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Marguerite wusste nicht genau, was sie geweckt hatte. Vielleicht ein Geräusch. Vielleicht auch, dass der aus dem Bad ins Zimmer fallende Lichtschein für einen Moment unterbrochen worden war. Möglicherweise aber auch schlicht ihr Überlebensinstinkt.
So oder so war sie von einer Sekunde auf die nächste hellwach, riss die Augen auf und bemerkte eine dunkle Gestalt, die sich über sie beugte. Jemand stand neben ihrem Bett, so düster und unheilvoll wie der Tod. Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie sah, wie die Gestalt mit beiden Händen etwas in die Höhe hob. Sie erkannte die Geste aus ihrer Jugend wieder, als der Umgang mit Schwertern und ähnlichen Waffen noch an der Tagesordnung gewesen war. Instinktiv rollte sie sich zur Seite, während der Angreifer zum tödlichen Schlag ausholte.
Als Marguerite auf den Boden plumpste, hörte sie, wie die schwere Klinge die Matratze traf. Aus ihrem erschrockenen Aufschrei wurde ein frustrierter Fluch, weil sie sich im Bettzeug verheddert hatte. Da der Unbekannte mit seinem Schwert aufs Bett gestiegen war und erneut ausholte, gab sie den Kampf mit dem Laken auf und griff stattdessen nach der Nachttischlampe, um den Hieb zu blockieren.
Der Aufprall ließ einen dumpfen Schmerz durch ihren Arm schießen, und ein weiterer Schrei kam ihr über die Lippen. Sie wandte den Kopf ab von den Funken, die durch den Kontakt von Metall auf Metall durch die Dunkelheit sprühten, und dankte insgeheim dafür, dass das Dorchester
ein Fünf-Sterne-Hotel mit hochwertigen Nachttischlampen war, die einem Schwerthieb standhielten.
„Marguerite?“ Dem Ruf folgte ein Klopfen an die Verbindungstür zum Rest der Suite. Sie und ihr Angreifer hielten gleichzeitig inne und sahen zur Tür. Ihr Angreifer musste sich in dem Moment entschieden haben, es nicht mit zweien ihrer Art aufzunehmen, also sprang er vom Bett und eilte zur Balkontür.
„So nicht, Freundchen“, murmelte sie, ließ die Lampe los und rappelte sich auf. Sie würde ihren Angreifer nicht davonkommen lassen, nur damit der später zurückkehren und einen erneuten Anschlag auf ihr Leben verüben konnte. Dummerweise hatte sie in ihrem Eifer aber das um ihre Beine gewickelte Bettlaken vergessen, sodass sie noch keinen Schritt getan hatte, als sie der Länge nach hin- schlug.
Sie biss die Zähne zusammen, um den Schmerz zu unter- drücken, und schaute zur Balkontür, wo soeben die Vorhänge aufgerissen wurden. Sonnenschein fiel durchs Fenster in den Raum, und Marguerite sah, dass ihr Angreifer komplett in Schwarz gekleidet war. Stiefel, Hose, langärmeliges Hemd – alles in Schwarz. Und dazu auch noch ein schwarzes Cape und schwarze Handschuhe.
Plötzlich drehte er sich zu ihr um und ließ sie erkennen, dass sein Gesicht hinter einer schwarzen Maske ver- borgen war.
Dann trat er hinaus auf den Balkon und ließ die Vorhänge genau in dem Moment zufallen, als die Schlafzimmertür aufflog.
„Marguerite?“ Mit sorgenvoller Miene kam Tiny zu ihr gelaufen.
Sie fuchtelte wild mit den Händen herum und zeigte auf die Balkontür.
„Er entwischt uns!“
Tiny stellte keine Fragen, sondern änderte prompt seine Richtung und eilte zum Balkon. Marguerite schaute ihm verdutzt nach, da ihr bewusst geworden war, dass der Mann nichts weiter trug als eine Boxershorts aus gold- farbener Seide, auf deren Rückseite ein großes rotes Herz prangte. Vor Erstaunen bekam sie den Mund nicht mehr zu, aber als Tiny zwischen den wallenden Vorhängen verschwand, stockte ihr vor Sorge auf einmal der Atem. Sie hatte einen unbewaffneten und fast nackten Mann auf ihren fliehenden Angreifer gehetzt – der ein Schwert besaß!
Fluchend konzentrierte sie sich darauf, ihre Beine aus dem Laken zu befreien. Jetzt, da ihr Leben nicht länger in Gefahr war, stellte das natürlich überhaupt kein Problem mehr dar.
Aufgebracht lief sie ums Bett herum, stürmte zwischen den Vorhängen hindurch und … stieß mit Tiny zusammen, der soeben ins Zimmer zurückkam.
„Vorsicht, es ist helllichter Tag!“, ermahnte er sie, umfasste ihre Oberarme und schob sie vor sich her ins Zimmer.
„Hast du ihn gesehen? Wo ist er hin?“, fragte Marguerite aufgeregt und versuchte, um den breitschultrigen Oberkörper herumzusehen, während Tiny die Balkontür schloss und die Vorhänge zuzog. Durch seine Position wurde der größte Teil des Sonnenlichts von ihr abgehalten, gleichzeitig konnte sie aber auch so gut wie nichts erkennen.
„Ich habe niemanden gesehen. Bist du dir sicher, dass du nicht bloß geträu…?“
Mitten im Satz brach er ab, da er sie im Schein des wenigen Sonnenlichts betrachten konnte, das sich zwischen den Vorhängen hindurch den Weg ins Zimmer bahnte.
Marguerite stutzte angesichts seines seltsamen Blicks, den er über ihr kurzes rosa Nachthemd und dann weiter bis zu ihren rot lackierten Zehennägeln wandern ließ. Und der dann genauso langsam wieder nach oben zurückkehrte und ihre wohlgeformten nackten Beine ebenso erfasste wie ihre Brüste, von denen wegen des großzügigen Ausschnitts zu viel zu sehen war.
Dort blieb er schließlich auch hängen, wobei seine Miene einen sorgenvollen Ausdruck annahm.
„Du bist verletzt“, sagte Tiny, nahm ihr Kinn und drückte es sanft nach oben, um ihren Hals besser betrachten zu können.
Leise fluchend zog er seine Hand zurück.
„Was ist?“, fragte sie, als er sie am Arm fasste und mit ihr durch den Raum hastete.
Sie sah an sich herab. Blut lief auf ihren Busen und wurde dort vom Stoff ihres Nachthemds aufgesogen. Verwundert tastete sie ihren Hals ab, bis sie eine Schnittwunde entdeckte. Offenbar hatte das Schwert sie doch noch erwischt, als sie zur Seite aus dem Bett gerollt war.
„Sag mir, was passiert ist!“, forderte Tiny sie auf und ging mit ihr ins Badezimmer.
„Ich bin aufgewacht, und da stand neben meinem Bett ein Mann mit einem Schwert in der Hand. Er wollte damit nach mir schlagen, und ich habe mich weggedreht, um mich auf den Fußboden zu schmeißen.“
Sie warf einen Blick zurück ins Schlafzimmer, während Tiny einen Waschlappen nahm und ihn unter den Wasserhahn hielt. Das Adrenalin jagte noch immer durch ihren Körper, und mit einem Mal wurde sie von großer Unruhe erfasst. Sie wollte den Mann verfolgen, der sie im Schlaf angegriffen hatte.
„Nächstes Mal solltest du dich schneller wegdrehen“, meinte Tiny und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er damit begann, das Blut wegzuwischen. Mit finsterer Miene ging er dieser Tätigkeit nach und wurde erst ruhiger, als er das wahre Ausmaß ihrer Verletzung feststellen konnte.
„Ganz so schlimm ist es nicht. Sieht nicht nach einem tiefen Schnitt aus. Die Haut wurde wohl nur angeritzt.“
„Das wird schnell verheilen“, erwiderte sie beiläufig und kehrte an Tiny vorbei zurück ins Schlafzimmer. Sie war nicht daran gewöhnt, dass sich jemand um sie kümmerte, und es behagte ihr auch nicht.
Sie teilte die Vorhänge und schaute nach draußen auf den sonnenüberfluteten Balkon. Niemand hielt sich mehr dort auf, und sie konnte am Geländer auch kein Seil oder etwas anderes entdecken, was erklärt hätte, wie der Angreifer es bis hier oben schaffen konnte.
Mürrisch betrachtete sie die Skyline. Sie waren im siebten und damit obersten Stockwerk, also musste der Unbekannte vom Dach auf den Balkon gestiegen sein.
„Er wollte dir den Kopf abschlagen.“
Bei dieser Bemerkung ließ Marguerite die Vorhänge los und drehte sich um. Tiny stand über ihr Bett gebeugt und begutachtete den Schnitt in der Matratze.
Allmählich kam wieder Ordnung in ihre Gedanken. Der Angreifer hatte ein Schwert benutzt, also handelte es sich bei ihm eindeutig um einen Unsterblichen. Sterbliche töteten sich gegenseitig für gewöhnlich mit Schusswaffen oder Messern.
Wenn sie es auf einen Unsterblichen abgesehen hatten, griffen sie zur klassischen Methode: dem Pflock. Eine Enthauptung mittels Schwerthieb deutete dagegen so gut wie sicher auf einen Unsterblichen als Täter hin.
„Hast du hier in England irgendwelche Feinde, von denen ich nichts weiß?“, fragte Tiny plötzlich und richtete sich auf.
„Das muss mit dem Fall zusammenhängen“, entgegnete sie kopfschüttelnd.
Zweifelnd zog er eine Augenbraue hoch. „Wieso? Wir haben bislang noch gar nichts herausgefunden.“
Marguerite verzog den Mund. Dass sie bislang nicht die kleinste Information über ihren Fall zutage gefördert hatte, gefiel ihr gar nicht. Sie war hergekommen, um Christian Notte zu helfen, einem fünfhundert Jahre alten Unsterblichen, der die Identität seiner verstorbenen leiblichen Mutter in Erfahrung bringen wollte. Anfangs hatte sich das nach einem leichten Auftrag angehört, doch inzwischen war das Gegenteil eingetreten.
Seit Christians Geburt war viel geschehen, und er hatte ihnen nur wenige Informationen liefern können. Sie wussten, er war in England zur Welt gekommen, und sein Vater war mit ihm zwei Tage nach seiner Geburt ins heimische Italien zurückgekehrt.
Tiny und Marguerite hatten mit ihrer Suche in England begonnen und die letzten drei Wochen damit zugebracht, staubige Kirchenarchive zu durchsuchen, ob irgendwo seine Geburt verzeichnet war und ob zumindest der Name Notte auftauchte. Sie begannen im südlichsten Zipfel des Landes und arbeiteten sich in Richtung Norden durch, bis sie nach Berwick-upon-Tweed gelangt waren. Dort kam Tiny schließlich auf die Idee, Christian erst noch einmal gründlich zu befragen, ob er nicht irgendeinen Hinweis liefern konnte, der es ihnen ermöglichte, ihre Suche zumindest ein klein wenig einzugrenzen, wenigstens auf eine Hälfte des Landes.
Mit diesem Vorschlag war Marguerite sofort einverstanden gewesen.
Eigentlich hatte sie Detektivarbeit für eine interessante Beschäftigung gehalten, doch inzwischen zweifelte sie daran, ob ihre Entscheidung wirklich so gute Karriere- aussichten mit sich brachte. Es änderte nichts an ihrer Zusage, Christian zu helfen und die Identität seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Marguerite würde ihr Bestes tun, um diesen Auftrag zu erledigen.
Tiny hatte Christian in Italien angerufen und ein Treffen in London vereinbart. Anstatt bis zum folgenden Morgen zu warten, um mit dem nächsten Zug am helllichten Tag nach London zu fahren, hatte Marguerite noch in der Nacht einen Mietwagen genommen und war vor Sonnenaufgang in London eingetroffen.
Christian war mit seinen Cousins Dante und Tommaso bereits angekommen und hatte im Hotel eingecheckt.
Sie hatten sich nur kurz unterhalten und ein ausführliches Treffen für den nächsten Abend vereinbart, dann war jeder von ihnen auf sein Zimmer gegangen.
„Nein, wir haben tatsächlich bislang nichts heraus- gefunden“, stimmte sie Tiny zu, schürzte die Lippen und fügte hinzu: „Aber ich wüsste keinen anderen Grund, warum mich jemand umbringen sollte. Vielleicht gefällt es jemanden ja nicht, dass wir überhaupt Nachforschungen anstellen.“
Tiny schien das nicht zu überzeugen, von daher erstaunte es sie nicht, als er sorgenvoll vorschlug: „Vielleicht sollten wir die Zimmer tauschen. Oder ein anderes Hotel nehmen.“
Ihr gefiel der Gedanke nicht, sich anziehen, die Koffer packen und umziehen zu müssen. Plötzlich fragte er: „Das war doch ein Unsterblicher, oder nicht?“
Erschrocken sah sie ihm ins Gesicht, obwohl sie seine Schlussfolgerung nicht hätte überraschen dürfen. Sie selbst war noch ein Neuling in der Detektivbranche, aber Tiny war ein alter Hase.
Dass er den Zusammenhang erkennen würde, war nur eine Frage der Zeit gewesen.
Seufzend fuhr sie sich durchs Haar und nickte: „Ja, davon bin ich überzeugt. Und wir sollten tatsächlich in ein anderes Hotel umziehen und einen anderen Namen benutzen. Aber nicht heute Morgen“, fügte sie entschieden hinzu.
„Heute wird er ganz sicher nicht noch einen Versuch wagen, und ich bin hundemüde.“
Tiny nickte. „Sag mal, hattest du die Balkontür offen gelassen?“
„Nein.“
„War sie verschlossen gewesen?“
Nach kurzem Zögern zuckte sie mit den Schultern. „Ich habe sie nicht aufgemacht, als ich reinkam. Also kann ich dazu überhaupt nichts sagen.“
Bei ihrer Antwort runzelte er nachdenklich die Stirn.
„Du wirst aber nicht weiter hier schlafen. Du kannst mein Bett haben.“
„Du
wirst aber auch nicht hier schlafen“, stellte sie klar.
„Richtig“, stimmte er ihr zu. „Ich werde in deiner Nähe bleiben, bis wir umgezogen sind. Jackie und Vincent würden mir das nie verzeihen, wenn ich nicht verhindere, dass dich jemand umbringt.“
Sie lächelte flüchtig, als er ihren Neffen Vincent Argeneau und dessen Lebensgefährtin Jackie Morrisey erwähnte. Ihr gehörte die Morrisey Detective Agency, womit sie Tinys Boss war … und damit nun wohl auch Marguerites Boss.
„Ich werde auf der Bank am Fenster ein Nickerchen machen, und du schläfst in meinem Bett“, entschied er.
„Da wirst du kein Auge zumachen“, widersprach sie und ging zur Verbindungstür ins Nebenzimmer.
„Du kannst dich zu mir ins Bett legen.“
Schnaubend folgte er ihr nach nebenan.
„Als ob ich da Schlaf finden würde.“
Grinsend warf Marguerite einen Blick über die Schulter und ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte, als sie vor ihm her ins zweite Schlafzimmer ging. Sie musste nicht erst seine Gedanken lesen, um zu wissen, dass er sie für attraktiv hielt. Das war ihr schon seit dem Beginn ihrer Freundschaft klar gewesen, außerdem fand sie ihn auch attraktiv. Er war groß, gut aussehend, er besaß die Statur eines Linebackers und hatte eine breite Brust, mit der sich eine Frau stundenlang beschäftigen konnte. Und als würde das alles nicht genügen, konnte er ganz im Gegensatz zu Marguerite auch noch kochen. Der Mann war so gut wie perfekt,
allerdings eben nur so gut wie. Es gab ein Problem, und das war eins von der besonders großen Art: Sie konnte ihn lesen und ihn kontrollieren. Nach siebenhundert Jahren Ehe mit einem Mann, der in der Lage war, sie zu lesen und zu kontrollieren – was er auch bei jeder Gelegenheit schamlos ausgenutzt hatte –, wollte sie so etwas keinem anderen Menschen antun.
„Du bist vor mir sicher“, versprach sie ernst, während sie auf sein Bett zusteuerte.
„Marguerite, Schatz, kein Mann ist vor einer Frau sicher, die so aussieht wie du“, gab er zurück und schloss die Tür hinter sich. Er sah ihr zu, wie sie sich hinlegte, und fügte hinzu: „Vor allem, wenn diese Frau auch noch ein solches Nachthemd trägt. Aus was besteht das eigentlich? Einem Taschentuch und einem Stück Spitze?“
Marguerite sah an sich herab. Dieses Nachthemd war gar nicht so freizügig. Oder zumindest nicht so freizügig wie einige andere in ihrem Wäscheschrank. Sie mochte hübsche Dessous, weil sie sich darin sexy fühlte. Singles wie sie mussten schließlich irgendwas dafür tun, damit sie sich sexy fühlen konnten. Und abgesehen davon hatte sie nicht damit gerechnet, dass es jemand zu sehen bekommen würde.
Sie blickte zu Tiny, der tatsächlich versuchte, sich auf die Sitzbank am Fenster zu quetschen. Da er sich dort aber nicht ausstrecken konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sitzen.
Er lehnte sich gegen die Wand an einer Seite, verschränkte die Arme vor der Brust und machte eine finstere Miene, während er ihrem Blick auswich.
„So wirst du überhaupt nicht schlafen können“, seufzte Marguerite.
„Na ja, so viel Schlaf brauche ich auch nicht“, brummte er, sah sie kurz an und schaute gleich wieder weg.
Marguerite musterte ihn einen Moment lang, schüttelte den Kopf und machte es sich auf dem riesigen Bett bequem. Sie schloss die Augen, um einzuschlafen, doch Sekunden später schlug sie wieder auf, starrte an die Decke und ließ ihren Blick zu Tiny wandern. Das war ja albern. Auf diesem Platz konnte er nicht schlafen, und sie würde ebenfalls keinen Schlaf finden, weil sie wusste, dass er kein Auge zubekommen konnte. Außerdem war das Bett wirklich groß genug für sie beide, ohne dass sie sich ins Gehege kommen mussten.
Die Augen leicht zusammengekniffen, gab Marguerite der Versuchung nach und drang in seine Gedanken ein. Es bedeutete für sie keine Anstrengung, den Mann zu kontrollieren und ihn dazu zu veranlassen aufzustehen, zum Bett zu kommen und sich zu ihr zu legen. Dann ließ sie ihn einschlafen und zog sich leise seufzend aus seinem Geist zurück.
Eine Zeit lang betrachtete sie ihn, wie er neben ihr lag, dann machte sie die Nachttischlampe aus, zog die Bettdecke über sich und schloss die Augen … um sie ein paar Sekunden später wieder aufzureißen. Mit ernster Miene stierte sie auf die Umrisse des Mannes, da ihr soeben klar geworden war, was sie da eigentlich getan hatte. Es war genau das, was ihr so zuwider gewesen war, wenn ihr Ehemann ihr das antat. Sie hatte ihn so handeln lassen, wie sie es für das Beste hielt, ohne zu respektieren, was er eigentlich wollte.
Sie versuchte, sich damit zu rechtfertigen, dass es bereits spät war und sie beide müde waren. Im Bett würde er natürlich besser schlafen, doch diese Einsicht änderte nichts an ihren Schuldgefühlen. Tiny war nicht der erste Sterbliche, den sie in siebenhundert Jahren kontrolliert hatte, und für gewöhnlich zerbrach sie sich darüber auch nicht den Kopf. Aber Tiny war ein Freund, und unter Freunden tat man so etwas nicht … ganz so wie ihr Ehemann Jean Claude sie niemals hätte kontrollieren sollen.
Marguerite verzog den Mund und setzte sich auf, schaltete das Licht ein und stieß Tiny an, um ihn aufzuwecken. Im nächsten Moment war er wach.
„Wa…was ist passiert?“ Aufgebracht sah er sich um, dann erkannte er, dass er neben ihr im Bett lag. „Was denn?“, fragte er verwirrt.
„Ich habe dich ins Bett kommen lassen, damit du bequemer schlafen kannst, aber dann ist mir klar geworden, dass es nicht richtig von mir war, dich zu kontrollieren. Also … wenn du lieber am Fenster schlafen möchtest …“ Sie ließ den Satz unvollendet und zuckte die Schultern.
Zuerst war er nur verwirrt, aber dann zeichnete sich Verärgerung auf seinem Gesicht ab.
„Du hast mich kontrolliert?“
Sie biss sich auf die Lippe und nickte beschämt.
„Es tut mir leid. Ich habe eingesehen, dass es falsch war, deshalb habe ich dich ja auch geweckt.“
Tinys Wut verrauchte gleich wieder. Als er zum Fenster sah, machte er nicht den Eindruck, als sei er besonders versessen darauf, dorthin zurückzukehren. Trotzdem setzte er sich hin, um aufzustehen, als er bemerkte, dass er unter der Tagesdecke, aber auf der Bettdecke lag.
„Ich dachte mir, wenn du vor mir aufwachst, fühlst du dich besser, wenn du siehst, dass ich unter der Decke liege und du darauf geschlafen hast“, erklärte sie vorsichtig.
„Das tue ich allerdings“, bestätigte er und entspannte sich ein wenig.
„Ich schätze, wenn wir so schlafen, ist es okay. Aber kontrollier mich nicht noch einmal! Wir sind Partner, Marguerite.
Wir sind gleichberechtigt. Ich muss dir vertrauen können, und das geht nicht, wenn du mich kontrollierst, sobald ich nicht deiner Meinung bin.“
„Das werde ich nicht tun“, versprach sie ihm.
Tiny nickte und legte sich wieder hin, und Marguerite schaltete die Nachttischlampe aus. Dann lagen sie eine Weile im Dunkeln, bis Tiny einen Seufzer ausstieß und sagte: „Jetzt bin ich hellwach. Meinst du, du könntest mich einschlafen lassen?“
Überrascht drehte sie sich zu ihm um. „Du willst, dass ich dich kontrolliere?“
„Nur, damit ich schlafen kann.“
Ihre Schuldgefühle lösten sich in Wohlgefallen auf, und sie drang in seinen Geist ein, damit er wieder einschlief. Schließlich ließ sie lächelnd ihren Kopf aufs Kissen sinken. Sie konnte Tiny leiden. Er war ein guter Mann. Wirklich zu schade, dass sie ihn lesen und kontrollieren konnte. Als Lebensgefährte hätte er eine Frau glücklich machen können.
Vielleicht sollte ich für ihn eine Lebensgefährtin suchen, überlegte Marguerite. Es wäre sicher schön für Jackie, die Ehefrau von Marguerites Neffen, wenn ihr guter Freund auch in Zukunft bei ihr sein würde. Sie wusste, die Frau würde am Boden zerstört sein, wenn er starb – ob das nun nächste Woche geschah oder irgendwann in vielen Jahren, wenn er ein alter Mann war.
Marguerite schloss die Augen und ließ eine Unsterbliche nach der anderen im Geiste vorbeiziehen, von denen sie wusste, sie könnten zu Tiny passen. Er war ein großer, liebevoller Mann, ein sanftmütiger Riese. Er verdiente eine genauso liebevolle Frau, die ihn zu schätzen wusste. Mitten in ihren Überlegungen schlief sie schließlich ein.
Julius Notte betrachtete verwundert das leere Bett. Es war noch nicht mal fünf Uhr, also mindestens eine Stunde bis zum Sonnenuntergang.
Marguerite Argeneau hätte in diesem Bett liegen sollen, doch sie war nicht da. Er wusste, er war im richtigen Zimmer.
Der Parfümduft – ein süßliches, intensives Aroma wie Obst zur Erntezeit – verriet ihm, dass es ihr Zimmer war. Und irgendwann in den letzten Stunden hatte sie das Bett benutzt, das konnte man nicht übersehen, dennoch war das Zimmer jetzt verlassen.
Grübelnd schaute er sich um und nahm das herrschende Durcheinander in sich auf. Bettlaken und Tagesdecke lagen auf dem Boden, daneben eine demolierte Tischlampe, außerdem Scherben eines Glases, das vermutlich auf dem Nachttisch gestanden hatte.
Sorge verdrängte seine Verärgerung, sein Instinkt dirigierte ihn zu der Tür, die zum zweiten Schlafzimmer der Suite führte.
Dort sollte eigentlich der Privatdetektiv Tiny McGraw schlafen, doch als er sich der Tür näherte und tief durch die Nase einatmete, nahm er wieder ihr Parfüm wahr. Marguerite war nebenan, oder zumindest hatte sie sich dort eine Zeit lang aufgehalten. Julius öffnete die Tür und trat ein, ohne ein Geräusch zu verursachen.
Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont LYX Verlag
ISBN: 978-3802583735
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2010
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