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„Wohin zum Teufel will er?“, murmelte Decker, während er seinen SUV über den holprigen Feldweg lenkte, um dem weißen Van zu folgen. „Wenn ich das wüsste“, gab Justin Bricker zurück.
Decker warf dem jüngeren Unsterblichen, der für die Dauer dieser Jagd sein Partner war, einen flüchtigen Blick zu, machte sich aber nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass er mit sich selbst geredet hatte. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf die Straße und kniff die Augen zusammen, um zu sehen, wohin er eigentlich fuhr. Zwar konnte er als Vampir im Dunkeln besser sehen als jeder Sterbliche, aber in dieser absoluten Finsternis, die hier draußen herrschte, half ihm nicht mal diese Fähigkeit weiter.
Der Nachthimmel war bedeckt, kein Stern war zu sehen, und Decker hatte schon einige Meilen zuvor die Scheinwerfer ausgeschaltet, damit Nicholas nicht auf seine Verfolger aufmerksam wurde. Der SUV des Jägers verfügte über diverse Extras. So schalteten sich die Scheinwerfer zum Beispiel nicht automatisch ein, sobald der Wagen gestartet wurde.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir ihn so leicht aufspüren würden“, sagte Justin plötzlich.
Decker reagierte mit einem Brummeln. Er war darüber selbst überrascht. Nicholas Argeneau galt seit rund fünfzig Jahren als Abtrünniger, und in all der Zeit hatte niemand den Mann auch nur zu Gesicht bekommen. Dass sie nun nur ein paar Leuten ein Foto von ihm hatten zeigen müssen, um seine Fährte zu finden, war fast schon zu einfach – viel zu einfach. So einfach, dass Decker misstrauisch wurde. Warum hatte Nicholas nicht das Gedächtnis der Sterblichen gelöscht, denen er begegnet war? In der Vergangenheit musste er so vorgegangen sein, weshalb bisher keine Spur zu ihm geführt hatte. Und jetzt auf einmal sollte er damit aufgehört haben? Und das so konsequent? Er hatte ja praktisch Wegweiser aufgestellt, damit er gefunden wurde.
Fluchend klammerte sich Justin am Armaturenbrett fest, als der Feldweg auf einmal endete und sie durch hohes Gras und dichte Büsche rasen mussten, um den weißen Van nicht aus den Augen zu verlieren.
„Vielleicht hat er genug davon, immer nur wegzulaufen“, presste Justin hervor, der kaum die Zähne auseinanderbekam, da er wohl fürchtete, sich auf der Holperstrecke die Zunge abzubeißen. „Vielleicht will er ja gefasst werden.“
Von Decker kam keine Antwort. Er glaubte nicht für eine Sekunde daran, dass Nicholas aufgeben würde. Allerdings konnte er sich auch nicht erklären, was der abtrünnige Argeneau in Wahrheit mit seinem Verhalten erreichen wollte. Er wusste nur, dass Justin Bricker ihm auf die Nerven ging, weil er unentwegt redete. Wie Mortimer, Justins regulärer Partner, das schon seit Jahren aushielt, war ihm schlichtweg ein Rätsel.
„Er hält an!“
„Das sehe ich auch“, knurrte Decker und lenkte den SUV so tief in den Wald, wie er es wagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, mit dem Wagen stecken zu bleiben. Er hoffte, dass sie weit genug entfernt waren, damit ihre Beute sie nicht bemerkte, und stellte den Motor ab. „Behalt ihn im Auge“, wies er Justin an.
Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken, um wertvolle Sekunden zu sparen, falls Nicholas auf sie aufmerksam werden und mit dem Van die Flucht ergreifen sollte. Dann kletterte Decker zwischen den Sitzen hindurch nach hinten, wo er Blut und Waffen aufbewahrte. Als Erstes öffnete er die Kühlbox und nahm mehrere Blutbeutel heraus, ein paar davon warf er über den Sitz auf Justins Schoß. „Trink das, du wirst deine Kräfte brauchen.“
„Dann denkst du also nicht, dass er sich ergeben wird, sobald er uns sieht, stimmt’s?“, fragte Justin mit ironischem Tonfall und drückte sich den ersten Beutel an den Mund.
Allein, dass Justin diesen Gedanken hatte, ließ Decker missbilligend schnauben. Er fuhr seine Fangzähne aus, bohrte sie in den Plastikbeutel und begann zu trinken, während er mit der anderen Hand einen der Waffenkoffer öffnete. Er ließ seinen Blick über die Schusswaffen schweifen. Mit ihnen konnte man einen Unsterblichen zwar nicht töten, doch es war möglich, ihn langsamer werden zu lassen oder ihn sogar kurzzeitig außer Gefecht zu setzen. Vor allem, wenn man Kugeln benutzte, die mit dem von Bastiens Techniktüftlern entwickelten Tranquilizer ummantelt waren.
„Er steigt aus dem Van aus“, ließ Justin ihn wissen.
Als Decker nach vorn schaute, stellte er fest, dass der jüngere Unsterbliche seinen Beutel bereits ausgetrunken hatte und ihn in einer Tüte im Fußraum verstaute, in der sich darüber hinaus etliche Fast-Food-Verpackungen befanden. Der Mann aß also mit der gleichen Begeisterung, mit der er redete. Kopfschüttelnd sah Decker an Justin vorbei durch die Windschutzscheibe nach draußen, konnte jedoch nichts erkennen. „Und was macht er jetzt?“, fragte er, nachdem er seinen ebenfalls geleerten Blutbeutelvon den Zähnen gezogen hatte.
„Er geht zum Heck des Wagens … macht die Türen auf … sucht irgendetwas … holt einen Gegenstand heraus – ich glaube, das ist eine Waffe.“ Justin sah ihn über die linke Schulter hinweg an und wirkte sichtlich besorgt. „Meinst du, er hat uns bemerkt?“
Decker presste die Lippen zusammen, legte den leeren Beutel zur Seite und widmete sich wieder dem Koffer. „Komm und such dir eine Waffe aus.“
„Sollten wir Lucian oder Mortimer anrufen?“, wollte Justin wissen, während er zu ihm auf die Ladefläche kletterte.
Decker nahm zwei Pistolen und eine Schachtel beschichteter Patronen aus dem Waffenkoffer und dachte über die Frage nach. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen, dass Lucian sie beide nach Norden geschickt hatte. Und aus demselben Grund waren Mortimer und Sam in Richtung Westen unterwegs, während Lucian selbst mit seiner Lebensgefährtin Leigh im Großraum Haliburton suchte, wo Nicholas von Grant gesehen worden war. Decker vermutete, dass sein Onkel erwartet und gehofft hatte, den Abtrünnigen als Erster zu finden, was bedeutete, dass die anderen beiden Teams zu weit entfernt waren, um ihnen in diesem Moment von Nutzen zu sein. „Die brauchen mindestens eine, wahrscheinlicher sogar zwei Stunden, ehe sie hier eintreffen könnten“, gab er deshalb kopfschüttelnd zurück. „Wir sind auf uns allein gestellt.“
Justin nickte bedächtig und verwandelte sich vom gut gelaunten und ein wenig spitzbübischen Begleiter zu dem ernsthaften Jäger, der er eigentlich war. Er straffte die Schultern und setzte eine ernste Miene auf. Dann suchte er sich seine Waffen aus.
Da Decker vermeiden wollte, dass Nicholas sich an sie heranschlich, während sie abgelenkt waren, nahm er die Pistolen samt Munitions- schachtel und kehrte zurück auf den Fahrersitz. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Nicholas einen Köcher mit Pfeilen und Bogen auf dem Rücken trug sowie eine Armbrust über die Schulter gelegt hatte, aber immer noch über die Ladefläche des Vans gebeugt stand und vermutlich nach weiteren Waffen suchte. Decker lud seine Pistolen und blickte zwischendurch immer wieder zu Nicholas hinüber, der seinen Wagen selbst dann noch durchstöberte, als Justin auf den Beifahrersitz zurückkehrte.
„Und jetzt?“, fragte dieser, seinen Blick auf den Abtrünnigen gerichtet. „Schleichen wir uns an und stürzen uns auf ihn?“
„Klingt gut“, meinte Decker und griff reflexartig nach dem Zünd- schlüssel, überlegte es sich dann aber wieder anders. Wenn Nicholas sie bemerkte, bevor sie ihn erreicht hatten, bestand die Gefahr, dass er in seinen Van sprang und davonfuhr. Sollte dies passieren, wollte Decker in der Dunkelheit nicht erst mit dem Schlüssel nach dem Zündschloss suchen müssen, bevor sie ihn verfolgen konnten. Also ließ er ihn stecken und legte den Schalter für die Innenbeleuchtung um, damit die nicht anging, sobald sie die Türen öffneten. Zum Glück war auch die Elektronik so modifiziert worden, dass beim Aussteigen kein Warnsignal ertönte, obwohl der Zündschlüssel noch im Schloss steckte. So konnten sie geräuschlos den Wagen verlassen.
Da zu befürchten war, dass sogar ein leises Klicken sie verraten könnte, ließen sie die Wagentüren einen Spaltbreit offen stehen. Dann bewegten sie sich schweigend und so leise wie möglich durchs Gras. Auf halber Strecke wechselte Justin schließlich auf die andere Seite des Trampel- pfads, damit sie sich Nicholas aus zwei Richtungen nähern konnten. Es war etwas, das Deckers regulärer Partner Anders ganz automatisch gemacht hätte, aber mit ihm arbeitete er auch schon seit Jahrzehnten zusammen. Dennoch nahm er an, dass er von Justin keine unangenehmen Überraschungen zu erwarten hatte. Denn auch wenn sie zum ersten Mal gemeinsam im Einsatz waren, arbeitete Justin seit Jahren mit Mortimer zusammen und wusste, worauf es ankam. Decker kam zu dem Schluss, dass er nicht befürchten musste, der Junge wüsste nicht, was er zu tun hätte, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihre Beute, der sie sich leise näherten.
Sie waren vielleicht noch zwei Meter entfernt, als Nicholas sich plötzlich aufrichtete und an sie wandte. „Es hat ja ganz schön lange gedauert, bis ihr den Mut gefunden habt, euch endlich heranzuschleichen. Ich dachte schon, ich müsste bis Sonnenaufgang hier rumstehen.“
Decker blieb stehen und bemerkte, dass Justin ebenfalls nicht weiter vorrückte. Alle schwiegen gebannt. Schließlich hob Nicholas die Hände und drehte sich langsam um. Wie nicht anders zu erwarten hatte er sich in den letzten fünfzig Jahren kaum verändert. Er trug die Haare etwas länger, als Decker es in Erinnerung hatte, aber seine Augen waren immer noch silbrig blau. Und auch seine kantigen Gesichtszüge sorgten wohl nach wie vor dafür, dass Frauen weiche Knie bekamen. Der einzige echte Unterschied in seinem Auftreten im Vergleich zu damals bestand darin, dass sein warmherziges, charmantes Lächeln einem kalten, ernsten Gesichtsausdruck gewichen war, den Decker nur zur Genüge von Lucian kannte. Nicholas hielt in jeder Hand eine Pistole, beide Mündungen zeigten momentan gen Himmel.
„Wir haben unsere Waffen ausgewählt und geladen“, erklärte Justin, dem Nicholas’ Bemerkung offenbar einen Stich versetzt hatte.
Der Abtrünnige nickte ernst, behielt seinen Blick jedoch weiterhin auf Decker gerichtet. „Muss ja wirklich schwierig sein, sich zu entscheiden, mit welcher Waffe man einen Blutsverwandten umbringen will.“
Decker reagierte darauf nur mit einem kurzen Schulterzucken, doch insgeheim musste er zugeben, dass es ihm tatsächlich nicht leichtfiel, immerhin gehörte Nicholas zu seiner Familie … und trotzdem war er auch ein Abtrünniger. „Wie lange weißt du schon, dass wir dir folgen?“
„Seit dem Restaurant. Da habe ich eine Ewigkeit auf euch gewartet“, ließ er sie mürrisch wissen. „Ich hoffe, es war nicht zu lange.“
„Was soll das heißen, du hast lange auf uns gewartet?“, fragte Decker misstrauisch.
„Woher willst du überhaupt gewusst haben, dass wir in der Gegend sind?“
„Weil ich es so arrangiert habe“, antwortete Nicholas, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Was glaubt ihr denn, warum ich zugelassen habe, dass Grant mich bemerken konnte, als wir an derselben Tankstelle angehalten hatten?“
„Soll das etwa heißen, dass du von uns gefunden werden wolltest
?“
„Ja.“ Als Decker seinen Unglauben nicht verbergen konnte, zog Nicholas die Mundwinkel nach unten. „Als ich Grant bemerkte, wurde mir klar, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn er mich sähe. Also ging ich zu ihm und stellte mich vor. Ich wusste, dass Lucian sofort ein paar Teams losschicken würde, um mich zu jagen, wenn Grant von der Begegnung erzählte.“ Er hielt kurz inne, bevor er in abfälligem Tonfall fortfuhr. „Mir war nur nicht bewusst, dass ihr Jungs euren Job so halbherzig machen würdet. Ihr hättet schon vorgestern auf mich stoßen sollen, schließlich habe ich eine deutliche Fährte hinterlassen. Und trotzdem musste ich noch zwei Tage lang warten, bis ihr endlich hier aufkreuzt.“
„Grant hatte zunächst nichts von dir erzählt, weil ihm gar nicht bewusst war, dass er es mit einem Abtrünnigen zu tun hatte. Es war purer Zufall, dass heute Morgen dein Name gefallen ist“, erläuterte Justin die Situation in einem trotzigen Tonfall, der Decker nicht gefiel. Sie mussten diesem Mann nichts beweisen, und sie mussten sich auch nicht vor ihm rechtfertigen.
Nicholas kniff die Augen zusammen, als er dies hörte. Dann nickte er seufzend und murmelte frustriert: „Dann kann ich euch ja gar keinen Vorwurf machen, sollten diese Frauen sterben. Es wird mein Fehler sein, weil ich gewartet habe.“
„Was für Frauen?“, wollte Decker wissen. „Und warum wolltest du gefunden werden?“
„Weil ich auf ein ganzes Nest sehr unangenehmer Abtrünniger gestoßen bin. Als ich Grant sah, wurde mir klar, dass ich Hilfe benötigen würde, um diese Truppe zu erledigen. Es war pures Glück, dass ich ihm an der Tankstelle begegnet bin. Allerdings dachte ich da auch noch, er würde mich sofort verpfeifen“, fügte Nicolas verärgert hinzu. „Ich hätte mich nicht darauf verlassen dürfen, dass er von unserer Begegnung erzählt. Ich hätte anrufen sollen, dann wären diese Frauen immer noch glücklich und ahnungslos.“ Er hielt kurz inne. „Die sind von der wirklich üblen Sorte, Decker.“
„Gilt das nicht für alle Abtrünnigen?“, warf Justin zweifelnd ein.
„Vermutlich, ja“, stimmte Nicholas ihm ein wenig gelangweilt zu. „Aber es gibt üble Typen, und es gibt solche, die man als Teufelsbrut bezeichnen muss – die Unschuldige regelrecht abschlachten, sich in deren Blut wälzen und dabei köstlich amüsieren.“
„Mein Gott“, hauchte Justin.
Decker sah Nicholas skeptisch an. „Willst du damit sagen, dass du nach wie vor Abtrünnige jagst, obwohl du mittlerweile selbst einer bist? Warum solltest du das machen?“
„Alte Gewohnheiten legt man nun mal nicht so leicht ab“, antwortete dieser verbittert und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „So, jetzt habe ich aber genug erklärt. Wir müssen uns auf den Weg machen, bevor sie sich die beiden vornehmen.“
„Augenblick mal“, fuhr Decker ihn an, als Nicholas die Arme sinken ließ und um den Wagen herumgehen wollte. „Wir machen uns nirgendwohin auf den Weg. Und wer sind diese Frauen überhaupt, von denen du redest?“
Nicolas blickte ihn über die Schulter an. „Es sind zwei Frauen, die diese Kerle auf dem Supermarktparkplatz verschleppt haben, bevor ihr im Restaurant aufgetaucht seid. Nachdem sie die beiden in ihre Gewalt gebracht hatten, konnte ich nicht länger auf Verstärkung warten. Zum Glück seid ihr gerade da aufgekreuzt, als ich mich auf den Weg machen wollte, und seid mir gefolgt. Dann können wir …“
„Moment, Moment, nicht so schnell“, unterbrach ihn Decker. „Woher weißt du, dass sie die zwei Frauen vor dem Supermarkt entführt haben? Das Restaurant, in dem wir dich gesehen haben, ist weit weg vom …“
„Himmelherrgott!“, fiel Nicholas ihm ungeduldig ins Wort. „Für so was haben wir jetzt keine Zeit. Hörst du sie nicht schreien?“
Decker wollte von Nicholas eine genaue Erklärung einfordern,was für ein Spiel er mit ihnen spielte, verstummte jedoch plötzlich, als er panisches Kreischen hörte, das von irgendwoher vor ihnen kam. Entweder hatten die Schreie gerade erst eingesetzt oder aber er war so sehr auf Nicholas’ Worte konzentriert gewesen, dass er sie nicht wahrgenommen hatte. Auf jeden Fall konnte auch er sie jetzt hören, und so durchdringend, wie sie waren, ließen sie sich nicht mehr ignorieren, selbst wenn er es gewollt hätte – Gleiches galt für das gehässige Gelächter, das sie fast noch übertönte.
„Schieß mir in den Rücken, wenn du unbedingt willst“, fuhr Nicholas ihn an. „Aber ich habe gesehen, was diese Mistkerle anrichten können, und ich werde nicht hier rumstehen und euch alles bis ins kleinste Detail erklären, während da hinten die beiden Frauen aufgeschlitzt werden.“ Er wirbelte herum, stürmte davon und war nach wenigen Metern zwischen den Bäumen verschwunden.
„Soll ich ihn erschießen?“, fragte Justin, der mit seiner Waffe in Nicholas’ Richtung zielte.
Decker presste die Lippen aufeinander, schüttelte jedoch den Kopf, als ein weiterer Schrei durch die Nacht gellte. „Noch nicht“, gab er zurück und lief hinter seinem Cousin her, dicht gefolgt von Justin.
Dani schaute über Stephanies rechte Schulter auf das Display ihres Handys, das „Kein Netz“ anzeigte. Dann klappte sie es zu, steckte es zurück in ihre Hosentasche und drückte ihre jüngere Schwester fest an sich. „Es wird alles gut werden, Stephi.“
Es war eine Lüge, die ihnen etwas Trost spenden sollte, doch Stephanie wollte davon nichts wissen. Sie schlang die Arme um Danis Taille und schluchzte. „Nein, das wird es nicht.“
Der verzweifelte Tonfall ihrer Schwester versetzte Dani einen Stich ins Herz. Sie drehte sich um und warf einen Blick zu dem Mann, der hinter ihr stand. Es war ein großer, dürrer Typ mit langem, blondem Haar, der sie beide bewachte, während die anderen Brennholz zusammentrugen, ein Lagerfeuer entzündeten oder sich um irgendwelche anderen, ihr nicht bekannten Aufgaben kümmerten. Er war so auf sie beide fixiert, dass sie eine Gänsehaut bekam. Noch schlimmer war, dass sein Interesse in erster Linie Stephanie zu gelten schien.
Sie drückte ihre Schwester enger an sich und schaute besorgt zu den anderen, die nach und nach zu ihnen zurückkehrten und dabei wie fahle Geister aus der Dunkelheit auftauchten. Sie bildeten einen Kreis um das Feuer – fünf Männer, die sich so ähnlich sahen, dass sie miteinander verwandt sein mussten. Einige kamen mit leeren Händen zurück und nahmen auf Baumstämmen Platz, die um die Feuerstelle herum zu einem Quadrat zusammengelegt waren. Die anderen ließen das eingesammelte Holz auf den Boden fallen und setzen sich schließlich hinzu, sodass je zwei Männer auf den drei Stämmen saßen, die Dani und Stephanie zugewandt waren. Das Licht der Flammen flackerte wie ein Höllenschein über ihre Gesichter, während sie die beiden Frauen schweigend betrachteten.
Dani hielt ihren Blicken nur einen Moment lang stand, bevor sie die Entführer anschrie. „Was habt ihr mit uns vor?“
Doch kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wünschte sie sich, sie könnte sie zurücknehmen, denn ihre Frage löste bei den Männern nur boshaftes Grinsen und gehässiges Gelächter aus, während sie sich vielsagende Blicke zuwarfen. Schlimmer noch: Einer von ihnen stand auf und überquerte die Lichtung. Am Feuer blieb er kurz stehen und nahm eines der brennenden Scheite hoch, dann kam er näher und hielt die Fackel vor sich ausgestreckt. Für einige Sekunden fürchtete Dani, er könnte sie damit schlagen, doch als er stattdessen nach ihrem Arm griff, verspürte sie fast so etwas wie Erleichterung.
Sofort ließ sie Stephanie los, damit sie versuchen konnte, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, doch bevor diese überhaupt dazu kam, wurde sie schon von ihm hochgezogen.
„Nein! Lassen Sie sie in Ruhe!“, kreischte Stephanie und klammerte sich an Danis freiem Arm fest, um zu verhindern, dass sie weggezerrt wurde. Doch weder ihre Bemühungen noch Danis Gegenwehr vermochten etwas auszurichten. Er zog sie mit sich über die Lichtung, und als er stehen blieb, schaute sie sich um. Im ersten Moment konnte sie in der Finsternis vor sich nichts erkennen, doch als der Mann das brennende Holzscheit hob, sah sie, dass sie am Rande eines Abhangs standen.
Instinktiv versuchte Dani zurückzuweichen, da sie fürchtete, er könnte sie in die Tiefe stoßen. Doch er warf nur die Fackel hinunter, die sich im Flug wieder und wieder um sich selbst drehte, ehe sie leise auf dem Boden landete. Dani konnte jetzt sehen, dass das Gefälle zwar steil, jedoch nicht sehr tief war. Sie schätzte, dass es höchstens drei Meter waren, aber diese Sorge war ohnehin gleich wieder vergessen, da ihr klar wurde, dass dort am Grund des Grabens zwischen den Bäumen etwas im Gras lag.
Widerwillig stellte sie ihre Gegenwehr ein und beugte sich sogar noch vor, um besser erkennen zu können, was sich dort unten befand. Noch im selben Augenblick bereute sie ihre Neugier jedoch. Als Ärztin hatte sie zwar schon einige schlimme Dinge zu Gesicht bekommen, aber etwas so Entsetzliches wie diese verdrehten, blutüberströmten Leiber hätte sie sich nicht einmal in ihren grässlichsten Albträumen ausmalen können. Als wäre der Anblick an sich nicht bereits erschreckend genug gewesen, überkam sie nun auch noch die grauenerregende Erkenntnis, dass ihr und Stephanie das gleiche Schicksal drohte. Und es gab keine Hoffnung zu entkommen. Sie würden sich zu den beiden Frauen gesellen, die dort unten lagen und allmählich verwesten … und den Verletzungen nach zu urteilen, die sie von oben erkennen konnte, lag ein langer und qualvoller Weg vor ihnen, ehe sie ebenfalls in diesem Graben landen würden.
Das kann doch wohl nicht wahr sein
, dachte Dani, und konnte es nicht fassen, welche Wendung ihr Leben so abrupt genommen hatte. Sie war Ärztin und die meiste Zeit über mit ihrer Arbeit beschäftigt. An diesem Wochenende hatte sie jedoch eine seltene Erholungspause vom Alltag nehmen und einige Zeit im Schoße ihrer Familie verbringen wollen. Das große Familientreffen der McGills sah vor, vier Tage und drei Nächte voller Spaß am Strand zu verbringen. Es wurde gelacht, geschwommen, geangelt, und jeder erfreute sich an der Gesellschaft der anderen. Dani hatte jede Sekunde des Beisammenseins genossen und sich so glücklich und entspannt gefühlt wie schon seit Jahren nicht mehr, als sie sich auf die lange Fahrt zurück nach Hause gemacht hatten. Die Schwestern hatten nur kurz angehalten, um sich für die achtstündige Reise ein paar Snacks zu holen, und dann …
Ihr Verstand sagte ihr, dass es so nicht hätte enden dürfen. Sie waren hier in Kanada, verdammt noch mal, im langweiligen, ungefährlichen Kanada, wo sich niemals etwas so Grausames ereignete. Aber es geschah doch, wie sie einsehen musste, als Stephanies hysterisches Kreischen sie aus ihren Gedanken riss. Sie drehte sich um und sah, dass man ihre Schwester gepackt hatte und ebenfalls in Richtung Graben zerrte. Auch sie sollte einen Blick auf das werfen, was sie beide erwartete. Und damit wusste Stephanie nun auch, in welch aussichtsloser Lage sie sich befanden, schlussfolgerte Dani betrübt.
Als die Schreie ihrer Schwester schließlich noch verzweifelter wurden, setzte sich Dani erneut zur Wehr, um zu ihr zu eilen, doch der Griff des Mannes, der sie am Arm festhielt, ließ sich nicht lockern. Je mehr sie sich anstrengte, nach ihrem Peiniger trat, ihn schlug und sogar zu beißen versuchte, desto ausgelassener lachte dieser nur – ganz so wie der Kerl, der ihre Schwester umklammerte. Diese Bestien schienen Spaß daran zu haben, Entsetzen und Panik zu verbreiten. Wut kochte in ihr hoch, und sie verstärkte ihre Bemühungen, sich zu befreien.
„Die Kleine liebt es zu schreien“, meinte der Typ, der Stephi festhielt, lachend und schüttelte sie, sodass ihr Kreischen leicht vibrierte, was ihm nur noch schallenderes Gelächter entlockte.
Dani wünschte, sie hätte eine Waffe, um diesen Kerl zu erschießen, als der sich plötzlich versteifte. Sein Lachen erstarb, und seine Miene spiegelte Überraschung wider. Im nächsten Moment ließ er Stephanie zu Boden fallen, um hinter sich zu greifen, da zwischen seinen Schulter- blättern ein Pfeil aus seinem Rücken ragte. Dani war so verblüfft darüber, dass sie ganz vergaß, sich weiter zu wehren, und einfach nur zusah, wie sich der Mann im Kreis drehte und versuchte, den Pfeil zu fassen zu bekommen. Auch die anderen Entführer waren mit einem Mal wie erstarrt und stumm vor Schreck. Nur Stephanie kroch schluchzend und wimmernd über den Boden, was Dani aus ihrer eigenen Starre holte. Sie wollte gerade dem Kerl, der sie festhielt, einen Tritt verpassen, um ihn zu überrumpeln und sich selbst zu befreien, als sie ein seltsames Zischen mitten in ihrer Bewegung verharren ließ.
Einen Augenblick später bohrte sich ein Pfeil in den Arm des Mannes, der daraufhin vor Schmerz aufschrie und Dani nicht nur losließ, sondern sie regelrecht von sich schleuderte. Sie geriet ins Straucheln und taumelte dabei an den Rand des Grabens. Der Gedanke daran, was sie dort unten erwarten würde, ließ sie hektisch mit den Armen rudern, und sie versuchte, irgendwo Halt zu finden. Zwar bekam sie ein paar dünne Zweige zu fassen, die zu einem Busch gehören mussten, doch sie gaben sofort nach, sodass Dani über den Grabenrand mit den Füßen voran in die Tiefe rutschte. Die dünnen Äste schnitten in ihre Finger, die Blätter rissen eines nach dem anderen ab, und als Dani noch fester zupackte, gaben die Zweige schließlich ganz unter ihrem Gewicht nach. Notgedrungen ließ Dani los und suchte nach etwas anderem, das ihr Halt gab, fand jedoch nichts und konnte nicht mehr tun, als sich mit den Fingern in die Erde zu krallen, während sie weiterrutschte.
Immerhin hatte sich durch diese Aktion aber ihre Fallgeschwindigkeit reduziert, sodass sie auf halber Höhe des Abhangs zum Stillstand kam. Sie kniff die Augen zu und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Dann erst wagte sie es, nach oben zum Rand des Grabens zu sehen. Der Lärm, der ihr von der Lichtung entgegenschlug, war chaotisch. Die Schreie ihrer Schwester wurden immer wieder von den Rufen der Männer sowie mehreren kurzen, knallenden Geräuschen überlagert. Offenbar kamen dort oben nicht mehr nur Pfeile zum Einsatz. Sie dachte an Stephanie und machte sich daran, aus dem Graben zu klettern. Ihr war, als würden die peitschenden Schüsse auf der Lichtung in jedem Herzschlag widerhallen. Oben angekommen, gelang es ihr, sich weit genug hochzuziehen, um Halt zu finden und die Szene zu betrachten, die sich vor ihr abspielte. Drei der sechs Männer waren zu Boden gegangen, zwei weitere kauerten hinter einem dicken Baumstamm, während sie von zwei oder drei Unbekannten beschossen wurden, die sich im Schutz der Bäume ringsum postiert hatten. Doch wo sich der sechste Entführer aufhielt, konnte sie nicht ausmachen … ebenso fehlte jede Spur von ihrer Schwester.
„Dani!“
Der Ruf ließ sie nach rechts blicken, wo sie gerade noch sah, wie Stephanie von dem sechsten Entführer als menschlicher Schutzschild benutzt wurde, während dieser sich rückwärts laufend von der Lichtung entfernte und in den Wald zurückzog.
Dani stieß einen Fluch aus und begann sich aus dem Graben zu ziehen, um die Verfolgung aufzunehmen. Es kümmerte sie nicht, dass unverändert Schüsse fielen.
Copyright © 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont LYX Verlag
ISBN: 978-3802584671
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
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