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„Raus hier!“
Terri starrte das entsetzte Gesicht ihres Gastgebers an. Sie konnte kaum glauben, dass er sich plötzlich gegen sie gewandt hatte und sie nun rauswerfen wollte, nachdem sie kaum seine Wohnung erreicht hatten.
Die Fahrt hatte beinahe eine Stunde gedauert. Sie und Bastien hatten sich die meiste Zeit über unterhalten und Terri hatte versucht, seinen Akzent einzuordnen, den sie sehr ungewöhnlich fand. Manchmal sprach er mit der Förmlichkeit längst vergangener Zeiten, benutzte aber auch ebenso oft moderne Ausdrücke. Terri glaubte, den Anklang eines Londoner Akzents herauszuhören, war sich aber nicht sicher. Als es ihr nicht gelungen war, seine Herkunft dadurch herauszufinden, dass sie ihm zuhörte, hatte sie versucht, seinen Ursprung zu klären, indem sie seine Züge betrachtete – aber das hatte sie auch nicht weitergebracht. Das dunkle Haar ließ ihn beinahe südländisch aussehen, aber die helle Haut sprach dagegen. Was den Namen anging, der war natürlich eindeutig französisch. Kate hatte erwähnt, dass die Familie aus Kanada stammte und in Toronto wohnte, was, wie Terri wusste, in Ontario lag. Es konnte sich selbstverständlich trotzdem um eine frankokanadische Familie handeln. Und vielleicht war, was sie für die Spur eines englischen Akzents hielt, ja einfach kanadisch. Sie war schon ein paar Kanadiern begegnet, hatte aber nicht sonderlich auf deren Akzent geachtet.
Schließlich musste sie zugeben, dass sie den Akzent nicht zuordnen konnte, und nahm sich vor, Kate nachher zu fragen. Sie gab es auf, seine Herkunft ergründen zu wollen, und konzentrierte sich lieber auf das Gespräch mit ihm. Meist unterhielten sie sich über unverfängliche Themen wie das Wetter oder die Hochzeit; über Themen also, die nichts Persönliches enthüllten und die, wie Terri sehr wohl wusste, dazu gedacht waren, dass sie sich diesem relativ fremden Mann gegenüber wohl und unbeschwert fühlte, denn immerhin würde sie bei ihm wohnen. Er versicherte ihr mehrmals, dass sie in seinem Heim willkommen sei, und er brachte erneut zur Sprache, dass er schrecklich beschäftigt und wahrscheinlich nicht viel in der Wohnung sein und sie deshalb nicht stören werde.
Am Ende hatte sich Terri, als sie in der Tiefgarage des Argeneau- Gebäudes angekommen waren, ziemlich entspannt gefühlt, was die ganze Sache anging. Sie hatten weitergeplaudert und gelacht, als sie ihr Gepäck aus dem Kofferraum nahmen. Lucern hatte sogar aufgehört zu schreiben und sich dem Gespräch angeschlossen, ihren Bordkoffer genommen und war Bastien und ihr in den Fahrstuhl zum Penthouse gefolgt. Sie hatten alle geschmunzelt, als Bastien seinen Bruder damit aufzog, vollkommen „blind vor Liebe“ zu sein, dann hatte sich die Fahrstuhltür wieder geöffnet und Bastien wollte sie gerade in sein Heim führen, als er erschrocken und wie angewurzelt stehen blieb und rief: „Raus hier!“
So viel also dazu, in seinem Heim willkommen zu sein …
„Bastien?“ Lucern hob seine Stimme zur Frage, als er Terris Koffer absetzte und an ihr vorbeiging. „Was …“
So, wie seine Stimme abbrach, als er in den Raum vor ihnen schaute – einen Raum, den Terri noch nicht sehen konnte, weil Bastiens breite Schultern im Weg waren –, wusste sie, dass dort etwas sehr Interessantes stattfand. „Vincent!“, bellte Lucern. „Lass Bastiens Haushälterin los!“
Das war eindeutig zu viel für Terri. Sie ging um Bastien herum und spähte in das Wohnzimmer und zu dem Paar dort. Auf den ersten Blick schien es, als ob sie eine leidenschaftliche Umarmung unterbrochen hätten, aber das war nur der erste Eindruck gewesen. Dann bemerkte Terri, dass der Mann, bei dem es sich wohl um Vincent handelte, ein schwarzes Cape trug und dass sie nicht etwa Zeugen einer leidenschaftlichen Szene, sondern einer klassischen Vampirumarmung geworden waren. Es sah aus, als würde der Vampir die ältere Dame in den Hals beißen.
Terri spürte, wie sie die Brauen hochzog, als sich Hände schwer auf ihre Schultern legten. Es waren Bastiens Hände, nahm sie an, da Lucern sich vor ihr befand, aber das kam ihr erst in dem Moment zu Bewusstsein, als Lucern wieder anfing zu brüllen. „Verdammt noch mal, Vinny! Lass die Frau los!“ „Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn man mich Vinny nennt, Luc. Nenn mich Vincent. Oder noch besser, nenn mich Dracul“, maßregelte ihn der Bursche mit einem lächerlich aufgesetzten osteuropäischen Akzent. Er richtete sich von der älteren Frau auf und wandte sich ihnen zu. Einen Moment stand Zorn in seinem Blick, dann entdeckte er Terri. Seine mürrische Miene wich einem verführerischen Lächeln.
Er ließ die schwankende Haushälterin einfach stehen und durchquerte den Raum, bis er vor Terri stand. Sein Lächeln war anziehend und irritierend zugleich, seine Augen waren silbrigblau und hatten einen hungrigen Ausdruck, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Er nahm ihre Hand.
„Enchanté“, raunte er.
Terri öffnete den Mund, um zu antworten, hielt aber überrascht inne, als der Mann ihre Hand umdrehte und seine Lippen auf ihr Handgelenk drückte.
„Hör sofort auf!“ Bastien trat zur Seite, zog Terri mit einer Hand am Ellbogen weg und versetzte Vincent mit der anderen Hand einen Klaps gegen den Hinterkopf. Wäre nicht bereits die Tatsache, dass alle drei Männer diese einzigartigen silbrigblauen Augen und dieses dunkle, attraktive Aussehen hatten, aussagekräftig genug gewesen, hätte ihr diese ein gewisses Maß an Vertrautheit voraussetzende Geste deutlich gemacht, dass Vincent offensichtlich ebenfalls ein Argeneau war. „Was zum Teufel machst du hier, Vincent?“
„Dracul“, beharrte er mit einem Schniefen, dann drehte er sich um und stakste zum nächsten Sessel. Er fasste sein Cape und hielt es leicht von sich weg, sodass es um ihn herumwirbelte, als er sich umdrehte. Dann ließ er sich dramatisch auf den Sessel fallen. „Ich habe die Hauptrolle in Dracula

. Dem Musical.“
Dracula

das Musical?“, wiederholte Bastien ungläubig. Vincent grinste. „Ja. Cool, oder? Die Hauptrolle

.“ Er nickte. „Es ist meine Bühnenpräsenz.“
„Lieber Himmel“, hörte Terri Bastien hauchen. Er schien entsetzt über die ganze Szene zu sein, aber sie fand es faszinierend. Sie arbeitete oft nebenbei im Stadttheater und liebte alles, was mit diesem Thema zusammenhing. Sie entzog sich dem leichten Griff ihres Gastgebers, ging zum Sofa und setzte sich auf die Kante, um zu fragen: „Arbeitest du nach der Strasberg- Methode?“ „Ja, genau!“ Er strahlte sie an. „Woher weißt du das?“
„Die Szene, die wir unterbrochen haben, legt das nahe. Äh …“ Terris Worte wichen überraschtem Schweigen, als sie bei einem Blick durch den Raum wahrnahm, dass die Haushälterin nicht mehr schwankte, sondern ohnmächtig geworden war. Lucern hob sie vom Boden hoch.
„Wo ist ihr Zimmer, Bastien?“, fragte er, als die beiden Männer sich umdrehten und bemerkten, was geschehen war.
„Oh. Ich zeige …“ Bastien blieb abrupt stehen und warf Terri einen unsicheren Blick zu, als wolle er sie nicht mit Vincent allein lassen. Doch das Problem löste sich von selbst, als sein Bruder ihn aufforderte: „Sag es mir einfach, und ich bringe sie zu ihrem Bett.“ „Dort

entlang, das letzte Zimmer rechts“, erklärte Bastien und zeigte dabei auf einen der beiden Flure, die von dem großen Wohnzimmer ausgingen. Terri schüttelte den Kopf und sah zu, wie Lucern die Frau hinaustrug. Die Haushälterin hatte Vincents Schauspielversuch nicht sonderlich positiv aufgenommen. Sie hatte überreagiert; offenbar eine sehr sensible Person. Terri wandte sich dem Schauspieler zu.
„Wie ich schon sagte, die Szene, bei der wir hereingeplatzt sind, hat mir das verraten. Du musst also deine Rollen leben, damit sie sich für dich echt anfühlen. Du musst sie bis in die kleinste Einzelheit beherrschen?“ „Ja.“ Vincent grinste. „Das tue ich immer. Wenn ich einen Barkeeper spiele, stehe ich eine Weile hinter einer Bar. Wenn ich einen Verkäufer darstelle, suche ich mir einen entsprechenden Job. Was auch immer. Zum Glück brauchte ich bei dieser Rolle nicht …“
„Vinny!“ Bastiens Tonfall ließ sowohl Terri als auch Vincent zu ihm herumfahren. Bastiens Miene war furchterregend, und zwar so sehr, dass der Schauspieler nicht einmal mehr den Namen korrigierte. Tatsächlich schien er dem Tonfall mehr zu entnehmen als Terri, denn nach einem Augenblick des Schweigens zog er die Brauen hoch.
„Sie ist also keine von uns?“
„Nein.“ Bastiens Miene war eisig. Terri war ein wenig erschrocken über diese Veränderung. Er war ihr so attraktiv und freundlich vorgekommen, doch jetzt wirkte er gefährlich. Wenn auch auf attraktive Weise, dachte sie schließlich, als ihr Blick über seine breiten Schultern glitt und sie den Zuschnitt seines Anzugs bewunderte. Er war ein gut aussehender, gut gebauter …
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was machst du hier?“
Bastiens kalter Tonfall riss Terri aus ihrer Auflistung der Punkte, die für ihn sprachen. „Das habe ich euch doch gesagt: Ich spiele die Titelrolle …“, begann Vincent.
„Also gut“, unterbrach Bastien ihn. „Das erklärt, wieso du in New York bist. Aber warum hier? In meinem Zuhause?“
„Oh.“ Vincent lachte. „Du sprichst von Tante Marguerites Zuhause, oder? Sie sagte, ich könnte hier wohnen, bis wir sehen, ob das Stück länger gespielt wird, und ich weiß, ob ich eine eigene Wohnung in der Stadt brauche oder nicht.“
Bastien schloss kurz die Augen und verfluchte lautlos seine Mutter. Sie hatte so ein weiches Herz! Leider stimmte Vincents Aussage. Die Wohnung gehörte tatsächlich Marguerite. Sein Vater hatte das Gebäude vor Jahren gekauft und Büros darin eingerichtet. Er hatte dieses Penthouse eigens für seine Familie entworfen, mit einem Raum für jedes seiner Kinder, falls sie zu Besuch kommen würden. Nach dem Tod seines Vaters hatte sich Bastien angewöhnt, hier zu wohnen, wenn er in New York war, und betrachtete es praktisch als seine eigene Wohnung, weil für gewöhnlich niemand außer ihm sie benutzte. Aber in Wahrheit gehörte sie immer noch seiner Mutter, und es war ihr gutes Recht, Leuten zu erlauben, hier zu wohnen, wann immer sie wollte.
Um fair zu sein, musste man sagen, dass Marguerite wahrscheinlich angenommen hatte, es würde kein Problem sein. Schließlich war es eine riesige Wohnung, und wenn Vincent abends auftrat und Bastien am Tag arbeitete, wären die beiden einander normalerweise kaum begegnet. Unter normalen Umständen, aber dieser Tag war anders. Und Terris Anwesenheit machte das Ganze zu einem Dilemma, weil Vincent ein Beißer war.
Nein, Vincent war nicht mit etwas beschäftigt gewesen, was seine Strasberg-Ausbildung von ihm verlangte, als sie hereingekommen waren – oder vielleicht doch, denn normalerweise lief er nicht mit einem Cape herum –, aber wichtig war im Augenblick, dass er sich genährt hatte. Und ausgerechnet von der verdammten Haushälterin!
Bastien starrte seinen Vetter wütend an. Vincent konnte ebenso wenig wie sein Vater nur mit Blutbeuteln überleben. Sie brauchten ein bestimmtes Enzym, das inaktiv wurde, sobald das Blut den menschlichen Körper verließ. Bastien und sein Labor arbeiteten an dem Problem, aber bis sie eine Lösung entdeckten, musste sich Vincent ebenso wie sein Vater von Lebenden nähren. Wie dem auch sei, er sollte es besser wissen, als das in Bastiens Heim zu tun, zumindest hatte man ihm das beigebracht. „Tut mir leid“, sagte Vincent mit einem verdrießlichen Achselzucken und tat nicht einmal so, als hätte er Bastiens Gedanken nicht gelesen. „Es war ein langer Flug und ich hatte Hunger. Aber ich habe keinen Schaden angerichtet.“
Bastien seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Zum Glück schien Vincent recht zu haben, es war kein Schaden angerichtet worden. Terri glaubte, dass der Mann ein Schauspieler war und probte. Was Bastien an etwas erinnerte, was Kate einmal erwähnt hatte, als sie von ihrer Trauzeugin sprach. Terri lehrte an der Universität von Leeds. Sie unterrichtete etwas, das mit Medien zu tun hatte, verbrachte aber einen Großteil ihrer Freizeit mit Arbeit am Theater. Er war dankbar für diesen Zufall. Das ersparte ihm eine umständliche Erklärung. Sie kannte sich mit Theaterstücken und Schauspielern aus und hatte das Offensichtliche angenommen. Jedenfalls war die Annahme offensichtlicher als die Wahrheit: dass Vincent tatsächlich ein Vampir war. Wie seine ganze Familie. „Deine Haushälterin schläft friedlich“, verkündete Lucern, als er ins Wohnzimmer zurückkam. „Wie war das also mit der Hauptrolle in einem Musical?“ „Dracula

.“ Vincent nickte. „Ich habe die Rolle letzte Woche bekommen. Wir fangen bald mit den Proben an.“ Er grinste vergnügt. „Es ist absolut grausig. Bombastische Kitschmusik, lächerliche Texte – und dann verlangen sie auch noch von mir, dass ich mit einem gruseligen transsilvanischen Akzent spreche. Ich wette, das Stück wird der Renner. Ich sage ihm jedenfalls eine lange Laufzeit voraus.“
Terri fing an zu lachen, und Bastien musste unwillkürlich lächeln, als er diesen Wohlklang vernahm. Sie war reizend, wenn sie lächelte, und unwiderstehlich, wenn sie lachte.
Du bist scharf auf Kates Cousine?


Bastien zuckte zusammen, als Vincents Frage in seinen Kopf drang. Vincent las immer noch seine Gedanken. Er verzog das Gesicht, dann erstarrte er, als die Sprechanlage hinter ihm summte. Jemand war im Fahrstuhl und wollte heraufkommen. Ohne einen Schlüssel wie den, den Bastien immer bei sich trug, musste der Fahrstuhl von oben aktiviert werden, um zu funktionieren. Wahrscheinlich hatte Mrs. Houlihan, die Haushälterin, ihn für Vincent aufgeschlossen, damit er heraufkommen konnte. Entweder das, oder Bastiens Mutter hatte Vinny ihren Schlüssel gegeben.
„Das könnte Kate sein“, sagte Lucern, dessen Lebensgeister schon beim bloßen Gedanken an sie geweckt wurden. Es war immer wieder erstaunlich, wie er sich veränderte, wenn seine Verlobte in der Nähe war. Als würde ein Knopf gedrückt, der ihn erst zum Leben erweckte. Bastien fragte sich oft, wie es wohl sein musste, das Leben wieder so zu genießen, wie Lucern es offenbar tat.

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Texte: Egmont LYX Verlag ISBN: 978-3802582004
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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