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Leben … oder Tod?
Die Worte drangen durch die Dunkelheit zu ihr, einzelne Silben ohne Zusammenhang. Das raue Kratzen einer ausdruckslosen, dumpfen Stimme, die in ihre bleierne Benommenheit drang und sie zwang, aufzuwachen, zuzuhören. Eine Wahl zu treffen.
Leben?
Oder Tod?
Sie stöhnte auf dem kalten Holzboden unter ihrer Wange, versuchte, die Stimme und die erbarmungslose Entscheidung, die sie forderte, aus ihrem Verstand auszublenden. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Worte, diese Frage hörte. Nicht das erste Mal in den endlosen Stunden, dass sie in der eisigen Stille ihres Blockhauses mühsam ein Augenlid gehoben und mitten in das schreckliche Gesicht eines Monsters gestarrt hatte.
Vampir.
„Entscheide dich“, flüsterte die Kreatur mit einem lang gezogenen Zischen. Sie kauerte über ihr, und sie selbst lag zusammengerollt und zitternd vor Kälte auf dem Boden beim kalten Kamin. Die Fangzähne der Bestie glänzten im Mondlicht, rasierklingenscharf und tödlich, ihre Spitzen immer noch mit frischem Blut verschmiert – ihrem eigenen. Die Kreatur hatte sie erst vor wenigen Minuten in den Hals gebissen.
Sie versuchte sich aufzurichten, konnte aber ihre geschwächten Muskeln nicht einmal dazu bringen, sich anzuspannen. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber ihr gelang nur ein raues Stöhnen.
Ihre Kehle fühlte sich trocken wie Asche an, ihre Zunge geschwollen und träge.
Draußen tobte ein Schneesturm, der Winter Alaskas heulte ihr bitter und gnadenlos in den Ohren. Niemand konnte ihre Schreie hören, selbst wenn sie es versucht hätte.
Der Vampir konnte sie immer noch sofort töten. Sie wusste nicht, warum er es nicht getan hatte. Sie wusste nicht, warum er sie drängte, auf eine Frage zu antworten, die sie sich die letzten vier Jahre lang fast täglich selbst gestellt hatte – seit dem Unfall, der ihr den Mann und ihre kleine Tochter genommen hatte.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, mit ihnen auf dieser vereisten Schnellstraße umgekommen zu sein? Dann wäre alles so viel leichter, so viel weniger schmerzhaft gewesen.
Jetzt konnte sie ein stummes Urteil in diesen unverwandten, unmenschlichen Augen spüren, die in der Dunkelheit auf sie gerichtet waren, blendend hell, die Pupillen geschlitzt wie die einer Katze. Der kahle Schädel und riesenhafte Körper der Kreatur waren von kunstvoll verschlungenen Hautmustern überzogen, und als sie sie beobachtete, schienen sie in wilden Farben zu pulsieren. Die Stille dehnte sich aus, während er sie geduldig musterte wie ein unter einem Glas gefangenes Insekt.
Als er jetzt wieder sprach, bewegten sich seine Lippen nicht.
Die Worte drangen wie Rauch in ihren Schädel ein und sanken tief in ihren Verstand.
Die Entscheidung liegt bei dir, Menschenfrau. Sag mir, was du willst: Leben oder Tod?
Sie wandte den Kopf ab und schloss die Augen, weigerte sich, die Kreatur anzusehen. Weigerte sich, Teil dieses seltsamen Spiels ohne Worte zu sein, das er offenbar mit ihr spielte. Er war ein Raubtier, das mit seiner zappelnden Beute spielte, während es sich überlegte, ob es sie verschonen wollte oder nicht.
Wie es endet, liegt an dir. Du entscheidest.
„Zur Hölle mit dir!“, murmelte sie undeutlich, ihre Stimme war belegt und heiser.
Eisenstarke Finger schlossen sich hart um ihr Kinn und rissen es herum, bis sie ihm wieder ins Gesicht sah. Er legte den Kopf schief, seine bernsteingelben Katzenaugen waren völlig emotionslos, als er keuchend Atem holte und dann durch seine blutverschmierten Lippen und Fänge sprach.
„Entscheide dich. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Keine Ungeduld lag in der knurrenden Stimme so nahe an ihrem Gesicht, nur mattes Desinteresse. Eine Apathie, die zu besagen schien, dass es ihm wirklich völlig egal war, wie die Antwort ausfiel.
Wut brandete in ihr auf. Sie wollte ihm sagen, er sollte es endlich hinter sich bringen und sie töten, wenn es das war, was er vorhatte. Er würde sie nicht dazu bringen, ihn anzubetteln, verdammt noch mal! Widerstand kochte in ihr, und ihre Wut schoss ihr die ausgedörrte Kehle hinauf und in ihre Zungenspitze.
Aber die Worte wollten nicht kommen.
Sie konnte ihn nicht um den Tod bitten, selbst wenn er ihr einziger Ausweg aus dem Schrecken war, der sie hier gefangen hielt.
Ihr einziger Fluchtweg vor ihrem Schmerz darüber, die beiden Menschen verloren zu haben, die sie am meisten liebte, und aus der sinnlosen Existenz, die ihr seither geblieben war.
Er löste seine Klauen von ihr und sah mit entnervender Ruhe zu, wie sie wieder auf den Boden sackte. Zeit verging, schien sich endlos auszudehnen. Sie kämpfte damit, ihre Stimme wiederzufinden, um das Wort auszusprechen, das sie entweder befreien oder verdammen würde. Und immer noch kauerte er neben ihr, wiegte sich auf den Fersen und schien mit schief gelegtem Kopf etwas abzuwägen.
Dann, zu ihrem Entsetzen und ihrer Verwirrung, streckte er den linken Arm aus und schlitzte sich mit einem klauen- artigen Fingernagel das Fleisch an seinem Handgelenk auf. Blut spritzte aus der tiefen Wunde, scharlachrote Tropfen regneten auf die hölzernen Dielenbretter unter ihm. Er fuhr mit dem Finger in den offenen Schnitt und bohrte ihn in die Muskeln und Sehnen seines Unterarms.
„Oh, Scheiße! Was machst du da?“ Ekel schüttelte sie. Ihre Instinkte schrien ihr die Warnung zu, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde – vielleicht noch schrecklicher als der Horror ihrer Gefangenschaft bei diesem albtraumhaften Wesen, das sich von ihrem Blut nährte. „Oh mein Gott, hör auf. Was zur Hölle machst du da?“
Er antwortete nicht, sah sie nicht einmal an, bis er etwas Winziges aus der Wunde in seinem Fleisch hervorgepult hatte und vorsichtig zwischen seinem blutigen Daumen und Zeigefinger hielt. Er blinzelte langsam, für einen kurzen Augenblick waren seine Augen hinter seinen Lidern verborgen, dann nagelte er sie wieder mit einem hypnotischen bernsteingelben Lichtstrahl fest.
„Leben oder Tod“, zischte die Kreatur und machte ihre unbarmherzigen Augen schmal. Er beugte sich zu ihr herüber, immer noch tropfte Blut aus der Wunde in seinem Unterarm, die er sich selbst beigebracht hatte. „Du musst dich entscheiden, sofort.“
Nein, dachte sie verzweifelt. Nein!
Irgendwo tief in ihr brandete Wut auf wie eine Springflut.
Sie konnte sie nicht unterdrücken, den Wutanfall nicht zurückhalten, der jetzt ihre wunde Kehle hinaufstieg und mit einem Furienschrei aus ihrem Mund explodierte.
„Nein!“ Sie hob die Fäuste und schlug auf die nackten Schultern der Kreatur ein, deren harte Haut nichts Menschliches hatte.
Sie schlug um sich und tobte, beschimpfte ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, und genoss jeden schmerzhaften Aufprall, wenn ihre Schläge seinen Körper trafen.
„Verdammt noch mal, nein! Fass mich nicht an!“
Wieder drosch sie mit den Fäusten auf ihn ein, wieder und wieder, und immer noch kroch er näher heran.
„Lass mich in Ruhe, verdammt! Hau ab!“
Ihre Fäuste trafen ihn an den Schultern und seitlich am Schädel, Schlag auf Schlag fiel, selbst dann noch, als eine schwere Dunkelheit sich über sie zu senken begann und sie einhüllte wie ein schweres, nasses Leichentuch, ihre Bewegungen träge machte und ihre Gedanken verwirrte.
Ihre Muskeln erschlafften und gehorchten ihr nicht mehr. Und immer noch schlug sie auf die Kreatur ein, jetzt langsam, als stünde sie bis zum Hals in einem schwarzen, teergefüllten Ozean.
„Nein“, stöhnte sie und schloss die Augen vor der Dunkelheit, die sie umgab. Sie sank tiefer, immer tiefer in eine geräuschlose, schwerelose, endlose Leere hinein. „Nein … lass mich los. Verdammt … lass mich los …“
Dann, als sie schon dachte, dass die Dunkelheit, die sie einhüllte, sie nie wieder freigeben würde, spürte sie etwas Kühles und Feuchtes an ihrer Stirn, und irgendwo über ihrem Kopf erklang unverständliches Stimmengewirr.
„Nein“, murmelte sie. „Nicht. Lass mich los …“
Mit allerletzter Kraft versetzte sie der Kreatur, die sie niedergedrückt hielt, einen weiteren Schlag. Harte Muskeln absorbierten ihn. Da klammerte sie sich an ihren Entführer, versuchte, ihn zu packen, zu kratzen. Verblüfft spürte sie weichen Stoff in den Händen. Nicht die klamme nackte Haut der Kreatur, die in ihr Haus eingebrochen war und sie gefangen hielt, sondern einen warmen Strickpullover.
In ihrem trägen Verstand feuerte ihre Verwirrung einen Warnschuss ab.
„Wer … nein, fass mich nicht an …“
„Jenna, hören Sie mich?“ Der tiefe, rollende Bariton, der so nah an ihrem Gesicht ertönte, war ihr irgendwie vertraut. Seltsam tröstlich.
Diese Stimme sprach etwas tief in ihr an und gab ihr etwas zum Festhalten, jetzt, wo nichts als dieses bodenlose dunkle Meer um sie war. Sie stöhnte, immer noch verloren, doch nun spürte sie einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass sie vielleicht überleben würde.
Die tiefe Stimme, nach der sie sich jetzt plötzlich verzweifelt sehnte, meldete sich wieder.
„Kade, Alex. Ich glaube, sie kommt zu sich. Jetzt wacht sie endlich auf.“
Sie holte Atem, schnappte heftig nach Luft.
„Lass mich los“, murmelte sie, unsicher, ob sie ihren Gefühlen trauen konnte. Unsicher, ob sie jetzt überhaupt irgendetwas trauen konnte.
„Oh Gott … bitte nicht … fass mich nicht an! Nicht …“
„Jenna?“ Über ihr, ganz in der Nähe, meldete sich eine Frauenstimme zu Wort. Sanfter Tonfall, nüchterne Besorgnis – das musste eine Freundin sein. „Jenna, Liebes, ich bin’s, Alex. Du bist jetzt okay. Verstehst du? Du bist in Sicherheit, das verspreche ich dir.“
Langsam registrierte sie, was diese Worte bedeuteten, und ein Gefühl von Erleichterung und Trost breitete sich in ihr aus. Ein Gefühl von Frieden, trotz des eisigen Entsetzens, das immer noch durch ihre Adern schoss.
Mit großer Anstrengung schaffte sie es, die Augen zu öffnen und die Benommenheit fortzublinzeln, die wie ein Schleier an ihren Sinnen klebte. Drei Gestalten umstanden sie, zwei davon riesig und eindeutig männlich, die dritte groß und schlank, eine Frau. Ihre beste Freundin, Alexandra Maguire.
„Was … wo bin …“
„Schsch“, beruhigte Alex sie. „Nicht reden. Es ist okay. Du bist an einem sicheren Ort, und du kommst wieder in Ordnung.“
Jenna blinzelte und versuchte sich zu konzentrieren. Langsam wurden die Gestalten an ihrem Bett zu Menschen. Als sie sich etwas aufsetzte, erkannte sie, dass ihre Fäuste immer noch den Wollpullover gepackt hielten, den der Größere der beiden Männer trug: der riesenhafte, grimmig wirkende Afroamerikaner mit dem kurz geschorenen Haar und den Schultern eines Rugbyspielers, dessen tiefe Stimme sie aus dem entsetzlichen Albtraum zurückgeholt hatte, in dem sie fast ertrunken wäre.
Auf den sie weiß Gott wie lange erbarmungslos ein- gedroschen hatte, weil sie ihn für die höllische Kreatur gehalten hatte.
„Hallo“, murmelte er, und sein breiter Mund kräuselte sich zu einem kleinen Lächeln. Durchdringende dunkelbraune Augen hielten ihren erwachenden Blick und schienen ihr tief in die Seele zu dringen. Das warme Lächeln wurde breiter, als sie ihren Todesgriff löste und sich wieder auf das Bett sinken ließ.
„Schön zu sehen, dass Sie sich für das Land der Lebenden entschieden haben.“
Jenna runzelte die Stirn über seine launige Bemerkung, denn sie erinnerte sich wieder an die schreckliche Entscheidung, die ihr Angreifer ihr aufgezwungen hatte. Sie stieß einen kehligen Seufzer aus und versuchte, ihre neue, unvertraute Umgebung in sich aufzunehmen. Ein wenig fühlte sie sich wie Dorothy, als sie nach ihrer Reise ins Zauberland Oz wieder zu Hause in Kansas aufwacht.
Nur dass ihr Land Oz scheinbar endlose Höllenqualen gewesen waren, ein schrecklicher, blutgetränkter Horrortrip.
Wenigstens der war nun vorbei.
Sie sah Alex an. „Wo sind wir?“
Ihre Freundin kam näher und drückte ihr ein kühles, feuchtes Tuch an die Stirn.
„Du bist in Sicherheit, Jenna. Hier kann dir niemand etwas tun.“
„Wo bin ich?“, fragte Jenna heftig und spürte eine seltsame Panik in sich aufsteigen. Obwohl sie in einem weichen Bett voller kuschliger Kissen und Decken lag, fielen ihr sofort die klinisch weißen Wände und die zahlreichen medizinischen Monitore und digitalen Messgeräte auf, die um sie herum im Raum standen.
„Was ist das hier, ein Krankenhaus?“
„Nicht direkt“, antwortete Alex. „Wir sind in Boston, in einer privaten Einrichtung. Das war momentan der sicherste Ort für dich. Und für uns alle.“
Boston? Private Einrichtung? Die vage Erklärung war alles andere als beruhigend.
„Wo ist Zach? Ich muss ihn sehen. Ich muss mit ihm reden.“
Bei der Erwähnung von Jennas Bruder erblasste Alex ein wenig. Sie schwieg lange, zu lange. Dann sah sie über die Schulter zu dem anderen Mann hinüber, der hinter ihr stand. Mit seinem stacheligen schwarzen Haarschopf, den durchdringenden silbernen Augen und kantigen Wangen- knochen kam er Jenna vage bekannt vor, und nun flüsterte Alex leise seinen Namen.
„Kade …“
„Ich gehe Gideon holen“, sagte er und streichelte ihr sanft über die Schulter. Dieser Kade war offensichtlich ein Freund von Alex. Ein sehr enger sogar. Er und Alex gehörten zusammen; selbst in ihrem benommenen Zustand konnte Jenna die tiefe Liebe spüren, die zwischen dem Paar knisterte. Als sich Kade von Alex löste, warf er dem anderen Mann einen raschen Blick zu.
„Brock, du hast hier alles im Griff, bis ich zurück bin?“
Der dunkle Kopf nickte grimmig. Doch als Jenna zu ihm
aufsah, sah der riesige Mann namens Brock sie mit derselben beruhigenden Sanftheit an wie vorhin, als sie an diesem seltsamen Ort die Augen geöffnet hatte.
Jenna schluckte an einem Angstklumpen, der ihr unaufhaltsam die Kehle hinaufstieg.
„Alex, sag mir, was hier los ist! Ich weiß, dass ich … angegriffen wurde. Und gebissen. Oh, Himmel … da war eine … eine Kreatur
. Sie ist irgendwie in mein Haus eingedrungen und hat mich angegriffen.“
Mit sorgenvoller Miene nahm Alex ihre Hand.
„Ich weiß, Liebes. Du musst Schreckliches durchgemacht haben. Aber jetzt bist du hier. Du hast es überlebt, Gott sei Dank.“
Jenna schloss die Augen, und ein wildes Schluchzen würgte sie.
„Alex, es … es hat von mir getrunken
.“
Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Brock näher ans Bett gekommen.
Er stand direkt neben ihr, streckte die Hand aus und
streichelte ihr mit den Fingerspitzen seitlich über den Hals. Seine großen Hände waren warm und unglaublich sanft, und Jenna durchströmte ein seltsames Gefühl. Seine zarte Liebkosung brachte ihr Frieden.
Ein Teil von ihr wollte protestieren, dass er sie einfach so anfasste, aber ein anderer Teil von ihr – ein hilfs- bedürftiger, verletzlicher Teil, den sie am liebsten gar nicht anerkennen, geschweige denn ihm nachgeben wollte, konnte den Trost nicht zurückweisen. Ihr hämmernder Puls beruhigte sich unter dem sanften Rhythmus seiner Finger, die leicht ihren Hals hinauf und hinunterstrichen.
„Besser?“, fragte er ruhig, als er seine Hand wegzog.
Sie stieß einen leisen Seufzer aus und nickte schwach. „Ich muss wirklich meinen Bruder sehen. Weiß Zach, dass ich hier bin?“
Alex presste die Lippen zusammen, und eine schmerzhafte Stille senkte sich über den Raum. „Jenna, Liebes, mach dir jetzt keine Sorgen über nichts und niemanden, okay? Du hast so viel durchgemacht. Konzentrieren wir uns doch erst mal darauf, dass es dir wieder besser geht. Zach würde das auch wollen.“
„Wo ist er, Alex?“ Obwohl Jenna ihre Dienstmarke und die Uniform der Staatspolizei von Alaska schon vor Jahren abgegeben hatte, wusste sie, wenn jemand um den heißen Brei herumredete. Sie merkte sofort, wenn jemand versuchte, andere zu schützen, um ihnen Schmerz zu ersparen. Und genau das tat Alex eben mit ihr.
„Was ist mit meinem Bruder passiert? Ich muss ihn sehen. Irgendwas ist mit ihm, Alex, ich seh’s dir doch an. Ich muss sofort raus hier.“
Wieder kam Brocks große, breite Hand auf sie zu, aber dieses Mal stieß Jenna sie weg. Es war nur ein leichter Klaps aus dem Handgelenk, aber seine Hand wurde zur Seite geschlagen, als hätte sie ihre ganze Kraft in die Bewegung gelegt.
„Was zum …?“ Brocks dunkle Augen wurden schmal, etwas
Helles und Gefährliches blitzte in ihnen auf und war schon wieder verschwunden, bevor sie völlig registriert hatte, was sie da sah.
Und im selben Augenblick kam Kade mit zwei anderen Männern ins Zimmer zurück. Einer war groß und schlank, athletisch gebaut, und sein zerzauster blonder Haarschopf und die randlose hellblaue Sonnenbrille, die ihm tief auf der Nase saß, ließen ihn ein wenig wie einen verrückten Wissenschaftler aussehen. Der andere, dunkelhaarig und mit grimmigem Gesicht, kam in das kleine Zimmer gestapft wie ein mittelalterlicher Herrscher, allein schon seine Präsenz gebot Aufmerksamkeit und schien schlagartig
alle Luft aus dem Raum zu saugen.
Jenna schluckte. Als ehemalige Polizeibeamtin war sie es gewohnt, Männer niederzustarren, die doppelt so groß waren wie sie. Sie war nie eine gewesen, die sich leicht einschüchtern ließ, aber jetzt, beim Anblick dieser mindestens vierhundertfünfzig Kilo Muskelmasse und schieren Kraft in Form dieser vier Männer, die jetzt ihr Bett umstanden – ganz zu schweigen von der definitiv tödlichen Ausstrahlung, die diese Typen so lässig zur Schau stellten wie ihre eigene Haut –, fiel es ihr verdammt schwer, ihren prüfenden, fast misstrauischen Blicken standzuhalten.
Wohin auch immer man sie gebracht hatte, und wer auch
immer diese Männer waren, zu denen Kade da gehörte, Jenna hatte allmählich den Eindruck, dass diese sogenannte private Einrichtung definitiv keine Klinik war. Und weiß Gott auch kein Countryclub.
„Sie ist erst ein paar Minuten wach?“, fragte der Blonde mit leichtem britischem Akzent. Als Brock und Alex nickten, ging er zum Bett hinüber.
„Hallo, Jenna. Ich bin Gideon. Das ist Lucan“, sagte er und zeigte auf seinen hünenhaften Begleiter, der neben Brock auf der anderen Seite des Raumes stand. Gideon sah sie stirnrunzelnd über seine Brillengläser an.
„Wie fühlen Sie sich?“
Sie starrte genauso finster zurück.
„Als hätte mich ein Bus überfahren. Und anscheinend hat er mich auch von Alaska bis nach Boston mitgeschleift.“
„Es ging nicht anders“, warf Lucan ein, und in seiner ruhigen Stimme klang ein Befehlston mit. Das war keiner, der andere um Erlaubnis fragte, er war hier der Anführer, gar keine Frage.
„Sie sind im Besitz von zu vielen Informationen und brauchten spezielle Behandlung und Beobachtung.“
Das klang alles andere als gut. „Wenn ich was brauche, dann ein Rückflugticket nach Alaska. Was immer dieses Monster mir angetan hat, ich habe es überlebt. Ich brauche keine Behandlung oder Beobachtung mehr, mir geht es hervorragend, und ich will nach Hause.“
„Nein“, konterte Lucan grimmig. „Es geht Ihnen nicht gut. Ganz und gar nicht, um genau zu sein.“
Obwohl sein Tonfall weder grausam noch bedrohlich gewesen war, durchfuhr sie ein eisiger Angststoß. Sie sah zu Alex und Brock hinüber – die beiden Menschen, die ihr erst vor wenigen Minuten versichert hatten, dass es ihr gut ging und sie in Sicherheit war. Die beiden Menschen, die tatsächlich geschafft hatten, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben, nachdem sie aus dem Albtraum erwacht war, den sie immer noch auf ihrer Zunge schmecken konnte. Jetzt sagten sie beide kein Wort.
Verletzt wandte sie den Blick ab und fragte sich angstvoll, was dieses Schweigen wirklich zu bedeuten hatte.
„Ich muss hier raus, ich will nach Hause.“
Als sie Anstalten machte, die Beine über den Bettrand zu schwingen und aufzustehen, war es nicht Lucan oder Brock und auch keiner der übrigen hünenhaften Männer, der sie daran hinderte, sondern Alex. Jennas beste Freundin kam und verstellte ihr den Weg, und ihr nüchterner Gesichts- ausdruck war effektiver als die bedrohliche Ausstrahlung der vier Muskelprotze im Zimmer.
„Jen, du musst mir jetzt zuhören, uns allen hier. Es gibt da gewisse Dinge, die du verstehen musst … darüber, was zu Hause in Alaska passiert ist. Und es gibt da auch Dinge, die wir immer noch herausfinden müssen und auf die vielleicht nur du die Antwort weißt.“
Jenna schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wovon du redest. Ich weiß nur, dass ich gefangen gehalten und angegriffen wurde – gebissen und ausgesaugt, verdammt – von etwas, das schlimmer war als ein Albtraum. Das Ding könnte immer noch da draußen in Harmony sein. Ich kann doch nicht tatenlos hier herumsitzen, während dieses Monster womöglich meinem Bruder oder anderen zu Hause dasselbe antut wie mir.“
„Das wird es nicht“, sagte Alex. „Die Kreatur, die dich angegriffen hat – der Älteste – ist tot. Er ist keine Gefahr mehr für Harmony, dafür haben Kade und die anderen schon gesorgt.“
Jenna spürte nur einen Anflug von Erleichterung, denn trotz der guten Nachrichten, dass ihr Angreifer tot war, nagte immer noch etwas Eisiges an ihrem Herzen.
„Und Zach? Wo ist mein Bruder?“
Alex warf einen Seitenblick auf Kade und Brock, die beide näher ans Bett gekommen waren. Alex schüttelte fast unmerklich den Kopf, ihre braunen Augen unter ihrem lockigen dunkelblonden Haar blickten traurig. „Oh Jenna … es tut mir so leid.“
Sie nahm die Worte ihrer Freundin in sich auf, weigerte sich, ihre Bedeutung zu erfassen. Ihr Bruder, ihr letzter lebender Verwandter, war tot?
„Nein.“ Sie schluckte, wollte es nicht wahrhaben. Kummer stieg ihr die Kehle hinauf, als Alex tröstend den Arm um sie legte.
Während die Trauer sie überrollte wie eine Welle, schossen auch Erinnerungen an die Oberfläche: Alex’ Stimme, die sie von außerhalb ihres Blockhauses rief, wo die Kreatur über Jenna in der Dunkelheit lauerte. Zachs wütende, abgehackte Schreie, in denen eine tödliche Drohung mitschwang – aber an wen gerichtet?
Damals war sie nicht sicher gewesen, und jetzt war sie nicht sicher, ob es überhaupt noch von Bedeutung war.
Draußen vor dem Blockhaus hatte ein Schuss gekracht, und keine Sekunde später war die Kreatur aufgesprungen, hatte die verwitterte hölzerne Haustür durchbrochen und war auf den verschneiten, bewaldeten Hof hinausgestürzt. Sie erinnerte sich an die heulenden Schreie ihres Bruders, an pures Entsetzen, gefolgt von einer schrecklichen Stille.
Und dann … nichts mehr.
Nur noch ein tiefer, unnatürlicher Schlaf und endlose Dunkelheit.
Sie wand sich unter Alex’ Arm hervor und schluckte ihren Kummer hinunter. Sie würde nicht zusammenbrechen, nicht vor all diesen Männern mit den grimmigen Gesichtern, die sie alle mit einer Mischung aus Mitleid und vorsichtigem, fragendem Interesse ansahen.
„Ich werde jetzt gehen“, sagte sie und fand nur mit Mühe ihre knallharte Copstimme, die auf Streife immer so gut funktioniert hatte. Sie stand auf und fühlte sich kaum wackelig auf den Beinen.
Als sie leicht zur Seite schwankte, streckte Brock die Hand aus, um sie zu stützen, aber sie hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden, bevor es zu dieser ungebetenen Hilfe kam. Sie brauchte weiß Gott keinen, der sie verhätschelte und ihr das Gefühl gab, schwach zu sein.
„Alex kann mir zeigen, wo hier der Ausgang ist.“
Lucan räusperte sich demonstrativ.
„Äh, ich fürchte, das ist momentan nicht möglich“, sagte Gideon mit seiner höflichen britischen Art, doch absolut unnachgiebig.
„Jetzt, wo Sie endlich wach und ansprechbar sind, brauchen wir Ihre Hilfe.“
„Meine Hilfe?“ Sie runzelte die Stirn. „Wobei denn?“
„Wir müssen herausfinden, was genau zwischen Ihnen und dem Ältesten vorgefallen ist. Insbesondere, ob er Ihnen irgendetwas mitgeteilt oder Ihnen auf andere Weise Informationen anvertraut hat.“
Sie schnaubte. „Tut mir leid. Ich habe diese Tortur schon einmal durchgemacht und habe weiß Gott nicht vor, das alles bis ins Detail noch mal für Sie durchzumachen. Nein, besten Dank. Ich will die ganze Sache so schnell wie möglich vergessen.“
„Es gibt da etwas, das Sie verstehen müssen, Jenna.“ Jetzt war es Brock, der sprach. Seine Stimme war leise und klang eher besorgt als fordernd.
„Bitte hören Sie uns an.“
Sie blieb stehen, unsicher geworden, und Gideon füllte die Stille ihrer Unentschlossenheit.
„Wir haben Sie beobachtet, seit Sie im Hauptquartier angekommen sind“, sagte er zu ihr und ging zu einem Tastenfeld hinüber, das in die Wand eingelassen war. Er tippte darauf etwas ein, und ein Flachbildschirm senkte sich von der Decke. Das Videobild, das darauf erschien, war offenbar eine Aufnahme von ihr, schlafend in ebendiesem Zimmer. Nichts Weltbewegendes, nur sie reglos im Bett.
„Das geht dreiundvierzig Stunden so, dann beginnt die Sache interessant zu werden.“
Er gab einen Befehl ein, der die Aufnahme bis zur genannten Stelle vorspulte. Jenna sah sich selbst auf dem Bildschirm und beobachtete skeptisch, wie ihre Video- version auf dem Bett plötzlich begann, sich immer heftiger zu bewegen und zu winden, bis sie schließlich wild um sich schlug. Sie murmelte etwas im Schlaf, gab eine Reihe von Lauten von sich – und obwohl sie nichts davon verstand, wusste sie irgendwie, dass es Worte und Sätze waren.
„Ich verstehe das nicht. Was ist da los?“
„Wir hofften, dass Sie uns das sagen können“, sagte Lucan.
„Erkennen Sie diese Sprache, die Sie da sprechen?“
„Sprache? Hört sich eher an wie sinnloser Blödsinn.“
„Sind Sie sicher?“ Er schien nicht überzeugt. „Gideon, das nächste Video.“
Eine andere Aufnahme füllte den Monitor aus, Bilder im Schnellvorlauf zur nächsten Episode, diese sogar noch verstörender als die erste. Völlig gebannt sah Jenna zu, wie ihr Körper auf dem Monitor wild zuckte und um sich trat, begleitet vom surrealen Soundtrack ihrer eigenen Stimme, die etwas sagte, das für sie absolut keinen Sinn ergab.
Sie war sonst keine, die sich leicht Angst machen ließ, aber in ihrer derzeitigen Situation waren diese Videoaufnahmen wie aus dem Irrenhaus so ziemlich das Allerletzte, was sie sehen wollte.
„Schalten Sie’s aus“, murmelte sie. „Bitte! Das reicht mir jetzt.“
„Wir haben Stunden mit solchem Videomaterial“, sagte Lucan, als Gideon das Video abschaltete. „Wir haben Sie die ganze Zeit rund um die Uhr überwacht.“
„Die ganze Zeit“, wiederholte Jenna. „Wie lange bin ich denn schon hier?“
„Fünf Tage“, antwortete Gideon. „Zuerst dachten wir, Sie wären in ein traumabedingtes Koma gefallen, aber Ihre Lebensfunktionen und Ihr Blutbild waren die ganze Zeit über normal. Vom medizinischen Standpunkt aus haben Sie nur …“
Er schien das richtige Wort zu suchen. „… geschlafen.“
„Fünf Tage lang“, wiederholte sie, um sicherzugehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. „Niemand schläft einfach so fünf Tage durch. Da muss was mit mir nicht in Ordnung sein. Herr im Himmel, nach allem, was passiert ist, sollte ich schleunigst zu einem Arzt, in ein richtiges Krankenhaus.“
Lucan schüttelte ernst den Kopf.
„Einen besseren Experten als Gideon können Sie an der Oberfläche nicht finden. Das ist keine Sache, mit der die Ärzte Ihrer Spezies umgehen können.“
„Oberfläche? Meiner Spezies? Was soll denn das nun wieder heißen?“
„Jenna“, sagte Alex und nahm ihre Hand. „Ich weiß, du musst völlig durcheinander und verängstigt sein. Mir ging es vor einer Weile genauso, obwohl ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen kann, was du durchgemacht hast. Aber du musst jetzt stark sein. Du musst uns vertrauen – mir
vertrauen, dass du wirklich in den bestmöglichen Händen bist. Wir helfen dir. Wir finden das raus, versprochen.“
„Rausfinden? Was wollt ihr rausfinden? Sag’s mir. Verdammt, ich muss wissen, was wirklich hier los ist!“
„Zeig ihr die Röntgenbilder“, murmelte Lucan Gideon zu, der mit einigen schnellen Tastatureingaben die Bilder auf dem Monitor aufrief.
„Dieses erste wurde nur Minuten nach Ihrer Ankunft hier im Hauptquartier gemacht“, erklärte er, als ein Schädel mit dem oberen Teil der Halswirbelsäule über ihnen aufleuchtete. Zwischen dem obersten Wirbel und der Schädelbasis erstrahlte ein wütend heller Fleck von der Größe eines Reiskornes.
Als sie endlich ihre Stimme wiederfand, zitterte sie ein wenig.
„Was ist das?“
„Das wissen wir nicht genau“, antwortete Gideon sanft. Er rief ein anderes Röntgenbild auf.
„Das hier wurde vierundzwanzig Stunden später gemacht. Wie Sie sehen können, beginnen dem Objekt winzige, fadenähnliche Fühler zu wachsen.“
Als Jenna hinsah, spürte sie, wie Alex’ Finger sich um ihre eigenen schlossen. Ein weiteres Bild erschien auf dem Monitor, und auf diesem war deutlich zu erkennen, dass die Fühler des hell leuchtenden Objektes begonnen hatten, sich mit ihrer Wirbelsäule zu verflechten.
„Oh Gott!“, flüsterte sie, hob die freie Hand und betastete die Haut in ihrem Nacken. Sie drückte fest zu und würgte fast, als sie dort die schwache Erhebung des Gegenstandes spürte, der in sie eingepflanzt war.
„Er hat das mit mir gemacht?“
Leben … oder Tod?
Du hast die Wahl, Jenna Tucker-Darrow
.
Jetzt erinnerte sie sich wieder an die Worte des Monsters und auch an die Wunde, die es sich selbst beigebracht hatte, das fast unsichtbar winzige Objekt, das es sich aus dem eigenen Fleisch gepult hatte.
Leben oder Tod?
Entscheide dich!
„Er hat mir etwas eingesetzt“, murmelte sie.
Der leichte Schwindel, den sie vor einigen Augenblicken gespürt hatte, kam nun heftig wieder. Ihre Knie gaben nach, doch bevor sie auf dem Boden landete, hatten Brock und Alex sie an den Armen genommen und stützten sie. So schrecklich es war, Jenna konnte die Augen nicht von dem Röntgenbild losreißen, das den Bildschirm über ihnen ausfüllte.
„Oh mein Gott!“, stöhnte sie. „Was zur Hölle hat dieses Monster bloß mit mir gemacht?“
Lucan starrte sie an. „Das ist es, was wir herausfinden wollen.“
Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont LYX Verlag
ISBN: 978-3802583834
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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