Leseprobe
2
Kann man sich das vorstellen? Kein Tod mehr?
Es fiel mir selbst schwer, daran zu glauben, gleichzeitig wollte ich es unbedingt.
In New Orleans hatte ich oft große Reden darüber geschwungen, dass der Tod der Anfang und nicht das Ende wäre, eine neue Ebene, eine andere Welt, ein Abenteuer. Vielleicht stimmte das ja auch.
Trotzdem wollte ich meine Tochter zurück.
Ich wandte mich von der Aussicht ab und kehrte in das Zimmer zurück, wo Marcel wartete. „Wann werde ich Mandenauers Freund treffen?“
„Der Freund wird zu Ihnen kommen, Priesterin.“ Als er meinen finsteren Blick bemerkte, korrigierte er sich: „Miss Cassandra.“
„Wann?“, wiederholte ich.
„Wenn die Zeit reif ist.“
Mit diesem hilfreichen Hinweis öffnete Marcel die Tür und verschwand.
Ich machte mir nicht die Mühe auszupacken. Sobald ich die Richtung kannte, würde ich von hier abhauen.
Erschöpft und noch immer in meinem aus weiten Jeans, einem schwarzen Top und schwarzen Turnschuhen bestehenden Reiseoutfit schlief ich quer über dem Bett ein. Als ich aufwachte, war die Nacht hereingebrochen.
Die Geräusche von Port-au-Prince wirkten lauter in der stillen, marineblauen Dunkelheit. Wegen des Neumonds gab es am Himmel einen ähnlichen Mangel an funkelndem Silber, wie er in meinem Schmuckkästchen geherrscht hatte, bevor ich meinem ersten Werwolf begegnet war.
Meine beringten Finger tasteten nach dem glänzenden Silberkruzifix um meinen Hals, das ich nicht aus religiösen Gründen, sondern zum Schutz trug. Früher hatte ich geglaubt, dass es das Beste wäre, Schutzamulette im Verborgenen zu tragen, aber inzwischen hatte ich gelernt, dass es nichts schaden konnte, sie offen zu zeigen.
Ich drehte mich auf die Seite und erstarrte. Die Tür zu meinem Zimmer stand offen, und jemand war auf der Veranda.
„Hallo?“ Ich setzte mich langsam auf. „Ich bin Cassandra.“
„Priesterin.“
Das Wort war ein Zischen, das mich an Lazarus erinnerte, die Python, die ich in New Orleans zurückgelassen hatte. Er war mein einziger Freund gewesen, bis der Halbmond Diana Malone in mein Leben geführt hatte.
Sie war eine Kryptozoologin, die nach New Orleans geschickt worden war, um Gerüchten über einen Wolf in einer Gegend, in der es eigentlich keine Wölfe geben sollte, nachzugehen, und hatte die Überraschung ihres Lebens erlebt, als sie weitaus mehr als nur einen Wolf entdeckte. Sie war in meinem Laden aufgetaucht, und wir hatten, so wie Frauen dies manchmal tun, auf Anhieb Freundschaft geschlossen.
Der herumlungernde Schemen lungerte weiter herum, also sagte ich: „Kommen Sie doch bitte herein.“
Sobald die Worte heraus waren, glitt die Gestalt über die Türschwelle. Ich knipste das Licht an, dann spürte ich, wie sich meine Augen beim Anblick der Frau vor mir weiteten.
Sie war nicht nur groß und üppig gebaut, sondern gleichzeitig wunderschön und uralt. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, und ihre Augen waren so blau wie meine. Sie trug ein langes, fließendes purpurrotes Gewand und auf dem Kopf einen passenden Turban. Genau so sollte eine Voodoo-Priesterin aussehen.
Zu dumm, dass mir das nie gelingen würde.
„Ich heiße Renee“, wisperte die Frau. „Du willst etwas über den Fluch des Halbmonds erfahren?“
Ihr Akzent klang französisch, ihre Aussprache nach Oberschicht.
Sie mochte von hier stammen, aber Englisch hatte sie
woanders gelernt.
Das in Kombination mit ihrer Haut- und Augenfarbe kennzeichnete Renee als Mulattin – was auf Haiti kein beleidigender Ausdruck ist, da er sich auf die Abkömm- linge der freien Farbigen der Kolonialzeit bezieht. Ihre Gemischtrassigkeit hatte ihnen damals nicht nur großen Wohlstand eingebracht, sondern auch die französischen Bürgerrechte.
Warum ich erwartet hatte, dass Mandenauers Kontakt ein Mann sein würde, wusste ich selbst nicht. Vielleicht lag es daran, dass er so alt und mir die Vorstellung eines weiblichen Freundes unheimlich war. So als würde man seine Großeltern in flagranti auf dem Küchenboden ertappen. Ich verspürte den Drang, mir eine Nadel ins Auge zu stechen, um dieses
Bild loszuwerden.
„Äh, ja. Der Halbmond“, stammelte ich. „Stimmt es, dass ein Voodoo-Fluch nur von der Person aufgehoben werden kann, die ihn auferlegt hat?“
„Ja.“
„Und wenn diese Person tot ist?“
„Ah, ich verstehe.“ Sie neigte den Kopf zur Seite; der Turban verrutschte keinen Millimeter. Beeindruckend.
„Du bist gekommen, um etwas über Zombies zu erfahren.“
Mir fiel kein Grund ein, warum ich ein Geheimnis daraus machen sollte. „Das stimmt.“
Auf Renees beinahe perfekter Stirn bildete sich eine Furche.
Sie hatte kaum Falten, warum also war ich auf den Gedanken verfallen, sie wäre alt? Es musste mit ihren Augen zusammenhängen.
„Die Toten zu erwecken ist ein ernstes und gefährliches Unterfangen“, gab sie zu bedenken.
„Aber es kann vollbracht werden?“
„Selbstverständlich.“
Mir stockte der Atem. „Hast du so etwas schon mal getan?“
„Eine solche Handlung verstößt sowohl gegen die menschlichen als auch die göttlichen Gesetze.“
Mich kümmerte inzwischen weder das eine noch das andere.
Es gab nichts, was das Gesetz mir antun könnte, das schlimmer wäre als das, was Gott mir schon angetan hatte.
Man sollte meinen, dass ich nach dem, was mit meinem Kind geschehen war, nicht länger an Gott glaubte. Eine Weile hatte ich das auch nicht getan. Ich hatte aus einem einzigen Grund – wegen Sarah – angefangen, Voodoo zu studieren, aber dann war ich von dem, was ich dabei entdeckte, verführt worden.
Voodoo ist eine komplexe Religion – adaptierbar, tolerant und monotheistisch. Vieles von dem, was ich gelernt hatte, ergab einen Sinn. Zum Beispiel, dass es das Böse nicht ohne das Gute geben kann.
Und ich hatte an das Böse geglaubt. Viel stärker, als ich je an etwas anderes geglaubt hatte.
Renee runzelte die Stirn, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Aber vermutlich hatte sie einfach nur meinen Gesichts- ausdruck richtig interpretiert. Das Einzige, wofür ich mich interessierte, war die Umkehr von Tod in Leben. Mit dieser Art von Besessenheit riskierte man seine geistige Gesundheit, aber obwohl mir das bewusst war, konnte ich nun mal nichts an dem ändern, was ich fühlte, was ich brauchte, wer ich war.
„Hast du je einen Toten erweckt?“, wiederholte ich.
„Nein.“
Ich seufzte enttäuscht.
„Aber ich kenne jemanden, der es getan hat.“
Die Hoffnung ließ mich schwindeln. „Wo kann ich diese Person finden?“
„Die Toten lebendig zu machen ist ein Akt, der ausschließlich von einem bokor
vollzogen wird. Weißt du, was das ist?“
„Ein houngan
, der den Geistern mit beiden Händen dient. Ein schwarzer Priester.“
„Es gibt nichts Absolutes“, erwiderte Renee. „Jeder houngan
muss mit dem Bösen vertraut sein, um es bekämpfen zu können, genau wie jeder bokor
irgendwann das Gute umarmt haben muss, um darauf hoffen zu können, es auszumerzen.“
Manchmal sehnte ich mich wirklich nach den Tagen von
Schwarz und Weiß zurück oder zumindest nach der Illusion davon.
„Was, wenn man die Toten im Namen des Guten zurück- holt?“, fragte ich.
„Auch dann kann nichts Gutes daraus erwachsen. Im Tod
herrscht immerwährender Friede. Auch wenn die Lebenden ihn fürchten, hegen die Verstorbenen nicht den Wunsch zurückzukehren.“
„Hast du schon mit vielen Toten gesprochen?“, erkundigte ich mich schnippisch. „Haben sie dir das gesagt?“
„Der Tod kommt zu uns allen, wenn unsere Zeit abgelaufen ist. Zufälle gibt es nicht.“
„Daran glaube ich nicht!“
Meine Stimme war ein wenig zu laut, ein wenig zu schrill.
Renee zog die Brauen hoch.
Ich musste mich in Acht nehmen. Die Frau war nicht dumm. Sie würde merken, dass ich noch aus einem anderen Grund als nur im Auftrag der Jägersucher
nach Haiti gekommen war, und dann würde ich überhaupt nichts heraus- bekommen.
„Aber was ich persönlich glaube, ist nicht wichtig“, fuhr ich in ruhigerem Tonfall fort. „Edward möchte, dass ich einen Weg finde, den Fluch des Halbmonds zu bannen. Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, heißt das, dass die Voodoo-Königin, die den Fluch auferlegt hat, erweckt werden muss, damit sie ihn zurücknimmt. Kannst du mir dabei helfen zu lernen, wie man so etwas macht?“
Renee musterte mich mehrere Sekunden lang, dann hob
sie ihre langen, grazilen Hände – die ebenfalls nicht sehr alt wirkten – und ließ sie wieder sinken. „Es gibt da einen Mann in Port-au-Prince …“
„Ich habe von einem in den Bergen gehört …“, unterbrach ich sie.
Renees Augen blitzten auf. „Das ist keiner, von dem du etwas lernen möchtest.“
„Wer ist er?“
„Namen haben Macht“, flüsterte sie. „Ich werde seinen nicht aussprechen.“
Ich teilte ihre Namen-haben-Macht-Einstellung. In den Legenden und Mythen konnten Flüche oft durch den Gebrauch eines Namen außer Kraft gesetzt werden, allerdings hatte sich das für mich in der Praxis nie bewahrheitet.
Man konnte einen Werwolf bei seinem menschlichen Namen rufen, bis einen nur noch Millimeter vom Tod trennten, und das Biest würde sich trotzdem nicht zurück- verwandeln. Ich hatte gehört, dass der wichtigste Aspekt des Rituals, mit dem man einen Zombie erschafft, darin besteht, den Namen des Verstorbenen dreimal laut zu rezitieren, aber ich hatte nie feststellen können, ob dieses spezielle Namensspiel tatsächlich funktionierte.
„Ich muss diesen Mann treffen.“
„Nein, das musst du nicht. Um die Voodoo-Königin zurückzubringen, brauchst du nur das Ritual zu erlernen. Rufe sie für einen Moment aus ihrem Grab; sie wird tun, was du verlangst; anschließend schickst du sie zurück.“
„Und der Mann in den Bergen?“ Ich versuchte, mir meinen Eifer nicht anmerken zu lassen, bezweifelte jedoch, dass es mir gelang. „Er macht etwas anderes?“
Renee drehte sich zur Veranda um. Für eine Sekunde glaubte ich, dass sie einfach durch die Tür schlüpfen würde, und machte deshalb einen Schritt auf sie zu. Was wirklich idiotisch war, denn ich bezweifelte, dass ich sie von irgendetwas, das sie tun wollte, hätte abhalten können. Ich spürte eine gewaltige Kraft in ihr, die zwar nicht auf Voodoo beruhte, trotzdem aber vorhanden war.
Doch sie rührte sich nicht, sondern starrte nur auf die fernen, welligen Berge, denen der dunkle Nachthimmel die Farbe immergrüner Tannen verlieh.
„Hast du je von den Egbo gehört?“, fragte sie schließlich.
„Nein.“
„In den schlimmen Zeiten, als die Menschen Afrikas verschleppt und in die Sklaverei verkauft wurden, gab es einen Stamm, der als die Efik des alten Calabar bekannt war. Sie kamen, um den gesamten Sklavenhandel an der Küste zu kontrollieren.“
„Ein Stamm, der seine eigenen Leute verkauft hat?“ Davon hatte ich noch nie gehört.
„Nicht seine eigenen. In Afrika gab es, damals wie heute, Spaltungen, Kriege und Feindschaften. Ein Stamm kämpfte gegen einen anderen, bevor der Sieger seine Gefangenen anschließend an die Efik verkaufte, die sie wiederum an die weißen Händler verschacherten.“
Ich schüttelte den Kopf. Die Menschen waren, unabhängig von ihrer Hautfarbe, einfach nicht nett zueinander.
„Innerhalb der Efik gab es eine Geheimgesellschaft, die den Namen Egbo trug. Sie begann als ein Verbund von Richtern, doch am Ende hatten die Efik so viele Sklaven in ihrem Besitz, dass sie einen Weg finden mussten, sie unter Kontrolle zu halten.
Die Egbo wurden ein gefürchteter Klan, der die kleinsten Vergehen durch grausame Strafen sühnte. Allein ihren Namen zu wispern, genügte, um die Gefangenen derart einzuschüchtern, dass sie sich freiwillig unterwarfen.“
Ich verstand, wieso das hilfreich gewesen sein musste. Sklavenrevolten waren damals eine beträchtliche Gefahr, vor allem, da die Zahl der Unterdrückten oft doppelt so hoch war wie die der Unterdrücker. Tatsächlich war Haiti Schauplatz des einzig erfolgreichen Sklavenaufstands der Geschichte gewesen.
„Das alles ist wirklich sehr interessant, Renee, aber was hat das Ganze mit mir zu tun?“
„Von dem Mann in den Bergen heißt es, er gehöre den Egbo an.“
Leseprobe © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont Lyx
ISBN: 978-3802582615
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe