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Alles war in Ordnung, bis dieses Foto in meinem Brief- kasten auftauchte.
Eigentlich stimmt das nicht. Nichts war mehr in Ordnung, seit meine Schwester sich in Luft aufgelöst hatte.
Offenbar konnten Menschen so vollständig verschwinden, dass man keine Spur mehr von ihnen fand. Ist das hier nicht Amerika? Das Land der großen Freiheit, die Heimat der Überwachungskameras?
Der Große Bruder beobachtet einen öfter als man vermutet. Unglücklicherweise hatte er gerade bei der
Arbeit gepennt, als Katie sich unentschuldigt abgesetzt hatte.
Drei Jahre lang war trotz all der Bilder, die ich an Laternen- pfähle oder Ladenfenster geklebt und auf sämtlichen Internetseiten über vermisste Personen eingestellt hatte, nicht der leiseste Hinweis auf sie aufgetaucht.
Irgendwann war ich in mein Büro gegangen, hatte angefangen, meinen Stapel Post durchzusehen, dabei einen braunen Din-A4-Umschlag geöffnet – und voilà! Da war sie, abgelichtet vor einem Gebäude mit Namen Rising Moon
.
Es hatte mich keine drei Minuten gekostet zu eruieren, dass es sich dabei um einen Jazzclub in New Orleans handelte. Ich stopfte ein paar Klamotten sowie meine Zahnbürste in einen Rucksack und nahm den nächsten Flieger.
Ein paar Stunden später stand ich auf einer Straße namens Frenchmen, lauschte den Jazzrhythmen, die aus einer offenen Tür wummerten, und staunte darüber, wie es Mitte Februar so verdammt heiß sein konnte. Als ich in Phila- delphia an Bord gegangen war, waren fette Schneeflocken vom Himmel gestoben.
Ich war noch nie in New Orleans gewesen, hatte nie den Drang verspürt. Ich war kein feierwütiger Typ; ich würde nicht hierher passen. Allerdings hatte ich auch nicht vor zu bleiben.
Ich hatte vor, Katie aufzuspüren, und dann nichts wie weg.
Ich zwang mich, durch die Tür zu treten und den Rauch, den Lärm und die vielen Menschen einfach zu ignorieren. Das Innere war schäbig und eng, kein Vergleich zu den großen, luftigen Gaststätten zu Hause, in denen es massenhaft Tische und reichlich Platz für Billard, Dart und anderen Zeitvertreib gab. Im Rising Moon
drehte sich alles um die Musik.
Ich habe keine Ahnung von Jazz. Gebt mir Aerosmith, ein bisschen Guns N’Roses, an einem echt harten Tag meinetwegen sogar Ozzie. Aber Jazz? Sein Zauber hatte sich mir nie erschlossen.
Ein Blick auf den Saxophonisten in der Nähe des Eingangs- bereichs genügte, um mich das mit dem Zauber noch mal überdenken zu lassen.
Der Mann war groß und schlank, und alles an ihm – seine Haare, seine Kleidung, selbst die Brille, die seine Augen verdeckte – war dunkel.
Ich spähte zur Decke. Nicht ein einziger Strahler weit und breit.
„Eigenartig“, murmelte ich und erntete damit ein paar
missbilligende Blicke seitens der Zuhörer, die den Mann von allen Seiten umringten.
Es gab keine Bühne. Er stand einfach in einer Ecke und spielte.
Das Mikrofon, das Klavier und das unbesetzte Schlagzeug ließen mich zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich die Ecke die Bühne war.
Er hielt sein Saxophon, als wäre es das Einzige, was er je geliebt hatte. Obwohl es mich in den Fingern juckte, Katies Foto allem, was zwei Beine hatte, unter die Nase zu halten, konnte ich nicht anders, als gebannt diesem Fremden und seiner Musik zuzusehen und zuzuhören.
Trotz der Sonnenbrille, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte, erkannte ich, dass er sehr attraktiv war. Er trug sein Haar kurz geschoren, wodurch die ganze Aufmerksamkeit auf die scharfe Kontur seiner Wangenknochen und den teuflisch penibel gestutzten Oberlippen- und Kinnbart gelenkt wurde.
Seine Hände waren langgliedrig und elegant – es waren die eines Aristokraten in einer Welt, die für derartige Charakteristika längst jeden Sinn verloren hatte. Er schien Europäer zu sein, was mir bei genauerer Überlegung nicht wirklich absurd vorkam.
New Orleans war schon immer mehr ein internationales als ein rein amerikanisches Pflaster gewesen. Eine Stadt, wo das Leben in gemächlicheren Bahnen verlief, Musik und Tanzen Bestandteil jedes Tages und jeder Nacht waren, wo französische Worte ebenso selbstverständlich gemurmelt wurden wie Flüche. Kein Wunder, dass ich mich seit dem Moment, als ich aus dem Flieger gestiegen war, nervös und unwohl fühlte. Ich war ein Landei und würde das auch immer bleiben.
Das Stück, was auch immer es war, verklang; die letzten Töne trudelten der hohen Decke entgegen und schwebten davon. Die gebannte Stimmung, die über den Zuhörern gelegen hatte, löste sich auf, als sie klatschten, miteinander zu plaudern begannen und ihre Gläser an die Lippen hoben.
„Vielen Dank, werte Damen und Herren.“ Seine Stimme war nicht weniger betörend als seine Hände: tief, melodiös und mit einem Akzent unterlegt, den ich nicht einordnen konnte. Vielleicht spanisch, mit einer Prise Süden und einem Hauch Norden darin und dann noch etwas Unergründlichem dazwischen.
Der Barkeeper, ein großer, muskulöser Schwarzer mit gespenstisch hellbraunen Augen und unwahrscheinlich kurzem Haar, tauchte an meinem Ellbogen auf.
„Was kann ich Ihnen bringen?“
Fast hätte ich den Kopf geschüttelt, um meine von den Händen und der Stimme des Saxophonisten ausgehende idiotische Faszination zu vertreiben. Ich war keine Frau, die wegen irgendeines Kerls aus dem Häuschen geriet, und schon gar nicht wegen seines Aussehens. Wäre mir gutes Aussehen wichtig, würde ich in echten Schwierigkeiten stecken. Mein Gesicht war keineswegs dazu angetan, jemanden zu einem Sonett zu inspirieren.
Ich legte Katies Foto auf das polierte Holz der Theke.
„Haben Sie sie schon mal gesehen?“
„Sind Sie ein Cop?“ Der Akzent des Barkeepers war purer Süden.
„Nein.“ Ich hätte ihm meine Privatdetektivlizenz zeigen können, aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass ich leichter an Informationen herankam, wenn ich ein persönliches Interesse vorgab.
„Das ist meine Schwester. Sie war achtzehn, als sie verschwand. Drei Jahre ist das her.“
„Oh.“ Sein Gesichtsausdruck wechselte augenblicklich von argwöhnisch zu mitfühlend. „Das ist wirklich schlimm.“
Ich konnte sein Alter nicht einschätzen – vielleicht dreißig, vielleicht auch fünfzig. Er schien gleichzeitig Teil dieser Bar zu sein und doch irgendwie nicht hierher zu gehören. Muskeln wölbten sich unter seinem dunklen T-Shirt, und die Hand, mit der er nach dem Schnappschuss griff, maß das Doppelte von meiner.
Er starrte das Foto so lange an, dass ich mich schon zu fragen begann, ob seine Tigeraugen ein paar dicke Brillengläser benötigten.
Schließlich legte er es zurück auf die Bar und schaute auf.
„In dieser Stadt verschwinden häufig Leute. War schon immer so. Kein Wunder, mit all den Touristen, der Bourbon Street, dem Mardi Gras, dem Fluss, dem Sumpf, dem See …“
Er spreizte seine großen Hände und zuckte die Achseln.
Ich würde ihm das einfach glauben müssen. Ich hatte nicht viele Erkundigungen über die Stadt eingezogen, bevor ich in den Flieger gestiegen war, sondern das bisschen Zeit, das mir blieb, auf den Versuch verwendet herauszufinden, woher der Umschlag gekommen war. Allerdings ohne Erfolg.
Meine Adresse war sowohl in die Mitte als auch in die obere linke Ecke des Kuverts getippt worden. Es war eine Briefmarke darauf gewesen, aber kein Poststempel. Was mich zu der Annahme führte, dass jemand ihn heimlich in meinen Briefkasten gesteckt hatte.
Aber warum?
„Meine Schwester ist von zu Hause verschwunden“, klärte ich den Mann auf. „Aus Philadelphia.“
„Da haben Sie aber eine weite Reise auf sich genommen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Sie ist meine Schwester.“
Schwestern können sowohl das Beste als auch das Schlimmste auf der Welt sein – das kommt ganz auf den Tag, die Stimmung, die Schwester an. Meine bildete da keine Ausnahme. Trotzdem würde ich für Katie bis ans Ende der Welt und wieder zurück laufen. Natürlich hatten wir uns auch gestritten, doch zugleich waren wir beste Freundinnen gewesen. Ich hatte so vieles mit ihr geteilt, dass ich mich ohne sie nur noch wie ein halber Mensch fühlte.
„Nein, ich kenne sie nicht.“ Der Barkeeper lehnte sich zurück und nickte jemandem zu, der mit einer Hand- bewegung einen Drink orderte.
„Sind Sie der Besitzer?“, erkundigte ich mich.
„Nein, Ma’am. Da müssen Sie sich an John Rodolfo wenden.“
„Und wo finde ich den?“
Er nickte mit dem Kinn zum rückwärtigen Teil der Bar.
„Er dürfte in seinem Büro sein.“
Als ich in die angegebene Richtung steuerte, erfüllten Stimmengemurmel und das Klirren von Gläsern die hereinbrechende Nacht. Die Bühnenecke des Raums war verwaist; der heiße Saxophonist war weg.
Meine Enttäuschung überraschte mich selbst. Ich hatte nicht die Zeit, hier herumzuhängen und mir Musik anzuhören, auf die ich eigentlich gar nicht stand. Verdammt, ich hatte noch nicht mal die Zeit, mir Musik anzuhören, auf die ich stand.
Meine Arbeit war mein Leben, aber das störte mich nicht.
Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre aus mir keine Privatdetektivin geworden. Damals, mit zwanzig, als ich gerade das zweite Jahr am College absolvierte und noch immer nicht den Hauch einer Ahnung hatte, welchen Abschluss ich machen sollte, war es mir als eine gute Idee erschienen, eine Weile auszusetzen und für Matt Hawkins zu jobben, jenen Privatdetektiv, den meine Eltern mit der Suche nach Katie beauftragt hatten. Er war alt, er brauchte Hilfe, außerdem war es meine Schuld, dass sie überhaupt vermisst wurde.
Na ja, nicht im buchstäblichen
Sinn. Wir hatten einen typisch dummen Streit unter Geschwistern gehabt, dann war sie einfach davonstolziert. Ich hätte ihr hinterhergehen sollen; zumindest hätte ich sie, so wie abgemacht, später an jenem Abend treffen sollen. Aber ich war sauer gewesen; also hatte ich sie versetzt und seither nie mehr gesehen.
Ich war nicht mehr ans College zurückgekehrt. Matt hatte mir sein Geschäft überlassen, als er vergangenes Jahr in Rente gegangen war. Hin und wieder half er aus – wie beispielsweise jetzt –, wenn ich die Stadt verlassen musste, um einem Hinweis nachzugehen. Praktischerweise war mein letzter Fall gerade abgeschlossen, und Matt konnte sich um sämtliche Aufträge kümmern, die während der wenigen Tage, die ich unterwegs sein würde, möglicherweise hereinkamen.
Zwischen zwei Türen, auf denen „Messieurs“ beziehungsweise „Mesdemoiselles“ stand, befand sich eine dritte mit der Aufschrift Privat. Ich fragte mich, wo wohl die „Mesdames“ pinkelten.
Die meisten Menschen würden zögern, bevor sie durch eine als privat gekennzeichnete Tür stürmten, aber für mich galt das nicht. Ich war noch nie ein Ausbund an Höflichkeit gewesen – auch nicht, bevor ich meine Lizenz zum Schnüffeln erworben hatte –, folglich drehte ich einfach den Knauf und trat ein.
Das Zimmer war stockfinster. Allem Anschein nach war Rodolfo ausgeflogen. Ich wollte schon wieder gehen, als aus den Tiefen der Dunkelheit ein leiser Fluch ertönte, der mich nach dem Lichtschalter tasten ließ.
Das grelle elektrische Licht blendete mich, und ich blinzelte.
Auf den Mann hinter dem Schreibtisch traf das nicht zu. Er trug noch immer seine Sonnenbrille.
Einen verwirrten Moment lang stöberte mein Gehirn nach einer Erklärung, warum er mit einer dunklen Brille auf der Nase in einem dunklen Zimmer saß. Dann durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz, der heller war als das Neonlicht.
Er war blind.
„Können Sie nicht lesen?“ Sich mit seinen langen, geschmeidigen Fingern an der Tischkante entlang- hangelnd, kam der Mann um den Schreibtisch herum.
„Die Aufschrift ‚Privat‘ ist wohl eindeutig. Die Toiletten liegen zu beiden Seiten dieser Tür.“
„Ich … äh … Entschuldigung.“
„Angenommen. Und jetzt hauen Sie ab.“
Seine groben, mit diesem sexy Knurren von einer Stimme ausgestoßenen Worte bewirkten, dass ich die Augen aufriss.
„Ich habe nicht nach der Toilette gesucht. Ich wollte …“
Ich verstummte. Hatte ich nach ihm gesucht? Ich war mir nicht sicher.
„Einen schnellen Fick mit dem Saxophonisten? Heute nicht, chica, ich habe Kopfschmerzen.“
Flinker als ein Mann, der nicht sehen konnte, dies hätte tun sollen, überwand er die kurze Distanz, die uns trennte. Dann packte er meinen Arm mit einem erstaunlichen Minimum an Unbeholfenheit, bevor er versuchte, mich zur Tür zu ziehen.
Ich rührte mich nicht vom Fleck. Zwar war ich mindestens zehn Zentimeter kleiner als er, mit seinen geschätzten ein Meter achtzig, und vermutlich fünfzehn Kilo leichter, trotzdem war ich in guter Kondition und außerdem fest entschlossen. Er konnte mich nicht loswerden, solange ich es nicht wollte.
„John Rodolfo?“, fragte ich, und da hörte er auf, an mir herumzuzerren.
Auf eine Stelle gleich links neben meinem Gesicht starrend, herrschte er mich an: „Wer zum Teufel will das wissen?“
„Anne Lockheart.“
Er neigte den Kopf zur Seite, und wieder nahm mich seine Attraktivität gefangen. Sogar mit seinen verdeckten Augen, die mich weder ihre Form noch ihre Farbe erkennen ließen, war er unvorstellbar anziehend.
„Kenne ich Sie?“, fragte er.
„Nein.“
Er ließ meinen Arm fallen, trat jedoch nicht zurück. „Lassen Sie uns das hier noch mal versuchen. Was wollen Sie, wenn nicht eine schnelle Nummer auf meinem Schreibtisch?“
„Ich ziehe meine schnellen Nummern immer an eine Wand
gelehnt durch, aber nicht heute und vor allem nicht mit Ihnen.“
Seine Lippen zuckten leicht. Ich überlegte, wie er wohl aussah, wenn er lächelte, dann schob ich den Gedanken beiseite.
Ich bezweifelte, dass ein solcher Ausdruck je über sein Gesicht huschte, was wirklich traurig war.
Wobei mir einfiel, dass traurig exakt das war, wie er im hellen Schein des Deckenlichts gewirkt hatte, bevor er eine Sekunde später aufgesprungen und auf mich zugekommen war.
„Sie bevorzugen Frauen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich könnte Ihre Meinung ändern.“
Ich schnaubte. Eine typische Macho-Antwort – so als würde eine einzige Nacht mit ihm genügen, um jeder- manns sexuelle Vorlieben zu ändern.
„Nicht, dass es Sie etwas angeht, aber ich bevorzuge keineswegs Frauen. Was ich bevorzuge, ist, endlich zum Punkt zu kommen.“
„Der da wäre?“
Ich hielt noch immer das Foto in der Hand, aber da es mir bei Rodolfo nichts nützen würde, schob ich es in die Tasche meiner Jeans.
„Ich suche nach meiner verschwundenen Schwester.“
Jedes Anzeichen von Belustigung fiel von ihm ab. „Was hat das mit mir zu tun?“
„Jemand hat mir ein Foto von ihr geschickt, auf dem sie vor diesem Jazzclub steht.“
„Und Sie wollen wissen, ob ich sie gesehen habe?“ Er breitete die Hände aus.
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe schon ziemlich lange niemanden mehr gesehen.“
„Ihr Name war … ist Katie. Katie Lockheart.“
Den Schnitzer hatte ich schon früher gemacht: von Katie zu sprechen, als ob sie tot wäre. Nach drei Jahren fiel es schwer, das nicht zu tun.
Ich hatte in genügend Vermisstenfällen ermittelt, um zu wissen: Wenn jemand nicht in den ersten sechsunddreißig Stunden gefunden wurde, bedeutete dies, dass man die Person meist auch nicht mehr lebend finden würde. Insgeheim darum betend, dass die Statistiken in Katies Fall eine Ausnahme machen würden, tätschelte ich meine Hosentasche.
„Hab noch nie von ihr gehört“, murmelte Rodolfo.
„Was nicht heißen muss, dass sie nicht hier war.“
„Das stimmt.“ Er stand so nah, dass sein Atem über meine Haare strich. Obwohl die Tür offen war und das Licht brannte, fühlte ich mich bedrängt, verloren und ein bisschen wie in einer Falle.
Ich rückte von ihm ab. „Ich habe zwar schon mit dem Barkeeper gesprochen, würde mich aber gern noch mit Ihren anderen Angestellten unterhalten …“
„Da sind keine.“
„Keine was?“
„Andere Angestellte.“
„Aber …“
„Wir haben noch nicht sehr lange geöffnet.“
„Wie lange genau?“, hakte ich nach.
Falls das Rising Moon ein neues Lokal war, würde das dem Foto eine zeitliche Datierung geben und mir eine bessere Vorstellung davon, wann Katie hier gewesen sein könnte.
„Weniger als ein Jahr.“
„Wie hieß der Club davor?“
„Genauso. Ich habe nicht viel gemacht, außer aufzuräumen und die Vorräte aufzufüllen.“
„Das Äußere ist unverändert? Sie haben kein neues Schild gekauft?“
„Nein.“
Meine Aufregung verpuffte wie Luft aus einem durchlöcherten Ballon.
„Wir hatten ein paar Cocktail-Kellnerinnen, aber im Gastronomiegewerbe …“
Er zuckte mit den Schultern. „Die Leute kommen und gehen. Wir sind ständig unterbesetzt, und das, obwohl ich neben dem Gehalt ein Zimmer biete. Viele der billigen Apart- ments sind von Katrina davongeschwemmt worden.“
„Ist einer ihrer früheren Mitarbeiter vielleicht noch in der Stadt und arbeitet woanders?“
„Nicht, dass ich wüsste, aber das muss nichts heißen.“
Seufzend zog ich den Schnappschuss aus der Tasche und
betrachtete das Konterfei meiner Schwester. Katie war immer das Goldkind gewesen, und das meine ich wörtlich. Während meine Haare von eher unbestimmbarer Farbe waren, leuchteten ihre wie die Strahlen einer Morgen- sonne. Meine Augen hatten die Tönung einer Matschgrube, ihre schienen das tiefste Meeresblau zu reflektieren. Ihre Nase war gerade und niedlich, ihre Haut hell und rein. Und dann ihr Körper … Ich will es mal so ausdrücken: Als Gott Körbchengrößen vergab, schenkte er Katie drei Viertel von meiner noch dazu.
Man sollte meinen, dass ich jemanden von solcher Perfektion hassen müsste, und manchmal hatte ich das auch getan. Nur dass Katie neben all ihrer Schönheit auch wirklich lieb war und man unwahrscheinlich viel Spaß mit ihr haben konnte. Als Kinder hatten wir tausend Variationen von Verstecken gespielt – Katie
gewann immer, aber das machte mir nichts aus, so sehr genoss ich es, mit ihr zusammen zu sein.
Die Suche nach ihr war für mich zur Besessenheit geworden, und das bis zu einem Grad, an dem fast alles andere bedeutungslos wurde. Aber sie war nun mal meine kleine Schwester, und ich hätte auf sie aufpassen müssen. Ich hatte versagt.
„Machen Sie beim Gehen das Licht aus.“ Rodolfo wandte
sich so abrupt ab, als könnte er es nicht erwarten, wieder allein zu sein.
Ich weiß nicht genau, warum, aber ich berührte seine Schulter; vielleicht, um mich für mein Eindringen zu entschuldigen oder um ihm – für nichts – zu danken. Er wirbelte herum, seine Hand schoss nach oben und umfing mein Handgelenk, dann zog er mich an sich.
Ich keuchte überrascht auf, dann wurde mir der Atem aus der Lunge gepresst, als ich mit seinem Oberkörper kollidierte. Ich starrte in sein Gesicht, doch das Einzige, was ich sah, war mein Spiegelbild in den dunklen Gläsern, die seine Augen verdeckten.
Ich wirkte blass, verängstigt und irgendwie hübscher, als ich mich in Erinnerung hatte.
„Es tut mir leid“, ächzte ich. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
„Ich mag es nicht, angefasst zu werden“, erwiderte er.
Was erklärte, warum er so verstimmt gewesen war, als er gedacht hatte, dass ich wegen Sex gekommen sei. Was es hingegen nicht erklärte, war die Ausbuchtung in seiner seidigen schwarzen Hose, die gegen meine Hüfte drängte und deren Hitze und Pulsieren verrieten, dass Rodolfo vielleicht nicht gern berührt wurde, sein Körper jedoch anderer Auffassung war.
Mit einem verärgerten Schubs stieß er mich von sich, dann stolzierte er zu seinem Schreibtisch und nahm dahinter Platz, sodass seine untere Körperhälfte effektiv vor meinem Blick verborgen wurde. Trotzdem wusste ich, was ich gespürt hatte.
Der heiße Typ fühlte sich zu mir hingezogen. Ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte.
Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont Lyx
ISBN: 978-3802582622
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
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