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Eine halbe Stunde vor unserem Ziel kamen die Adirondacks in Sicht.
»Wow«, stieß ich hervor. »Die sind ja grandios!«
Karen nickte. »Unsere Skihütte ist dort hinten, am Echo Lake, östlich von Lake Placid. Als ich klein war, sind wir hier immer zum Skifahren hergekommen. Ich denke, deshalb ist Kevin auch hierher gezogen. Er war süchtig nach Winter- sport, und wenn man gern Ski fährt und Eishockey spielt und sich in der Kälte vergnügt, sind die Adirondacks genau das Richtige.«
»Wohnt er in Lake Placid?«
»Nein, in Meridian, das liegt etwa siebzig Kilometer südöstlich. Da leben viele Superreiche aus Lake Placid. Es ist extrem schickimicki.«
»Ich dachte, die Reichen würden näher am Ort wohnen«,
sagte ich.
»Oh, in Lake Placid selber gibt’s auch eine Menge Geld, aber Meridian hält sich für noch besser – kaum zu glauben, aber wahr. Es hat auch einen See, aber er ist viel kleiner, und ja, Kevins Haus steht direkt am See.«
In diesem Augenblick setzte Karen den Blinker und nahm die nächste Ausfahrt. Im Seitenspiegel sah ich, dass Gilley und Steven dicht hinter uns waren.
»Wir müssen uns noch mit Lebensmitteln eindecken, bevor wir zur Skihütte fahren. Aber ich denke, es ist trotzdem gemütlicher, als sich in einem Hotel im Städtchen ein- zuquartieren, und man braucht gerade mal eine Viertel- stunde, zwanzig Minuten zur Schule.«
»Ist denn in eurer Skihütte genug Platz für uns alle?«, fragte ich.
Karen zwinkerte mir grinsend zu.
»Ich denke schon. Ich zeige sie euch, nachdem wir mit Evie geredet haben.«
Wir bogen noch ein paarmal ab und fuhren dann eine Weile nach Südosten. Ich bestaunte in einem fort die Landschaft. Der Regen prasselte jetzt nur so herab, aber das änderte nichts daran, wie atemberaubend die Berge waren und wie herrlich alles grünte und blühte. Schließlich bog Karen in eine Privatstraße ein, die durch ein Tor gesichert war. Sie fuhr bis zur Wachstube am Tor und ließ die Fensterscheibe hinunter.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte ein freundlicher älterer Mann in grauer Uniform.
»Ich bin Karen O’Neal und möchte meinen Bruder Kevin
O’Neal besuchen«, sagte Karen. »Der Van hinter mir gehört dazu.«
Der Wachmann warf einen leicht nervösen Blick auf unseren schwarzen Van.
»Mr O’Neal erwartet Sie?«
»Natürlich«, versicherte Teeko und schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.
Der Wachmann bat uns zu warten, während er Karens Bruder anrief. Schließlich winkte er uns durch.
»Gibt’s hier viel Kriminalität?«, fragte ich.
Karen lachte.
»Mit der scharfen Bulldogge da draußen auf Posten? Keine Chance.«
Die Wohnsiedlung war gewaltig. Und mit gewaltig meine ich weniger ihre Ausdehnung als die Größe der Villen. Anders konnte man die Häuser nämlich nicht bezeichnen. Die wenigsten sahen aus, als hätten sie unter fünfhundert Quadratmeter Wohnfläche – tatsächlich schätzte ich die meisten eher auf das Doppelte. Es fiel mir schwer, das Gaffen sein zu lassen, vor allem, als wir in Kevins und Leannes Einfahrt einbogen.
»Mein Gott«, sagte ich, als wir anhielten.
»Das ist ja ein Hotel!«
Karen verzog den Mund.
»Ich weiß. Als ob er damit etwas kompensieren müsste, oder?«
Das »Haus« war gigantisch, deutlich über tausend Quadratmeter. Es war ein riesiger weißer Klotz mit dreieckigen Fenstern und überdimensionaler Eingangstür. An der Fassade rankte sich an einem weißen Spalier eine Kletterpflanze mit großen violetten Blüten hinauf. Ringsherum gab es gepflegten Rasen und Blumenrabatten. Zu einer Seite hin lag der kleine See, und es gab einen Anlegesteg mit zwei vertäuten Motorbooten und drei Jetskis. Über der frei stehenden dreitorigen Garage befand sich scheinbar eine Atelierwohnung. Dort brannte Licht. Ich spähte hinauf und bemerkte eine hübsche Frau mit blonden Locken, die zu uns heruntersah. Als sie meinen Blick auffing, winkte sie.
Ich winkte zurück.
»Ist das Leanne?«
Karen beugte sich zu mir herüber und sah hoch.
»Ja«, sagte sie und winkte ebenfalls.
»Sie malt heute wohl, weil es regnet. Kevin arbeitet von zu Hause aus, das heißt, sie ist normalerweise im Garten oder oben in diesem Studio.«
Ich bemerkte den Hauch Sarkasmus in ihrem Ton. »Kommen sie gut miteinander klar?«
»Mit Kevin kommt niemand gut klar. Aber Leanne schafft es besser als die meisten.«
Karen nahm ihr Walkie-Talkie und drückte den Sprech- knopf.
»Gil, ich gehe erst mal rein und kläre ab, ob wir mit Evie reden können, dann hole ich euch. Habt ein bisschen Geduld, bis ich wieder da bin, okay?«
In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür, und ein unglaublich großer, imposanter Mann trat auf die Schwelle. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete uns finster.
»Oh, schau mal«, sagte Karen, als sie ihn sah.
»Der hat heute aber gute Laune.«
Sie stieg aus und huschte durch den Regen zu dem einschüchternden Kerl auf der Frontterrasse. Seitlich am Garagengebäude öffnete sich ebenfalls eine Tür, und eilig gesellte sich Leanne zu ihrer Schwägerin und ihrem Mann. Die beiden Frauen umarmten sich, aber Karen und ihr Bruder begrüßten sich ohne jede Herzlichkeit.
Es entstand eine Diskussion, bei der Karen ausgiebig und heftig gestikulierte, Leanne mehrmals entschieden nickte und Kevin immer finsterer blickte. Einmal drehte sich Teeko zum Auto um und zeigte auf mich. Ich winkte und lächelte freundlich.
Leanne winkte zurück. Kevins Stirnrunzeln vertiefte sich.
»Fantastisch «, murmelte ich. »Ich liebe so aufgeschlossene Leute.«
Schließlich sagte Leanne etwas zu Karen und dann zu ihrem Mann, wobei sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Er schien ihr widersprechen zu wollen, aber sie tätschelte ihm nur sanft den Arm und gab uns ein Zeichen herein- zukommen.
Als ich meine Tür öffnete, warf Kevin die Arme in die Luft und ging zurück ins Haus. Teeko zeigte ihm hinter seinem Rücken den Stinkefinger. Leanne legte kichernd ihre Hand darüber. Auch Gilley und Steven stiegen aus, und wir schlenderten zum Haus.
»Hallo!«, sagte Leanne, als ich die Stufen zur Frontterrasse hinaufstieg. »Ich bin Leanne.«
Ich schüttelte ihr die Hand.
»Hallo. Ich bin M. J. Holliday.«
»Karen hat mir schon so viel von Ihnen erzählt, M. J.«, sagte Leanne und wandte sich Teeko zu.
»Du hast recht, Karen, sie sieht genauso aus wie Sandra Bullock.«
Gil sprang sofort darauf an.
»Oh! Und wie sehe ich aus?«
Leanne lachte. »Sie müssen Gilley sein.«
Zur Antwort bekam sie ein enthusiastisches Kopfnicken.
»Nun …« Sie musterte meinen Kompagnon genauer.
»Ich würde sagen, Sie müssen mit Josh Hartnett verwandt sein.«
Gilley strahlte. Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Nur um das mal klarzustellen – Gil sieht nicht annähernd so aus wie Josh Hartnett. Nicht mal wie Josh Hartnetts Cousin fünften Grades.
An guten Tagen ist Gil eins siebzig groß (an schlechten eher eins achtundsechzig), er hat dichtes, widerspenstiges braunes Haar, eine lange Nase und markante Augen- brauen. Seine Pluspunkte sind die breiten Schultern und ein Körperteil, das man durchaus als Knackarsch bezeichnen kann, mit dem er wackelt, sobald ein gut aussehender Mann in Sicht kommt. Trotzdem schien ihm der Ego-Schub gutzutun, so wie er die Brust herausstreckte und Leanne mit den Augen anklimperte.
Leanne wandte sich an Steven.
»Und Sie müssen der Doktor sein.«
»Und ich sehe aus wie Antonio Banderas, hm?«, fragte er, hob ihre Hand zum Mund und küsste sie.
Leanne wurde rot und fächelte sich mit der freien Hand Luft zu.
»Ach du meine Güte. Arzt und auch noch attraktiv. Darf ich fragen, was ein Mediziner bei einer Geisterjagd zu tun hat?«
»Ich bin ein Dampfhans in allen Gassen«, sagte Steven.
Ich verzog das Gesicht. Steven flirtete mit jeder Frau, die ihm über den Weg lief.
»Dr. Sable ist aus Interesse an unserer Arbeit als dritter Partner bei uns eingestiegen.«
Leanne wandte sich an mich.
»Aber Sie sind das Medium, nicht wahr?«
»So ist es.«
»Ich bin so froh, dass Sie sich bereit erklärt haben, Evie zu helfen.«
»Das mache ich doch gern. Ist sie da?«
»Sie ist oben im Studio. Ich dachte mir, vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn sie heute Nachmittag bei mir bleibt und malt, damit sie sich davon ablenken kann, was gestern passiert ist.«
»Geht es ihr gut genug, dass wir mit ihr sprechen können?«, fragte ich.
Leanne nickte. »Ich hoffe doch. Kommen Sie, ich nehme Sie mit nach oben.«
Wir stiegen die Vortreppe wieder hinunter und eilten durch den Regen zu dem Seiteneingang, aus dem Leanne gekommen war. Sie hielt uns die Tür auf.
»Hier, die Treppe rauf.«
Einer nach dem anderen erklommen wir die schmale Treppe und gelangten in ein riesiges Zimmer mit hoher Decke, weiß gestrichenen Wänden, hellem Holzboden und hervorragender Beleuchtung. Durch die Fensterfront hatte man einen phänomenalen Blick auf den See und den Garten hinter der Garage.
Vor den Fenstern standen etliche Staffeleien mit Bildern vom See, dem Garten oder den Bergen, und überall lagen Leinwände, lehnten leere Staffeleien, und auf dem Boden waren Tücher ausgebreitet, damit die Dielen keine Farbe abbekamen.
»Es ist leider ein bisschen unordentlich«, entschuldigte sich Leanne und fing an, hier und dort etwas aufzuräumen.
Am Fenster vor der allerletzten Staffelei saß ein zierliches Mädchen mit langen, wilden Locken und einem Overall. Sie sah uns mit großen braunen Augen entgegen, und mir fiel auf, dass sie das gleiche schöne Gesicht hatte wie ihre Mutter. Ich ging auf sie zu.
»Hi. Mein Name ist M. J.«
»Hi«, sagte sie. Es war nicht viel mehr als ein Flüstern. »Ich bin Evie.«
»Schöner Name«, sagte ich.
»Danke.«
Ich zog mir einen Hocker heran und setzte mich, damit wir uns besser unterhalten konnten.
»Malst du gern?«, fragte ich mit einem Blick zu ihrer Staffelei, die so stand, dass ich sie nicht einsehen konnte.
Evie nickte.
»Ich bin leider überhaupt nicht künstlerisch begabt«, sagte ich.
»Es muss toll sein, die Bilder, die man im Kopf hat, auch zeichnen zu können.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Du fragst dich bestimmt, warum ich hier bin.«
Noch ein Schulterzucken.
»Ich bin eine Freundin deiner Tante.« Ich deutete auf Karen, die mit meinen beiden Teamkollegen bei Leanne stehen geblieben war. Evie lächelte ihr schüchtern zu, und Karen grinste aufmunternd und winkte.
»Sie kam gestern zu mir und erzählte, dass du ein schlimmes Erlebnis hattest.«
Evie versteifte sich. Trotzdem brachte sie ein weiteres Schulterzucken zustande.
»Das heißt, sie hat mich gefragt«, fuhr ich so sanft wie möglich fort, »ob ich in dieser Sache nicht vielleicht behilflich sein könnte. Weißt du, ich hab so eine coole Fähigkeit, mit Leuten zu reden, die nicht mehr da sind.«
Evie legte den Kopf schief wie ein vertrauensvoller Welpe.
»Was heißt das?«
»Na ja.« Ich überlegte, wie ich es möglichst ungruselig ausdrücken könnte. In diesem Moment spürte ich einen Stups an meiner Energie, aber unten an den Beinen. Unwillkürlich schaute ich zum Boden und sprach den Namen aus, der sich in mein Gehirn geschmuggelt hatte.
»Paddington.«
»Was?« Evie klang plötzlich hellwach und scharf.
Ich blickte auf und sah die heftige Gemütsbewegung in ihren großen braunen Augen.
»Paddington Bär«, bekräftigte ich. »Du hattest mal einen Hund namens Paddington Bär, oder?«
Sofort stiegen Evie die Tränen in die Augen, und ihre Unterlippe begann zu zittern.
Ich lächelte. Die Hürde war genommen.
»Er läuft unermüdlich im Kreis um dich herum.« Das entlockte ihr einen erstaunten Laut. »Und er sagt, dass du die ganze Zeit von ihm träumst.«
»Das stimmt!«, rief Evie und suchte mit den Augen den Boden ab, ob sie nicht eine Spur von ihm entdecken konnte.
»Paddington sagt, er ist jetzt bei …« Ich zögerte und versuchte den Klang des Namens zu erhaschen. »Me-ma?«
Evie keuchte verblüfft. »Meine Großmutter!«, japste sie.
Ich grinste breit und nickte. »Sie und Paddington haben viel Spaß. Und deine Me-ma sagt, sie habe es doch gewusst, dass du irgendwann noch stricken lernen würdest.«
»Das hab ich gerade in der Schule gelernt!«, rief Evie. »Eine aus meiner Klasse hat’s mir beigebracht, und wir haben total coole Schals gestrickt! Nur leider können wir sie erst anziehen, wenn’s wieder kalt ist.«
Ich lachte. »Okay, jetzt weißt du also, was ich tue. Wie gesagt, ich rede mit Leuten, die nicht mehr da sind.«
»Mit Toten«, sagte Evie lapidar. »Cool. Ich hab The Sixth Sense gesehen.«
Ich musste von Neuem lachen. »Gott sei Dank, dass es diesen Film gibt. So halten mich nicht alle Leute für durchgeknallt.«
»Wie haben Sie gelernt, mit Toten zu reden?«, fragte sie mit riesigen Kulleraugen.
»Das hab ich nicht gelernt«, erklärte ich. »Ich war ungefähr in deinem Alter, als meine Mutter starb. Kurz vor ihrem Tod kamen ihre Eltern, die beide schon tot waren, nachts an mein Bett und sagten mir, dass meine Mutter sie besuchen kommen und nicht zu mir zurückkehren werde. Und noch viele Nächte lang, nachdem sie gestorben war, kamen sie nachts und erzählten mir, dass es meiner Mutter gut gehe und wie froh sie seien, sie wieder bei sich zu haben. Von da an bekam ich auch Besuch von den verstorbenen Verwandten und Freunden anderer Leute. In meiner Highschool-Zeit war mein Zimmer eine ganze Weile lang
ein ziemlich beliebter Treffpunkt für Tote.«
»Echt cool«, fand Evie.
»Ja, teilweise schon«, sagte ich selbstzufrieden. »Mein Geschäftspartner Gilley dort drüben hat mich dazu ermutigt, professionell für andere Leute mit Toten zu sprechen.«
»Wie der Typ im Fernsehen, wie heißt er noch mal?« Sie tippte sich grübelnd ans Kinn.
»John Edwards?«
»John Edward«, korrigierte ich. Natürlich kannte ich diesen Namen, einen der größten auf dem Gebiet der professionellen Medien.
»Ja, ein bisschen kann man mich mit ihm vergleichen.
Also, Evie«, versuchte ich wieder auf das anstehende Thema zu kommen. »Was dir passiert ist …«
»Es war Hatchet Jack«, sagte sie. Ihre Augen waren wieder riesig. »Er wollte mich holen.«
»Hältst du es aus, darüber zu reden?«
Das Schulterzucken war wieder da. »Schon okay.«
»Dann erzähl mir bitte, was passiert ist. Lass möglichst nichts aus.«
Evie nahm den Pinsel auf und begann wieder zu malen. »Es war in der ersten Stunde. Wir hatten Bio«, erzählte sie. »Wir haben Mr Vesnick – der ist echt cool, und ein paar von uns finden ihn total süß.« Evie wurde ein bisschen rot, als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte.
Ich versuchte ihre Verlegenheit zu lindern. »Ich hatte auch mal einen wahnsinnig attraktiven Biolehrer.«
Sie grinste schüchtern. »Na ja, gestern war der Abschlusstest. Unter anderem mussten wir dafür bis zum Ende der Stunde auf dem Schulgelände verschiedene Pflanzenarten finden. Ich hatte hinter dem alten Flügel eine tolle Clematis entdeckt, aber es war nicht mehr viel Zeit. Deshalb bin ich durch den Flügel gelaufen, statt außen herum.«
»Verstehe«, ermunterte ich sie.
In Evies Stimme schlich sich ein leichtes Zittern. »Na ja, ich geh also durch den Korridor, da hör ich, wie jemand hinter mir herkommt. Ich dachte, es sei Alice Crenshaw – meine Laborpartnerin –, aber als ich mich umschaute, war niemand da.«
»Aber du hast immer noch Schritte gehört, die näher kamen, ja?«
Evie warf mir einen raschen Blick zu. »Ja. Also, ich hatte echt totale Angst und fing an zu rennen, aber die Schritte hinter mir auch, also hab ich zurückgeschaut, und da hab ich ihn gesehen.«
»Wen?«, fragte ich behutsam.
Da drehte Evie die Staffelei um und zeigte mir, was sie gemalt hatte. Für eine Vierzehnjährige malte sie wirklich außergewöhnlich gut. Das Bild hätte direkt aus einem Horrorfilm stammen können. Es zeigte einen Mann mit hartem, kantigem Gesicht und Geheimratsecken, der mit wildem Blick und erhobenem Beil einen Korridor hinunter- rannte.
»Igitt«, sagte ich.
»Ich kriege ihn einfach nicht aus dem Kopf«, gestand Evie.
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Ich stand auf und nahm sie in den Arm. »Das Gefühl kenne ich gut, Liebes. Aber jetzt kommt die gute Nachricht: Ich kann nämlich auch Typen wie diesen Hatchet Jack an einen Ort schicken, wo sie nie wieder jemandem Angst einjagen können.«
Evie drückte sich an mich, und ich hielt sie noch einen Moment fest. Schließlich löste sie sich und sagte: »Alle in der Schule haben wahnsinnige Angst, in den neuen Flügel zu ziehen. Jeder weiß, dass Hatchet Jack da herumspukt.«
»Weißt du, wann die Renovierungsarbeiten fertig werden?«
»Die wollten mit den größten Drecksarbeiten warten, bis Sommerferien sind.«
»Und wann fangen die an?«
»Morgen ist der letzte Schultag. Das heißt, alle verschwinden morgen oder spätestens am Samstag.«
»Das passt mir eigentlich sehr gut«, sagte ich. »Auf keinen Fall will ich diesen Kerl über den Campus jagen müssen, wenn überall noch Schüler sind.«
»Die Lehrer glauben uns nicht«, sagte Evie. »Der Rektor war total gemein zu mir. Er meinte, ich hätte mir das alles nur ausgedacht, damit ich die Abschlussprüfungen nicht machen muss, aber so war’s nicht, M. J.!«
Ich sah ihr in die Augen. »Ich glaube dir, Evie. Ich weiß, dass du das wirklich erlebt hast. Und wie ich schon sagte, ich werde nicht von Northelm weggehen, ehe ich dieses Monster dorthin geschickt habe, wo es hingehört.«
»Zur Hölle?«
Ich grinste. »Nicht ganz, aber ich würde sagen, es könnte ihm so vorkommen.«
Ich deutete auf das Porträt. »Sag mal, darf ich das Bild mitnehmen?«
Sie nickte und hielt es mir hin. »Klar. Und Sie brauchen es mir nicht zurückzugeben. Ich glaub nicht, dass ich es jemals wieder sehen will.«
»Alles klar, Kleine.« Erst jetzt bemerkte ich, was für dunkle Ringe sie unter den Augen hatte und wie müde sie aussah.
»Ich vermute mal, du hast letzte Nacht nicht viel ge- schlafen, hm?«
»Nee«, gab sie zu.
»Ah, dann ist das verständlich.«
»Was?«
»Warum Paddington so an dir klebt. Er ist hier, weil er dich von jetzt an beschützen will. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, dass jemand wie dieser Hatchet Jack hier auftauchen könnte, Evie. Paddington wird alles verscheuchen, was dir Böses wollen könnte, also schlaf ruhig und mach dir keine Sorgen mehr, okay?«
Evies Gesicht hellte sich auf. »Wirklich? Er ist also wirklich bei mir?«
Ich konzentrierte mich auf den kleinen Hundegeist, der im Kreis um Evie herumwedelte. »Er war ein Cockerspaniel, oder? Karamellfarben?«
Ein breites Grinsen erschien auf Evies Gesicht, und sie klatschte in die Hände.
»Jep! Ich vermisse ihn wahnsinnig. Er ist letzten Sommer gestorben.«
»Nun, auch wenn sein Körper nicht mehr da ist, Evie – sein Geist ist dir ganz nahe. Du kannst mich beim Wort nehmen und ruhig schlafen, ja?«
»Danke«, sagte sie.
Ich stand auf und umarmte sie noch einmal. »So, ich muss gehen, aber es hat mich wirklich gefreut, dich kennen- zulernen. Und wenn dir noch was einfällt, wovon du glaubst, dass es mir vielleicht nützen könnte, dann ruf mich an. Jederzeit.«
Ich hielt ihr meine Karte hin.
Evie nahm sie und sah auf. »M. J.?«
»Ja?«
»Ich kann nicht in die Schule gehen, solange er da ist. Sie müssen ihn verjagen. Bitte.«
Darauf tat ich etwas, was ich eigentlich nie tue. Ich versprach ihr hoch und heilig mit der Hand auf dem Herzen, die Schule von diesem üblen Geist zu befreien. Und das war durchaus kein leicht zu haltendes Ver- sprechen. Denn manche sind so niederträchtig, so absolut bösartig, so sehr bestrebt, ihr Revier zu behalten, dass wir Menschen kaum etwas dagegen tun können. Ich hoffte nur, dass Hatchet Jack nicht so einer war, denn sonst steckte ich ganz schön in der Tinte.


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Impressum

Texte: Egmont LYX ISBN: 978-3802582790
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

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