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„Cottages!“
Garrett Mortimer musste lachen, als er den angewiderten Tonfall seines Partners bemerkte. „Ich merke, du bist ganz begeistert von unserem Auftrag.“
Justin Bricker verzog den Mund. „Wir sind im Reich der Cottages, Mortimer. Cottages sind gleichbedeutend mit Sonne, Sand und Spaß. Wir sind Vampire

. Wir meiden Sonnenschein wie die Pest. Was haben wir hier verloren?“
„Wir suchen einen abtrünnigen Unsterblichen“, erwiderte Mortimer ruhig, wobei es ihm gelang, nicht zusammenzuzucken, als sein jüngerer Partner den Begriff Vampire benutzte.
Er konnte einfach nicht anders, ihm war – so wie vielen Älteren ihrer Art – das Wort schlicht zuwider. Es erinnerte ihn an aufständische Dorfbewohner mit Fackeln und Pflöcken.
„Weiß ich“, meinte Bricker spitz. „Aber aus welchem Grund sollte sich ein Vampir hier aufhalten, wenn er noch einen Funken
Selbstachtung besitzt? Seit Stunden haben wir keine Straßen- lampe mehr gesehen. Da draußen ist alles stockfinster. Ich wäre wirklich erstaunt, wenn außerhalb des Scheinwerferlichts überhaupt irgendetwas existierte.“
Mortimer lachte leise. „Außerhalb des Scheinwerferlichts existiert
mehr, als du dir vorstellen kannst.“
„Ja, natürlich. Bären, Rehe, Waschbären und Kaninchen“, sagte Bricker unüberhörbar unbeeindruckt.
Zwar schüttelte Mortimer den Kopf, doch erst nach der nächsten, recht scharfen Kurve erwiderte er: „Seit wir den Highway verlassen haben, sind wir an Hunderten von Cottages und Häusern vorbeigekommen. Glaub mir, in der Dunkelheit halten sich unzählige Leute auf.“
„Meinetwegen“, lenkte Bricker mürrisch ein. „Aber ich garantiere, hier draußen ist kein einziger Unsterblicher unterwegs.“
„Tatsächlich?“ Mortimer hob eine Augenbraue, während seine Mundwinkel zuckten.
„Ja, wirklich“, beteuerte Bricker. „Kein Unsterblicher, der sich auch nur ein bisschen Selbstachtung bewahrt hat, würde sich hierher verirren. Dies ist einfach nicht die richtige Gegend für Leute wie uns.“
„Aha. Und was soll das heißen?“, fragte er ironisch. „Willst du damit sagen, dass alle Unsterblichen mit Selbstachtung momentan auf der anderen Seite des Globus zu finden sind, weil es da Winter ist und die Tage kürzer sind?“
„Nein, natürlich nicht“, knurrte Bricker gereizt. „Trotzdem werden sie sicher nicht in einem Cottage

Unterschlupf suchen, sondern sich in Städten wie Toronto oder Montreal aufhalten, wo es ein unterirdisches System von Gängen und Tunneln gibt, damit sie nicht in der Sonne unterwegs sein müssen, wenn sie was zu erledigen haben.“
Mortimer nickte, stimmte den Worten aber weder zu, noch widersprach er ihnen. Tatsache war, dass eine Menge von ihren Leuten sehr wohl den Sommer an Orten wie diesen verbringen würden. Während Sterbliche im Winter den unterirdischen Gängen den Vorzug gaben, weil sie dort vor der bitteren Kälte
geschützt waren, und im Sommer dort Schutz vor der Hitze suchten, waren Unsterbliche dort Sommer wie Winter unterwegs, solange die Sonne schien. So wurde ihnen eine Bewegungs- freiheit ermöglicht, die lange Zeit in keiner Weise zur Debatte gestanden hatte. Am helllichten Tag konnten sie dort unterwegs sein, ohne sich Sorgen zu machen, ihr Körper könne darunter leiden.
Er warf seinem Partner einen Blick zu. Brickers gut aussehendes, kantiges Gesicht wies einen unzufriedenen Ausdruck auf.
Ihm entging auch nicht, wie der jüngere Mann sich frustriert durch seine dunklen Locken fuhr. Während er sich wieder auf die Straße konzentrierte, meinte er: „Die Informationen, die wir haben, besagen eindeutig, dass hier in der Gegend ein halbes Dutzend Sterbliche mit Bissspuren gesehen wurde.“
„Ich weiß, aber es ergibt einfach keinen Sinn, dass sich ein Vampir hier herumtreibt.“
„Vielleicht macht er es ja gerade deshalb“, überlegte Mortimer.
„Wie du selbst sagst, ist dies der letzte Ort, wo man einen Unsterblichen vermuten würde. Und weil es hier von Cottages wimmelt, herrscht unter den Sterblichen, die alle nur daran interessiert sind, die Sonne zu genießen und ihren Spaß zu haben,
ein Kommen und Gehen. Die kümmern sich nicht darum, wer ihr Nachbar ist.“
Bricker reagierte erschrocken. Offenbar hatte er diesen Aspekt bislang nicht in Erwägung gezogen.
„Du musst zugeben, dass es ein verdammt gutes Versteck ist“, fuhr Mortimer fort. „Fast jedes Cottage, an dem wir bislang vorbeigekommen sind, ist von Bäumen umgeben. Außerdem fühlen sich die Leute hier oben sicher, also sind sie nicht besonders wachsam oder skeptisch. Ein abtrünniger Unsterblicher wäre hier der Fuchs im Hühnerstall.“
„Schätze, du hast recht“, murmelte Bricker nachdenklich.
„Draußen ist es stockfinster. Er könnte sich an Leute heranschleichen, die um ein Lagerfeuer herumsitzen, und einen von ihnen weglocken, um mal eben zuzubeißen. Und dann könnte er gleich wieder verschwinden, ohne dass ihn irgendjemand zu
Gesicht bekommt.“
Mortimer brummte zustimmend, während er auf die kleinen grünen Schilder im Blattwerk am Straßenrand achtete, von denen jedes eine Abzweigung von der Hauptstraße kennzeichnete, die zu einem Cottage führte, das irgendwo in der Dunkelheit verborgen lag. Ihr eigenes Cottage entpuppte sich als das letzte, zu dem ein Pfad von dem Kiesweg führte, auf dem sie unterwegs waren. Mortimer bog ab und verzog den Mund, als der Wagen
über den Feldweg holperte. Die Bäume zu beiden Seiten schienen kein Ende zu nehmen, dann endlich tauchte im Licht der Scheinwerfer ein bräunliches Gebäude auf.
„Willkommen am Ende der Welt“, knurrte Bricker, der sich während der Fahrt über die Holperstrecke die ganze Zeit über am Griff über der Beifahrertür festgeklammert hatte. Fast tonlos fügte er dann noch hinzu.
„Das hier ist ja so gar nicht meine Welt.“
Mortimer lächelte flüchtig und gab zu: „Meine auch nicht, aber irgendjemand fühlt sich hier richtig wohl, sonst wären wir jetzt nicht da.“
„Genau. Unser Abtrünniger“, murmelte Bricker missbilligend.
„Und Decker ebenfalls“, fügte er hinzu. „Immerhin ist es sein Cottage, in dem wir uns einquartieren, solange wir hier oben sind.“
„Stimmt, allerdings war er auch schon immer ein komischer Kauz“, hielt der Jüngere dagegen. „Er ist der Einzige, dem es Spaß machen kann, irgendwo in der Pampa zu wohnen.“
Die Beleidigung gegenüber ihrem Kameraden Decker Argeneau Pimms entlockte Mortimer ein schiefes Grinsen. Als Jäger des Rates arbeiteten sie immer wieder mit anderen Teams zusammen, und besonders häufig bestand dieses andere Team aus ihren Kollegen Decker und Anders. Die vier kamen gut miteinander aus, und sie mochten sich, auch wenn ein zufälliger Beobachter das nicht hätte glauben wollen, wenn er sah, wie sie sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen.
„Dass Decker ein komischer Kauz ist, finde ich auch“, unterstrich Mortimer amüsiert, dann ergänzte er: „Aber offenbar fühlt sich von dieser Gegend mindestens ein weiterer Unsterblicher
angezogen, denn es muss einer von unseren Leuten gewesen sein, der die Bissspuren entdeckt und sie dem Rat gemeldet hat.“
Diese Meldung war der Grund, weshalb sie gekommen waren.
Sterbliche zu beißen war verboten, und der Rat hatte sie beide losgeschickt, damit sie der Sache nachgingen. Ihre Aufgabe war es, den Schuldigen zu finden und ihn zum Rat zu bringen, damit der sich weiter mit ihm befassen konnte.
„Wissen wir, von wem diese Meldung kam?“, fragte Bricker neugierig.
„Lucian weiß das mit Sicherheit, trotzdem hat er mir keinen Namen genannt.“
Einen Moment später ergänzte er: „Vermutlich ist das auch nicht weiter wichtig.“
„Vermutlich nicht“, stimmte der andere Mann zu, dann flüsterte er: „Jesus!“
Mortimer hatte den Motor abgestellt, gleichzeitig gingen die Scheinwerfer aus, sodass sie in ihrem Wagen schlagartig nur noch von Schwärze und Stille umgeben waren.
Die Dunkelheit war so vollkommen, dass Mortimer fast glauben konnte, tatsächlich das Ende der Welt erreicht zu haben und jetzt in die Leere des Alls zu starren. Er sprach aber nicht aus, was ihm durch den Kopf ging, stattdessen saß er da und wartete, dass sich seine Augen an die Finsternis gewöhnten. Es dauerte einen Moment, dann wich die Schwärze verschiedenen Grauschattierungen.
„Hörst du das?“, fragte Bricker leise.
„Was?“, gab Mortimer verwundert zurück. Ihm fiel nichts auf.
„Nichts“, antwortete Bricker. „Absolute Stille.“
Mortimer lachte lautlos und atmete aus, dann nahm er den Rucksack vom Rücksitz, öffnete die Fahrertür und kletterte aus dem Wagen. Er streckte und dehnte sich, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bekommen. Zwar hatten sie unterwegs
einige Male Rast gemacht, aber der letzte Abschnitt ihrer Fahrt war der längste gewesen, und alle seine Gelenke waren steif.
„Jesus.“
Der erneute Ausruf, der diesmal fast ehrfürchtig hingehaucht wurde, veranlasste Mortimer, sich prompt zu Bricker umzudrehen, der neben der geöffneten Beifahrertür stand und mit weit
aufgerissenen Augen in den Himmel starrte. Mortimer folgte dem Blick und betrachtete genauso gebannt den Sternenhimmel, der an eine schwarzblaue Leinwand erinnerte, auf der man eine Handvoll Diamanten verstreut hatte. Für Mortimer war das kein ungewohnter Anblick, denn vor der Bevölkerungsexplosion und dem Siegeszug der Elektrizität hatte man in jeder Nacht so etwas sehen können. Aber natürlich war Bricker nicht so alt wie er, weshalb er diese Zeit nicht hatte miterleben können. Mortimer sah den faszinierten Mann an.
„Schön, nicht wahr?“
„In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viele Sterne gesehen“, murmelte Bricker, der den Anblick des Himmels begierig in sich aufnahm.
Nach einem letzten Blick nach oben folgte er langsam dem unebenen Weg zum Cottage, das viel größer war als erwartet.
Es war ein richtiges, vollwertiges Haus von überdurchschnittlicher Größe. Es war in dunklem Holz gehalten, und die Wände schienen überwiegend aus Fenstern zu bestehen. Unwillkürlich legte Mortimer die Stirn in Falten, denn so etwas hatte er vom Zuhause eines Unsterblichen nun wirklich nicht erwartet.
„Warte auf mich“, zischte Bricker ihm zu und eilte hinter ihm her, als Mortimer die Stufen zu der um das Haus verlaufenden Veranda hinaufstieg.
Mortimer wurde langsamer und ging die Veranda entlang zur Tür. Nirgends brannte Licht, das Gebäude war offenbar verlassen.
Dennoch stutzte er, als er die Tür verschlossen vorfand.
Decker hätte dort sein sollen. Nach kurzem Zögern tastete er die Oberseite des Türrahmens ab, bis seine Finger auf einen Schlüssel stießen.
Sofort ließ seine Anspannung ein wenig nach, er schloss auf und spürte, wie ihm stickige Luft entgegenschlug. Den Lichtschalter fand er auf Anhieb, doch als er ihn umlegte, geschah nichts.
„Vermutlich muss die Sicherung eingesetzt werden“, meinte Bricker, während Mortimer es weiter vergeblich versuchte. „Ich suche nach dem Sicherungskasten, dann haben wir gleich Licht.“
Mortimer nickte nur und ging weiter, damit der andere Mann ebenfalls eintreten konnte. Seine Tasche stellte er auf dem Tisch ab, und als er sich umdrehte, sah er noch, wie Bricker sein Gepäck
neben der Tür auf dem Boden deponierte.
„Ich hole die Kühlbox, du kümmerst dich um das Licht.“
Als er auf die Veranda zurückkehrte, hörte er Bricker zustimmend murmeln. An der obersten Stufe blieb er stehen, da von irgendwoher lautes weibliches Lachen an seine Ohren drang.
Er suchte die Dunkelheit ab, da er nicht wusste, aus welcher Richtung das Gelächter gekommen war. Die Quelle schien sich ganz in der Nähe zu befinden, aber sie waren an einem See, und
er wusste, über Wasser legten Geräusche weite Strecken zurück.
Am Fuß der Treppe angekommen, ging er nicht zum Wagen, sondern umrundete das Haus, bis er sich auf der dem See zugewandten Seite befand. Zu entdecken war nichts. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese bis zur gut fünfzehn Meter entfernten Uferlinie, die zwischen den dichten Baumreihen links und rechts
des Hauses rund dreißig Meter maß.
Ein recht großes Bootshaus stand am Ufer, der Rest war freier Strand, der einen wunderschönen Blick auf die ruhige Wasser- oberfläche des kleinen Sees ermöglichte. Das gegenüberliegende Ufer war lediglich als schwarzer Streifen erkennbar, der sich nur geringfügig von dem nicht ganz so schwarzen See abhob.
Der Anblick machte Mortimer stutzig, da auch dort nicht ein einziges Licht zu sehen war. Nichts wies darauf hin, dass die Bewohner der Cottages zu Hause waren, obwohl das der Fall sein musste. Zugegeben, es war bereits nach zwei Uhr nachts, und
wahrscheinlich schliefen sie alle längst, aber wenn sie auf dem letzten Stück des Wegs nicht die Hinweisschilder für die anderen Cottages gesehen hätten, dann wäre er jetzt bereit gewesen zu
glauben, dass er und Bricker dort oben ganz allein waren.
Ausgelassenes Kichern machte diese Illusion schon im nächsten Moment zunichte. Mortimer drehte ruckartig den Kopf nach links, kniff die Augen zusammen und spähte zwischen den Bäumen hindurch. Er konnte den großen, dunklen Umriss des benachbarten Cottages sehen, daneben ein umgedreht
liegendes Kanu, einen Steg, an dem zwei Boote vertäut lagen, außerdem zwei Gestalten, die Seite an Seite auf diesem Steg saßen. Sie wirkten entspannt, hatten die Beine ausgestreckt und
übereinandergeschlagen und stützten sich auf die nach hinten genommenen Arme, während sie zum Himmel hinaufsahen und weiter leise lachten.
Frauen!, erkannte er, als er ihre sehr femininen Formen genauer betrachtete. Eine von ihnen hatte kürzeres Haar, das sie zum Bob geschnitten trug und das kaum bis zu ihren Schultern reichte. Die andere trug ihr Haar länger und zum Pferdeschwanz
gebunden.
Das Geräusch einer zufallenden Fliegengittertür lenkte seinen Blick auf das benachbarte Cottage, und er sah den Lichtstrahl einer Taschenlampe auf den Stufen hin- und hertanzen, dann erkannte er, dass dort eine dritte Frau unterwegs war. Mit
Erstaunen beobachtete Mortimer, wie die Frau mit unsicheren Schritten über den Rasen tapste und leise etwas vor sich hinmurmelte.
Ihm war nicht der Gedanke gekommen, die beiden
sterblichen Frauen auf dem Steg könnten betrunken sein, aber für diese dritte galt das auf jeden Fall. Plötzlich machte sie einen Schritt zur Seite und fiel hin. Er erkannte, dass er das nicht als Einziger wahrgenommen hatte, denn die zwei auf dem
Landungssteg drehten sich um, und der Strahl einer anderen Taschenlampe erfasste die auf dem Rasen liegende Gestalt, die sich eben wieder aufrappelte.
„Sam? Alles in Ordnung?“
Im Schein der Lampe konnte Mortimer die dritte Frau gut sehen.
Ihre Gesichtszüge ließen die Vermutung zu, dass sie mit den beiden anderen verwandt war, allerdings wies sie einen deutlich anderen Körperbau auf. Die zwei auf dem Landungssteg waren
kurvenreich und vollbusig, sie dagegen wirkte groß und schmal, und ihre Brüste waren im Vergleich erheblich flacher. Ihr Haar war so schwarz wie die Nacht und fiel glatt auf ihre Schultern, ihr
Gesicht wurde von den großen, dunklen Augen beherrscht, die Nase wirkte ein wenig schief, und den Mund mit den ausgeprägten, vollen Lippen hatte sie vor Verlegenheit verzogen.
„Ja, ja“, antwortete die Frau namens Sam lachend, während sie über einen großen dunklen Fleck auf ihrem T-Shirt wischte. Sie war nicht nur über ihre eigenen Füße gestolpert, sie hatte sich auch ihr Getränk über das Oberteil geschüttet.
Mit einem verärgerten Kopfschütteln drehte sich die Frau zum Cottage um.
„Bin gleich zurück.“
„Ach, zieh dich doch jetzt nicht noch um, Sam“, rief die Frau mit der Bobfrisur ihr nach. „Hier gibt’s niemanden, den du beeindrucken könntest.“
„Das nicht, aber das Zeug klebt, Alex“, beklagte sich Sam.
„Na und? Wir müssen sowieso noch unsere erste Runde Nachtschwimmen absolvieren. Dann wird das wieder abgewaschen.“
„Stimmt.“ Sam begann zu grinsen und ging zurück zum Steg.
Ein leiser anerkennender Pfiff gleich neben ihm veranlasste Mortimer, sich umzudrehen. Bricker hatte sich zu ihm gesellt und beobachtete die weibliche Nachbarschaft mit männlichem
Kennerblick.
„Vielleicht ist es hier ja doch nicht so übel“, flüsterte Bricker und fragte Mortimer leise: „Du hast dich wohl ablenken lassen, wie?“
„Ich habe Gelächter gehört und wollte der Sache auf den Grund gehen.“
Der jüngere Unsterbliche nickte, sein Blick kehrte zu der Gruppe zurück.
„Ja, das machen Frauen oft, wenn sie zu mehreren
zusammen- sitzen. Jedenfalls sind meine Schwestern so. Da wird gelacht und gekichert und …“
Er verstummte, als nebenan wieder schallendes Gelächter ertönte.
Mortimer sah, dass Sam am Bootssteg angekommen war. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe huschte über die beiden anderen Frauen, die beide aufstanden. Er musste grinsen, als die zwei sich dabei den Rücken zuwandten und mit dem Po aneinanderstießen, woraufhin sie beide den Halt verloren und vom Steg fielen.
„Und ich muss mir von euch immer anhören, ich sei tollpatschig!“, beschwerte sich Sam, während sie sich gespielt beleidigt mit einem Ruck von ihren beiden Schwestern abwandte. Ihre Worte verloren aber jede Wirkung, als sie durch zu viel Schwung
selbst fast aus dem Gleichgewicht kam und beinah auch im Wasser gelandet wäre, ohne dabei die Entschuldigung vorbringen zu können, dass sie ebenfalls geschubst worden war.
Angesichts dieser Albernheiten und der nächsten Runde Gelächter konnte Mortimer nur den Kopf schütteln. Das Trio hatte ganz offensichtlich zu tief ins Glas geschaut. Der Gedanke war noch nicht ganz zu Ende gedacht, da sagte Sam entrüstet. „Lieber Gott, wenn mich jemand so sieht, wird er noch glauben, ich sei betrunken.“
„Nicht, wenn derjenige dich schon länger kennt und weiß, wie ungeschickt du normalerweise bist“, zog die Frau mit dem Pferdeschwanz sie auf.
„Und? Wen kümmert’s?“, warf die Frau mit dem Bob ein, die von Sam Alex genannt worden war.
„Wir machen hier Urlaub. Sollen die Leute doch denken, was sie wollen.“
„Oh! Igittigitt!“
Das Trio hielt an, Sam richtete die Taschenlampe auf die junge Frau mit Pferdeschwanz.
„Was ist los, Jo?“
„Ich glaube, ich bin auf ein Froschbaby getreten“, kam die entsetzte Antwort.
Der Lichtstrahl wanderte sofort zu Jos Füßen, die einen Fuß hob.
„Sieht aus wie Schlamm“, meinte Sam beschwichtigend.
„Es war kalt und glitschig“, erklärte Jo verunsichert. Während sie wie ein Storch dastand, musterte sie ihre Fußsohle. Fast wäre sie dabei aus dem Gleichgewicht geraten und im Gras gelandet,
hätte Alex nicht ihren Arm ergriffen und sie gestützt.
„Schlamm ist auch kalt und glitschig“, hielt Alex dagegen.
„Und abgesehen davon … wärst du auf ein Froschbaby getreten, dann wäre das jetzt so platt wie ein Pfannkuchen, aber ich kann da keinen Froschpfannkuchen entdecken.“
Sam ließ den Lichtstrahl über den Boden wandern. „Definitiv kein Froschpfannkuchen“, stellte sie schulterzuckend fest. Der Strahl der Taschenlampe zuckte durch die Dunkelheit, als sie sich blitzartig umdrehte.
„Wer als letztes im Wasser ist, muss morgen das Frühstück machen!“, rief sie und rannte los.
Alle Frauen kreischten, und Mortimer sah blasse Haut im Mondschein silbern leuchten, als die drei zu einem kurzen Stück Strand liefen, der sich am Rand des Grundstücks befand – und in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der Mortimer und Bricker
standen und das Geschehen verfolgten. Auch wenn die drei Frauen kreischten und quiekten, war ihnen dennoch anzumerken, dass sie versuchten so wenig Lärm wie möglich zu machen, um niemanden zu stören. Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit
und der Tatsache, wie weit jeder Laut über das Wasser getragen wurde, war das verständlich und rücksichtsvoll, wie Mortimer fand. Plötzlich stutzte er, während die Frauen weiter in Richtung Ufer liefen. Keine von ihnen war ins Haus gegangen, um einen Badeanzug oder einen Bikini anzuziehen. Die drei wollten doch nicht etwa …
„Ziehen die sich jetzt aus?“, flüsterte Bricker ihm mit einem hoffnungsvollen Unterton zu.
Anstatt zu antworten, ging Mortimer leise weiter auf den See zu, bis er wieder fast auf gleicher Höhe mit den Frauen war. Fast, denn die Frauen hatten in aller Eile ihre Kleidung abgelegt und
stürmten bereits ins Wasser, als er seine Position erreichte.
„Verdammt“, stöhnte Bricker, der ihm gefolgt war, und blieb neben ihm stehen, um zuzusehen, wie die Frauen im See plantschten.
„Ich glaube, hier könnte es mir doch gefallen.“
Nur mit Mühe verkniff sich Mortimer ein Lachen, als er diese Bemerkung hörte. Manchmal vergaß er, wie alt sein Partner war, aber dann ereignete sich etwas in dieser Art, und ihm wurde vor Augen geführt, dass Bricker noch keine hundert war und
noch immer all diese Begierden verspürte, mit denen sich ältere Unsterbliche nicht mehr herumschlagen mussten. Der Mann war in fast jeder Hinsicht unersättlich, ob es ums Essen, Trinken
oder um Sex ging.
Mit der Zeit würde sich das ändern, dachte er mit einem Anflug von Bedauern. Getränke und Speisen schmeckten nach einer Weile gleich, auch wenn sie noch so unterschiedlich waren, und nach und nach verlor man das Interesse daran, bis man gar
keine Lust mehr hatte, etwas zu essen oder zu trinken. Und was Sex anging … nach ein paar Hundert Jahren wurde sogar Sex zu einer Angelegenheit, die man nur als zeitraubend und lästig empfand.
Sobald der Zustand erreicht war, wurden alle Aktivitäten in dieser Richtung ziemlich schnell aufgegeben. Die Anzahl der Stellungen war begrenzt, ausgefallene Orte verloren über kurz oder lang ihren Reiz, und wenn man jeden Gedanken und jeden Wunsch einer Frau lesen konnte, strapazierte das schon ziemlich die eigenen Nerven. Nachdem er Tausende, sogar Hunderttausende
von Menschen gelesen hatte, war Mortimer zu der Ansicht gelangt, dass Frauen diejenigen Vertreter der menschlichen Spezies waren, die sich um alles und jeden Sorgen machten. Ihre Gedanken schienen unentwegt um Dinge zu kreisen, die ihnen Sorgen bereiteten – ob es nun das Wetter war oder die Frage, was es zum Abendessen geben sollte. Sie waren besorgt um die Gesundheit jedes einzelnen Menschen, der ihnen am Herzen lag, sie sorgten sich um die Finanzen, um die Frage, ob sie allen
Erwartungen gerecht wurden, die von den unterschiedlichsten Seiten an sie gerichtet wurden. Die wachsende Kriminalität, die Bedrohung durch Terroristen, das Alter … Die Liste war unendlich lang, und es ermüdete ihn allein schon, all diese Dinge nur in ihren Gedanken vorzufinden. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es sein musste, ein Leben zu führen, das so sehr von Ängsten und Befürchtungen geprägt wurde.
Im Gegensatz dazu ließen es die Männer offenbar viel lockerer angehen. Nach dem zu urteilen, was er in deren Köpfen vorgefunden hatte, gab es für sie nur zwei Gebiete, die für sie Grund zur Sorge waren: die Arbeit und das Bett. Bei der Arbeit hing das Ausmaß der Sorgen vom Job ab, den jemand ausübte – wobei sich die Gedanken üblicherweise nur um das Gehalt drehten.
Das andere Gebiet … nun, da spielten Größe und Stehvermögen die wesentliche Rolle, auch wenn das nicht für alle Männer galt.
Einige Vertreter dieser Gattung hielten sich für ausgesprochen gut gebaut und fanden, dass sie im Bett die Größten waren. Ein kurzer Blick in die Gedanken der Ehefrau oder Freundin ergab jedoch in der Mehrzahl der Fälle, dass da aufseiten der Männer eher Wunschdenken vorherrschte.
Lautes Platschen holte ihn aus seinen Gedanken, und er sah wieder zu den Frauen. Die Wasseroberfläche reflektierte den Mondschein, der auch ihre nasse Haut glitzern ließ, sodass Mortimer sie besser erkennen konnte. Diese Haut war außergewöhnlich blass, zumindest ließ das fahle Licht des Mondes es so scheinen.
„Die drei sind Schwestern“, flüsterte Bricker ihm zu, damit die Frauen ihn nicht hörten. „Das Cottage gehört der Familie, und sie sind vor etwa einer Stunde angekommen, haben den Wagen ausgeladen und ihre Sachen ausgepackt. Und das hier ist das traditionelle Nacktbaden am ersten Abend.“
Er nickte nur. Es war offenbar, dass Bricker in den Gedanken einer der Frauen – oder aller drei Frauen gleichzeitig – las. Mortimer hatte sich bislang nicht die Mühe gemacht und er wollte
sich auch jetzt nicht die Mühe machen. Stattdessen betonte er:
„Wir müssen unsere Sachen auch noch auspacken.“
„Ja, aber wir sollten warten, bis die Ladys mit dem Bad fertig sind. Sie könnten aus irgendeinem Grund in Schwierigkeiten geraten, und dann brauchen sie auf einmal Hilfe. Oder …“ Bricker
verstummte, als er Mortimers Gesichtsausdruck bemerkte. „Ja, schon gut. Wir packen aus.“
Mortimer wandte sich schnell ab, damit der andere Unsterbliche nicht sein Lächeln bemerken konnte, das seine Mundwinkel umspielte.


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Impressum

Texte: Egmont LYX Verlag ISBN: 978-3802583742
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2011

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