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Noch bevor er und Brock am Hauptquartier des Ordens angekommen waren, war Kade klar, dass ihn keine guten Neuigkeiten erwarteten. Lucan, der Gründer und Anführer des Ordens und außerdem Stammesvampir der Ersten Generation, der inzwischen an die neunhundert Jahre auf dem Buckel hatte, war normalerweise keiner, der unnötige Panik verbreitete. Wenn er es also für nötig hielt, aus- gerechnet Kade ins Hauptquartier zu beordern, war das ein deutlicher Hinweis darauf, dass in Alaska wirklich die Kacke am Dampfen war.
Ein Horrorszenario nach dem anderen raste durch Kades Kopf, schreckliche Dinge, die er sich nur allzu leicht ausmalen konnte und die in seiner Kehle wie bittere Galle brannten. Er behielt seine Angst für sich, als er und Brock den Rover im Fuhrpark des Ordens hinter dem schwer gesicherten Anwesen abstellten, dann nahmen sie den Lift im Hangar zum unterirdischen Nervenzentrum des Ordens in hundert Metern Tiefe.
„Alles klar, mein Alter?“, fragte Brock, als er und Kade aus dem Aufzug in den weißen Marmorkorridor traten, der die vielen Räume des labyrinthartigen Hauptquartiers wie eine zentrale Arterie miteinander verband.
„Wenn das irgendwas mit deiner Familie zu Hause zu tun hätte, hätte Lucas es schon gesagt. Was immer da oben passiert ist, mit deiner Familie ist garantiert alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, ja?“
„Klar, kein Problem“, antwortete Kade, aber sein Mund war auf Autopilot geschaltet.
Er hatte die Siedlung seiner Familie in Alaska vor etwa einem Jahr verlassen, um dem Orden in Boston beizutreten. Damals war er ganz überstürzt abgereist, nachdem Nikolai ihn dringend einberufen hatte – ein Ordenskrieger, den er vor Jahrzehnten kennengelernt hatte, als seine Reisen ihn von der eisigen Tundra Alaskas in Nikos sibirische Heimat geführt hatten.
Es gab Dinge, die Kade in Alaska unerledigt gelassen hatte.
Dinge, die ihn immer noch verfolgten – und das trotz all der Zeit und Distanz, die ihn diese ganzen Monate ferngehalten hatte.
Wenn zu Hause etwas passiert war und er nicht da gewesen war, um einzugreifen …
Diesen Gedanken verbannte Kade mit allen Kräften aus seinem Kopf, als er und Brock in einen Korridor einbogen, der zum Techniklabor führte.
Lucan, der dunkelhaarige Gen Eins, erwartete sie in der voll verglasten Kommandozentrale des Hauptquartiers, zusammen mit Gideon, dem zerzausten Technikgenie des Ordens. Er wirkte immer leicht abwesend, aber das täuschte – das war der Mann, der für die ganze Technologie des Ordens verantwortlich war.
Die beiden standen zusammen vor einem Flachbildschirm.
Eben fuhr Lucan sich mit den Fingern über seinen grimmig angespannten Kiefer, als die Glastür des Labors auf- schwang, um Kade und Brock eintreten zu lassen.
„Kam was raus bei der Spur in Roxbury?“, fragte er, als die beiden Krieger den Raum betreten hatten.
Kade gab ihm eine Kurzzusammenfassung darüber, was sie aus dem Menschenhändler herausbekommen hatten, viel war es nicht. Aber als Kade sprach, schweifte sein Blick unwillkürlich immer wieder zu dem Bildschirm hinter Lucan. Als der riesenhafte Mann begann, im Raum auf und ab zu gehen – wie er es immer tat, wenn er entweder angepisst oder tief in Gedanken versunken war –, bekam Kade volle Sicht auf das Bild, das den Computerbildschirm ausfüllte.
Es war kein schöner Anblick.
Ein verwackeltes Foto – oder vielleicht auch ein Standbild aus einem Video – flimmerte in grellem Rot und Weiß über den ganzen Monitor. Blut und Schnee. Ein brutales Morden in der eisigen Wildnis Alaskas. Kade wusste es instinktiv, und diese Gewissheit durchzuckte ihn wie eine Messer- klinge.
„Was ist passiert?“, fragte er, seine Stimme war so hölzern, dass sie apathisch, völlig unbeteiligt klang.
„Es ist heute ein ziemlich übles Video im Internet aufgetaucht“, sagte Lucan.
„Soweit wir sagen können, wurde es vor ein paar Tagen von einer Handykamera aufgenommen und über einen Provider in Fairbanks auf eine Website hochgeladen, auf der Gaffer und anderer kranker Abschaum sich an Mordopfern aufgeilen.“
Er warf Gideon einen Blick zu, und auf einen Mausklick hin erwachte das Standbild auf dem Monitor zum Leben. Kade hörte das erregte Atmen und die knirschenden Schritte der Person, die die Kamera hielt, und sah, dass das amateurhaft aufgenommene Video den Tatort eines äußerst brutalen Mordes dokumentierte.
Eine blutüberströmte Leiche auf schneebedecktem, blutgetränktem Boden. Der Fokus war immer wieder unscharf, aber dem Kameramann gelang es, nah auf die Wunden des Opfers zu zoomen. Zerfetzte Kleider und Haut. Jede Menge unverkennbare Fleisch- und Bisswunden, die nur von sehr scharfen Zähnen stammen konnten.
Oder Fangzähnen.
„Scheiße“, murmelte Kade, erschüttert von der Brutalität des Massakers – dieser totalen Vernichtung, die dort stattgefunden hatte. Das Video dauerte nun schon über vier Minuten und zeigte nicht weniger als drei weitere Tote in Eis und Schnee.
„Das waren Rogues“, sagte Brock, seine tiefe Stimme war so grimmig wie seine Miene.
Es gehörte zu den bedauerlichen Tatsachen des Lebens, dass es Stammesangehörige gab, die ihren Blutdurst nicht kontrollieren konnten oder wollten. Während der Großteil des Vampirvolkes sich an Gesetz und gesunden Menschenverstand hielt, gab es andere, die ihren Begierden nachgaben, ohne an die Folgen zu denken. Die Stammesvampire, die zu viel oder zu oft Nahrung zu sich nahmen, landeten bald in der Abhängigkeit, waren verloren an die Blutgier, die Krankheit der Rogues. Sobald ein Vampir diese Grenze überschritt, bestand nur wenig Hoffnung, dass er sich wieder in den Griff bekam.
Die Blutgier war fast ausnahmslos eine Einbahnstraße in Wahnsinn und Tod. Wenn nicht durch den Erlass des Ordens, dann durch die Krankheit, die selbst die umsichtigsten Stammesvampire zu skrupellosen Bestien machte. Ein Rogue lebte nur noch für seinen Durst, tötete wahllos und ging jedes Risiko ein, um ihn zu stillen. Ein Rogue würde sogar ein ganzes Dorf abschlachten, wenn sich ihm die Gelegenheit bot.
„Wer immer das war, der muss schleunigst ausgeschaltet werden“, fügte Brock hinzu.
„Das Arschloch gehört sofort kaltgemacht.“
Lucan nickte zustimmend.
„Je eher, desto besser. Darum habe ich dich hergerufen, Kade. Die Situation da oben kann ziemlich schnell außer Kontrolle geraten. Nicht nur, wenn wir tatsächlich ein Rogue-Problem haben, sondern auch, weil die Polizei von
den Morden Wind bekommen hat. Gideon hat einen Funkspruch der Staatspolizei von Alaska aufgefangen, aus einem Nest im Hinterland namens Harmony. Zum Glück wohnen da keine hundert Leute, aber es reicht schon einer, der hysterisch Vampir! schreit, und die Sache wird zur absoluten Katastrophe.“
„Scheiße“, murmelte Kade. „Wissen wir, wer das Video gemacht hat?“
„Momentan schwer zu sagen“, sagte Lucan. „Gideon kümmert sich drum. Wir wissen aber sicher, dass ein Trooper in der Stadt stationiert ist – er hat der Einheit in Fairbanks die Morde gemeldet. Uns bleibt also nicht mehr viel Zeit. Wir müssen herausfinden, wer für dieses Gemetzel verantwortlich ist, und
sichergehen, dass da oben niemand herausfindet, was da draußen in der Wildnis geschehen ist.“
Kade hörte zu, seine Venen vibrierten immer noch angesichts der Brutalität dessen, was er gerade auf dem Monitor gesehen hatte. Im Augenwinkel sah er das Ende der Videoaufnahme als unscharfes Standbild auf dem Bildschirm, das blutbespritzte Gesicht eines jungen Mannes, die geöffneten, blicklosen braunen Augen von der Kälte getrübt, an den dunklen Wimpern klebten Eiskristalle. Das war doch noch ein Junge, verdammt. Wahrscheinlich noch keine zwanzig.
Es war nicht das erste Mal, dass Kade die Überreste eines blutigen Gemetzels in der Wildnis Alaskas gesehen hatte. Als er vor all diesen Monaten sein Zuhause verlassen hatte, hatte er es weiß Gott in der Hoffnung getan, solche Bestialitäten nie wieder sehen zu müssen.
„Wir sind zwar bei unseren aktuellen Missionen schon unterbesetzt, aber wir können uns nicht leisten, die Situation im Norden nicht zu überprüfen“, sagte Lucan.
„Ich muss jemanden hinschicken, der das Gelände und die Leute kennt und da oben Verbindungen zur Vampir- bevölkerung hat.“
Kade hielt Lucans starrendem Blick stand. Er wusste, dass er den Auftrag schlecht zurückweisen konnte, auch wenn Alaska der allerletzte Ort war, an dem er jetzt sein wollte. Als er letztes Jahr von dort weggegangen war, um dem Orden beizutreten, hatte er es in der Hoffnung getan, nie wieder zurückkehren zu müssen.
Er wollte den Ort vergessen, an dem er geboren worden war.
Die Wildnis Alaskas, die in jedem Augenblick, seit er sie verlassen hatte, nach ihm rief wie eine besitzergreifende, zerstörerische Geliebte.
„Und, was sagst du?“, fragte Lucan, als sich Kades Schweigen in die Länge zog.
Es war ja nicht so, dass er die Wahl hätte. Er war es Lucan und dem Orden schuldig, sich um diese unerwartete, unangenehme Angelegenheit zu kümmern. Egal, wohin sie ihn führte.
Selbst dann, wenn die Suche nach einem Vampir mit unkontrollierbarem Tötungstrieb ihn zu dem zehntausend Morgen großen Besitz seiner Familie im Hinterland von Alaska führte. Nach Hause.
Grimmig nickte er dem Anführer des Ordens zu. „Wann soll’s losgehen?“
Fünfundvierzig Minuten später lief Kade in seinem Privatquartier eine Spur in den Teppich.
Sein schwarzer Ledersack stand fertig gepackt auf dem Fußende des Bettes, daneben lag ein Satellitenhandy, und schon zum dritten Mal in den letzten zehn Minuten griff Kade danach und wählte die Nummer, die er nicht mehr angerufen hatte, seit er so überstürzt aus Alaska verschwunden war.
Dieses Mal ließ er den Anruf durchklingeln.
Es war ein Schock, als sich am anderen Ende die nüchterne Stimme seines Vaters meldete.
„Lange her“, sagte Kade statt einer Begrüßung, und sein Vater grunzte nur zur Antwort.
Es war ein lahmer Versuch, ein Gespräch anzufangen, nachdem er ein ganzes Jahr lang keinen Kontakt gehabt hatte. Aber schließlich war es ja nicht so, dass sein Vater ihm jemals vorgehalten hatte, zu verantwortungsbewusst oder zu verlässlich oder sonst irgendwas zu sein.
Das Gespräch war bemüht, sie machten Smalltalk, während Kade all seinen Mut zusammennahm, um zu fragen, wie die Dinge zu Hause liefen. Sein Vater erzählte vom harten Winter; das einzig Gute an dieser Jahreszeit war, dass die Sonne nur drei Stunden um die Mittagszeit herauskam. Kade rief sich die lange Dunkelheit Alaskas ins Gedächtnis, und sein Puls beschleunigte sich begierig beim Gedanken an so lange Nächte, so viele Stunden Freiheit, um durch die Wildnis zu streifen.
Es war offensichtlich, dass sein Vater noch nichts von den grauenvollen Morden gehört hatte. Kade erwähnte sie nicht, sprach auch nicht die Mission an, die ihn in den Norden führte.
Stattdessen räusperte er sich und stellte die Frage, die ihm schon auf den Nägeln brannte, seit er von dem Zwischen- fall in Alaska gehört hatte.
„Wie geht’s Seth? Alles in Ordnung mit ihm?“
Kades Blut gefror ein wenig, als sein Vater zögerte.
„Es geht ihm gut“, sagte er schließlich. „Warum fragst du?“
Kade hörte den Argwohn in der Stimme seines Vaters, die milde Missbilligung, die sich jedes Mal in die Stimme des älteren Mannes schlich, wenn Kade es wagte, sich nach seinem Bruder zu erkundigen.
„Ich frage mich nur, ob er gerade da ist, das ist alles.“
„Dein Bruder ist geschäftlich für mich in die Stadt gefahren“, kam die knappe Antwort. „Er ist schon ein paar Wochen fort.“
„Ein paar Wochen“, wiederholte Kade. „Da ist er ja schon lange weg. Hast du in letzter Zeit überhaupt von ihm gehört?“
„Nicht in letzter Zeit, nein. Warum?“ Am anderen Ende wurde sein Vater jetzt stumm vor Ungeduld.
„Worum genau geht es, Kade? Ein ganzes Jahr kein Wort von dir, und jetzt horchst du mich über deinen Bruder aus. Was willst du genau?“
„Vergiss es“, sagte Kade und bereute schlagartig, dass er überhaupt angerufen hatte. „Vergiss einfach, dass ich angerufen habe. Ich muss los.“
Er wartete die Antwort seines Vaters nicht ab, ehrlich gesagt konnte er darauf verzichten.
Ohne ein weiteres Wort beendete Kade den Anruf. Immer noch schwirrten ihm die grausigen Bilder im Kopf herum, die er vor Kurzem im Techniklabor gesehen hatte. Und es erschreckte ihn, dass sein Bruder womöglich schon seit Wochen verschwunden war und niemand wusste, wo er steckte.
Sein Bruder, der dieselbe dunkle, übersinnliche Gabe besaß wie Kade.
Dieselbe gefährlich verführerische Wildheit – diese gewalttätige Kraft, die so leicht außer Kontrolle geraten konnte. Und genau das war geschehen, wie Kade nun grimmig zugeben musste.
Mindestens einmal.
„Gottverdammt, Seth.
“
Er warf das Handy auf das Bett. Dann fuhr er mit einem wilden Knurren auf dem Absatz herum und rammte die Faust gegen die erstbeste Wand.
Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: EGMONT Lyx Verlag
ISBN: 978-3802583209
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
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