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»Guten Morgen, Miss Holliday«, begrüßte mich die Immobilienmaklerin erfreut vor dem Haus Dartmouth Street Nr. 84. Ich schüttelte ihr die Hand.
»Hi. Sie müssen Cassandra sein. Bitte nennen Sie mich doch M. J.«
»Sie sind jünger und hübscher, als ich gedacht hätte«, bemerkte sie und zupfte nervös an ihrer Perlenkette.
»Danke«, sagte ich und beeilte mich, zum Geschäftlichen überzugehen.
»Sie haben mir zwar am Telefon schon ein bisschen
erzählt, aber ich würde doch gern noch mal alles hören, was Sie über dieses Haus wissen.«
Cassandra verlor ein wenig Farbe und blickte an dem dreistöckigen Sandsteinbau hinauf, einem Juwel aus der Zeit um die Jahrhundertwende, das sich perfekt in das Gesamtbild von Bostons Prachtviertel Back Bay einfügte.
»Ich habe es schon fast ein Jahr lang in Auftrag. Sie können sich vorstellen, dass das hier in der Back Bay eigentlich nie vorkommt. Ein historisches Stadthaus dieser Art verkauft sich normalerweise innerhalb von Wochen, nicht Monaten.«
»Liegt’s vielleicht am Preis?«
»Nein, auf keinen Fall. Für eine Million ist das ein absolutes Schnäppchen! Und wir hatten auch schon eine Menge Interessenten, trotz der Geschichte des Hauses. Aber jedes Mal, wenn wir kurz vorm Vertragsabschluss stehen, macht der Käufer plötzlich einen Rückzieher. Und alle sagen das Gleiche: Das Haus habe einfach eine schlechte Ausstrahlung.«
»Es wurde jemand darin umgebracht, sagten Sie?«
Cassandra nickte.
»Ja, die Tochter der derzeitigen Eigentümer wurde hier vor etwas über einem Jahr vergewaltigt und ermordet.«
»Wie furchtbar.«
Ich warf einen Blick über die Schulter auf das Gebäude.
»Wurde der Mörder gefasst?«
»Er wurde beim Versuch, durch den Hinterausgang zu entkommen, von der Polizei erschossen. Leider kam für die junge Frau jede Rettung zu spät.«
»Also sind eigentlich zwei Leute in dem Haus gestorben.«
»Ja, sieht wohl so aus.«
»Und was ist seither passiert?«
»Na ja«, sagte sie und fing wieder an, mit ihrer Kette zu spielen. »Jedes Mal, wenn ich jemandem das Haus zeige, fühle ich mich irgendwie beobachtet. Manchmal fühle ich mich sogar verfolgt. Und viele Leute kommen rein und machen den Eindruck, als würden sie am liebsten gleich wieder gehen. Die meisten schauen sich nur ein, zwei Zimmer an, dann ergreifen sie mehr oder weniger die Flucht.«
»Verstehe.«
Aber ich hatte das Gefühl, dass da noch mehr war.
»Ist das alles?«
Sie schwieg einen Moment. »Nein«, sagte sie dann. »Vor ein paar Tagen habe ich es einem Ehepaar gezeigt, das sich an der Geschichte wirklich nicht zu stören schien. Sie sagten, für den Preis nähmen sie das gerne in Kauf. Aber als wir schon gehen wollten, hörten wir alle drei aus einem der Schlafzimmer im Obergeschoss den Schrei einer Frau. Ich dachte, jemand habe sich hereingeschlichen, während ich die Kunden herumgeführt hatte, also rannte ich nach oben und sah überall nach, aber es war niemand da. Und dann, schon wieder auf dem Weg nach unten, spürte ich plötzlich …« Sie verstummte.
»Was?«
»Ich spürte, wie mich jemand berührte


»So was wie eine Hand auf der Schulter?«
»Nein«, flüsterte sie mit schreckgeweiteten Augen.
»Auf unanständige Weise


»Aha.« Ich nickte. Jetzt wusste ich, wer der Unruhestifter war.
»Okay, wenn Sie mir aufschließen, mache ich mich an die Arbeit.«
»Können Sie uns wirklich helfen, M. J.?«
»Das ist mein Job, Cassandra. Ich bin Geisterjägerin. Geben Sie mir ein paar Stunden Zeit, dann schaue ich, was ich tun kann.«
Cassandra folgte mir die sechs Stufen zur Eingangstür hinauf und öffnete sie für mich.
»Kommen Sie da drin allein zurecht?«, fragte sie, plötzlich voller Sorge.
»Kein Problem«, sagte ich zuversichtlich. Da hatte ich es schon mit furchteinflößenderen Dingen zu tun gehabt. Ich wartete, bis die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, dann trat ich ins Foyer, stellte meinen Matchsack in die Ecke neben der Treppe und sah mich um. Erst wollte ich mir einen Gesamteindruck verschaffen, ehe ich in die Trickkiste griff.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, um ein Gefühl für die Aufteilung des Hauses zu bekommen. Von dem Foyer führten mehrere Türen und Durchgänge in die übrigen Zimmer. Rechts von mir ging der Flur zur Küche ab. Geradeaus lag das Wohnzimmer und ganz links etwas, was wie ein Arbeitszimmer aussah. Ich holte mein Elektro- feldmeter aus der hinteren Hosentasche, um Spannungs- differenzen der elektrostatischen Energie zu messen. Mit ausgestrecktem Arm zog ich damit einen Kreis durchs Foyer. Dabei fielen mir der verschwenderisch dicke Teppich, die hohen Decken mit den Stuckleisten und die teuren gemusterten Tapeten ins Auge. Der Kasten war wirklich feudal, selbst ohne Möbel merkte man sofort, dass hier drin eine Menge Geld steckte. Dem Elektrofeldmeter zufolge steckte hier allerdings auch noch etwas ganz anderes.
Ein Auge auf den Zeiger gerichtet, der auf der Anzeige hin und her hüpfte, schritt ich durchs Foyer ins Wohnzimmer. Als ich mich langsam der Glastür zur Terrasse näherte, schlug der Zeiger scharf aus. Ich steckte das Gerät zurück in die Tasche, schloss die Augen und konzentrierte mich.
Ausschlaggebend für meine Spitzen-Erfolgsquoten bei der Geisterjagd sind meine medialen Fähigkeiten, die ich schon vor meiner Zeit als Geisterjägerin beruflich genutzt habe. Das heißt, ich kann die Energie körperloser Seelen spüren, sowohl die, die es erfolgreich auf die andere Seite geschafft haben, als auch solche, die noch hier festsitzen oder, wie wir das gerne nennen, »gestrandet« sind. In der Dartmouth Street Nr. 84 konnte ich sofort zwei solcher gestrandeten Seelen ausmachen, eine weibliche und eine männliche. Ich beschloss, mich zuerst um die weibliche zu kümmern.
Ich folgte dem schwachen Ziehen in meinem Solarplexus, weg von der Terrassentür, wieder ins Foyer und die Treppe hinauf. Während ich der weiblichen Energie näher kam, passierte etwas leicht Beunruhigendes: Die männliche Energie, die vor Bösartigkeit nur so strotzte, begann mir zu folgen.
»Halt dich zurück, Junge«, ermahnte ich ihn ruhig. »Du kommst gleich dran.«
Er stellte sich taub und blieb mir weiter auf den Fersen bis zum ersten Stock, wo ich auf dem Treppenabsatz innehielt, anstatt gleich weiter hinaufzusteigen. Da sah ich am Ende des Flurs einen dunklen Schatten in eines der Schlaf- zimmer huschen.
»Keine Angst«, rief ich ihm zu. »Ich will dir nichts tun.«
Ich ging den Flur entlang und betrat das Schlafzimmer. Drinnen bemerkte ich sofort den krassen Temperaturabfall. Mit leichtem Frösteln schlang ich die Arme um den Oberkörper. Eiseskälte kroch mir durch die Kleidung und drang mir bis in die Knochen. An diesen heftigen Kälte- schauer, der mit jeglicher Geisteraktivität einhergeht, habe ich mich nie gewöhnen können. Aber ich schob das Unbehagen beiseite und konzentrierte mich auf die
bevorstehende Aufgabe.
»Wie ist dein Name, Liebes?«, fragte ich sanft in das leere Schlafzimmer hinein.
Es kam keine Antwort, aber ich spürte die Angst, die von dem weiblichen Geist ausging. Schließlich lokalisierte ich ihn in einer Ecke des Raumes, und tatsächlich blitzte in meinen Gedanken flüchtig das Bild einer jungen Frau Anfang zwanzig auf, die am Fenster kauerte. Als ich mich auf sie zubewegte, wurde es noch kälter. Ich ging auf die Knie und schloss die Augen, um mich zu sammeln.
»Ich bin hier, um dir zu helfen, Liebes«, sagte ich laut.
»Er kann dir nicht mehr wehtun. Und ich werde dafür sorgen, dass er nicht ungestraft davonkommt. Bitte sprich mit mir. Sag mir deinen Namen.«
Erleichtert spürte ich den Namen Carolyn in mein Bewusstsein dringen. Armes Ding – sie war nicht nur von dem Monster hinter mir vergewaltigt und ermordet worden, sondern befand sich jetzt auch noch in einem seltsamen Zustand der Schwebe, den sie nicht begreifen konnte.
Wo sind meine Eltern?

, fragte sie verzweifelt.
»Es geht ihnen gut, aber sie machen sich Sorgen um dich. Sie haben mich gebeten, dir zu helfen. Darf ich das, Carolyn?«
Ich öffnete die Augen und richtete den Blick vor mir ins Leere. Ich konnte Carolyn nicht sehen, wohl aber spüren und hören. Sie antwortete nicht gleich, also versuchte ich weiter, sie zu überzeugen.
»Ich verspreche, dass dir nichts passieren wird, aber du musst mir vertrauen. Ich kann dich nach Hause führen, aber nur, wenn du auch den Willen dazu hast. Vertraust du mir?«
Er hat es mir versprochen!


»Was hat er dir versprochen, Liebes?« Ich wusste, sie sprach von ihrem Mörder.
Er hat versprochen, mir nichts zu tun, wenn ich mache, was er sagt!


Ich seufzte tief. Mieser Bastard. Langsam freute ich mich richtig darauf, ihn mir vorzunehmen.
»Ich weiß, Liebes, ich weiß«, sagte ich ernst.
»Das war gelogen. Aber es ist vorbei. Er kann dir nichts mehr tun. Ich hab’s ihm streng verboten.«
Wo sind meine Eltern? Die Frage kam noch flehentlicher als beim ersten Mal. Carolyn stand kurz davor, in Panik zu verfallen, und wenn sie das täte, würde ich den Kontakt zu ihr verlieren.
Zweifellos würde sie sich in die Geborgenheit der Zwischenebene flüchten, die sich unmittelbar neben der befindet, auf der wir existieren. Dort treiben sich die verlorenen Seelen normalerweise herum und kommen nur in unsere Wirklichkeit, wenn sie stark genug sind, um sich mit dem auseinanderzusetzen, was mit ihnen passiert ist.
»Carolyn, hör mir zu«, sagte ich streng, in der Hoffnung, der Befehl werde ihrem Drang zur Flucht ein Ende setzen.
»Bleib bei mir. Ich kann dich hier rausholen, aber nur wenn du genau das tust, was ich sage. Ich bringe dich in Sicherheit, aber wir müssen schnell –«
Er ist hier!

, unterbrach sie mich. Wir müssen uns verstecken, sofort!


»Verdammt«, murmelte ich und drehte mich um. Tatsächlich, in der Türöffnung waberte drohend ein dunkler Schatten. Wenn ich nicht rasch etwas unternahm, würde ich Carolyn verlieren.
»Bleib hier, Carolyn«, sagte ich und stand auf. »Ich sorge dafür, dass er verschwindet, aber du musst dich so lange versteckt halten. Danach helfe ich dir, deinen Weg zu finden, versprochen! Wartest du auf mich, bitte?«
Ein Gefühl, das ich nur als Nicken beschreiben kann, berührte meinen Geist.
»Sehr gut«, sagte ich und ging auf den dunklen Schatten zu. Sowie ich in seine Nähe kam, kondensierte mein Atem, und fast hätte ich mit den Zähnen geklappert, so kalt war es. Ich unterdrückte ein Schaudern und trat zielstrebig auf die schwarze Silhouette zu.
Abrupt hielt ich an, weil der Schatten plötzlich verschwand. Rechts neben mir gab es einen dumpfen Schlag. Ich ließ den Blick in die Richtung schnellen, woher das Geräusch gekommen war, aber nur die kahle Wand starrte mich an.
»Ach, jetzt kommt diese Masche, was?«, flüsterte ich. Dann nahm ich all meinen Zorn zusammen und brüllte: »Hör mal, du stinkender Haufen Scheiße! Du Feigling! Du widerliche, hundsgemeine Missgeburt! Ich glaube, du hast Angst vor mir, und jede Wette, dass du nicht den Mumm hast, mir zu folgen, wenn ich jetzt rausgehe!«
Damit flitzte ich durch die Tür und spürte sofort, wie der Geist die Verfolgung aufnahm.
Ich sprintete den Flur entlang und packte das Treppen- geländer genau in der Biegung, um mit Schwung ein paar Stufen auf einmal zu nehmen. Die dunkle Energie hinter mir schien vor Erregung zu pulsieren, und auch in mir stieg das Adrenalin.
Ich merkte, wie er seine Kräfte sammelte. Bestimmt kam jetzt gleich ein richtig mieser Trick. Ich achtete darauf, eine Hand am Geländer zu lassen, um das Gleichgewicht halten zu können. Das war auch gut so, denn im nächsten Augenblick bekam ich einen harten Schlag in den Rücken, und eine Mikrosekunde später zog etwas kräftig an meiner rechten Brust. »Dreckskerl!«, fluchte ich, schüttelte den Griff ab und jagte weiter die Treppe hinunter.
»Das zahle ich dir heim!«
Im Erdgeschoss schnappte ich mir meinen Matchsack, rannte ins Wohnzimmer und sah mich nach etwas um, wovon ich genau wusste, dass es dort war. Dabei hatte
ich das Gefühl, als wände sich etwas langsam und kribbelnd um meinen Hals.
Mit finsterer Miene, die Augen unbeirrt auf die Wände geheftet, ging ich noch ein paar Schritte umher.
»Heureka«, sagte ich einen Augenblick später.
»Hab ich dich, du Schweinepriester!«
Ich näherte mich dem kleinen schwarzen Loch, das ich direkt Durchmesser, die dem bloßen Auge leicht neblig-grau vorkam. Ich spürte, wie dem Geist hinter mir alle Begierde verging. Er wurde nervös.
»Hättest nicht gedacht, dass ich von deinem Durchschlupf hier weiß, was?«, fragte ich über die Schulter, während ich den Matchsack absetzte und mich hinhockte, um den Bohrer herauszuholen. »Schauen wir mal, wie großspurig du noch bist, wenn wir dich einsperren, du Schuft.«
Aus dem Matchsack kramte ich drei lange Stifte aus Magnetstahl und einen Hammer hervor. Der Geist warf sich mit aller Kraft gegen meinen Rücken, sodass ich nach vorn kippte und mit dem Kopf gegen die Wand knallte.
»Arsch!«, sagte ich und drehte mich um. Vor mir schwebte der dunkle Schatten, und vor meinem geistigen Auge erschien ein niederträchtiges, wutverzerrtes Gesicht.
Aufhören!

, schrie er mich an.
Ich lachte und drohte ihm mit dem Bohrer.
»Höchste Zeit, das Portal zu schließen.«
Damit drehte ich mich wieder zur Wand um. Der Bohrer war batteriebetrieben, damit mir Typen wie er nicht den Stecker rausziehen konnten. Ungehindert fing ich an zu bohren.
Nein!, schrie er, und dicht neben mir gab es einen ohrenbetäubenden Knall.
Ich lachte über seine Versuche, mich abzuschrecken. Nachdem ich mit den drei Löchern fertig war, sah ich ihn an.
»Jetzt spuckst du keine großen Töne mehr, was?«
Die Aufmerksamkeit des schwarzen Schattens war vollständig auf die drei Stifte zu meinen Füßen gerichtet. Ich deutete auf das Stück Wand, in das ich die Löcher gebohrt hatte.
»Das da ist dein kleines Schlupfloch, oder? Tja, ich sag dir was, Freundchen. So läuft das nicht weiter. Du hast zehn Sekunden, um dich zu entscheiden. Entweder du bleibst hier, dann helfe ich dir, auf die andere Seite zu kommen, wo du dich deinen Taten stellen musst und dafür zur Rechenschaft gezogen wirst. Oder du springst jetzt da rein und bleibst so lange da drinnen gefangen, bis du bereit bist, deinem inneren Schweinehund in die Augen zu sehen und von allein rüberzugehen.«
Der Schatten schwankte kurz, und einen Sekunden- bruchteil lang dachte ich, ich hätte ihn überzeugt, sich von mir helfen zu lassen. Aber ich wurde schwer enttäuscht – dieser miserable Abschaum ging mir doch tatsächlich noch mal

an die Titten.
Knurrend fuhr ich herum, griff mir die Magnetstifte und steckte den ersten in eines der Löcher. Hinter mir hörte ich deutlich den Aufschrei einer Männerstimme, als ich den Hammer hob, um ihn auf den Stift sausen zu lassen.
»Jetzt geht’s um die Wurst, Junge!«, rief ich und hieb zu. Eine Nanosekunde ehe der Hammer auftraf, fühlte ich den Geist durch das Portal sausen, das ich im Begriff war zu schließen.
»Angsthase!«, brüllte ich ihm hinterher, während seine Energie in der Wand verschwand.
Ich hämmerte den Stift gründlich fest und ließ die anderen beiden folgen. Als ich fertig war, trat ich einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk. Die Wand sah katastrophal aus, und der Boden war übersät mit Putz und Rigipssplittern, aber zumindest gab es das Portal nicht mehr – das heißt, solange die Stifte an Ort und Stelle blieben.
Ich steckte Hammer und Bohrer wieder in den Matchsack
und eilte zurück in den ersten Stock. Zu meiner immensen Erleichterung schwebte Carolyn noch in der Ecke.
»Na, Kleine«, sagte ich beruhigend, während ich behutsam eintrat.
»Du hast sicher alles gehört, oder? Er ist weg, Carolyn. Den Kerl, der dir das angetan hat, gibt’s nicht mehr.«
Ich habe Angst

, sagte sie.
»Ich weiß. Aber vertrau mir: Ich kann dir helfen, das zu ändern. Zuerst musst du mir zeigen, was passiert ist.«
Ich will nicht …


»Ich weiß, ich weiß. Aber, Mädel, ich muss es sehen. Wir müssen es beide sehen. Zeig mir nur das Ende, wenn der Anfang und die Mitte zu unerträglich sind. Gib mir Einblick in die letzten Sekunden, bevor dich diese Verlorenheit überkam.«
Von rechts spürte ich ein Ziehen und sah in die entsprechende Zimmerecke. Dort fand ein Kampf statt. Carolyn war nackt und blutete aus der Nase. Ihr Angreifer beugte sich über sie und drückte ihr die Kehle zu. Ihre Augen waren riesig vor Entsetzen, und sie versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Schon vom Zusehen zog sich mir der Magen zusammen. Das war der unangenehmste Teil meiner Arbeit. Es war immer grässlich, mit ansehen zu müssen, was unschuldige Menschen in diesen letzten schrecklichen Augenblicken durchmachen mussten.
»Gut, Carolyn«, redete ich ihr zu. Dass ich ihr das nicht ersparen konnte, tat mir bitter leid, aber es war un- umgänglich.
»Jetzt noch ein bisschen weiter, Liebes. Geh zu dem Moment, nach dem du keine Luft mehr bekamst.«
Das Bild veränderte sich. Ich sah, wie Carolyns Mörder ihren schlaffen Körper zu Boden fallen ließ. Dann hob er ruckartig den Kopf, und ich hörte das schwache Heulen einer Sirene. Im nächsten Augenblick hetzte der Mann aus dem Zimmer und ließ Carolyn einfach liegen.
»Gut, Liebes«, sagte ich, als sein geisterhaftes Abbild den Raum verlassen hatte. »Das war ganz große Klasse. Jetzt konzentrier dich bitte auf deinen Körper. Siehst du?«
Ich muss aufstehen!

, drängte sie. Ich muss weg!


»Aber du kannst nicht, oder?«, wandte ich ein. »Du kannst nicht, Carolyn, weil du nicht mehr atmest. Schau!«
Ich deutete auf ihre leblose Gestalt.
»Dein Körper ist tot, Liebes. Das musst du akzeptieren.«
Mit einem Mal überkam mich eine abgrundtiefe Traurigkeit, und ich wusste: Carolyn hatte endlich begriffen, dass sie tot war.
»Carolyn, hör mir zu«, bat ich. »Auch wenn dein Körper aufgehört hat zu funktionieren, muss deine Seele ihren Weg weitergehen. Ich kann dir dabei helfen, aber du musst tun, was ich sage. Hör mir gut zu und folge meinen Anweisungen. Dann kommst du hier raus. Okay?«
Erleichtert fühlte ich dieses mentale Nicken.
»Sehr gut. Also, dann will ich, dass du jetzt das strahlend helle Licht spürst, das von oben herabscheint, durch die Decke hindurch genau auf dich. Spürst du es, Carolyn?«
Ein kurzes Schweigen. Dann: Ja.


»Super! Das machst du toll!«, lobte ich sie. »Und jetzt will ich, dass du spürst, wie sehr dieses Licht von Wärme erfüllt ist, von Güte, Reinheit und Liebe. Fühlst du das alles, Carolyn?«
Wieder Schweigen, dann ganz aufgeregt: Ja, ich fühle es!


»Genial! Also, jetzt sollte vor dir ein Weg sichtbar werden. Kann sein, dass er ein bisschen aussieht wie ein Tunnel; das ist aber von Person zu Person verschieden. Kannst du ihn sehen?«
Ja. Ich sehe ihn.


»Klasse. Jetzt will ich, dass du Mut fasst und den Weg betrittst. Er führt tiefer ins Licht, tiefer in die Liebe, die du jetzt schon spürst. Du kannst ihm bedenkenlos folgen, dann wird dir niemand je wieder wehtun.«


Copyright © 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Impressum

Texte: Egmont LYX ISBN: 978-3802582806
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

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