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"Wenn ich Gin trinke, habe ich immer die genialsten Ideen.“ „Nein, Joy, du glaubst nur, dass du geniale Ideen hast, wenn du Gin trinkst. Gin macht dich betrunken. Schokolade ist gut fürs Gehirn!“ Ich betrachtete in der Verandatür das Spiegelbild der dunkelhaarigen Frau, die in dem Kreis aus brennenden Kerzen neben mir saß, und schüttelte ernst den Kopf, um über besagte Trunkenheit hinwegzutäuschen. Mein Spiegelbild sah jedoch so aus, als wollte es mich warnen. Ich beschloss, die Mahnung ernst zu nehmen, und stellte mein Glas ab. „Schokolade ist für vieles gut, vor allem für breite Hüften, aber Gin macht mich wirklich zu einem Genie.“ Unsere Gastgeberin, die durch den Raum wandelte und noch mehr Duftkerzen anzündete, blieb nun stehen und zog eine Augenbraue hoch, als unsere gemeinsame Freundin vor Lachen in ihren Wodka- Martini prustete. „Keine weiteren alkoholischen Trankopfer, Roxanne!“, sagte Miranda, bevor sie die letzte Kerze anzündete und sich uns gegenüber auf einen Teppich mit grau-grünem Blättermuster sinken ließ. „Wenn du besoffen bist, lässt die Göttin dir ihren Segen nicht zuteilwerden! Was hast du denn für geniale Ideen, Joy?“ Ich fingerte den Zitronenschnitz aus meinem Glas, biss in das gingetränkte Fruchtfleisch und beklagte im Geiste meine amazonenhafte Statur, während Miranda mit der Anmut einer Gazelle, die von Geburt an Ballettunterricht nahm, ihre langen schlanken Beine in den Lotossitz faltete. Es waren meine verdammten Wikingergene, denen ich es zu verdanken hatte, dass ich die meisten Frauen und auch viele Männer überragte. „Also, was Roxys Plan angeht, uns zwei leckere Jungs zu suchen … Nach reiflicher Überlegung und vielen, vielen brillanten gininspirierten Gedanken habe ich beschlossen, dir zu gestatten, deiner Göttin meinen Fall vorzutragen. Wenn sie geneigt ist, mir den Weg zu einem Mann zu zeigen, der sich als der Inbegriff alles wahrhaft Männlichen und Guten erweist, dann werde ich mich an ihren Rat halten. Das ist, kurz gesagt, meine geniale Idee.“ Roxanne prustete erneut in ihr Glas. „Mit anderen Worten: Du hast wieder mal mit Bradley Schluss gemacht!“ Nun ja, mein Langzeit-und-immer-wieder Exfreund hatte viele Qualitäten: Er war treu, geduldig und optimistisch und hatte ein sonniges Gemüt. „Das Problem an Bradley ist, dass er einfach nicht der Richtige ist – der Mann, der mein Herz zum Rasen bringt, sobald er in meiner Nähe ist; der Mann, der mich an so wunderbare Dinge wie Liebe auf den ersten Blick glauben lässt. Er ist eben … Bradley.“
„Genau meine Meinung, Joy! Du bist so festgefahren, dass du dich nicht dazu überwinden kannst, nach einem Mann zu suchen, der deiner würdig ist – jemand, der ganz anders ist als dieser alte Muffelkopf Bradley Barlow, der ja nicht mal weiß, was Erregung überhaupt bedeutet!“ Roxys abschätziger Unterton ging mir gehörig gegen den Strich. Ich kannte sie seit unserer Kindergartenzeit, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ungestraft mit jedem abfälligen Kommentar davonkam. „Du musst gerade den Mund aufmachen, Fräulein ‚Immer noch Jungfrau mit vierundzwanzig‘! Was du über Beziehungen weißt, könnte man problemlos auf den Kopf eines Vibrators schreiben.“ Roxy verschluckte sich und der Martini sprudelte ihr aus der Nase. „Dich kann man auch nirgendwohin mitnehmen“, schimpfte ich und wischte den vergeudeten Drink auf. Roxy hatte ihre komplette Jeans bekleckert und den hübschen Holzboden, auf dem wir saßen. „Verflixt noch mal!“, keuchte sie, hustete und putzte sich die Nase. Dann nahm sie den Lappen, den Miranda ihr schweigend hinhielt, und tupfte sich das T-Shirt ab, bevor sie mich mit rot geränderten Augen anfunkelte. „Mach so etwas nie wieder!“ „Sorry, das liegt am Gin. Ich habe ja gesagt, der verleiht mir Genialität.“ „Das nennst du also genial?“ Ich streckte ihr die Zunge heraus. Roxys Blick verfinsterte sich. „Um auf das zurückzukommen, was ich sagte, bevor du so rüde auf Hilfsmittel zur sexuellenStimulation zu sprechen kamst – die ich im Gegensatz zu anderen Leuten, die ich hier erwähnen könnte, weder besitze noch brauche, noch jemals zu benutzen gedenke … Jedenfalls möchte ich darauf hinweisen, dass ich mich einfach für jemanden aufsparen will, der mir wichtig ist!“ Sie hielt inne, um sich erneut zu schnäuzen. „Ich hoffe, du erkennst den Unterschied zwischen mir – mit meinem verantwortungsvollen, wenn auch sehr optimistischen Realismus in Bezug auf den Mann, der einmal mein zukünftiger Ehemann werden soll – und dir, die du dich für einen Typen entschieden hast, der nur zu gebrauchen ist für einen guten Fi…“ „Meine Damen!“, rief Miranda aufgebracht. „Ich weigere mich, euch zu helfen, wenn ihr ständig streitet. Ehrlich gesagt ist mir nicht klar, wie ihr euch beste Freundinnen nennen könnt, aber dessen ungeachtet dulde ich keine Zankereien in meinem Haus. Die Göttin ist sehr ungnädig, was Eifersüchteleien und Feindseligkeiten angeht, Roxanne. Und da du um die Hilfe der Göttin gebeten hast, solltest du auch reumütig mit reinem Herzen und reiner Seele vor sie treten.“ Ich grinste Roxy selbstgefällig an. Sie ignorierte mich jedoch und bemühte sich, den störrischen Ausdruck aus ihrem Gesicht zu vertreiben. „Tut mir leid“, murmelte sie, faltete die Hände und senkte den Blick mit einer Miene, aus der Demut und Reue sprachen. „Für dich gilt das Gleiche!“ Miranda sah mich missbilligend an. Ich riss unschuldig die Augen auf, um jegliches Fehlverhalten von mir zu weisen, aber es war schwer, die Wahrheit zu verschleiern, wenn einen Miranda mit ihren unheimlichen hellgrauen Augen anstarrte. „Ich bin nicht gekommen, weil ich verzweifelt darauf hoffe, dass du einen Mann für mich findest“, bemerkte ich so würdevoll wie möglich. „Roxy hat mich angefleht mitzukommen.“ „Habe ich gar nicht!“, fuhr Roxy auf und von Demut war keine Spur mehr. „Nachdem du aus eigener Kraft nicht von Bradley loszukommen scheinst, habe ich nur gesagt, dass es nicht schaden kann, die Göttin nach etwas Besserem für dich suchen zu lassen. Herr im Himmel, du müsstest wirklich dankbar sein für diese Chance, deinen wahren Seelenverwandten zu finden, denn die meisten Leute haben nicht so ein Glück!“ Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch in diesem Moment wurde ich auf einen ziemlich dicken schwarzen Kater mit weißen Schnurrhaaren und einer weißen Pfote aufmerksam, der sich träge von einem gepolsterten Rattansessel erhob. Ich streckte meine nach Zitrone riechende Hand nach ihm aus, aber der Kater wandte sich nur höhnisch und voller königlicher Verachtung ab und stolzierte zu Miranda hinüber. „Wenn du meinst …“ Ich tat den Kommentar meiner Freundin mit einem Schulterzucken ab und sagte mir, dass der Abend schneller verstreichen würde, wenn ich meine Skepsis für mich behielt. Ich glaubte eigentlich nicht an den ganzen Hokuspokus, den Miranda mit ihren Zaubersprüchen und Beschwörungen der Göttin veranstaltete, aber andererseits waren in ihrer Gegenwart schon ein paar Dinge passiert, die sich nicht so leicht erklären ließen. Roxy glaubte jedoch felsenfest daran, und obwohl sie es jetzt abstritt, hatte sie mich sehr wohl darum gebeten, sie zu begleiten. Ich fand, es war das Mindeste, was ich für jemanden tun konnte, der mit mir durch dick und dünn gegangen war. „Miranda, meinst du nicht, es wird höchste Zeit, Davide mal auf Diät zu setzen? Er ist fast so dick wie der Rottweiler meiner Nachbarn!“ „Wir können anfangen.“ Miranda brachte mich mit einem wütenden Blick zum Schweigen und sah auch Roxy warnend an. Dann schloss sie die Augen, begann, tief ein- und auszuatmen, und summte dabei leise vor sich hin. Eine leichte Brise wehte zum Fenster herein und verteilte den vertrauten Kräuterduft von Mirandas Beschwörungskerzen im Raum. Schuldbewusst rief ich mir in Erinnerung, dass ich meinen Geist öffnen und zugänglich machen sollte, atmete tief durch und summte ein Weilchen vor mich hin, bis ich es leid war, die Gedanken zu vertreiben, die mir unaufhörlich durch den Kopf gingen, obwohl er eigentlich leer sein sollte wie eine Leinwand, bereit für die schwungvollen Pinselstriche des Schicksals – oder wie auch immer Roxy Mirandas Anweisungen interpretiert hatte. Ich erinnerte mich nicht mehr so gut daran, denn dieser Teil des Gesprächs hatte vor dem Gin-Tonic-Part stattgefunden. Statt also meinen Kopf zu leeren, beobachtete ich Davide, der begonnen hatte, sich ausgiebig zu putzen. „Wirklich witzig, dass du eine schwarze Katze hast.“ Roxy, die Miranda nachgeeifert hatte, öffnete ein Auge und schaute in Davides Richtung. „Was ist witzig daran, dass sie eine schwarze Katze hat?“ Miranda murmelte unverständliche Worte vor sich hin und schwankte leicht, während ihre Stimme lauter und wieder leiser wurde.
„Weil sie eine Hexe ist, Blödi!“, sagte ich laut, um die Beschwörung der Göttin zu übertönen.
„Ich glaube gar nicht mal, dass die meisten Hexen eine schwarze Katze haben wollen, aber man muss schon zugeben, dass Davide perfekt ins Bild passt.“
Mirandas Gemurmel wurde lauter, aber sie hielt die Augen weiter fest geschlossen. Roxy streifte sie mit inem besorgten Blick, beugte sich vor und raunte mir zu: „Ich glaube, das Wort ‚Hexe‘ hört sie nicht so gern, Joy. Heute sagt man Wicca-Priesterin.“ „Warum?“, erwiderte ich im Flüsterton.
„Was ist denn an ‚Hexe‘ nicht in Ordnung?“ Roxy setzte sich wieder gerade hin und schloss die Augen. „Es ist nicht politisch korrekt“, zischte sie. „Abgesehen davon haben Wicca-Priesterinnen einen besseren Draht zur Natur. Spürst du nicht die Kraft, die in ihrer Beschwörung steckt?“ Ich betrachtete den Kreis des Wissens, den Miranda um uns beide ausgelegt hatte, und spürte, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich war zwar skeptisch, was solche Dinge anging, aber ich war nicht blöd. Es lag etwas in der Luft, eine elektrische Ladung, die bewirkte, dass sich die Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Miranda setzte ihre Magie nicht für jeden ein, sagte ich mir und bemühte mich, dankbar auszusehen. „Das ist schon ein bisschen nervenaufreibend“, raunte ichRoxy ein paar Minuten später ganz leise zu, um Mirandas Zwiesprache mit der Göttin nicht zu stören. Ich fischte ein Stück Eis aus meinem Drink und steckte es mir in den Mund. „Nicht dass ich glaube, dass es bei mir wirklich funktioniert, aber es macht mich trotzdem ein bisschen nervös, hier zu sitzen und darauf zu warten, dass mir ein Geist von höchster Stelle den Lebenslauf meines Traummannes durchgibt.“ „Es wird Zeit, dass du in Bezug auf dein Liebesleben ein bisschen mehr Eigeninitiative an den Tag legst“, entgegnete Roxy hinter vorgehaltener Hand. „Mag schon sein, dass ich noch Jungfrau bin, aber immerhin versuche ich wenigstens, den Richtigen zu finden. Du hast nie irgendwelche Dates. Wie willst du denn dein Glück mit dem Mann finden, den die Natur nur für dich allein erschaffen hat, wenn du nicht mal nach ihm suchst?“ „Na ja“, sagte ich und zerbiss den Eiswürfel, „ich habe Bradley.“ „Das ist kein Glück, Joyful.“ Roxy entschärfte ihren Kommentar lächelnd, indem sie mich mit meinem Spitznamen aus Kindertagen anredete. „Das ist die Hölle!“ „Da mag etwas dran sein“, räumte ich ein und verzog das Gesicht, als ich sah, wie Davide sich seiner Rektalregion zuwandte. Ich hoffte inständig, dass dies keine indirekte Aussage über die Erfolgsaussichten von Mirandas seherischen Bemühungen war. „Obwohl es ja nun wirklich nicht so ist, als hätte ich es nicht versucht. Gott weiß, dass ich es versucht habe, aber du kennst doch die Single-Szene da draußen: Es dreht sich alles nur noch um Bluttests, Background-Überprüfungen, Referenzen und Screenings nach dem Motto ‚Pinkel in diesen Becher, bevor wir uns verabreden‘. Alles total nüchtern und ohne jede Romantik.“ Die Nachricht, die an der Hotelrezeption für mich bereitlag, war kurz und bündig: „Wenn Sie keinen hieb- und stichfesten Beweis für die Existenz von Geistern aus England mitbringen, brauchen Sie erst gar nicht ins Büro zurückzukommen. Spinner und Stümper können wir hier nicht gebrauchen!“
Unterschrieben war sie von meinem Chef, dem Vorsitzenden der Weststaatensektion der Amerikanischen Gesellschaft zur Erforschung des Übersinnlichen, Anton Melrose II. „Ist ja großartig!“, murmelte ich, zerknüllte das Papier und warf es in den dafür vorgesehenen Behälter am Ende des Rezeptionstresens. Ich wünschte, ich hätte auf der Stelle einen oder zwei Dämonen beschwören können, die meinen Chef einmal so richtig das Fürchten lehrten. „Dem würde ich furchtbar gern das Maul stopfen!“ Die Frau an der Rezeption reichte mir lächelnd meinen Zimmerschlüssel. „Tut mir leid, Miss Telford, für den Inhalt der Nachrichten sind wir nicht verantwortlich. Wir sind dazu verpflichtet, sie in jedem Fall weiterzuleiten.“ Geschützt durch meine Sonnenbrille, die ich so gut wie immer trug, erwiderte ich ihr Lächeln. „Ist schon in Ordnung, kein Grund zur Sorge – mein Leben geht nur gerade den Bach runter. Ist zufällig gerade ein Computer frei, wissen Sie das? Ich brauche nur ein Viertelstündchen.“ Tina, die Empfangsdame des Londoner St.-Aloysius-Hotels, warf einen Blick auf die Anmeldeliste für die beiden Computer in dem kleinen dunklen Raum, der Geschäftsleuten zur Verfügung stand, die nicht ohne Internetzugang leben konnten. „Einer ist frei, gehen Sie nur!“ Ich nahm meine Tasche, in der es leise klirrte, bedankte mich und hinkte den kurzen Korridor hinunter, der zum Computerraum führte. An einem der beiden Geräte saß ein junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren mit zerzaustem Haar, der eine gepiercte Augenbraue hochzog, als die Glasflaschen in meiner Tasche deutlich hörbar gegeneinanderschlugen, obwohl ich sie ganz vorsichtig neben dem Stuhl vor dem zweiten Computer abstellte. „Das ist Weihwasser“, erklärte ich ihm, worauf er die Augenbraue noch ein bisschen höher zog. „Für die Geister. Nicht zum Trinken. Das heißt, man kann es trinken, aber wie ich mir habe sagen lassen, schmeckt es wie oxidiertes Leitungswasser.“ Er sah mich verdutzt an. „Reichlich schal“, fügte ich an und wandte mich dem Computer zu. Ich wartete, bis der junge Mann wieder auf seinen Monitor schaute, bevor ich meine Sonnenbrille hochschob, um besser sehen zu können. Dann loggte ich mich rasch in den E-Mail-Account ein, den ich für meine seltenen Einsätze außerhalb von Sacramento eingerichtet hatte – ganze zwei Mal war ich bisher im Dienste der Gesellschaft auf Reisen gewesen –, und überflog ebenso rasch die sechs Mails, die ich erhalten hatte. „Spam über ein pflanzliches Mittel, das meinen Penis garantiert größer macht, Spam über günstige Kredite, eine E-Mail von Mom, irgendwelcher Schweinkram, den ich gar nicht erst öffne, eine E-Mail von Corrine und noch eine Spam-Mail mit der Frage, ob ich Single bin. Es ist schön zu wissen, dass man vermisst wird!“ Der junge Mann kicherte, loggte sich aus und nahm seine Aktentasche, die der Name einer großen Software-Firma zierte. „Begegnen Ihnen denn viele Geister?“, fragte er, als er aufstand und den Stuhl an den Tisch schob. Ich setzte mir schnell die Sonnenbrille wieder auf die Nase.
„So viele, dass ich kaum mal einen Moment für mich habe. Sie sind sehr einfach gestrickt, wissen Sie, und verhalten sich im Grunde wie junge Hunde. Ein paar freundliche Worte, ein liebevoller Klaps, und schon laufen sie einem ständig hinterher.“ Der Mann starrte mich eine ganze Weile an und schien zu überlegen, ob ich das ernst gemeint hatte. Ich hob beschwichtigend die Hände. „Das war ein Scherz. Ich habe noch nie einen Geist zu Gesicht bekommen!“ Er wirkte erleichtert und setzte rasch das typische spöttische Grinsen auf, das allen Jungspunden um die zwanzig gemein ist. Ich beachtete ihn nicht weiter, als er den Raum verließ, schob meine Sonnenbrille hoch und las die E-Mail meiner Mutter, die ich später beantworten wollte. Dann klickte ich die von Corinne an. Allie, ich will dich nur schnell daran erinnern, dass morgen Abend um 19 Uhr Londoner Zeit die Signierstunde von Dante bei Hartwell’s in Covent Garden stattfindet. Wenn du nicht hingehst, tue ich dir etwas an, das so schrecklich ist, dass ich es hier nicht aufzuschreiben wage! Ich hoffe, du amüsierst dich! Lass mich raten: An meinen Rat, die Sonnenbrille zu Hause zu lassen, hast du dich wohl nicht gehalten, oder Corinne? PS: Vergiss nicht, Dante das Schlüsselband zu geben, das ich für ihn gemacht habe. Und sag ihm, wie lange ich dafür gebraucht habe, seinen Namen in das Bannmuster zu sticken! Und vergiss nicht, den Bann zu aktivieren! Ich werde mich wohl nie davon erholen, was für eine
Blamage es war, als du Russell Crowe das Schlüsselband ohne Bann überreicht hast! „Wirklich zu schade! Es ist mir schleierhaft, wie das passieren konnte, aber das Schlüsselband für C. J. Dante habe ich zu Hause liegen lassen“, sagte ich zu dem Computer, loggte mich aus und setzte für den Fall, dass mir jemand auf dem Korridor begegnete, die Sonnenbrille wieder auf. Dann blieb ich jedoch noch einen Moment sitzen, weil ich mich so erschöpft fühlte, und lauschte den Geräuschen im Hotel und draußen auf der stark befahrenen Straße. Antons Nachricht hatte meine Abgeschlagenheit nur noch verschlimmert. Ich hatte die Zeichen der Zeit längst erkannt – in den vergangenen sechs Monaten war „Beweise oder Kündigung“ sein Motto gewesen, und in
puncto Beweise hatte ich erbärmlich wenig bis gar nichts zu bieten. „Es sieht schlecht aus, Allie“, sagte ich zu mir. „Ohne Beweis kein Preis, und Jobangebote für Möchtegern-Beschwörerinnen sind leider Gottes ziemlich dünn gesät.“ Meine Stimme hallte durch den Raum, und ich brütete noch ein Weilchen über meinen düsteren Zukunftsaussichten. Es war mir viel zu anstrengend, mich aufzuraffen und meine Tasche die Treppe zu dem kleinen Eckzimmer hinaufzuschleppen, das man mir zugewiesen hatte, aber ein Blick auf die Uhr brachte Bewegung in meine müden Glieder, denn oben wartete mein Bett, und ich brauchte dringend noch ein paar Stunden Schlaf, bevor ich mich zu einem alten Gasthaus aufmachen musste, in dem es angeblich spukte, um dort auf Geisterjagd zu gehen. Der Traum begann, noch bevor ich das Gefühl hatte, richtig in den Schlaf zu sinken. Es war dunkel, mitten in der Nacht, und die Luft war feucht und muffig. Ich ging durch ein leeres altes Haus, dessen Wände mit Flecken von Schimmel und anderen ekelhaften Dingen verunziert waren, die ich gar nicht genauer bestimmen wollte. Meine Schritte hallten durch das Haus, während ich suchend von Zimmer zu Zimmer ging. Irgendetwas zog mich an, aber was und wo es war, das wusste ich nicht. Aus den Augenwinkeln sah ich jedes Mal, wenn ich einen Raum betrat, kleine schwarze Schatten davonhuschen und vernahm leise geisterhafte Geräusche. Mäuse oder etwas Schlimmeres?, fragte ich mich und fuhr mit den Fingern über das verstaubte Geländer einer Treppe, die mich nach unten in eine pechschwarze Finsternis führte. Furchtlos, wie ich es im echten Leben keineswegs war, öffnete ich die Tür am Fuß der Treppe und erblickte einen Mann, der ausgestreckt auf einem Tisch lag. Einen Mann? Obwohl ich träumte, korrigierte ich mich sofort. Er war kein Normalsterblicher; er war ein Gott, ein männliches Pracht- exemplar, eigens für mich geschaffen. Sein langes schwarzes Haar hob sich wie ein dunkler Heiligenschein von dem hellen Holz des Tisches ab. Seine Augen waren offen und dunkel, jedoch nicht so dunkel wie sein Haar, eher mahagonifarben mit satten changierenden Braun- und Rottönen und einem Hauch von Gold am Rand der Pupillen. Sein scharf geschnittenes Gesicht mit dem kantigen Kinn war regungslos, als schliefe er, aber seine Augen beobachteten mich, als ich den Raum betrat. Bis auf ein Stück Stoff, das seine Scham bedeckte, war er nackt, und seine Haut war mit Hunderten kleiner Schnitte übersät. Das Blut tröpfelte langsam aus den Wunden auf den Boden. Ich ging auf ihn zu, weil es mich drängte, seine Wunden zu berühren und zu heilen, aber als er plötzlich meinen Namen sagte, erstarrte ich und blieb wie angewurzelt stehen. „Allegra“, sagte er und sah mich gequält an. „Hilf mir! Du bist meine einzige Hoffnung.“ Ich streckte die Hand aus, um ihm eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen und ihm zu versichern, dass ich tun würde, was auch immer nötig war, damit er nicht länger leiden musste. Ich würde dafür sorgen, dass er in Frieden ruhen konnte. Als
meine Finger seine heiße Haut berührten, erwachte ich keuchend. Ich saß kerzengerade in meinem Hotelbett und zitterte am ganzen Körper, obwohl ich die Heizung aufgedreht hatte, bevor ich schlafen gegangen war.
„Was zum … Oh nein, träume ich jetzt auch schon tagsüber?“ Ich griff nach der Karaffe mit Wasser, die ich mir immer neben das Bett stellte. Wasser kann zwar nicht den schlechten Geschmack vertreiben, den Albträume in meinem Mund hinterlassen, aber wie ich herausgefunden habe, trägt es maßgeblich dazu bei, die Dauer meiner nächtlichen Torturen zu verkürzen. Fetzen des Traums geisterten noch durch meinen Kopf, während ich unter der Dusche stand, mir die Zähne putzte und eine schwarze Hose und eine weiße Seidenbluse anzog. Ich betrachtete mich stirnrunzelnd im Spiegel und steckte mein braunes Haar nach hinten. Dann legte ich gerade so viel Makeup auf, wie nötig war, um mich in der Öffentlichkeit bewegen zu können, ohne kleine Kinder oder ältere Herrschaften zu erschrecken. Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, die fast wie Blutergüsse aussahen. „Und das wird noch viel schlimmer, wenn ich jetzt auch noch anfange, tagsüber zu träumen“, sagte ich zu meinem Spiegelbild, das angesichts dieser Prognose nicht besonders glücklich zu sein schien. Wie sollte es auch! Der Schlaf war ein kostbares Gut, und wenn mir nun auch noch verwehrt wurde, tagsüber nachzuholen, was ich jede Nacht versäumte, dann sah ich innerhalb von wenigen Tagen aus wie ein richtiger Zombie. Ich räumte das Zimmer auf und machte in meiner Tasche Ordnung: Das Diktiergerät brauchte neue Batterien, eine Weihwasserflasche hatte sich ihrer schützenden Baumwollhülle entledigt und schlug gegen die Wärmebildkamera, und das Messgerät für elektromagnetische Wellen war fast aus seinem
Lederetui gerutscht und drohte die Vorderseite des Ionen477-analysators zu verkratzen. Ich zog an den Gurten, mit denen die Bewegungsmelder an der Innenseite festgeschnallt waren, vergewisserte mich, dass das Infrarot-Nachtsichtgerät in Ordnung war, und tauschte den beschädigten Ultraschalldetektor gegen ein neueres Fabrikat aus, das ich am Nachmittag gekauft hatte. „Zu schade, dass der ganze Zauber anscheinend nichts bringt“, sagte ich traurig zu der Tasche, doch die antwortete nicht. Ich setzte mich neben sie auf den Boden und schaute auf die Uhr. Mir blieb immer noch eine Stunde Zeit, bis ich losmusste. „Carpe diem!“, murmelte ich und holte ein Stück Kreide aus der Tasche. „Kann ja nicht schaden, es noch mal zu versuchen. Wozu sitze ich hier in einem Hotelzimmer, in dem es angeblich spukt, wenn ich den Geist nicht zu sehen bekomme?“ Während ich alle Gedanken aus meinem Kopf verbannte und eine geöffnete Tür bemerkte, zeichnete ich mit der Kreide einen Kreis auf den Boden. Wenn ich den Geist beschworen hatte, blieb er so lange in dem Kreis gefangen, bis ich ihn entweder auf die nächste Existenzebene schickte oder im Hier und Jetzt verankerte. Theoretisch jedenfalls. Es war mir noch nie gelungen, einenechten Geist zu beschwören, obwohl ich in einer Villa an der Küste von Oregon, in der angeblich der Geist eines reichen Holzhändlers herumspukte, immerhin schon einmal einen kalten Wind zu spüren bekommen hatte. Aber wie Anton mir natürlich gleich unter die Nase gerieben hatte, machte ein Luftzug noch keinen Geist, und ich war mehr als verzweifelt. Mein Job stand auf dem Spiel, und obwohl ich wusste, dass es in England von Geistern wimmelte, hatten sie sich bisher von mir ferngehalten. Etwas lustlos intonierte ich die Worte, die man üblicherweise zur Beschwörung von Geistern verwendete. „Es wird sowieso nicht funktionieren“, sagte ich zu meinen Zehen, als ich mit der Formel fertig war. „Es hat ja noch nie funktioniert! Ich werde wohl nach Hause fahren müssen, ohne einen einzigen Geist beschworen zu haben, und das wird das Ende meiner kurzen und alles andere als großen Karriere als Beschwörerin sein. Blöde englische Geister! Einer Besucherin von außerhalb könnten sie doch wenigstens den Gefallen tun, mal kurz aufzutauchen!“ Ich nahm das Fläschchen Totmann- Asche zur Hand, das ich sicherheitshalber mitgenommen hatte. Denjenigen, die sich mit Beschwörungen nicht auskennen, sei an dieser Stelle erklärt, dass Totmann-Asche durch Verbrennen von Ästen und Zweigen hergestellt wird, die auf ein Grab gefallen sind. Es ist gar keine echte Totenasche, aber mir gefällt der bildliche Name sehr. Eine Hexe hatte mir einmal erzählt, dass sie sehr erfolgreich mit Totmann-Asche arbeitete, und so öffnete ich das Fläschchen und schüttete etwas von der grauen Asche in meine Hand, die ich dann über den Kreis hielt. Ich wiederholte die Beschwörungsformel und ließ die Asche in den Kreis rieseln, während ich erneut eine Tür bemerkte, die sich langsam öffnete, um alles Vorstellbare und Unvorstellbare einzulassen. Die Luft innerhalb des Kreises begann ein wenig zu flimmern. Ich kniff die Augen zusammen und wedelte die Ascheflöckchen fort, die aus dem Kreis direkt auf meine Nase zuschwebten. War es nur die Asche oder bildete sich da tatsächlich eine Gestalt heraus? Das Schimmern in der Luft war zwar sehr schwach, aber deutlich zu erkennen. Ich wedelte abermals mit der Hand vor meinem Gesicht herum und überlegte, ob ich vielleicht etwas mehr Totmann-Asche verstreuen sollte. Die Luft innerhalb des Kreises begann sich zusammenzuballen, als wolle sie eine Gestalt formen, wisse aber nicht so recht, welche. Ich atmete tief durch, um die Beschwörungsformel noch einmal zu wiederholen, doch dann musste ich furchtbar niesen, weil ein paar Ascheflöckchen in meine empfindliche Nase gelangt
waren. Plötzlich stand eine kleine grau-weiße Katze mit gelben Augenvor mir, der ein Hinterbein fehlte. Sie starrte mich verärgert an. Mir fiel die Kinnlade herunter, als mir bewusst wurde, dass der verschwommene Körper der Katze durchsichtig war. Und als ich begriff, was ich da vor mir hatte – einen echten Geist! –, bekam ich eine Gänsehaut und mir sträubten sich die Nackenhaare. „Ich habe es geschafft! Ich habe einen Geist beschworen! Oh, mein Gott, wenn ich das denen im Büro erzähle! Du, mein liebes, kleines Miezekätzchen, hast mich soeben vor dem Rausschmiss bewahrt!“ Ich sprang auf und strahlte die Katze an. „Mein erster Geist! Mein erster richtiger Geist steht live vor mir!“ Die Katze zuckte angesichts meines Ausbruchs nervös mit den Ohren, dann setzte sie sich, um sich das Hinterteil zu lecken. „Gut, okay, lebendig bist du natürlich nicht, aber du bist ein Geist! Ein Katzengeist! Wer hätte gedacht, dass in diesem Zimmer eine Katze herumspukt? Das ist echt cool!“ Ich hielt meine Hand in den Kreis, um zu testen, ob ich um die Katze herum irgendwelche Schwingungen spürte, doch da begann ihre Gestalt sofort zu flimmern, wie man es von alten Fernsehern mit schlechtem Empfang kennt. „Ach, stimmt ja, ich kann den Kreis erst brechen, wenn ich dich verankert habe.“ Ich krabbelte rasch zu meiner Tasche und kramte darin, bis ich mein Notizbuch fand. „Das ist einfach großartig! Ich kann nicht glauben, dass ich es geschafft habe! Ein Geist! Anton wird grün vor Neid! Okay, Pussi, bleib einfach brav da sitzen, dann verankere ich dich, damit du den Kreis verlassen kannst. Mal sehen … äh … Verankern, verankern … Aha, hier steht es!“ Das Verankern eines beschworenen Geistes ist eine ziemlich einfache Angelegenheit: Beschworene Wesen sind per se an die Person gebunden, die sie gerufen hat. Sie zu verankern bedeutet lediglich, dass sie nicht auf eine andere Existenzebene entschwinden können, bevor der Beschwörer oder die Beschwörerin sie freilässt. „Die Kräfte des Lebens leuchten hell in mir“, sagte ich zu der Katze. Sie fuhr unbeeindruckt mit der Körperpflege fort. „Die Macht des Todes bindet dich an mich. Bis der Tod über das Leben siegt, unterstehst du meinem Befehl. Kraft meiner Worte verankere ich dich im Hier und Jetzt!“ Die kurze, einfache Formel war nun wirklich nichts Besonderes, aber während ich die Worte sprach und mit dem Finger Schutzsymbole auf meine linke Hand und über mein rechtes Auge zeichnete, wurden die Umrisse der Katze immer schärfer, und als ich fertig war, sah sie aus wie eine leicht durchscheinende Figur aus einem Schwarz-Weiß-Film. Ich hielt meine Hand in den Kreis und stellte erfreut fest, dass das Bild der Katze nun kein bisschen mehr flimmerte. „Zumindest weiß ich jetzt, dass die Verankerung funktioniert“, sagte ich, während ich mit der Hand durch die Katze hindurchfuhr. Ich spürte ein leises Kribbeln in den Fingerspitzen, aber ansonsten fühlte sich der Geist an wie … nun, wie Luft eben. Wie leicht kribbelnde Luft. „Bilder!“, rief ich und wühlte in meiner Tasche. Ich nahm meine Digitalkamera heraus und schnippte ein paarmal mit den Fingern, bis die Katze in meine Richtung schaute. Als es blitzte, legte sie die Ohren an, aber ich konnte einige Fotos machen, bevor sie aufstand und davonhumpelte, um meine Schuhe zu beschnuppern. „Das werden die zu Hause nicht glauben“, murmelte ich vor mich hin und sah mir in dem Display auf der Rückseite der Kamera die Aufnahmen an. Die Katze war ein bisschen unscharf, aber dennoch klar zu erkennen. Ich hätte sie umarmen können, so glücklich war ich.


Copyright © 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

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Texte: Egmont LYX ISBN: 978-3802584749
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2011

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