Man sagt, der Jagdmond habe früher Blutmond geheißen, und ich weiß auch, warum. Der helle Schein eines Voll- monds in einer frostigen Herbstnacht verwandelt Blut von Purpurrot in Schwarz.
Ich persönlich ziehe die Farbe von Blut im Mondschein seiner Schattierung im grellen Kunstlicht bei Weitem vor. Aber ich schweife ab.
Ich bin eine Jägerin. Ein Jägersucher für die Eingeweihten – von denen es nur eine Handvoll gibt. Ich jage Monster, und für den Fall, dass ihr denkt, dies sei ein Euphemismus für die Serienmörder von heute, so ist das nicht. Wenn ich „Monster“ sage, meine ich damit die entfesselte Hölle, Klauen und Reißzähne, frei herumlaufende, übernatürliche Geschöpfe. Die Art von Kreaturen, die einem niemals endende Albträume bescheren.
Ich weiß, wovon ich spreche.
Meine Spezialität sind Werwölfe. Ich muss schon tausend getötet haben, dabei bin ich erst vierundzwanzig. Leider war meine berufliche Auslastung noch nie in Gefahr. Ein Umstand, der mir mal wieder allzu bewusst wurde, als mich mein Chef, Edward Mandenauer, an einem Tag im Oktober in aller Herrgottsfrühe anrief.
„Leigh, ich brauche Sie hier.“
„Wo ist hier?“, ächzte ich.
Ich bin kein fröhlicher, strahlender Morgenmensch. Das liegt vielleicht daran, dass ich den größten Teil meines Lebens in der Dunkelheit verbringe. Werwölfe zeigen sich erst nachts, bei Mondschein. Sie sind diesbezüglich ziemlich eigen.
„Ich bin in Crow Valley, Wisconsin.“
„Nie gehört.“
„Genau wie der Rest der Welt.“
Plötzlich hellwach und mit sämtlichen Sinnen in Alarm- bereitschaft, setzte ich mich auf. Das hatte verdächtig nach einem trockenen Witz geklungen. Edward machte keine Witze.
„Wer spricht da?“, fragte ich barsch.
„Leigh.“ Mandenauers langes, gequältes Seufzen war ebenso typisch für ihn wie sein schwerer deutscher Akzent.
„Was ist heute Morgen los mit Ihnen?“
„Es ist morgens. Reicht das nicht?“
Ich war niemand, der jeden neuen Tag freudig begrüßte. Mein Leben war einer einzigen Sache gewidmet – die Erde von Werwölfen zu säubern. Nur so konnte ich vergessen, was passiert war, mir vielleicht verzeihen, dass ich lebte, während alle, die ich je geliebt hatte, gestorben waren.
„Liebchen“, murmelte Mandenauer, „was mache ich nur mit Ihnen?“
Edward hatte mich an jenem lang zurückliegenden Tag voller Blut, Tod und Verzweiflung gerettet. Er hatte mich bei sich aufgenommen, mir Dinge beigebracht und mich dann losgeschickt, um sie in die Tat umzusetzen. Ich war seine eifrigste Agentin, doch nur Edward und ich wussten, warum.
„Es geht mir gut“, versicherte ich ihm.
Das tat es nicht und würde es vermutlich auch nie. Aber ich hatte mich damit abgefunden und neu angefangen. Sozusagen.
„Natürlich geht es Ihnen gut“, erwiderte er sanft.
Keiner von uns beiden ließ sich von meiner Lüge oder seiner Billigung derselben täuschen. Auf diese Weise blieben wir auf das fokussiert, was wichtig war. Sie alle zu töten.
„Die Stadt liegt im Norden des Staates“, fuhr er fort. „Sie werden nach Minneapolis fliegen, sich einen Leihwagen nehmen, und dann müssen Sie in … ich glaube, östlicher Richtung fahren.“
„Ich komme nicht nach Shit Heel, Wisconsin, Edward.“
„Crow Valley.“
„Was auch immer. Ich bin hier noch nicht fertig.“
Ich hatte auf Mandenauers Anweisung hin in Kanada gearbeitet, nachdem vor ein paar Monaten in einem kleinen Kaff namens Miniwa die Hölle losgebrochen war. Irgendwas in Zusammenhang mit einem Blauen Mond und einem Wolfsgott – ich kannte die Details nicht. Sie interessierten mich auch nicht.
Das Einzige, was mich interessierte, war die Tatsache, dass jede Menge Werwölfe nach Norden unterwegs waren.
Aber so gern ich es auch getan hätte, konnte ich nicht einfach jedem Wolf, der mir über den Weg lief, eine Silberkugel verpassen.
Es gab diesbezüglich Gesetze – sogar in Kanada.
Die Jägersucher waren eine geheime Spezialeinheit der Regierung.
Wir selbst betrachteten uns gern als eine Art Sonder- einsatzkommando in Sachen Monsterjagd. So etwas wie Akte X kontra Grimms Märchenfiguren auf Steroiden.
Jedenfalls mussten wir unter allen Umständen im Verborgenen operieren. Ein Haufen toter Wölfe – eine gefährdete, in manchen Gegenden sogar vom Aussterben bedrohte Spezies – würde zu viele Fragen aufwerfen.
Die Jägersucher hatten schon genug Probleme, das Verschwinden jener Menschen zu vertuschen, die in Wahrheit Werwölfe gewesen waren. Trotzdem war es in unserer modernen Welt immer noch einfacher, vermisste Personen zu erklären als tote Tiere. Traurig, aber wahr.
Mein Job, sollte ich ihn denn annehmen – und das hatte ich vor langer Zeit getan –, würde darin bestehen, die Werwölfe in flagranti zu ertappen. Während sie sich verwandelten. Dann hatte ich die Befugnis, ihnen eine Silberkugel ins Gehirn zu jagen.
Bürokratie in Reinkultur.
Sie zu erwischen war gar nicht so schwer, wie man meinen könnte. Die meisten Werwölfe bewegten sich genau wie echte Wölfe in Rudeln. Wenn sie in den Wald liefen, um sich zu verwandeln, hatten sie dort meistens ein Lager, wo sie ihre Kleidung, Geldbeutel und Autoschlüssel zurückließen. Vom Zweifüßler zum Vierfüßler zu werden brachte ein paar Nachteile mit sich, wie, zum Beispiel, keine Hosentaschen zu haben.
Einmal habe ich ein solches Versteck aufgespürt … Sagt euch die Redewendung „auf Enten in einem Teich schießen“ etwas?
Sie ist eine meiner liebsten.
„Sie werden da nie fertig werden.“ Edwards Stimme riss mich aus meiner Gedankenversunkenheit. „Und momentan werden Sie hier gebraucht.“
„Warum?“
„Aus dem üblichen Grund.“
„Es gibt dort Werwölfe. Erschießen Sie sie selbst.“
„Ich brauche Sie, damit Sie einen neuen Jägersucher ausbilden.“
Was waren denn das für neue Sitten? Edward hatte sich sonst immer selbst um das Training der Neuzugänge gekümmert, und ich …
„Ich arbeite allein.“
„Es ist an der Zeit, das zu ändern.“
„Nein.“
Ich war nicht gut im Umgang mit Menschen. Wollte es auch gar nicht sein. Ich war gern allein. Auf diese Weise konnte niemand, der mir nahestand, getötet werden – nicht noch einmal.
„Es ist keine Bitte, Leigh, sondern ein Befehl. Sie sind spätestens morgen hier, sonst können Sie sich einen neuen Job suchen.“
Damit legte er auf.
Ich blieb in meiner Unterwäsche auf der Bettkante sitzen und hielt den Hörer gegen mein Ohr, bis er zu piepsen anfing, dann legte ich ihn auf die Gabel und starrte noch einen Moment länger vor mich hin.
Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich war keine Lehrerin, ich war ein Killer. Welches Recht hatte Edward, mich rumzukommandieren?
Jedes Recht der Welt. Er war mein Boss, mein Mentor, das, was für mich einem Freund am nächsten kam, was wiederum bedeutete, dass er es besser wissen sollte, als von mir zu verlangen, etwas zu tun, das ich zusammen mit meinem einstigen Leben aufgegeben hatte.
Ich war tatsächlich eine Lehrerin gewesen, vor langer, langer Zeit.
Ich zuckte zusammen, als die Erinnerung an singende Kinderstimmen durch meinen Kopf waberte. Miss Leigh Tyler, ihres Zeichens Grundschullehrerin, war so tot wie der Mann, den sie einst hatte heiraten wollen. Auch wenn sie manchmal noch durch meine Träume geisterte. Aber was konnte ich dagegen schon machen? Sie erschießen?
Das war zwar meine übliche Methode, Probleme zu lösen, aber bei der sorglosen Traum-Leigh funktionierte sie nicht wirklich. Leider.
Ich schleppte mich vom Bett zur Dusche, dann packte ich meine Siebensachen und machte mich auf den Weg zum Flughafen.
Niemand hier in Elk Snout – oder wie zur Hölle dieses Kaff, in dem ich gejagt hatte, hieß – würde bemerken, dass ich weg war. Wie ich es überall, wohin mich mein Weg führte, praktizierte, hatte ich auch hier eine abgelegene Hütte gemietet und jedem, der fragte – und es war schockierend, wie wenige das taten –, erzählt, dass ich vom Department of Natural Resources hergeschickt worden sei, um einen neuen, die Wolfspopulation bedrohenden Tollwuterreger zu untersuchen.
Diese Erklärung rechtfertigte bequem meine seltsamen
Arbeitszeiten, meine Angewohnheit, ein bis drei Schuss- waffen mit mir herumzuschleppen, und auch mein mür- risches Wesen.
Die Jagd- und Fischereibehörde war bei den Leuten nicht gerade beliebt. Also ließ man mich in Ruhe – was mir sowieso amliebsten war.
Als ich am Flughafen ankam, stellte ich fest, dass es pro Tag nur einen Flug nach Minneapolis gab. Zum Glück ging er am späten Nachmittag, und es waren noch jede Menge Plätze frei.
Ich hatte von den Jägersuchern die entsprechenden Papiere, die mich als Beamtin des DNR auswiesen und mir gestatteten, meine Waffen – eine serienmäßige Remington- Flinte Kaliber .12, mein persönliches Jagdgewehr und eine halbautomatische Glock Kaliber .40, die ebenfalls zur Standardausrüstung des DNR gehörte – mit an Bord zu nehmen. Eine Stunde nach der Landung war ich auf dem Weg nach Crow Valley.
Ich machte mir nicht die Mühe, Mandenauer anzurufen, um mich anzukündigen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass ich kommen würde. Ganz gleich, was er von mir verlangte, ich würde es tun. Nicht, weil ich ihn respektierte, auch wenn ich das tat, und zwar mehr als jeden anderen Menschen, den ich je gekannt hatte, sondern weil er mich tun ließ, was ich tun musste. DieTiere, die Monster, die Werwölfe töten.
Es war das Einzige, wofür ich noch lebte.
Copyright © 2008 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Texte: Egmont Lyx
ISBN: 978-3802581618
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2010
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