbogen an Emotionen durchströmte sie und hallte in ihm wider. So hatte sie noch niemand berührt. Nur er. Nur dieser Mann.
»Meine Schwester …«, hob sie an.
»… schläft, und das wird sie für den Rest der Nacht.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, woraufhin das Rot noch intensiver wurde. Ein berauschendes Rot. Sie ergriff seine Hände und zog ihn zum Bett. Dann entledigte sie sich mit einem Hüftschwung ihrer restlichen Kleider.
Nach diesem Wagnis bebte sie noch stärker. Er wollte auf keinen Fall, dass Angst zwischen ihnen herrschte. Seine Existenz war bereits viel zu sehr davon bestimmt. Er sehnte sich nur nach Licht. Nur nach Kathleen. Er bedeckte ihren Körper mit seinem und stützte sich auf beiden Seiten ihres Kopfes mit den Ellenbogen ab. Mit dem Daumen wischte er die Tränen fort, die sich in ihren Augen sammelten und ihre Wangen hinunterliefen. Nass und wundervoll.
»Ganz ruhig«, sagte er wieder.
In ihr bildete sich eine stechende Angst, die ihn durchbohrte. »Kannst du mir zeigen, wie man das macht? Ich weiß nicht …«
Er lächelte. »Ich auch nicht.«
»Dann machen wir einfach …«, begann sie. »… Liebe miteinander.« Bevor ihre Angst überhandnehmen konnte, beugte er sich vor und küsste sie wieder. Er wusste nicht um die Feinheiten des Aktes, aber das schien nicht wichtig zu sein. Er schwelgte warm und sinnlich in ihrem Mund, der sich ihm willig öffnete.
Ihre Finger strichen durch die Haare in seinem Nacken, und sie fasste Mut.
Sie hob ihr Kinn seinem Kuss entgegen, schlang ein Bein um seinen Körper und glitt damit von seiner Hüfte bis hinunter zu seiner Wade. Er erschauderte. Daraufhin lachte sie leise und heiser an seinem Mund. Lebendig.
Er ließ sich in die süße Mulde ihres Körpers sinken, umfing sie mit seinen Händen und brachte jeden Nerv zum Schwingen. Er nahm eine ihrer Knospen in den Mund und saugte daran wie ein Baby. Er war zum Leben erwacht, für sie, für sich selbst und schließlich für diese Welt. Sie griff fest in seinen Haarschopf, damit er nicht aufhörte.
Nicht nötig

. Er konnte sich nicht rühren, selbst wenn er wollte. Nun, vielleicht um sich um die andere Brust zu kümmern

. Und die Mulde an ihrem Hals und ihren flachen Bauch. Tiefer konnte er nicht mehr denken, dort lösten sich seine Gedanken in Gefühle auf. Ihre Hände spielten locker mit seinen Haaren, während er sich zu ihr hinunterbeugte.
Sie bogen sich einander entgegen, Becken an Becken, und im nächsten Augenblick war er in ihr. Beide spürten einen Schmerz, seiner ein Echo des ihrigen, der sich jedoch bald in einer Welle intensiver Lust verlor, von Sinnenfreude überspült.
In seiner Brust bildete sich ein Pochen und sank von dort hinunter, dorthin, wo sein Verstand machtlos war. Dorthin, wo er nichts als rätselhafte, brennende Lust spürte. Begierig war zu geben. Es war ein archaischer Rhythmus, selbst älter als er, der sich mit der Melodie ihres Seufzens verband. Ihre Lust gab den Takt für seine vor, sie erregte und leitete ihn, bis sein Körper Stoß um Stoß auf ihren reagierte.
Er bewegte sich wie der Ozean, getrieben von inneren und äußeren Kräften, von dem Mond und den Sternen und dem weiten dunklen Weltraum, von einer namenlosen Kraft, die die Menschen irgendwie kannten und er trotz all der Weisheit seines Alters nicht.
Er erforschte das sanfte Heben und Senken ihrer Hüften, das Schwellen ihrer Brüste. Er ergoss sich über ihren Körper wie ein Fluss, dessen Damm gebrochen war. Er strebte danach, ihren Körper ganz und gar zu durchdringen und zu erregen.
Es war eine gebende Kraft, und als der Sturm vorüber war, wusste er, dass er einen kleinen Teil von sich in ihr zurückgelassen hatte. Dennoch fehlte ihm nichts. Wenn überhaupt, war er gewachsen, denn er hatte etwas Lustvolles, Wundervolles erfahren. Nur ein einziger Gedanke brannte in ihm: Kathleen.


Er legte sich auf den Rücken und zog sie in seine Arme: Sie schmiegte sich an seine Seite und legte ihr Bein locker um seines. Die Luft war von dem Geruch ihrer Lust erfüllt.
Aber aus den finsteren Ecken des Raumes sickerte ein Schatten, um nach ihm zu greifen, ihn festzuhalten, ihn zurück über die Grenze zu holen. Kein Wunder, dass diese Welt in ihm ein Monster sah. Die tiefen Schatten – sein Ort der Macht – schienen jetzt ihn

zu bedrohen.
Etwas Feuchtes, Kaltes, Schwarzes glitt um seinen Knöchel. Mit seinem Geist stieß er den Schatten kräftig zurück. Doch er ließ sich nicht abschütteln und schob sich weiter sein Bein hinauf.
Ihm und seiner Geliebten, die sanft auf dem Nachklang ihrer Lust trieben, blieb nur noch wenig Zeit.
Aber sie waren nicht allein. Etwas war zum Leben erwacht und flackerte vor seinem geistigen Auge. Er griff zwischen ihre Körper und suchte nach der Ursache.
Da

. Ein aufkeimender Funke.
»Irgendetwas geschieht hier drinnen.« Er strich über ihren Unterleib.
Sie bekam runde Augen, hob den Kopf und blickte prüfend auf ihren nackten Bauch, dann sah sie ihn an. »Was meinst du?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Leben. Ich kenne mich damit nicht besonders gut aus.« Ein schwarzer Streifen wand sich sein anderes Bein hinauf. Er konnte spüren, wie er sich langsam auflöste. Es war so gut wie unmöglich, seine Gestalt länger in der Welt der Sterblichen zu halten. »Halt still, ich versuche es aufzuhalten. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Nein«, flüsterte sie und legte die Hand schützend auf die Stelle.
»Nein.« Sie machte sich von ihm los, glitt aus dem Bett und stand am Rand der bedrohlichen Dunkelheit.
Er streckte die Hand nach ihr aus. »Ich weiß nicht, was es ist. Was daraus wird.« Ein Funke konnte sich in ein Feuer verwandeln, und ein Feuer konnte die Natur verändern. Als sie nicht von ihrem Entschluss abwich, fügte er hinzu. »Ich weiß nicht, ob es existieren darf


»Wieso sollte es dann da sein?«
»Indem ich hier bin, verstoße ich gegen das Gesetz. Und erst recht, wenn ich so mit dir zusammen bin. Das sind unzählige Verstöße, doch das ist mir egal. Aber das … das könnte die erste Folge sein.« Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu: Wenn er für die Konsequenzen seiner Übertretung geradestehen musste, war das eine Sache, aber die Vorstellung, dass seine geliebte Kathleen sie ganz allein auf sich nehmen sollte, erschien ihm unerträglich. Das musste er verhindern.
»Nein«, erklärte sie. Die sich ausbreitende Dunkelheit schwärzte seinen Körper. Keine Zeit

. »Kathleen, du kannst nicht wissen, was das ist. Oder wie hoch der Preis dafür ist.«
»Das ist mir egal. Es gehört uns. Dir und mir«, entgegnete sie. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und legte sie auf ihren Unterleib.
Er konnte den Funken jetzt auslöschen, und es wäre vorbei. Aber ihr Herz setzte aus und hielt ihn davon ab. Ihre Augen füllten sich mit neuer Hoffnung, unendlich kostbarer Hoffnung, und sie lächelte unter Schmerzen.
»Du verstehst das nicht«, sagte er. Aber er hatte nicht die Zeit, sie zu überzeugen. Es würde etwas Schreckliches geschehen. Sie musste einen hohen Preis für ihr Glück bezahlen. Mit diesem schimmernden Funken würde zugleich etwas Finsteres entstehen. Er hätte nicht kommen dürfen, konnte es aber auch nicht bereuen.
»Doch. Mehr als du.« Sie drückte seinen Handrücken. »Es entsteht etwas. Etwas aus uns.«
Nie hatten ihre Augen mehr gestrahlt, und er konnte sich nicht überwinden, dieses Strahlen zu trüben. Er versuchte es auf andere Weise. »Wahrscheinlich bleibt dir nicht die Zeit, das bis zum Ende durchzustehen.«
»Doch, das werde ich.«
Ihre Überzeugung verunsicherte ihn. »Kathleen, selbst jetzt ist dein Herz schwach.«
Sie sah ihm in die Augen, während sie tief und kontrolliert einatmete. »Ich brauche nur neun Monate. Neun Monate sind nichts. Man erzählt mir seit Jahren, dass ich nur noch sechs hätte. «
»Kathleen, Liebes.« Seine Stimme klang rau, beinahe brach sie. Er zog sie an sich und sah ihr in die Augen. »Keiner von uns weiß, wie viel Zeit dir noch bleibt. Es ist besser, es jetzt zu beenden. Vielleicht bin ich morgen früh wieder bei dir.«
»Das bist du nicht.«
»Das liegt nicht in meiner Macht, Kathleen.« Genauso wenig wie er aufhalten konnte, was da zusammen mit dem von ihr so gepriesenen Leben entstand. Er streichelte zum letzten Mal ihren Arm.
»Du hast dich über die Gesetze hinweggesetzt. Jetzt lass mich dasselbe tun.«
»Kathleen …« Er konnte nicht aufhören, ihren Namen auszusprechen, wollte

nicht aufhören, ihn laut auszusprechen, während er fühlte, wie er sich in der eisigen Dunkelheit auflöste. Sein Körper verschwand in dem Helldunkel, das in den Zwielichtlanden herrschte, während seine Sinne aus der Schattenwelt nach der Sterblichkeit griffen. Nach dem Funken.
Nach dem Glück, das in ihr wuchs.
Und ja, in den Ecken des Raumes hing ein feiner Film aus schwarzer Spucke, der sich auf der Welt ausbreiten und zu einer grausamen Horrorvision anwachsen würde, die es mit ihrem Wunder aufnehmen konnte.
Einer unvorstellbar grausamen Horrorvision. Kathleen

!

Copyright © 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.

Impressum

Texte: Egmont LYX Verlag
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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Widmung:
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