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Ein Leben, das darauf verwandt wird, einen Schwur gegenüber einem Toten einzulösen, ist in Wahrheit gar kein Leben, aber ich habe Simon Malone geliebt und ihm mein Versprechen gegeben.
Ich habe Zoologie studiert, mittlerweile aber auf Krypto- zoologin umgesattelt. Wäre ich meinem eigentlichen Berufsziel gefolgt, würde ich jetzt in irgendeinem Zoo versauern oder, schlimmer noch, Giraffen und Zwergziegen erforschen.
Stattdessen gehe ich Gerüchten über mythische Tiere nach und versuche zu beweisen, dass sie tatsächlich existieren. Eine frustrierende Aufgabe. Es gibt einen Grund dafür, dass es bislang niemandem gelungen ist, einen Bigfoot zu fangen. Sie wollen nämlich nicht aufgespürt werden und sind im Verstecken wesentlich besser als irgendjemand auf der Welt im Suchen. Zumindest ist das meine Theorie, und von der rücke ich nicht ab.
Die meisten Kryptozoologen bemühen sich, unentdeckte
Spezies oder evolutionäre Sensationen – echte Tiere, an denen nichts Paranormales ist – zu finden, aber ich nicht. Nein. Weil ich nun mal diesen Schwur geleistet habe.
Idiotisch, aber wenn eine Frau einen Mann auf die Weise liebt, wie ich Simon geliebt habe, tut sie nun mal idiotische Dinge – vor allem, wenn er in ihren Armen gestorben ist.
Also gehe ich, in dem Versuch, etwas Mythisches zu entdecken und seine Echtheit zu beweisen, jeder Legende, jeder Volkssage, jedem noch so kleinen Fitzelchen an Information nach. Ich habe zwar nie an Magie geglaubt, aber mein Mann hat das getan, und das Einzige, woran ich je geglaubt habe, war er.
Meine Suche verlief relativ erfolglos, bis dann in jener Nacht um drei Uhr morgens das Telefon klingelte. Die Kombination aus Schlaflosigkeit und einem sehr leeren Bankkonto brachte mich dazu, trotz der unchristlichen Stunde ranzugehen.
„Hallo?“
„Dr. Malone?“ Die Stimme war männlich, ein bisschen zittrig, der Anrufer alt oder vielleicht krank.
„Noch nicht.“
Ich musste erst ein Kryptid – ein bislang unbekanntes Tier – aufstöbern, seine Existenz nachweisen und eine Dissertation schreiben. Anschließend würde ich diese hübschen Buchstaben – Ph.D. – an das Ende meines Namens setzen dürfen. Aber seit der ganzen Sache mit dem Schwur war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, See- ungeheuer und Bigfoot-Klone zu jagen, um die nötige Zeit zu finden, eine neue Spezies von Irgendetwas entdecken zu können.
„Spreche ich mit Diana Malone?“
„Ja. Wer ist da?“
„Frank Tallient.“
Der Name klang vertraut, aber ich kam nicht drauf, woher ich ihn kannte.
„Sind wir uns schon mal begegnet?“
„Nein. Ich habe Ihre Nummer von Rick Canfield.“
Na großartig. Der letzte Typ, der die einprägsamen Worte „Sie sind gefeuert“ zu mir gesagt hatte.
Rick war ein Anwalt, der zusammen mit einem Haufen
anderer Anwälte einen Angelausflug zum Lake of the Woods, Minnesota, unternommen hatte. Mitten in der Nacht hatte er dann etwas im See entdeckt. Etwas Glitschiges, Schwarzes und sehr, sehr Großes.
Als Anwalt war er clever genug zu wissen, dass er den anderen besser nicht verraten sollte, dass er den Verstand verloren hatte.
Zumindest nicht sofort.
Stattdessen war er nach Hause gefahren, hatte im Internet gesurft und ein paar Anrufe getätigt, in der Hoffnung, auf jemanden zu stoßen, der ihm dabei helfen würde heraus- zufinden, ob das, was er gesehen hatte, real oder ein- gebildet war. Er war auf mich gestoßen.
„Rick meinte, dass Sie eventuell Zeit hätten, mir behilflich zu sein“, fuhr Tallient fort.
Ich hatte Zeit, das stimmte. War arbeitslos. Wieder mal. Ein normaler Zustand in meinem Leben. Ich war zwar sehr gut darin, nach Dingen zu suchen, aber leider nicht so gut, wenn es darum ging, sie tatsächlich zu finden. Gleichzeitig zählte ich zu den wenigen Kryptozoologen, die bereit waren, gegen Bares spontan in einen Flieger zu steigen.
Ich gehörte keiner Universität an – schon nicht mehr, seit Simon verrückt geworden war und damit nicht nur seine Reputation, sondern auch meine zerstört hatte.
Ich war abhängig von der Freundlichkeit fremder Menschen – zum Teufel, wollen wir doch ehrlich sein und sie befremdlich nennen –, um meine Expeditionen zu finanzieren. Bis zu dieser Nacht hatte in beiderlei Hinsicht Ebbe geherrscht.
„Da Sie Nessie nicht gefunden haben …“
„Nessie ist das Ungeheuer von Loch Ness. Ich habe nach Woody gesucht.“
Was der Name war, den Rick der Kreatur verpasst hatte. Die Menschen sind bei der Benennung von Seeungeheuern nicht besonders einfallsreich, sondern entscheiden sich meistens für irgendeine Namensvariante des Gewässers, in dem das Monster mutmaßlich lebt.
Und noch etwas war typisch: Als ich mit meinen Kameras und Rekordern am Lake of the Woods eintraf, hatte sich das, was Rick gesehen zu haben glaubte, in Luft aufgelöst. Falls es überhaupt je da gewesen war.
Meiner Vermutung nach steckte ein abartig großer Hecht und kein übernatürliches Seeungeheuer hinter der Geschichte, aber das hatte ich ebenso wenig beweisen können.
„Ich habe einen Job für Sie“, verkündete Tallient nun.
„Ich bin ganz Ohr.“
Mir blieb gar keine andere Wahl. Meine Eltern waren zwar unglaublich reich, nur leider hielten sie mich für verrückt und hatten an dem Tag aufgehört, mit mir zu sprechen, als ich Simon heiratete.
Denn was könnte ein attraktiver, brillanter, aufstrebender Zoologe aus Liverpool schließlich an einer nicht so sehr hübschen, viel zu stämmigen Erstsemester-Studentin finden, wenn da nicht die Millionen ihrer Eltern wären? Eine Greencard besaß er bereits. Dass Simon ihnen erklärt hatte, wo sie sich ihr Geld hinschieben konnten, hatte meine Liebe zu ihm nur verstärkt.
In Wahrheit hatte ich in Simons Welt besser gepasst als jemals in meine eigene. Ich maß barfuß einen Meter achtundsiebzig und wog an guten Tagen zweiundachtzig Kilo. Ich war gern an der frischen Luft – hatte kein Problem mit Matsch oder Sonne, Wind oder Regen. Ich hatte mich den Pfadfinderinnen angeschlossen, nur um zelten gehen zu können. Und hatte so ziemlich alles getan, was mir einfiel, um mich von der Zu-reich-oder-zu-dünn-gibt-es-nicht- Mentalität meiner Mutter abzugrenzen.
„Können Sie sich ins Internet einloggen?“, fragte Tallient.
„Bleiben Sie dran.“ Ich schaltete meinen Laptop an, der wesentlich schneller aus seinem Schlummer erwachte, als ich das für gewöhnlich tat.
„Okay.“
Tallient nannte mir eine WWW-Adresse, und einen Augenblick später füllte ein Zeitungsartikel meinen Bildschirm.
„Mann tot im Sumpf aufgefunden“, las ich. „Nicht gerade ungewöhnlich.“
Sümpfe waren berüchtigte Entsorgungsorte für Leichen. Falls das Moor sie nicht verschluckte, besorgten das die Alligatoren.
„Fahren Sie fort.“
„Kehle zerfetzt. Verwilderte Hunde. Hmm.“ Ich nahm mir die nächste Seite vor.
„Kind vermisst. Kojoten. Keine Leiche. Scheint eindeutig zu sein.“
„Nicht wirklich.“
Tallient gab mir eine zweite Adresse, und ich las weiter.
„Wölfe gesichtet.“
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wölfe waren Simons Spezialgebiet gewesen; sie hatten sich in seine Obsession verwandelt.
Jetzt waren sie meine.
„Wo war das?“, fragte ich.
„New Orleans.“
Falls das überhaupt möglich war, schlug mein Herz nun
noch schneller. Früher hatten Mähnenwölfe den Südosten vom Atlantik bis zum Golf und in den texanischen Westen hinein durchstreift. Sie waren in nördlicher Richtung noch bis nach Missouri und Pennsylvania gesichtet worden. Doch 1980 war der Mähnenwolf als in freier Wildbahn aus- gestorben deklariert worden. 1987 hatte man sie dann zwar wieder angesiedelt, allerdings nur in North Carolina. Also …
„Es gibt keine Wölfe in Louisiana“, erklärte ich.
„Exakt.“
„Andererseits kursiert da so eine Legende …“
Ich versuchte krampfhaft, sie mir ins Gedächtnis zu rufen.
„Über das Honey-Island-Sumpfmonster.“
„Ich bezweifle, dass die vor dreißig Jahren entdeckten Bigfootartigen Fußabdrücke in irgendeinem Zusammen- hang mit diesen Todes- und Vermisstenfällen oder verirrten Wölfen stehen.“
Wahrscheinlich hatte er recht.
„Es könnte sich um einen Fall von ABC handeln“, folgerte ich.
Das Akronym stand für „Alien Big Cat“ – ein krypto- zoologischer Begriff für die Sichtung von Großkatzen in für sie vollkommen untypischen Gegenden. Schwarze Panther in Wisconsin.
Ein Jaguar in Maine. Kommt öfter vor, als man glauben
würde.
Meistens wurden ABCs einfach mit der lapidaren Erklärung abgetan, dass es sich dabei um exotische Tiere handele, die man im Wald ausgesetzt hatte, nachdem sie zu groß geworden waren, um sie in einer Wohnung zu halten. Das Komische daran war nur, dass sie anschließend nie aufgespürt wurden.
Falls es sich um zahme Tiere handelte, sollten sie dann nicht leicht einzufangen sein? Würden nicht ihre Knochen oder sogar ihre Halsbänder auftauchen, nachdem sie einem echten Wildtier zum Opfer gefallen waren? Müsste es nicht wenigstens einen Bericht über ein ABC geben, das auf einer Schnellstraße von einem Laster überfahren worden war?
Aber Pustekuchen.
„Es geht um einen Wolf, nicht um eine Katze“, widersprach Tallient.
Seine kryptozoologischen Kenntnisse beeindruckten mich, aber ich war zu sehr auf das Mysterium konzentriert, das sich hier vor mir entfaltete, um ihm meine Anerkennung auszusprechen.
„Das gleiche Prinzip“, murmelte ich stattdessen. „Vielleicht hat jemand einen Wolf im Sumpf ausgesetzt. Daran ist nichts Ungewöhnliches.“
Bloß dass Wölfe nicht bösartig waren. Sie attackierten keine Menschen. Es sei denn, sie wären am Verhungern, Wolf-Hund-Hybriden oder aber tollwütig. Nichts von alledem bedeutete etwas Gutes.
„Es kursieren in und um New Orleans schon seit Jahren Gerüchte über Wölfe“, fuhr er fort.
„Seit wie vielen Jahren?“
„Mindestens hundert.“
„Wie bitte?“
Tallient lachte leise. „Ich dachte mir schon, dass Ihnen das gefallen würde. Das Phänomen scheint dabei jedoch nicht in irgendeinem speziellen Monat oder zu einer bestimmten Jahreszeit aufzutreten, sondern immer während derselben Mondphase.“
„Bei Vollmond“, mutmaßte ich.
Ganz gleich, was die Skeptiker behaupten, der Vollmond macht Mensch und Tier gleichermaßen kirre. Da kann man jeden fragen, der je in einer Notaufnahme, psychiat- rischen Einrichtung oder in einem Zoo gearbeitet hat.
„Nein, nicht bei Vollmond“, erwiderte Tallient. „Sondern bei Halbmond.“
Ich warf einen Blick zu der dünnen silbernen Mondsichel, die vor meinem Fenster schimmerte.
„Von wann stammen diese Artikel?“
„Mai.“
Ich runzelte die Stirn. Vor fünf Monaten.
„Und seitdem?“
„Nichts.“
„Könnte daran liegen, dass die Leichen nicht gefunden wurden.“
„Ganz genau. Kreaturen, die während einer speziellen Mondphase jagen, tun dies jeden Monat. Sie kommen nicht dagegen an.“
Ich war mir zwar nicht sicher, was die „Kreaturen“ betraf, aber bei Tieren war ich mir sicher. Sie gehorchten ausnahmslos der Macht der Gewohnheit.
„Gestern wurde eine Leiche entdeckt“, fuhr Tallient fort. „Die Zeitungen haben es noch nicht gebracht.“
„Warum interessieren Sie sich eigentlich für diese Sache?“
„Die Kryptozoologie fasziniert mich einfach. Ich würde liebend gern selbst eine Expedition unternehmen, aber … es geht mir nicht gut.“
Ich stand auf und wippte aufgeregt auf den Zehenspitzen.
Es juckte mich buchstäblich in den Fingern, diese Chance zu ergreifen. Aber ich musste mich an eines erinnern: Was zu gut scheint, um wahr zu sein, ist dies oft auch.
„Sie wollen mich also dafür bezahlen, einen Wolf in einer Gegend zu finden, in der es keine Wölfe geben sollte. Wenn ich das erledigt habe, was dann?“
„Fangen Sie ihn, dann rufen Sie mich an.“
In meiner Berufssparte war das kein ungewöhnliches Ansinnen.
Die Menschen, die mich anheuerten, taten dies normaler- weise in der Hoffnung, dass sie Berühmtheit erlangen würden, indem sie der Welt irgendeine mythische Kreatur präsentierten, und natürlich wollten sie diejenigen sein, die diese Enthüllung vornahmen. Wenn sie am Ende tatsächlich stattfand, hatte ich damit kein Problem. Das Einzige, was ich beweisen wollte, war, dass Simon nicht verrückt gewesen war.
„Das kann ich machen“, stimmte ich zu.
„Ihnen ist bewusst, dass es hier nicht einfach nur um einen Wolf geht?“
Ich hoffte, dass das zutraf, aber leider erfüllten sich meine Hoffnungen oft nicht.
„Man bezeichnet sie als loup-garou

“, fuhr Tallient fort. „Das ist das französische Wort für …“
„Werwölfe.“
Der Adrenalinstoß machte mich schwindlig. Obwohl ich mich dazu anheuern ließ, nach irgendwelchen para- normalen Wesen zu suchen – arme Leute können nun mal nicht wählerisch sein –, sollte ich mich bei meiner Arbeit eigentlich auf die Lykanthropen fokussieren. So wie Simon es getan hatte.
Das Problem war nur, dass ich einfach nicht an sie glauben konnte. Obwohl mein Mädchenname O’Malley lautete und die Familie meines Vaters aus dem Land der Kobolde und Feen stammte, war in Boston, der Stadt, in der ich aufwuchs, das einzig Fantastische der fanatische Glaube der Einwohner an einen Fluch der Boston Red Sox.
In meiner Kindheit war jeder unsinnige Kinderglaube tabu gewesen – kein Weihnachtsmann, keine Zahnfee –, und ich hatte regelrechte Kämpfe ausfechten müssen, um auch nur Märchen lesen zu dürfen. Was vielleicht erklärt, warum ich mich so unsterblich in einen Mann verliebt hatte, der von Magie träumte.
Ich sah mich in unserem Apartment in der Nähe des Campus’ der Universität von Chicago um. Ich hatte kein einziges Buch angerührt, hatte seine Kleidung nicht weggegeben und bis zu diesem Moment nicht realisiert, wie pathetisch das alles war.
„Finden Sie es nicht auch seltsam“, fragte Tallient nun, „dass ausgerechnet in der Mondsichel-Stadt unerklärliche Dinge im Schein einer Mondsichel geschehen?“
Ich fand es mehr als seltsam. Ich fand es unwiderstehlich.
„Sind Sie interessiert?“
Warum machte er sich überhaupt die Mühe zu fragen? Er
musste gehört haben, auf welche Weise Simon gestorben war.
Er musste wissen, dass Dr. Malones glänzende Reputation in Trümmern lag. Tallient ahnte vielleicht nichts von meinem Schwur, jeden, der Simon verspottet hatte, zu zwingen, seine Worte zurückzunehmen, aber angesichts dessen, womit ich seit dem Tod meines Ehemanns vor vier Jahren meine Zeit verbracht hatte, sollte er es eigentlich vermuten.
Mein Blick fiel auf das einzige Foto, das ich von Simon besaß – schlank, blond, gelehrt und brillant stand er knietief in einem kanadischen See, und sein Lächeln ließ mich noch immer vor Sehnsucht vergehen. Mir krampfte sich das Herz zusammen, so wie es das jedes Mal tat, wenn ich daran dachte, dass er für immer gegangen war. Aber seine Hoffnungen, seine Träume, seine Arbeit lebten in mir weiter.
„Ich sitze morgen früh im Flugzeug.“


Copyright © 2009 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.

Impressum

Texte: Egmont Lyx ISBN:978-3802582288
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2010

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