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Der Sommer, in dem ich die Wahrheit entdeckte, war nicht schwarz-weiß, so wie ich es bevorzugte, sondern eine Palette verstörender Grauschattierungen. Gleichzeitig änderte sich in diesem Sommer mehr als nur meine Farbwahrnehmung.
Jedenfalls war ich in jener Nacht, als die Wahrheit ihren Anfang nahm, nichts weiter als eine durchschnittliche Kleinstadtpolizistin – gelangweilt, launisch, darauf wartend, ja, sogar darauf hoffend, dass etwas passierte. Ich sollte lernen, bei meinen Wünschen nie wieder so unbestimmt zu sein.
Das Funkgerät knackte.
„Drei Adam Eins, wo steckst du?“
„Ich sehe dem Mais am östlichen Stadtrand beim Wachsen zu.“
Ich wartete auf das unvermeidliche wüste Geschimpfe der diensthabenden Dispatcherin. Ich wurde nicht enttäuscht.
„Man könnte meinen, wir hätten einen verdammten Vollmond. Ich schwöre, der treibt jeden einzelnen Irren weit und breit aus seinem Schlupfloch.“
Meine Mundwinkel zuckten. Zelda Hupmen war ein fünfundsiebzigjähriges, heftig trinkendes, ketten- rauchendes Überbleibsel der guten alten Zeiten, wo ein solcher Lebenswandel gang und gäbe und der Umstand, dass er einen töten konnte, noch ein Mysterium war.
Offensichtlich hatte Zelda von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen noch immer nichts gehört, denn es schien, als wollte sie jeden überleben, indem sie filterlose Zigaretten rauchte und zum Frühstück Whiskey trank.
„Vielleicht machen sich die Spinner auch nur für den Blauen Mond bereit, auf den wir zusteuern.“
„Was zum Teufel ist ein Blauer Mond?“
Der Grund, warum Zee nach unzähligen Dienstjahren noch immer in der dritten Schicht arbeitete? Ihre charmante Ausdrucksweise.
„Zwei Vollmonde in einem einzigen Monat machen den zweiten zu einem Blauen Mond. Das ist sehr selten. Sehr energiereich. Falls man an solches Zeug glaubt.“
Ich lebte in den nördlichen Wäldern von Wisconsin, sozusagen Tür an Tür mit dem, was vom Ojibwa-Volk noch übrig war, und hatte dadurch genügend abergläubische Legenden für ein ganzes Leben gehört. Sie machten mich immer wütend. Ich entstammte einer modernen Welt, in der es für Legenden nur einen einzigen Platz gab: Märchenbücher. Um meinen Job zu machen, brauchte ich Fakten.
In Miniwa war es so, dass – je nachdem, mit wem man sprach – Fakten und Fiktion sich stärker miteinander vermischten, als mir lieb war.
Zees spöttisches Schnauben ging in ein langes, trockenes Husten über. Wie immer wartete ich geduldig ab, bis sie wieder Luft bekam.
„Energiereich, meine Fresse. Und jetzt schaff deinen Arsch raus zum Highway 199. Da gibt’s Ärger, Mädchen.“
„Welche Art von Ärger?“ Ich stellte das Blaulicht an und zog die Sirene in Erwägung.
„Keine Ahnung. Handyanruf. Jede Menge Gekreische, jede Menge Statik. Brad ist schon auf dem Weg.“
Ich hatte vorgehabt, mich nach dem zweiten dienst- habenden Officer zu erkundigen, aber wieder einmal beantwortete Zee eine Frage, noch bevor sie gestellt werden konnte. Manchmal war sie unheimlicher als alles, was ich bei meinem Job zu hören oder zu sehen bekam.
„Er wird eine Weile brauchen“, fuhr sie fort. „Er war am anderen Ende des Sees, deshalb wirst du als Erste vor Ort sein. Halt mich auf dem Laufenden.“
Da Gekreische meiner Erfahrung nach nie etwas Gutes bedeutete, hörte ich auf, die Sirene bloß in Erwägung zu ziehen, dann jagte ich meinen Wagen mit Geheul in Richtung Highway 199.
Das Miniwa Police Department setzte sich aus meiner Wenigkeit, dem Sheriff und sechs weiteren Beamten, außerdem noch Zee und einer endlosen Reihe junger Dispatcher zusammen – zumindest bis zum Sommer, wo die Mannschaft wegen der Touristen dann auf zwanzig anschwoll.
Ich hasste den Sommer. Es war die Zeit, in der die reichen Idioten aus den Städten im Süden über den zweispurigen Highway nach Norden kamen, um ihren Hintern an einen See zu pflanzen und ihre Haut zu einem zornigen Fuchsienrot zu grillen. Ihre Kinder schrien, ihre Hunde rannten frei herum, sie selbst trieben ihre Boote zu mehr Leistung an als ihre Hirne, doch sie kamen in die Stadt und gaben ihr leicht verdientes Geld in den Bars, Restaurants und Trödelläden aus.
So ärgerlich die Touristensaison für einen Cop auch sein mochte, waren es genau diese drei qualvollen Monate, die Miniwa auf der Landkarte hielten. Meinem Kalender nach war gerade die dritte Höllenwoche angebrochen.
Ich kam über einen Hügel und stieg auf die Bremse. Ein Benzin fressender, breiter Geländewagen stand quer über der gelb gepunkteten Linie. Ein einzelner Scheinwerfer strahlte noch, der andere war ein klaffendes, schwarzes Loch.
Ich hatte keine Ahnung, weshalb der Besitzer den Wagen nicht an den Randstreifen gefahren hatte. Andererseits hatte ich schon immer den Verdacht gehabt, dass die Mehrheit der Bevölkerung zu dumm war, um zu leben.
Ich parkte meinen Streifenwagen am Straßenrand und richtete die Scheinwerfer auf das Auto. Ich ließ das Blaulicht an, stellte jedoch die Sirene ab. Die eintretende Stille war ebenso ohrenbetäubend wie zuvor der schrille Signalton.
Das Klacken meiner Stiefel auf dem Asphalt gab ein einsames, geisterhaftes Geräusch ab. Hätten meine Scheinwerfer nicht den schemenhaften Umriss einer Gestalt auf dem Fahrersitz angestrahlt, hätte ich angesichts der tiefen, vollkommenen nächtlichen Stille geglaubt, allein zu sein.
„Hallo?“, rief ich.
Keine Antwort. Nicht der Hauch einer Bewegung.
Als ich um die Vorderseite des Wagens herumging, bemerkte ich die Teile des Kühlergrills und den einen Scheinwerfer, die auf der Straße lagen. Für ein Auto, das 40 000 Dollar kostete, zerfiel es ziemlich schnell in seine Einzelteile.
Das war es, was ich an meinem speziell für die Polizei umgerüsteten Ford Crown Victoria so schätzte: Das Ding war gebaut wie ein Panzer, und es fuhr sich auch wie einer. Andere Städte hatten längst auf Geländewagen um- gesattelt, doch Miniwa hielt sich an das Altbewährte.
Klar, ein Vierradantrieb war nett, aber Sandsäcke im Kofferraum und Ketten auf den Reifen erfüllten den gleichen Zweck.
Abgesehen davon hatte mein Crown Victoria einen Supermotor. Ich konnte mit diesem Gefährt fast jeden einholen, und es geriet auch in engen Kurven nicht aus der Spur.
„Miniwa Police Department“, rief ich, während ich den Kotflügel des Geländewagens umrundete.
Mein Blick wanderte über die Blutstropfen, die im silbernen Mondschein schwarz glänzten. Ihre Spur verlor sich auf der anderen Straßenseite. Ich nahm mir eine Minute Zeit, um den Straßengraben nach irgendeinem Hinweis auf ein verwundetes Tier oder menschliches Wesen abzusuchen, aber da war nichts.
Ich ging zu dem Auto zurück, riss die Tür auf und blinzelte kurz, als ich feststellte, dass hinter dem Steuer eine Frau saß.
Meiner Erfahrung nach fuhren Männer solche Autos – oder Fußball- Mütter. Ich sah keine Fußbälle, keine Kinder, keinen Ehering. Hmm.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“
Sie hatte eine Beule an der Stirn, und ihre Augen waren glasig.
Sie war sehr jung und sehr blond – der Typ Märchen- prinzessin – und wirkte zu zierlich, um einen Wagen dieser Größe zu fahren, aber – ich zuckte im Geist mit den Achseln – dies war ein freies Land.
Der Airbag hatte sich nicht aufgeblasen, was bedeutete, dass das Auto entweder eine Mistkarre oder die Frau nicht besonders schnell unterwegs gewesen war, als es zum Zusammenstoß mit …
was auch immer sie angefahren hatte, gekommen war.
Da sie nicht von der Windschutzscheibe zerfetzt auf der Straße lag, tippte ich auf Letzteres. Die Beule deutete darauf hin, dass sie nicht angeschnallt gewesen war. Sie sollte sich was schämen.
Es war ein Verkehrsdelikt in diesem Staat, im vorliegenden Fall jedoch schwer zu beweisen.
„Ma’am“, versuchte ich es wieder, nachdem sie mich immer noch wortlos anstarrte. „Geht es Ihnen gut? Wie heißen Sie?“
Sie hob die Hand an den Kopf. Von ihrem Arm tropfte Blut.
Ich runzelte die Stirn. Es gab keine Scherben, außer an der Vorderseite des Wagens, wo das meiste jedoch Plastik zu sein schien.
Woran hatte sie sich geschnitten?
Ich löste die Taschenlampe von meinem Gürtel und richtete sie auf ihren Arm. Etwas hatte ein Stück Haut zwischen ihrem Daumen und dem Handgelenk herausgerissen.
„Womit sind Sie kollidiert, Ma’am?“
„Karen Larson.“ Ihre Augen waren aufgerissen, die Pupillen geweitet; sie stand unter Schock.

Copyright © 2008 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Impressum

Texte: Egmont Lyx ISBN: 978-3802581533
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2010

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