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Alex erkannte die Stimme der blonden Frau von ihrem Telefonat. Eliane Selvais, M. Cypriens hochnäsige Sekretärin.
Sie war von dem reichen Kerl mit dem ausgefallenen Briefpapier entführt worden? Sie erinnerte sich an das Wappen mit den ziehenden Wolken und den Vogelkrallen. Das war eine Warnung gewesen.
Träum in den Tag hinein, und du wirst entführt.


Alex sprang auf, rannte zur Tür und lief prompt mit dem Gesicht zuerst vor eine betonharte Brust. Sie holte mit der Schmuckdose aus, um sie dem Mann auf den Kopf zu schlagen, und keuchte, als er sie ihr aus der Hand nahm und über seine Schulter hinter sich warf.
Alex trat einen Schritt zurück. Jemand hatte die Nase dieses Mannes ein paarmal gebrochen, und eine üble Narbe lief von seiner Lippe herunter und verschwand in seinem Hemdkragen. Sein glattes Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengefasst, der die scharfen Kanten seines Gesichts nicht abmilderte. Das Braun seiner Augen war so hell, dass es an Kaffee mit zu viel Milch erinnerte.
Alex hatte ihr ganzes Leben in Chicago verbracht, einer Stadt voller Gewalt mit zahlreichen Drogenabhängigen, Vergewaltigern und Dieben, wo eine Frau, die allein durch die Straßen ging, zur Zielscheibe wurde. Weil sie kein völliger Schwachkopf war, hatte Alex einige Intensivkurse in Selbstverteidigung besucht und gelernt, sich selbst zu schützen. Sie wusste auch eine Menge über den menschlichen Körper und genau, wo es wehtat.
Schweigend und grimmig griff sie Narbengesicht an. Doch nichts bewegte ihn vom Fleck oder ließ ihn auch nur zusammenzucken; er hielt nur ihre Arme fest und ignorierte ihre Tritte.
»Philippe wird Sie nicht verletzen, Doktor, aber er wird Sie auch nicht vorbeilassen.«
Miss Selvais klang beinahe entschuldigend, als der Gorilla sie vorsichtig zu ihr umdrehte.
»Ich habe Ihnen einen Salat und Sandwiches gebracht. Blauschimmelkäse-Dressing mögen Sie am liebsten, nicht?«
»Ihr Boss M. Cyprien hat mich entführt.«
Alex wollte das klarstellen, für die Aussage, die sie bei der Polizei machen würde. Die Französin nickte, und dumpfe Hitze stieg in Alex’ schmerzendes Gesicht.
»Hat er denn seinen verdammten Verstand verloren?«
»Das müssen Sie Mr Cyprien heute Abend selbst fragen. Im Moment sollten Sie etwas essen.«
Der dunkle Kamee-Ring, den sie trug, schimmerte, als sie auf das Tablett deutete.
Da Blondie offenbar nicht ganz bei Trost war, wandte sich Alex an Philippe.
»Entführung ist eine Straftat. Lassen Sie mich hier raus, und ich werde keine Anzeige erstatten.«
Oh doch, das würde sie. La ganz Fontaine würde für diesen kleinen Stunt ins Gefängnis wandern.
»Philippe spricht kein Englisch.« Eliane lächelte. »Und auch das andere Personal nicht.«
Sie ging zur Tür.
»Ich werde in einer Stunde zurückkommen und das Tablett holen. Bon appétit


»Um Himmels willen, das können Sie doch nicht machen. Ich bin Ärztin. Ich habe Patienten.«
Alex versuchte ihr zu folgen, aber Philippe blockierte erneut die Tür.
»Holen Sie Cyprien und sagen Sie ihm, dass ich mit ihm sprechen will«, rief sie über seine Schulter. »Jetzt!«
Eliane kam wie versprochen zurück und holte das Tablett, wiederholte jedoch nur, dass ihr Chef Alex am Abend sehen wollte. Alex versuchte es auf andere Weise und erzählte ihr von Luisa und den anderen Leuten, deren Leben davon abhing, dass sie zurück nach Hause kam.
»Diese Leute werden jemand anders finden, der sie behandelt«, sagte Cypriens Assistentin und machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Mr Cyprien kann das nicht.«
»Natürlich kann er einen anderen Chirurgen finden. Es gibt Tausende von ihnen im Süden …«
Die Blondine schüttelte den Kopf.
»Leider gibt es keinen, der schnell genug ist.«
Sofort wurde Alex alles klar.
Vor sechs Monaten hatte das Time-Magazin einen Reporter geschickt, um mit Alex ein Interview zu führen. Sie hatte ihn abgewiesen, aber jemand im Krankenhaus musste ihm erzählt haben, wie schnell sie mit dem Skalpell war. Der Reporter beschloss, es auf andere Weise zu versuchen, und hatte heimlich Alex’ Zeit gestoppt und mit der von zwölf Top-Chirurgen bei der gleichen Operation verglichen.
Der Artikel hatte einen besonders geschmacklosen Titel gehabt: ALEXANDRA KELLER, SCHNELLSTES SKALPELL DER WELT.
»Nur weil ich schnell bin, heilt er doch nicht schneller.«
Alex hielt Eliane am Arm fest, als sie zur Tür ging. »Sagen Sie ihm das.«
»Das können Sie ihm selbst sagen.« Mit überraschend kräftigem Griff machte sie sich von Alex’ Hand los. »Heute Abend, beim Essen.« Sie deutete auf den Schrank gegenüber vom Bett. »Sie werden dort passende Kleidung finden. Seien Sie bitte um neunzehn Uhr fertig.« Damit ging sie, und Philippe schloss Alex die Tür vor der Nase.
Aus reiner Neugier öffnete Alex den Schrank. Dutzende von schicken Kleidern hingen drin, und eine Reihe Pumps mit niedrigen Absätzen stand darunter. Seidenunterwäsche füllte die Schubladen ganz unten.
Die teuren Sachen – und es gab ein paar Etiketten, die sie »Heilige Scheiße« murmeln ließen, als sie den Namen darauf las – störten sie nicht so sehr wie die Entdeckung, dass alles bis hin zu den hochgeschnittenen Slips genau ihre Größe hatte.
Alex ließ ihre eigenen Sachen an, was Philippe die Stirn runzeln ließ, als er um Punkt neunzehn Uhr die Tür öffnete.
»Vous êtes très têtue

«, murmelte er, während er sie betrachtete. Die Narbe, die über sein Kinn lief, wurde leicht rosa.
»Beiß mir in den Arsch.« Sie blickte sich im Flur vor der Tür um, aber alles, was sie sah, waren noch mehr Türen.
»Wo ist er?«
Philippe deutete mit einer großen, schwieligen Hand nach links und folgte Alex, als sie in diese Richtung marschierte. Sie gingen eine Marmortreppe hinunter, durch ein Labyrinth von Korridoren, die geschmackvoll mit noch mehr Bildern und Antiquitäten ausgestattet waren, und standen schließlich in einem höhlenartigen Esszimmer.
Ein Kristallkronleuchter von der Größe eines Volkswagen- motors hing in der Mitte eines barocken Deckenbildes. Die in den Wandputz eingearbeiteten Medaillons waren vergoldet, sodass sie wie Sonnen aussahen, und der Tisch war eine Platte aus weißem Marmor mit Goldeinschlüssen auf sechs massiven Messingstützen. Blassrosa Orchideen erhoben sich aus einer Schale mit Schleierkraut und Farn, die das Herzstück des Tisches bildete.
Auf dem Tisch stand kein Essen, wie sie bemerkte, und nur ein Platz war mit exquisitem, eierschalendünnem Porzellan gedeckt. Der Lebensstil der Reichen und Verbrecher.


»Oh nein.«
Alex schüttelte den Kopf, als Philippe den Stuhl für sie zurückzog. »Holen Sie Ihren Chef.«
»Setzen Sie sich, Dr. Keller«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Als sie herumwirbelte, stand dort niemand. Dann entdeckte sie die Gegensprechanlage, die diskret in die Wandpaneele eingepasst war. »Meine Assistentin hat ein köstliches Mahl für Sie zubereitet. Crêpes mit Krebsfleisch, gefüllt mit Artischocken, glaube ich.«
»Ich habe keinen Hunger.«
Alex überlegte, ob sie sich ein Messer schnappen sollte, bis sie sah, wie scharf Narbengesicht sie beobachtete.
»Können wir es nicht hinter uns bringen? Ich habe Patienten, die auf mich warten.«
Und ich muss die Polizei anrufen. Und Anzeige erstatten.


»Vielleicht ist es besser, wenn Sie noch nicht essen. Philippe, apportez-la-moi


Philippe führte Alex aus dem Esszimmer und eine weitere Treppe hinunter, diesmal ins Kellergeschoss.
Sie sah keine Heizungsanlage oder Werkzeugregale in Cypriens Keller; tatsächlich war es hier schöner als oben. Die Antiquitäten waren museumsreif, die Teppiche makellos und von erfahrenen persischen Händen fein gewoben. Alles war in sehr dramatischen Schwarz-, Gold- und Rottönen gehalten, Pufffarben, aber irgendwie passte es. Mittelalterliche Bilder von Burgen und Rittern hingen an den Wänden, aber die Farben wirkten frisch, als wären sie erst gestern gemalt worden. Sie bemerkte die verhüllten Staffeleien in einer Ecke, roch die frische Ölfarbe und das Terpentin. Ein riesiges altes Buch, in verwittertes braunes Leder gebunden, lag bei einem Sessel. Die Klimaanlage war so kalt gestellt, dass die Luft klirrte. Offensichtlich lebte und arbeitete der Mann hier.
Vielleicht hat er Angst, ausgebombt zu werden

. Alex sah ein merkwürdiges Arrangement aus blutroten Samt- vorhängen, die von der Decke herab um ein Himmelbett hingen. Noch ein Geruch stieg ihr in die Nase, und sie blickte durchs Zimmer auf der Suche nach seiner Quelle.
»Ich bin hier, Dr. Keller.« Ein Vorhang bewegte sich. »Sie sollten sich auf meinen Anblick vorbereiten.«

Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

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Texte: Egmont LYX ISBN: 978-3802582691
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2010

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