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Prolog

Prolog

 

Nach einigen Metern hatte Emma im Kaufhaus, die richtige Abteilung erreicht und stand schließlich vor dem Kleiderständer, an welchem noch einige Exemplare von Lottes zukünftigem Kleid hingen. Nachdem sie es wieder feinsäuberlich auf dem Bügel gefädelt hatte, hing sie es zurück und schaute nach der passenden Größe für ihre Schwester. Sie war gerade dabei, die unterschiedlichen Kleidungsstücke durchzugehen, als sie völlig unvermittelt von zwei Männerstimmen, in ihrer unmittelbaren Nähe, aufgeschreckt wurde.

Moment, die kannte sie doch…

„Ach, hör doch auf oder meinst du wirklich, meine Beine würden in diesen samtigen Nylonstrümpfen zur Geltung kommen?", ahmte einer der beiden eine Frauenstimme nach und machte gleichzeitig eine typische Handbewegung, während er die Packung dem Anderen vor die Nase hielt.

„Aber natürlich, Schatz, zu deinem kleinen Schwarzen sicher“, antwortete dieser und beide begannen zu lachen.

Emma stand, in ihrer Haltung verharrt und mit dem Rücken zu ihnen gewandt, vor dem Kleiderständer, während sie vergebens versuchte, die Stimmen einzuordnen. Aber sie kam einfach nicht drauf, obwohl sie ihr so verdammt vertraut vorkamen. „Bist du dir sicher, dass es das Richtige für mich ist?“, hörte sie abermals, die ihr am vertrautesten von beiden Stimmen und augenblicklich begann ihr Herz zu rasen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um die Erkenntnis halbwegs verkraften zu können, zu wem die beiden Stimmen gehören konnten.

Das konnte nicht sein … Nein! … Das konnte unmöglich sein!

Ihr Gedächtnis spielte ihr sicher einen üblen Streich. Sie musste sich täuschen – ja, sie täuschte sich, da war sie sich beinahe sicher. Dennoch nahm sie nur zögerlich ihre Hand vom Etikett und harrte den Bruchteil einer Sekunde mit sich, ob sie sich Gewissheit verschaffen oder es einfach dabei belassen sollte? Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie sie reagieren sollte, wenn sich ihr Verdacht doch bestätigen würde. Sie spürte noch immer, wie sich ihr Herz in der Brust vor Aufregung fast überschlug, als sie ein weiteres Mal, die eine unverkennbare Stimme vernahm. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe, wobei sie spürte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden. Verdammt!

Den Klang dieser Stimme, hatte sie schon so lange nicht mehr so nah gehört, dennoch war sie ihr so vertraut und sie würde diese wohl sicher unter 1000 anderen sofort wiedererkennen. Aber trotzdem waren da noch Zweifel – konnte sie es wirklich sein? Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, stand Emma noch immer auf dem gleichen Fleck und traute sich nicht, sich umzudrehen, um nachzusehen, ob diese Stimme wirklich zu ihm gehörte. Unentschlossen, ob sie nun hinschauen oder es einfach ignorieren sollte, biss sie sich ein weiteres Mal auf die Unterlippe. Denn da war zu einem in ihrem Inneren die Angst, wenn er es wirklich sein sollte, dass er sie womöglich auch sehen und dazu noch erkennen könnte. Oh Gott nein, das wollte sie auf keinen Fall, denn wer wusste schon, wie er auf sie reagieren würde? Aber andererseits war da die Neugierde, und sie verspürte einen inneren Wunsch, ihn wiederzusehen.

Was wäre, wenn sie es nicht wagen würde zu schauen und somit nie erfahren könnte, ob er es nicht doch gewesen war? Würde sie es später bereuen?

Aber das wollte sie wiederum auch nicht. Mist! Also schloss sie erneut ihre Augen, während sie all ihren Mut zusammennahm und langsam den Kopf in jene Richtung drehte, aus der sie zuvor seine vermeintliche Stimme vernahm.

Ihr Atem stockte, als sie zwei junge Männer von hinten sah, die geradewegs dabei waren, die Abteilung zu verlassen. Beide waren sportlich gekleidet und jeder hatte eine Tüte in der Hand. Der Rechte von ihnen, war einen halben Kopf kleiner, trug ein paar abgelaufene graue Turnschuhe, dazu eine passend farbige Jeanshose und eine schwarze Jacke. Seine Haare schienen dunkel zu sein, doch Emma konnte es nicht genau erkennen, da er eine schwarze Mütze trug. Sie kannte diese Mütze, es war das gleiche Modell, welches sie vor Jahren einmal in den Händen gehalten hatte und die ebenfalls den Kopf seines Begleiters zierte.

Konnte es wirklich sein, dass sie hier und heute… Rob wiedersehen würde?

Neues Leben

 

Kapitel 1

Neues Leben

 

 

 „So ein verdammter Mist!“, fluchte Emma leise vor sich hin, als sie sich hektisch in ihre Ballerinas zwängte und dabei fast vom Stuhl rutschte. Erst im letzten Moment fand sie ihr Gleichgewicht wieder und hielt sich ruckartig an der Lehne fest. Mit einem Stöhnen stand sie auf, griff nach ihrer Tasse, die auf dem Tisch vor ihr stand, und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. Kaum hatte sie diesen ihrer Kehle runtergespült, knallte sie auch schon den Becher wieder zurück auf den Küchentisch und lief in den Flur. Hastig schnappte sie sich ihre Jacke sowie Tasche von der Garderobe, während sie weiter zur Wohnungstür eilte. Gerade als sie die Tür erreicht hatte, blieb sie stöhnend stehen und rannte zurück zur Kommode. „Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen“, murmelte Emma verärgert, während sie den Wohnungsschlüssel aus dem Schlüsselkasten zog, nur um dann erneut zum Eingang zu hetzen. Schwungvoll riss sie die Tür auf, um die Treppe hinunter in Richtung Straße zu stürmen, als sie ruckartig zurückgezogen wurde. Der Träger von ihrer Tasche hatte sich an der Türklinke verfangen.

 

Ganz toll!


„Himmel, Arsch und Zwirn!“, schrie sie schon fast vor Wut aus, als sie sich eilig versuchte zu befreien, wobei sie mit einer Hand wild an den Trägern herumfuchtelte.

Komm schon! Ich hab keine Zeit. Bitte! Warum willst du verflixtes Ding denn nicht?, schimpfte sie in Gedanken, bis eine schläfrige Stimme sie leicht erschrocken innehalten ließ. Vorsichtig schaute Emma an der Tür vorbei, wobei sie direkt in das zerknirschte und verschlafene Gesicht von Bibi blickte. Ihre Freundin stand, nur in einem Top und Panty bekleidet, im Flur und warf ihr einen verwunderten Blick zu. „Was machst du da? Ich dachte, du wolltest schon längst im College sein?“, fragte sie mit einer, vom Gähnen erstickten Stimme, während sie sich dabei die Augen rieb. „Was mach ich hier wohl? Ich häng hier ein bisschen ab“, schnippte Emma ihr sarkastisch entgegen, wobei Bibi ihr nur mit einem müden Lächeln antworte. „Ach Mausel“, murmelte Ihre Freundin belustigt und schlenderte auf sie zu, während sie noch immer vergebens versuchte, sich von der Klinke zu befreien. Lässig zog Bridget den Träger über den Knauf und erlöste sie so aus der bizarren Situation. „Danke dir, aber ich muss echt los. Bin schon viel zu spät dran. Bis später, Süße!“ Ohne auf eine Reaktion von ihr zu warten, hastete Emma bereits weiter die Treppe hinunter, bis sie ruckartig mitten auf dieser zu stehen kam und sich doch noch mal zu ihrer Mitbewohnerin umdrehte, die wiederum völlig gelassen am Türrahmen angelehnt stand, und amüsiert das Treiben beobachtete.

„Bibi, kannst du das Zimmer für Lotte herrichten? Ich schaffe es nicht mehr und sie …“

„Mach dir keine Sorgen, ich regel das schon. Pass du lieber auf, dass Du heile ins College ankommst.“
„Ja … Danke“, antwortete Emma nur knapp, als sie auch schon wieder herumwirbelte und weiter die Stufen hinab eilte, während sie dabei ihrer Freundin blind zuwinkte. „… und grüß mir Peter lieb.“, rief sie noch, als sie gerade um die Ecke bog und völlig in Eile die Straße, zur U-Bahn, entlang rannte, wobei sie nervös einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Mist, wenn sie die Bahn noch rechtzeitig erwischen wollte, musste sie sich mehr als beeilen, denn in wenigen Minuten würde diese abfahren. Bei der Erkenntnis, dass es fast unmöglich war, noch pünktlich an der Haltestelle anzukommen, legte Emma erneut an Tempo zu, während sie den entgegenkommenden Passanten geschickt auswich.

 

Warum musste sie ausgerechnet heute verschlafen? Warum musste sie gestern auch unbedingt mit Timothy noch in den Club gehen, obwohl sie genau wusste, dass sie heute früh raus musste?

 

Das machte sie doch sonst nicht. Im gesamten letzten halben Jahr, seit sie hier in London studierte, war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass sie zu spät zur Uni kam. Und heute sollte sich auch bitte nichts daran ändern, denn Emma liebte ihr Studium, es war ihr wichtig und lag ihr am Herzen. Mit viel Fleiß und harter Arbeit hatte sie, ihren Abschluss gemacht und sich dann eine zweijährige Auszeit in Boston als Au-pair genommen. Emma war bei einer vierköpfigen, sehr liebenswürdigen Familie untergebracht gewesen, bei der sie sich auf Anhieb wohlgefühlt hatte. Beide Elternteile waren berufstätig und hatten somit leider recht wenig Zeit für die beiden Sprösslinge Jaydon und Samantha. Der Junge war sechs Jahre alt, das Mädchen vier. Während Jaydon schüchtern, aber ein schlaues Bürschchen war, war seine Schwester ziemlich selbstbewusst und konnte alle ruckzuck um den kleinen Finger wickeln. Beide waren regelrechte Wirbelwinde und Emma hatte sie schnell ins Herz geschlossen, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Kinder liebten sie und es wurden zwei schöne, unvergessliche Jahre für alle drei. Es war eine wunderbare Zeit für sie gewesen und je länger sie für die Familie sorgte, desto fester wurde ihr Entschluss Lehrerin, zu werden. Emma konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den kleinen Menschen etwas beizubringen und sie ein wenig aufs Leben vorzubereiten. Sie vermisste die beiden Kleinen sehr, doch auch ihr neues Leben in London, die Herausforderungen und ihre Freunde wollte sie nicht mehr missen. Mit ihren beiden engsten Freundinnen wohnte sie nun zusammen und sie genoss es sichtlich, auch wenn es meist recht chaotisch bei ihnen zuging. Sie alle waren grundverschieden, aber verstanden sich einfach wunderbar, auch wenn es immer mal wieder kleine Reibereien gab, doch letztendlich war jeder für jeden da. Sie waren ein eingeschworenes Team.

In der Regel war es Bridget, die meist verschlief, wie ein geölter Blitz durch die Wohnung fegte und nicht Emma. Aber bei ihr war es auch kein Wunder, denn sie machte meist die Nacht zum Tag indem sie mit Peter, ihrem Freund, um die Häuser zog. Und am Wochenende arbeitete sie noch zusätzlich in einem Pub, um sich ihr Fotografiestudium, zu finanzieren. Sie war eindeutig die Chaotin von den Dreien, aber eine mit viel Herz.

Ilka war die ruhigste der drei Mädels. Sie war eher still und nachdenklich und ihre liebenswürdige und freundliche Art holte Emma und Bridget oft auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn die beiden Mal über die Stränge schlugen oder Hilfe brauchten. Ebenso, wie ihre beiden Freundinnen studierte sie am University College London. Sie hatte Kunst und Geschichte belegt, und wollte, wie Emma, Lehrerin werden, da sie die Arbeit mit Kindern ebenso sehr liebte wie ihre Freundin. In ihrer Freizeit verbrachte sie ziemlich viel Zeit mit Kindern, die im Heim lebten. Sie war ein Mensch, der anderen gerne Gutes tat, und für dieses `Helfersyndrom`, wie ihre Freundinnen es nannten, wurde sie manchmal von Emma und Bibi liebevoll aufgezogen. Davon ließ Ilka sich allerdings nicht beirren, schließlich kannte sie ihre Mädels gut und wusste, wie sie es meinten. Es machte ihr Spaß, die Kleinen regelmäßig zu besuchen und wenn sie in die strahlenden Kinderaugen sah, wenn sie ihnen die Sachen mitbrachte, die sie mit Spendenaufrufen am College gesammelt hatte, dann war sie selbst auch einfach glücklich.

 

Emma rannte weiterhin, völlig in Eile, die Straße entlang und schaute zum gefühlten hundertsten Mal auf ihre Armbanduhr. „Verdammt, das schaffe ich nie“, murmelte sie außer Atem, während sie den Blick wieder nach vorne wandte, wobei sie nur noch so gerade eben einem jungen Mann ausweichen konnte, der urplötzlich vor ihr aufgetauchte.
„´tschuldigung“, rief sie ihm nur knapp zu, während sie an ihm vorbei sprintete und den Unbekannten, sprachlos hinter ihr her blickend, stehen ließ. Wenige Meter später hatte Emma endlich die Kreuzung zur Haltestelle erreicht und stand atemlos auf der gegenüberliegenden Seite, als sie den Blick schnell auf die Anzeigetafel schweifen ließ. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass genau in dieser Minute, die Bahn auf den Gleisen einfuhr. Ohne weiter auf den Verkehr und die Passanten zu achten, rannte sie über die Straße, um rechtzeitig den U-Bahn-Eingang zu erreichen. Doch Emma hatte nicht mal die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ein unerwartetes grelles Geräusch sie plötzlich erschrocken zusammenfahren ließ. Das laute und ohrenbetäubende Quietschen von Reifen kam ihr viel zu nah vor, doch es blieb ihr keine Sekunde Zeit darüber nachzudenken. Mit einem Ruck wirbelte sie mit dem Kopf in Richtung des Geschehens und hielt den Atem an, als sie durch die Windschutzscheibe in die panischen Augen der Fahrerin blickte. Ihr Herz begann unaufhörlich in ihrer Brust zu rasen und sie befürchtete, es würde jeden Moment seinen Dienst quittieren. Nicht fähig in irgendeiner Art und Weise zu reagieren oder gar sich zu bewegen, starrte sie weiter, direkt in die Augen von der Frau am Steuer.


Bitte, bitte nicht. Neeeeeein!, betete und schrie Emma stumm in sich hinein, als ihre Beine zu zittern begannen, und kniff die Augen fest zusammen, als der Wagen noch immer nicht zum Stehen kam. Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt und Emma wusste genau, dass er sie erfassen würde. Es gab kein Zurück mehr! Sie versuchte verzweifelt, ihre Beine dazu zu bewegen, wegzurennen oder gar zur Seite zu springen, doch sie war wie gelähmt. Sie stand, wie versteinert an Ort und Stelle, mit dem Bewusstsein, dass sie jedem Moment, den Zusammenstoß mit dem Auto an ihrem Körper spüren würde. Ihr Atem beschleunigte sich, während ihre Hände zu schwitzen begannen und ihre Beine weiter unaufhörlich zitterten. Emma presste nur mehr die Augen zusammen und ballte ihre Hände zu Fäusten, wobei sie versuchte, sich auf den Aufprall vorzubereiten – sofern es auf irgendeiner Weise überhaupt möglich war. Gleich wäre es vorbei! Vor lauter Angst begann ihr ganzer Körper zu beben, wobei ihre Tasche von ihrer Schulter glitt und lautlos zu Boden fiel. Sie konnte nicht abschätzen, wie lange sie dort zitternd auf der Straße gestanden und gewartet hatte, dass sie über die Motorhaube geschleudert werden würde. Waren es Sekunden oder sogar Minuten? Emma hatte keine Ahnung, denn es lief alles wie in Zeitlupe ab und sie konnte nichts anderes, als dieses grelle Geräusch von den Reifen oder das wilde Hupen von den Autos, die sie warnen wollten, wahrnehmen. Doch auch das alles drang nur, wie durch Watte gepackt zu ihrem Bewusstsein durch. Sie spürte, wie sich der Angstschweiß in ihren Handflächen weiter ausbreitete, die sie noch immer zu Fäusten geballt hatte, während sich Ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Haut bohrten. Als plötzlich die Stille um sie herum ausbrach. Sie hörte nichts mehr – rein gar nichts. Da war nur noch Stille! Kein Hupen, kein Quietschen oder Geschrei war zu hören. Einfach nur Stille. Die Welt schien stillzustehen!


War es vorbei? War sie nun tot? Sie hatte gar keinen Aufprall gespürt, war es so einfach? So schmerzfrei? War Sterben so leicht?


Erst als Emma eine fremde Hand auf ihrer Schulter spürte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen und fuhr erneut erschrocken zusammen. Langsam drang lautes Menschengewirr zu ihr durch und ihr wurde bewusst - sie war nicht tot!

 

Gott sei Dank! Aber wie konnte das sein? Sie hatte doch genau gesehen, wie das Auto auf sie zuraste… Es hatte doch gar keine Chance mehr für sie gegeben… oder?

 

„Miss, sind Sie in Ordnung?“, hörte sie eine Frauenstimme dumpf zu ihr sprechen, während die Hand noch immer auf ihrer Schulter lag. Doch Emma war weiterhin nicht in der Lage zu reagieren oder gar zu antworten, zu sehr saß ihr der Schock noch in den Knochen. „Geht’s Ihnen gut?“, wurde sie erneut gefragt, während man sie leicht an der Schulter rüttelte. Zaghaft sowie ängstlich öffnete Emma ihre Augen und blickte direkt auf einen roten BMW, der quer zu ihren Füßen stand. Er war so nah an ihrem Körper, dass gerade mal ihre flache Hand dazwischen passte.

 

Das war nur haarscharf gut gegangen.

 

Weiterhin nicht fähig irgendetwas zu sagen, starrte sie ungläubig auf das Bild, was sich ihr bot und sie konnte nicht mehr, als ein stummes Nicken zur Antwort geben. Ringsherum von ihr und der Unbekannten, stand eine ganze Menschenschar und beobachtete die Szenerie. Emma schaute in einige schockierte Gesichter, andere hingegen unterhielten sich aufgeregt oder schrien ihr etwas Unverständliches zu. Völlig verwirrt und mit zittrigen Knien senkte sie den Blick zu ihren Füßen und sah, dass ihre Tasche offen auf dem Boden lag. Ihre gesamten Lehrbücher lagen auf der Straße verteilt und wie in Trance wollte sich Emma bücken, um alles wieder in ihre Tasche zu packen, als die Frau sie am Arm festhielt.

„Miss, oh Gott, Miss, geht es Ihnen wirklich gut? Sie werden mir hier doch nicht umfallen! Hilfe kann uns jemand helfen?“, schrie sie voller Panik und Emma spürte, wie sich der Handgriff um ihren Arm verstärkte. Augenblicklich stellte sie sich wieder gerade auf, und fuhr mit ihrem Kopf zu der fremden Frau rum, um ihr zu verstehen zu geben, dass alles in Ordnung sei. Doch Emma hatte gar keine Chance irgendetwas zu sagen, als der Wortschwall schon auf ihr herein preschte. „Es tut… tut mir so leid! Das wollte ich nicht … aber… aber ich habe Sie nicht kommen sehen! Sie standen auf einmal auf der Straße“, ratterte die Hellhaarige nervös herunter und Emma schaute direkt in ihr bleiches Gesicht. Die Frau hatte offensichtlich genauso einen Schock erlitten wie sie selber, doch so langsam beruhigten sich ihre Knie und sie war endlich in der Lage wirklich zu realisieren, was gerade passiert war. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die der Unbekannten, bevor sie ihr mit einem ruhigen Tonfall antwortete: „Mir geht’s gut! Wirklich, alles gut. Ich werde nicht umfallen.“ Emma wusste nicht, woher sie die Ruhe sowie Sicherheit in ihrer Stimme auf einmal hernahm, denn innerlich fühlte sie genau das Gegenteil. Sie war völlig aufgewühlt und der Schock saß fest in ihren Gliedern. Aber als sie in das Gesicht der Frau sah, die so komplett geschockt und aufgebracht war, konnte sie nicht anders reagieren. Sie selber hatte diese unschuldige Autofahrerin erst in die Situation gebracht und das bloß durch ihre Unaufmerksamkeit. Also nahm sie all ihre Kraft zusammen und versuchte, nicht nur sich selbst zu beruhigen, sondern auch ihr Gegenüber. „Es ist nicht Ihre Schuld, denn ich habe nicht aufgepasst. Ich wollte nur schnell meine Bahn erwischen und bin einfach über die Straße gelaufen. Mir tut es leid. Aber sie schauen nicht gut aus, ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Emma hatte sich komplett zu ihr umgedreht, während sie weiter die Hand der Frau festhielt. Ihr selbst war die Situation, in der sie sich beide gebracht hatte, mehr als unangenehm und sie begann sich langsam Vorwürfe zu machen, wie sehr sie die Frau erschreckt haben musste. Im selben Moment spürte Emma, wie die Unbekannte am ganzen Körper zu zittern begann, denn anscheinend realisierte sie gerade, was hier geschehen war. Mit einem leisen Seufzen löste sich Emma kurz von der Fremden, um hastig ihre Bücher zurück in die Tasche zu stopfen, denn sie standen noch immer mitten auf der Straße. Und so wie die Frau auf sie wirkte, befürchtete sie, dass sie diejenige war, die hier gleich umfallen würde. Es wäre also besser, wenn sie sich einen Moment setzen würde, um ihren Schock ein wenig verdauen zu können. Doch kaum hatte sich Emma wieder zu ihr gewandt, ihre Tasche über die Schulter geschmissen und wollte sie grade am Arm fassen, um mit ihr zum Straßenrand zu gehen, da hörte sie bereits ein erleichtertes Seufzen. „Oh, was bin ich froh, dass Ihnen nichts passiert ist. Sie wissen gar nicht, wie erleichtert ich bin. Und machen Sie sich keine Sorgen. Mir geht’s gut. Aber das war grad die Anspannung und Angst, die sich von mir gelöst hat. Nicht auszudenken, wenn Sie verletzt gewesen wären. Und Sie sind sich wirklich sicher, dass Ihnen nichts fehlt? Ich hab mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Stephanie Ritz. Mein Gott bin ich froh, ich kann das gar nicht beschreiben wie sehr!“ Ungläubig schaute Emma auf Stephanie. War das wirklich die gleiche Frau, die gerade eben noch mit bleichem Gesicht und zitternd vor ihr gestanden hatte? Emma war schier für einen Moment sprachlos, denn sie erkannte ihr Gegenüber nicht wieder, als sie ihren Wortschwall ungefiltert, auf sie einprasseln ließ.


„Schon gut, ist alles noch mal gut gegangen“, war das Einzige, was sie schließlich als Erwiderung über die Lippen brachte, wobei sie Stephanie leicht verwirrt anschaute, als sie versuchte, zu begreifen, wie ihr geschah. Bis ein wildes Autohupen sie schließlich aus der merkwürdigen Situation erlöste. Misses Ritz wirbelte mit dem gesamten Körper in die Richtung ihres Autos und eine Sekunde später spürte Emma, wie sie ihre Hand ergriff. „Oh, ich muss die Straße wieder freimachen! Ich blockiere die ganze Seite!“ Während sie hektisch ihre Hand schüttelte, kramte sie gleichzeitig mit der anderen Hand in ihrer Hosentasche, bis sie eine Visitenkarte herauszog. „Bitte rufen Sie mich an, wenn noch irgendetwas sein sollte oder so, ja?“ Sie hielt Emma die Karte direkt unter ihre Nase, die noch immer nicht begriff, wie ihr geschah, als sie das kleine Kärtchen zögerlich entgegennahm. „Äh, ja das werde ich machen.“
„Schön, dann bin ich beruhigt.“ Kaum hatte Stephanie die Worte ausgesprochen, wandte sie sich auch schon von Emma ab und lief mit eiligen Schritten zu ihrem Auto. „Machen Sie es gut und passen Sie auf sich auf!“, rief sie noch, bevor sie die Autotür zuzog und den Motor startete. Im gleichen Moment löste sich Emmas Starre und sie ging zurück auf den Bürgersteig, wo sich bereits die Menschenmasse aufgelöst hatte und jeder wieder seiner Wege ging. Sie schaute zu, wie Stephanie wendete und fortfuhr. Als der kleine rote Flitzer aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, wandte sie ihren Blick auf die Visitenkarte, die sie noch immer in ihrer Hand hielt. Erst da fiel ihr auf, dass sie sich gar nicht vorgestellt hatte. Aber wie sollte sie auch? Eigentlich hatte sie gar keine Chance dazu gehabt, denn die Gute hatte sie absolut mit ihrer Art überrollt. Nachdenklich steckte sie das Kärtchen in ihre Tasche und schaute dabei auf ihre Armbanduhr.

 

„So ein Mist, jetzt kann ich die Uni vergessen“, grummelte sie leise, als sie den Reißverschluss zuzog, während sie langsam ihren Blick über die Straße gleiten ließ. Sie überlegte, was sie machen sollte, denn sie spürte weiterhin das unbehagliche Gefühl in ihren Magen und wie sich ihre Beine immer noch wie Pudding anfühlten. Der Beinah-Unfall hatte ihr mehr zugesetzt, als ihr lieb war und nicht so wenig, wie sie der Fahrerin gerade noch weismachen wollte. Emmas Blick fiel auf ein kleines Eck-Café am Ende der Straße. Vielleicht sollte sie sich dort einen Moment reinsetzen, um sich ein wenig fangen zu können und ein Kaffee tat ihr sicher auch gut. Mit weichen Knien setzte sie ihren Weg weiter fort, bis sie schließlich das Café erreicht hatte und das kleine, aber urgemütliche Lokal betrat. Es waren nur wenige und vereinzelte Tische im gesamten Laden aufgestellt und Emma ging zu dem, in der hinteren Ecke, direkt am Fenster. Leise seufzend ließ sie ihre Tasche auf einen der beiden Stühle fallen, während sie ihre Jacke auszog und diese über den Stuhl hing, bevor sie sich auf diesen niederließ. Sie ließ für einen Moment ihren Blick über die gesamte Räumlichkeit schweifen. Es war ein so schönes Lokal. Überall standen grüne, hochgewachsene Pflanzen an den Holzsäulen und den großen Fenstern. Der Tresen war aus dem gleichen Holz gefertigt und zwischen zwei Säulen eingefasst. Vorsichtig klemmte Emma sich eine Haarsträhne hinters Ohr, als sie tief durchatmete und den Kaffeeduft in sich aufnahm, der in der Luft lag. Es roch köstlich. Sie schaute durchs Fenster und hatte von hier aus die gesamte Straße im Blick. Emma beobachtete, wie Menschen teils hektisch umherliefen, um die nächste Bahn oder den Bus zu erwischen. Genauso wie sie es vorhin getan hatte, bevor sie vor das Auto gerannt war. Allein bei dem Gedanken daran spürte sie, wie ihre Hände zu zittern begannen und augenblicklich strömten die Bilder, von dem roten Wagen, der auf sie zuraste, vor ihr inneres Auge. Ihr Herz und Puls beschleunigte sich, während sie eine leichte Übelkeit verspürte, die sich langsam in ihr ausbreitete. Für einen Augenblick schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

 

„Äh, entschuldigen Sie Miss, was darf ich Ihnen bringen?“, wurde sie aus ihrer Konzentration gerissen, wobei sie schlagartig ihre Augen öffnete und in ein scheinbar besorgtes Gesicht schaute. Vor ihr stand ein kleiner, etwas dicklicher grauhaariger Mann, der sie dennoch freundlich anlächelte. „Ich hätte gern einen großen Kaffee mit viel Milch“, antworte sie ihm zögernd und versuchte, sich auch ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Irgendwie gelang es ihr, auch wenn sie sich danach gerade gar nicht fühlte. Sie spürte nur, wie sich ihr Herz in ihrer Brust fast überschlug, als sich die Bilder in ihrem Kopf weiter in den Vordergrund drängten. Anscheinend hatte Emma es doch nicht so einfach wegstecken können, als sie gehofft hatte, denn das Zittern in ihren Händen wurde immer stärker. Schnell verwob sie ihre Finger ineinander und versuchte damit die Unruhe zu unterdrücken. „Miss, geht es Ihnen gut? Sie sind ja ganz blass“, fragte der Kellner vorsichtig, während sein Blick noch ein Ticken besorgter wirkte.

 

Oh je, das wollte sie auf keinen Fall, dass sich ein Fremder um sie sorgte.

 

„Ja, ja alles okay, ich brauche nur einen starken Kaffee“, wiegelte sie ab, denn sie wollte nun wirklich nicht mit dem, scheinbar netten älteren Herrn, darüber reden. Alles, was sie nur wollte, war ein Moment Ruhe und was zum Trinken, dann würde es sicher gleich wieder gehen. Davon war sie überzeugt. „Gut, der Kaffee kommt dann sofort“, sagte er etwas skeptisch, als er sich umdrehte und Richtung Tresen ging. Emma schaute noch einen Augenblick hinter ihm her, bevor sie sich leicht seufzend zum Fenster drehte. Noch immer raste ihr Herz und sie spürte, wie sich langsam aber sicher ein Knoten in ihrem Magen bildete. Ihre Hände wollten ebenfalls nicht aufhören zu zittern. Erneut schloss sie ihre Augen und begann langsam sowie flach zu atmen, während sie dabei versuchte sich innerlich zu beruhigen.


Es ist nichts passiert, alles in bester Ordnung. Du sitzt jetzt in einem kleinen Café und dir ist nichts zugestoßen. Du hast keine einzige Schramme und hast noch einmal Glück gehabt. Also gibt es keinen Grund, in so eine Panik zu verfallen. Ganz ruhig ein und ausatmen… ganz ruhig.

 

Doch die Bilder wollten einfach nicht vor ihrem inneren Auge verschwinden und sie fühlte, wie sich die ersten Tränen ihren Weg nach oben bahnten. Schließlich wurde ihr mit jeder einzelnen Erinnerung bewusster, wie knapp sie dem Tod eigentlich entgangen war. Nervös zog sie eine Serviette aus dem Spender, der auf dem Tisch stand, und begann diese in kleine Stücke zu reißen.

 

Wie konnte sie nur so unachtsam sein und einfach über die Straße rennen? Das war doch sonst nicht ihre Art. Nur damit sie die verdammte Bahn nicht verpasste… Dafür hätte sie fast ihr Leben gelassen. Wäre sie doch bloß gestern nicht noch mit Timothy ausgegangen, dann hätte sie nicht verschlafen und wäre auch nicht so in Eile gewesen. Und wenn noch mehr Autos auf der Straße gewesen wären und diese Frau nicht in letzter Sekunde zum Stehen gekommen wäre. Dann… Dann…

 

Sie mochte nicht weiter darüber nachdenken, denn ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft und einzelne stumme Tränen liefen ihr über die Wangen. „Verdammt, du bist selber schuld“, murmelte Emma verärgert über sich selbst, als sie die Tränen mit ihrer Hand wegwischte.
„Hier ist ihr Kaffee, Miss.“

Erschrocken riss sie den Kopf zur Seite, als sie in das Gesicht des älteren Herrn schaute, der den Becher vor ihr abstellte.

„Oh, danke.“, antwortete sie knapp, während sie den Blick schnell zur Tasse wandte und die Hände darumlegte. Der Kellner musterte sie noch einen Moment skeptisch, bevor er sich kommentarlos wieder auf dem Weg zum Tresen machte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, dass der Mann keine weiteren Fragen stellte. Sie musste wirklich grauselig aussehen, so wie sich gerade fühlte. Vorsichtig nippte sie an ihrem Kaffee und überlegte, was sie jetzt machen sollte, denn in der Lage, noch zur Uni zu fahren, fühlte sie sich nicht wirklich und es lohnte sich auch nicht mehr dort überhaupt aufzutauchen. Ihre einzige Vorlesung an diesem Tag würde eh nicht mehr lange dauern und zudem könnte sie sich nicht einmal darauf konzentrieren. Was für ein bescheidener Tag… Am besten wäre sie heute Morgen gar nicht erst aufgestanden. Sie seufzte.


Zum Glück hatten, ihre Hände endlich aufgehört zu zittern und ihr Herz schien auch langsam wieder in einem gleichmäßigen Takt zu schlagen. Lediglich das unwohle und erdrückende Gefühl im Magen war noch da sowie eine leichte Übelkeit. Emma trank noch einen Schluck vom Kaffee und schaute dabei abermals auf die Straße, während sie ihren Blick über die Menschen schweifen ließ. Sie überlegte, wie sie nach Hause kommen sollte. Es war zwar keine übermäßig große Entfernung, aber Emma traute sich den Heimweg, alleine zu Fuß nicht zu – nicht in der Verfassung, in der sie sich gerade befand. Ihren Gefühlen konnte sie augenscheinlich kein Vertrauen schenken, denn vorhin hatte sie auch gedacht, alles wäre in Ordnung und dann saß sie kaum hier und wurde von ihren Emotionen überrannt. Was ist, wenn es ihr unterwegs auch passieren würde, mitten in der Öffentlichkeit? Das wäre ihr noch unangenehmer als hier vor dem Kellner. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, solange hier sitzen zu bleiben, bis sie sich besser fühlte. Aber so langsam füllte sich das Café, mit immer mehr Menschen und das Unbehagen in ihr breitete sich immer weiter aus. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, nach Hause zu gehen und sich in ihr Zimmer zu verkriechen. Seufzend zog sie ihre Tasche auf ihren Schoß und kramte darin nach ihrem Handy, bis sie es schließlich in ihre Finger bekam. Langsam ließ sie die Tasche neben sich auf den Boden sinken, als sie die verschiedenen Nummern in ihrem Adressbuch durch scrollte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie die Nummer gefunden hatte, die sie suchte. Ohne zu zögern, drückte sie die grüne Hörertaste und wartete ungeduldig auf das Freizeichen. Bitte geh ran, betete sie innerlich, als auch nach dem fünften Rufton noch immer niemand abgenommen hatte. Nervös zupft sie erneut an der eh schon ziemlich zerfledderten Servierte, bis sich endlich jemand am anderen Ende der Leitung meldete.

 

„Hey Babe, was gibt es? “, hörte sie, die fröhliche Stimme ihres Freundes, am anderen Ende, während sie erleichtert aufatmete. „Hallo Tim, kannst du mich abholen?“, antwortete sie ihm leise und klang dabei bedrückt, was jedoch Timothy nicht zu bemerken schien, als er sie mehr oder weniger, beiläufig verwundert fragte: „Wieso denn? Ist die Uni schon vorbei?“ Mit irgendetwas schien er beschäftigt zu sein, denn sie hörte plötzlich ein lautes Rascheln in der Leitung und ein leises Fluchen seinerseits. „Äh…nein ich bin gar nicht in der Uni“, stotterte sie, wobei sie sich unsicher auf die Unterlippe biss. „Wie jetzt? Du bist nicht in der Uni? Was ist passiert?“ Alarmiert und zeitgleich besorgt, hakte Tim sofort nach, als er seine Aufmerksamkeit nun ganz seiner Freundin widmete. Emma war nicht in der Uni? Das klang so gar nicht nach ihr. Er hatte noch nie erlebt, dass sie irgendetwas, was mit ihrem Studium oder angehenden Beruf zu tun hatte, geschwänzt hätte. Ganz im Gegenteil, er musste sie immer mal wieder ausbremsen, damit sie sich mal etwas Luft und Ausgleich schaffte, daher erschrak ihn ihre Antwort.

„Ich hatte einen Unfall und bin in einem Café…“

„Was? Geht’s dir gut? Ist dir was passiert?“ Emma hörte ein entsetztes Schnaufen, nachdem er sie unterbrochen und seine Besorgnis kundgetan hatte. Das war so typisch Timothy – immer in Sorge um sie. Sie versuchte, sich ihr Schmunzeln zu verkneifen, bevor sie ihm antworten und ihm die Angst nehmen konnte, die sie augenblicklich von ihm vernahm. „Nein, es ist alles soweit in Ordnung. Mir ist nichts geschehen, aber … ach, ich weiß auch nicht. Könntest du mich einfach abholen? Ich mag nur nach Hause!“ Der Knoten in ihrem Bauch wollte einfach nicht verschwinden, ganz im Gegenteil, sie fühlte, wie er immer weiter anschwoll…

 

Mist! Konnte sie nicht einfach vergessen? So, als wenn gar nichts passiert wäre, und sie säße einfach nur auf einen gemütlichen Kaffee hier im Lokal?

 

„Okay, sag mir, wo du bist. Ich bin gleich da!“, unterbrach ihr Freund ihre Gedanken und augenblicklich spürte sie, wie das unangenehme Gefühl in ihrem Bauch, sich schleichend etwas auflöste. Tim war wieder einmal für sie da, wie er es immer tat, wenn sie ihn brauchte. Schnell erklärte sie ihm, wo sie sich genau befand, und er versprach ihr sie zügig abzuholen. Sie sollte sich auf keinen Fall alleine auf dem Weg machen. Nachdem sie erleichtert das Gespräch beendet und das Handy wieder verstaut hatte, trank Emma den letzten Schluck Kaffee, bevor sie den Kellner herbeiwinkte. Sie stand gerade auf, als der ältere Herr an den Tisch trat und drückte ihm 5 Pfund, mit den Worten „Stimmt so“ in die Hand, bevor sie sich ihr Zeug schnappte, um mit eiligen Schritten das Café zu verlassen. Emma musste nicht lange warten, bis der schwarze stattliche Wagen um die Ecke bog und sie ihm erwartungsvoll zuwinkte. Kaum hatte er neben ihr gehalten, sprang der junge gutgebaute und dunkelhaarige Mann aus seinem Auto, um sie schnell in seine Arme zu schließen. Einige Sekunden später lockerte er die Umarmung, trat einen Schritt zurück, um seine Freundin einmal von oben bis unten zu mustern. Nur um sicherzugehen, dass ihr wirklich nichts zugestoßen war. Emma gab ihm einen flüchtigen, aber liebevollen Kuss auf die Wange und versicherte ihm, dass ihr nichts fehlen würde. Und noch bevor er sie weiter befragen konnte, bat sie ihn, sie einfach nach Hause zu fahren, wobei sie versprach unterwegs alles Weitere zu erzählen. Ihre Stimme klang sehr gefasst, bei der Schilderung des Erlebten, doch innerlich merkte sie, dass sie es nicht so einfach abschütteln konnte. Der Schock saß dafür noch viel zu sehr in ihren Knochen, doch Emma wollte Tim nicht noch mehr beunruhigen, als er es eh schon war. Sie wusste, dass es für sie das Beste war, wenn sie etwas Ruhe für sich hatte. So, wie sie es immer handhabte, wenn sie nicht ganz auf der Höhe war. Einfach Zeit, Ruhe und nur für sich sein – so konnte sie alles irgendwann bewältigen. Das hatte sie vor Jahren, so für sich gelernt und war damit, bis jetzt immer gut gefahren. Zumindest glaubte sie das. Die gesamte Fahrt über hatte Timothy ihre Hand gehalten, wobei er ihr immer wieder einen besorgten Blick zuwarf. Als sie schließlich vor ihrem Haus anhielten, sprang er direkt raus, rannte ums Auto und öffnete ihr die Autotür. Emma war kaum ausgestiegen, da spürte sie schon seine Arme um ihren Oberkörper und wie er ihr leise ins Ohr flüsterte, ob er noch irgendetwas für sie tun könnte. Sie wusste, er würde alles stehen und liegen lassen und bei ihr bleiben, wenn sie ihn darum bitten würde. Aber sie verneinte es, denn erstens wusste sie, dass er noch wichtige Termine in der Bank hatte und zweitens war sie ganz froh, wirklich Zeit für sich zu haben. Nur so konnte sie das Geschehene langsam verarbeiten. An seinem Blick sah sie, dass es ihm missfiel, doch er drückte Emma noch einmal fest an sich und versicherte ihr, dass sie sich sofort bei ihm melden könnte, wenn sie ihn bräuchte. Mit einem sanften Kuss auf ihre Stirn verabschiedete er sich von ihr und setzte sich widerwillig in sein Auto. Für einen Moment schaute sie ihrem Freund nach, wie er fortfuhr, bevor sie die Treppe hinaufging und schließlich ihre Wohnung betrat.

 

Es war ungewohnt still, als sie ihre Tasche an der Garderobe abstellte und die Jacke aufhängte, während sie sich dabei von ihren Schuhen befreite. Keine laute Musik, die durch Bridgets Zimmer dröhnte, es schien, als wenn sie ausgeflogen war. Verwundert schaute Emma auf die Uhr, normalerweise erwachte Bibi in den Mittagsstunden erst so richtig zum Leben und beschallte gerne ihre Mitmenschen mit ihrem Gesang. Doch Emma war heute erleichtert, dass sie unerwartet alleine war, denn so konnte sie den unangenehmen Fragen entgehen, die ihre Freundin garantiert gehabt hätte, wenn diese sie in dem Zustand gesehen hätte. So blieb ihr noch ein paar Stunden für sich, bevor Ilka aus der Uni kommen und Bibi wohl auch zurück sein würde. Das hoffte sie zumindest. Ohne weiter einen Gedanken daran zu verschwenden, was ihr in diesem Moment erspart geblieben war, betrat sie ihr Zimmer und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. Seufzend vergrub sie ihr Gesicht ins Kissen, während sie die Decke über ihren Kopf zog, um die Welt um sich herum auszublenden. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören und einfach nur vergessen – so wie sie es schon einmal gemacht hatte. Dieser Tag war einfach beschissen verlaufen und sie beschloss, den restlichen Tag nicht mehr aus dem Bett zu kommen. Einfach hier liegen zu bleiben und die Welt, Welt sein lassen, denn diese drehte sich auch ohne sie einfach weiter. Doch ihr Gedankenkarussell fuhr weiter seine Runden und spielten immer wieder dieselben schrecklichen Bilder vor ihrem geistigen ab, die sie nicht loslassen wollten. Emma kniff die Augen nur fester zusammen, wobei sie vergebens versuchte, die Emotionen von sich abzuschütteln und dabei krampfhaft probierte an andere sowie schönere Dinge zu denken. Irgendwann gelang es ihr und nach einigen Minuten spürte sie, wie sich langsam eine innere Ruhe in ihr einstellte, bevor sie die aufkommende Müdigkeit überrollte und sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

******



„Meinst du wirklich, wir sollten sie wecken?“ Ilka schaute Bibi skeptisch an, während diese bereits mit erhobener Hand an Emmas Tür stand, um anzuklopfen.

„Ja klar, gleich landet Lotte und wir müssen sie vom Flughafen abholen. Das verzeiht Emma uns nie, wenn wir sie nicht mitnehmen. Schließlich ist es ihre Schwester“, antworte Bridget gelassen, während sie kurz davor war anzuklopfen, als sie plötzlich die Hand von ihrer Freundin am Handgelenk spürte. Irritiert warf sie Ilka einen undefinierbaren Blick zu, die sie nur entschuldigend anschaute, bevor sie ihre Handlung erklärte. „Warte! Ich weiß nicht, nachdem was Timothy vorhin erzählt hat, tut ihr die Ruhe sicher sehr gut. Und Lotte wird es auch verstehen. Emma steht bestimmt noch immer neben sich.“ Für einen Augenblick schwiegen sie und beide überlegten, was nun wirklich das Richtige war. Denn beide machten sich Sorgen um ihre Freundin, schließlich hatte sie keiner von beiden, nach dem Vorfall bis jetzt gesehen und konnten ihre Verfassung gar nicht abschätzen. Nur Tim hatte Ilka, nachdem er auf dem Weg zurück zur Bank war, angerufen und ihr erzählt, was geschehen war. Dabei hatte er sie darum gebeten, sich um seine Freundin zu kümmern, da er selber bedauerlicherweise keine Zeit hatte und wie Emma nun mal war, ihn weggeschickt hatte. Doch ihr Freund war ebenfalls besorgt und es beruhigte ihn zu wissen, dass ihre Freundinnen wenigstens zur Stelle waren. Auch für Ilka war das eine Selbstverständlichkeit und sie war direkt nach der Vorlesung eilig nach Hause gefahren, doch als sie angekommen war, hatte Emma sich bereits in ihr Zimmer zurückgezogen und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Nachdem auch Bibi von alldem erfahren hatte, machte sie sich natürlich mit Sorgen, nun warteten beide schon seit Stunden und um ehrlich zu sein, fühlten sie sich momentan ziemlich ratlos und es ließ sie erschreckend an die Vergangenheit erinnern. „Hmm, ja du hast recht, aber ich denke, wir sollten sie auf jeden Fall fragen und ihr Bescheid geben, dass wir dann fahren. Meinst du nicht auch?“, unterbrach Bridget schließlich die Stille, wobei sie ihre Freundin ebenso unsicher anschaute, wie sich beide fühlten. Ilka nickte nur stumm, bevor sie sich zusammen wieder der Tür zuwandten, um leise an der Tür zu klopfen.

 

Zaghaft öffnete Emma ihre Augen, als sie von dem Stimmengewirr vor ihrem Zimmer geweckt wurde. Sie hörte ihre Freundinnen, wie diese darüber diskutierten, ob sie sie nun wecken sollten oder lieber doch nicht. Es dauerte einen Moment bis Emma genau verstand, was genau vor ihrer Tür vor sich ging. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, zog ihre Decke von den Beinen und reckte sich ausgiebig. Sie fühlte sich bedeutend besser, denn das unbehagliche Gefühl in ihrem Magen war verschwunden und auch ihre Beine waren nicht mehr so wackelig. Der Schlaf hatte ihr augenscheinlich gutgetan, auch wenn er unruhig gewesen und die Bilder nicht verschwunden waren, aber sie hatte das Gefühl, damit umgehen zu können. Zumindest hatte sie sich das vorgenommen. Noch immer hörte sie Bibi und Ilka vor ihrem Zimmer reden und Emma überlegte kurz, ob sie einfach sitzen bleiben und abwarten sollte, was passieren würde, als es plötzlich ruhig war. Sie fragte sich kurz, ob die beiden aufgegeben hatten und wieder verschwunden waren, als sie schon wieder Bridgets Stimme vernahm.

 

Sie wollten Lotte abholen!


„Shit, Lottchen“, stieß sie leise hervor, während sie sich die Hand vor ihre Stirn klatschte und ein „hab ich ganz vergessen“ in sich hinein murmelte. Augenblicklich sprang sie vom Bett auf, lief zur Tür hinüber und riss diese mit einem Schwung auf, während sie, gespielt empört, ihren Freundinnen eine Ansage machte. „Ihr wollt doch nicht ohne mich, meine Schwester abholen fahren?!“ Vollkommen überrumpelt, standen Bibi und Ilka in ihrer Haltung verharrt vor ihr und starrten sie ungläubig an. Bridget hielt noch immer die Hand in die Höhe und Ilka stand der Mund offen, während keine von beiden einen Ton herausbrachte und sie nur zaghaft mit ihren Köpfen schüttelten. „Das wollte ich euch auch geraten haben“, sagte sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen und drückte mit einer Hand den Arm ihrer Freundin nach unten, während sie mit der anderen unter Ilkas Kinn fasste und ihr den Mund zuklappte. „Macht euch keine Gedanken, mir geht es wieder besser und nun lasst mich eben ins Bad und mich ein wenig frisch machen, okay?“ Bei ihren Worten schlüpfte sie an ihnen vorbei und ging Zielgerade ins Bad. Als sie gerade die Tür hinter sich schließen wollte, hörte sie Bibi hinter ihr herrufen. „Hey, wart mal, Mausel!“ Die Verwunderung schwang noch immer in ihrer Stimme mit, denn mit so einer gelassenen Reaktion hatte sie von Emma nicht gerechnet. Wobei Ilka hingegen vollkommen ruhig war und Bridget nur stumm Richtung Badezimmer folgte. „Bist du dir sicher, dass es dir gut geht. Nachdem was heut geschehen ist?“ Emma seufzte leise, als die die warteten Blicke, die auf sie gerichtet waren, nur allzu deutlich spürte. Ihre Mädels brauchten und sollten sich keine Sorgen machen, das war gar nicht nötig. Vor allem, woher wussten sie das überhaupt? Timothy! Ja, das war klar, dass er die beiden informieren musste, nachdem sie ihn abgewiesen hatte. Er war schon so ein kleiner Kontrollfreak. „Ja, es ist alles in Ordnung. Der Schlaf hat mir gutgetan. Ich denke, ich hab alles heil überstanden. Es gibt keinen Grund zur Sorge“, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, bevor sie sich wieder umdrehte, um erneut ins Bad zu huschen. „Und nun lasst mich eben schnell machen, sonst kommen wir noch zu spät, bitte.“ Doch noch bevor sie abermals die Tür schließen konnte, meldete sich Ilka zu Wort.

 

Oh bitte, konnten sie es nicht langsam gut sein lassen?


„Süße, ich bin wirklich erleichtert, dass es dir besser geht. Timothy hat mir gesagt, wie du vorhin ausgeschaut hast und ganz ehrlich, hast du uns allen einen Heidenschreck eingejagt. Aber, wenn du reden magst, sind wir für dich da, okay?“ Man sah ihrer Freundin sichtlich die Erleichterung an, während sie ihr ein warmes Lächeln schenkte. Ach, ihre Mädels waren schon klasse.

„Ich bin es auch Mädels, das könnt ihr mir glauben. Und wenn was ist, dann werde ich mit euch sprechen, ehrlich. Aber momentan mag ich erst einmal nicht darüber reden und bitte tut mir einen Gefallen, sprecht das Thema nicht vor Lotte an, ja? Ich mag nicht, dass sie es sofort erfährt. Sie kommt erst heute an und wird eh schon total aus dem Häuschen sein, so wie ich sie kenne. Das ist heut ihr Abend und ich will sie nicht gleich schocken.“

„Okay, versprochen. Dann mach dich mal fertig, wir warten in der Küche.“ Mit einem Schwung, ließ Emma die Tür direkt vor ihren Nasen ins Schloss fallen, was beide zum Kichern brachte, bevor sie den Flur Richtung Küche entlang gingen.


Emma war wirklich froh, solche Freundinnen, die ihre nennen zu dürfen, und das schon über so viele Jahre hinweg. Mit ihnen war sie aufgewachsen und auch in den zwei Jahren, wo sie im Ausland war, wobei jeder seiner Wege ging, brach der Kontakt nie ab. Es war eine wunderbare Freundschaft und jeder konnte sich auf jeden verlassen. Sie war dafür dankbar, denn es war keine Selbstverständlichkeit und ihr war bewusst, wie wertvoll diese Art von Freundschaft war. Heute würde noch ihre Schwester die Mädels-WG komplettieren, auch wenn sie immer wieder Reibereien hatten und Lotte auch gehörig nerven konnte, hielten sie dennoch, wie Pech und Schwefel zusammen. Sie war mittlerweile mit Ilka und Bridget genauso gut befreundet, wie sie selber und da lag es auf der Hand, dass sie zu ihnen zog, sobald sie ihr Jahrespraktikum in der Anwaltskanzlei, hier in London, absolvieren würde.

Sie kämmte sich noch mal durchs Haar, bevor sie diese zu einem Pferdeschwanz band, als es plötzlich an der Tür klingelte. Verwundert runzelte Emma die Stirn und fragte sich, wer das sein konnte, während sie schließlich das Bad verließ. Im Flur hörte sie bereits ein lautes und aufgeregtes Geschrei, wobei sie eindeutig die beiden Stimmen von Bridget und Ilka heraushören konnte, die freudig aber verwundert zu der unbekannten Person sprachen. Neugierig schritt sie schneller die Diele entlang, bis sie endlich die Tür erreicht hatte. Augenblicklich bildete sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie erkannte wer Ilka da gerade umarmte.

 

Ihre Schwester!

 

„Mensch Lotte, was machst du denn hier?“, fragte sie laut, wobei sich die kleine zierliche, aber quirlige junge Dame aus Ilkas Umarmung löste und ihr neckend antwortete: „Ich dachte, ich wohne ab heute hier“, während sie mit einem breiten Grinsen auf ihre große Schwester zuging.

„Ach was.“ Emma rollte mit den Augen, während sie leicht mit dem Kopf schüttelte. „Wir wollten dich am Flughafen abholen, wie kommst du denn nun hier her?“

„Ich habe einfach eine Maschine früher genommen und bin mit dem Taxi hier her. Mama und Papa haben mir noch ein bisschen  -Taschengeld- mitgegeben. Und ich dachte, ich überrasche euch einfach. Scheint mir ja gelungen zu sein, so wie ihr mich grad verdattert anschaut.“ Lottes Grinsen zierte nur breiter ihr Gesicht, wobei sie den Dreien frech zuzwinkerte. Charlotte war so frech wie eh und je, aber auch eine Person mit dem Herz am rechten Fleck und sie trug ihr Herz auf der Zunge.

„Komm mal her, du freches Ding“, befahl Emma amüsiert ihrer Schwester, während sie sie in ihre Arme schloss. Ihre Umarmung war herzlich und beide genossen die Nähe des anderen, denn sie hatten sich viel zu lange nicht mehr gesehen. Langsam löste Emma sich aus den Armen ihrer Schwester und betrachtete sie genauer, als sie ihr völlig erstaunt ein Kompliment machte. „Ach Lottchen, Du schaust super aus!“ Das tat sie wirklich und Emma konnte nicht fassen, wie viel reifer und erwachsener ihr klein Lottchen plötzlich auf sie wirkte. Dabei hatten sie sich vor sechs Monaten das letzte Mal gesehen, dennoch machte sie einen viel reiferen Eindruck, obwohl ihr Mundwerk immer noch nicht stillstand und alles hinausposaunte, was ihr auf dem Herzen lag. Doch sie wusste genau, was sie wollte und dafür arbeitete sie genauso zielstrebig, wie ihre große Schwester. Lotte trug eine enge dunkle Jeans und ein weißes eng anliegendes Shirt, welches ihre schlanke aber weibliche Figur optimal betonte, wobei ihre langen blonden Haare leicht über ihre Schulter fielen.

 

„So, dann haben wir uns den Weg zum Flughafen auch gespart. Dann kann ich mir meine Schuhe ja wieder ausziehen, oder gehen wir heute noch auf die Piste?“, fragte Bibi feixend, als sie zusammen mit Ilka, die Reisetasche sowie den Koffer in den Flur gestellt hatte und die Tür ins Schloss fallen ließ. Überrascht waren plötzlich alle Augen sie gerichtet, bis Ilka sich zu Wort meldete „Nun, lass doch erst einmal die kleine Maus ankommen! Sie ist gerade mal fünf Minuten hier. Ich würde sagen, wir gehen erst mal in die Küche und trinken einen Kaffee. Lotte erzählt uns, wie die Anreise war und dann zeigen wir ihr die Wohnung und ihr Zimmer. Und anschließend können wir uns alles Weitere überlegen. Der Abend ist ja noch jung! Was haltet ihr davon?“ Ohne groß auf die Antwort von den anderen zu warten, hakte sie sich bei Lotte unterm Arm ein und marschierte mit ihr, Richtung Küche, während sie ihre Freundinnen an der Tür stehen ließ. Bibi warf Emma einen verwunderten Blick zu, während sie leise auf kicherte. Das war typisch Ilka und dafür mochte sie so gern, denn sie behielt stets den Überblick. Emma lächelte sie an und nickte dabei mit dem Kopf in Richtung Küche, bevor sie gemeinsam ihrer Freundin und Schwester folgten. Ilka war bereits dabei einen Kaffee aufzusetzen, als sie die Küche betraten und Lotte hatte sich, auf einen Hocker, in an der Essecke gesetzt, wo sich Emma und Bridget dazu gesellten.

 

Sie sprachen über Lottes Flug, der ziemlich ruhig verlaufen war, dennoch war sie froh, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Fliegen war ihr nicht so geheuer, sie bevorzugte mit beiden Beinen auf den Boden zu stehen und nicht in der Luft zu hängen. Wenige Minuten später brachte Ilka auch schon den Kaffee, eine Dose Kekse und setzte sich zu ihnen. Gemeinsam redeten sie über dies und das und Lotte berichtete, dass ihr Praktikum in der Kanzlei direkt nach dem Wochenende beginnen sollte. Ihr war die Aufregung und Nervosität diesbezüglich anzumerken, doch gleichzeitig spürte man auch ihre Freude sowie Begeisterung endlich bei ihnen sein zu können. Schließlich begann ein neuer Lebensabschnitt für sie. Endlich durfte Lotte eigenständig leben, aus dem behüteten Nest der Eltern fliegen und sie konnte es kaum erwarten, das neue Abenteuer erleben zu dürfen. Unvermittelt sprang Lotte, wie von der Tarantel gestochen, mitten in ihren Erzählungen auf und rannte in den Flur, während die drei Freundinnen nur verwundert hinter ihr herschauen konnten.

 

Was hatte sie denn jetzt?

 

„Ach, ich habe da noch was vergessen“, rief sie lauthals, bevor sie mit ihrer Tasche beladen wieder in die Küche zurückkam. „Wisst ihr was? Ich habe eine Idee, was wir heute machen. Was haltet ihr davon, wenn wir einfach einen Mädelsabend machen? Heute ist Freitag, das Wochenende ist noch jung und morgen können wir immer noch das Nachtleben unsicher machen.“ Ihre Augen strahlten förmlich, als sie alle in der Runde erwartungsvoll anschaute, während diese dich gegenseitig nur schmunzelnde Blicke zuwarfen. Lotte war echt eine Marke.

„Also ich hab nichts dagegen“, war es Emma, die als Erstes antwortete, wobei ihre Freundinnen den Vorschlag mit einem Nicken und Lächeln zustimmten. „Ah, toll, ich hab dann auch was mitgebracht, besonders für Dich“, freute sich Lotte, wie ein kleines Kind und schaute Emma direkt in die Augen, bevor sie sich zu ihrer Tasche bückte und in dieser wie wild herumkramte. „Mensch, wo ist das denn jetzt?!“, murmelte sie leise vor sich hin, bis sie endlich das Gesuchte in die Finger bekam. „Schau mal Schwesterchen, ich dachte, wir schauen uns alle diesen Film an, den kennt ihr sicher noch nicht!“ Freudestrahlend und aufgeregt wirbelte Lotte die DVD aus der Tasche und drückte sie Emma direkt in ihre Hände.
„Der soll suuuper sein und ist perfekt für einen gescheiten Mädelsabend, na was sagst du dazu?“ Sie hüpfte beinah, vor Emmas Augen, auf und ab, während sie vollkommen aufgeregt und ungeduldig auf ihre Antwort wartete, wobei sie sie freudestrahlend angrinste. Oh je, ihre Schwester war schon eine Marke für sich. Das konnte ja noch lustig mit ihr werden, sie brachte definitiv noch mehr Leben in die Bude. Emma liebte ihre Schwester und war froh, sie bei sich zu haben, egal wie aufgedreht, quirlig und verrückt sie manchmal war, Lotte hatte dennoch ihr Herz am rechten Fleck. „Emma, kriegst du noch was mit? Hallo?“

„Äh, ja“, antworte sie abwesend, wobei sie ihre kleine Schwester angrinste.

 

Mensch, sie war noch genauso ungeduldig, wie eh und je!


„Boah, Schwesterchen, wo bist du denn schon wieder? Könntest du mir bitte nun endlich antworten? Denn ich glaube, der Film wird dir gefallen!“, hörte sie Lottchen genervt sagen, wobei die Kleine leise vor sich hin gluckste. Ohne auf ihre Frage einzugehen, ließ Emma endlich den Blick auf die DVD gleiten und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Ihr Herz blieb einen Moment lang stehen und ihr stockte der Atem, während sie das Gefühl hatte, der Boden würde unter ihren Füßen verschwinden, als sie ungläubig auf das Cover starrte.

 

Oh mein Gott, das konnte doch nicht sein! Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein!

Schmerzende Vergangenheit

Kapitel 2

 

Schmerzende Vergangenheit

 

Emmas Blick verharrte weiter auf dem Titelbild der DVD-Hülle, während sie immer noch nicht begreifen konnte, was sie darauf sah. Ein junges, brünettes Mädchen schaute ihr mit offenem Mund entgegen, während sie in den Armen von einem bleichen jungen Mann mit goldenen Augen lag. In genau den Armen, die sie mal vor langer Zeit umschlungen hatten. Er schaute düster und mysteriös aus und hatte noch immer sein strubbeliges bronzefarbenes Haar. Emma musste schlucken, als sich bei dem Anblick, augenblicklich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

 

Das konnte doch nicht wahr sein.

 

„Rob“, flüsterte sie erstickt, als sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein drängte und ihrem Herz unvermittelt einen schmerzhaften Stich versetzte. Er hatte es anscheinend geschafft und sie war auf diesen Moment überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Ganz und gar nicht. Ausgerechnet am heutigen Tag musste sie es erfahren und dann auch noch durch ihre Schwester, die noch immer voller Freude vor ihr stand. Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, was Lotte aus ihrer Tasche zaubern würde, aber nicht mit einem Film von ihrem Ex-Freund. Ausgerechnet Rob! Sie spürte, wie der Knoten in ihrem Hals immer weiter anschwoll und versuchte, ihn abermals herunterzuschlucken – erfolglos. Leise seufzte sie auf, als sich ihre Gedanken begannen zu überschlagen, während sie weiter wie gebannt auf das Cover schaute – direkt in seine Augen. Augenblicklich umfassten ihre Finger die Hülle noch fester, als sie die Nässe spürte, die sich in ihren Handinnenflächen bildete, während sich die Erinnerungen den Weg aus ihrem tiefsten Inneren nach oben bahnten. Emma atmete einmal tief durch, um die Bilder vor ihrem inneren Auge abschütteln zu können, denn diese alten Gefühle wollte sie nicht mehr zulassen. Auch nach all den vergangenen Jahren war es für sie noch immer schmerzhaft daran zu denken. Doch sie wollte, nach dem wirklich bescheidenen Tag, einfach nur noch einen schönen Abend mit den Mädels sowie ihrer Schwester verbringen und sich nicht von ihrer Vergangenheit überrollen lassen. Das würde sie heute nicht auch noch verkraften. Also schloss sie kurz ihre Augen, atmete ein weiteres Mal tief durch und lächelte Lotte an, als sie ihr die DVD wieder zurückgab.

 

Irgendwie würde sie diesen Abend mit Rob schon überstehen! Es war schließlich nur ein Film.

 

„Na, was sagst du? Ist das nicht eine Überraschung?“, fragte Lotte mit einer aufgeregten Stimme und ein breites, freudiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Im ersten Moment wusste Emma nicht, was sie darauf antworten sollte, denn sie war schlichtweg überfordert, während sie innerlich gegen ihre Gefühle ankämpfte. Hilfesuchend schaute sie ihre Freundinnen an, die bereits aufgestanden waren und sich gerade neben ihr gesellten. „Was macht dich denn so sprachlos, Emma? Ist es ein Horrorfilm? Du und deine Angst,“ war es Bibi, die sie versuchte ein wenig aufzuziehen, indem sie ihr frech zuzwinkerte und gleichzeitig in die Seite zwickte. Emma zuckte leicht zusammen, rollte mit den Augen und stöhnte kurz auf, als Bridget kichernd weiter zu Lotte rüberging. „Komm, zeig mal her, Kleines, was du Feines mitgebracht hast.“

Ilka hatte sich bereits näher an Emma gestellt und gemeinsam beobachteten sie ihre Schwester, wie sie Bibi die DVD in die Hand legte. Diese warf einen kurzen Blick drauf, drehte die Hülle auf die Rückseite und las sich anscheinend die Kurzbeschreibung durch. Lottchen stand immer noch schweigend, aber erwartungsvoll vor ihr, bis Bibi schließlich zu ihr sagte: „Twilight? Hmm, nee den kenn ich nicht, schaut aber nicht nach einem Horrorfilm aus, eher …“

„Sagtest du gerade Twilight?“, unterbrach Ilka sie und ging auf die Beiden zu, während Emma noch immer am gleichen Fleck stand und verwundert war, dass Bridget den Hauptdarsteller nicht erkannt hatte. „Jap, Twilight ist der Titel. Also sagen tut der mir gar nichts“, antworte ihre Freundin schulterzuckend, während ihr Ilka die Hülle schon fast aus der Hand riss und auf die Rückseite starrte.

„Mensch, Twilight ist doch ein Roman, von dem Vampir und dem Mädchen! Die Bücher sind doch hier millionenfach verkauft worden. Da gibt es bereits drei Fortsetzungen, ich hab doch die Bücher fast verschlungen. Sag jetzt nicht, die haben das Buch verfilmt?“, schoss es voller Begeisterung aus Ilka heraus, als sie den Blick wieder auf Lotte richtete. „Äh, jap, der erste Teil wurde verfilmt und der zweite Teil ist gerade abgedreht worden…“

 

„Ist das diese Edward und Bella Geschichte, wovon du uns monatelang vorgeschwärmt hast?“, unterbrach Emma ihre Schwester, als sie dabei einen fragenden Blick ihrer Freundin zuwarf. Langsam wurde ihre Neugierde geweckt, auch wenn sie das bedrückende Gefühl in ihr nicht verdrängen konnte, und gleichzeitig verwundert darüber war, dass ihre beiden Freundinnen, Rob noch immer nicht erkannt hatten. „Welcher Edward? Welche Bella?“, warf Bibi mit hochgezogener Augenbraue ein und schaute zwischen den drei Mädels hin und her. Lotte hielt sich zurück und hörte gespannt und amüsiert ihrer Unterhaltung zu. Sie wartete förmlich auf deren Reaktion, wenn sie endlich den Hauptdarsteller erkennen würden.

„Mensch Bibi, der Vampir der Vegetarier ist und die kleine Bella stalked. Sag bloß, du kannst dich nicht mehr an die Schwärmerei von unserer Leseratte erinnern?“, fragte Emma amüsiert ihre Freundin und zwinkerte währenddessen Ilka mit einem Lächeln auf den Lippen zu. „Ach DAS! Na klar kann ich mich daran erinnern, hier gab es ja wochenlang kaum ein anderes Thema“, war Bridgets Antwort und auch sie grinste ihre Freundin Ilka frech an, woraufhin diese nur leicht mit dem Kopf schüttelte, bevor sie die vorherige Frage beantwortete: „Ja, ja schon gut, aber genau das ist die Story. Hach, Edward der Vampir verliebt sich in Bella, dem tollpatschigen Mädchen. Ich kann es nicht glauben, dass mir die Verfilmung durch die Lappen gegangen ist. Blödes Studium, da kriegt man echt nix mehr mit. Na den schauen wir uns aber ganz sicher heute an, Mädels, wenn ihr schon nicht die Bücher lesen wolltet. Ich bin gespannt, wie sie das Buch umgesetzt haben und ob Edward wirklich so hübsch ist, wie er immer beschrieben wurde.“ Vollkommen aufgeregt ließ sie den Blick auf das Cover fallen und nur ein erstauntes sowie ersticktes „oh“, verließ ihren Mund, als sie erkannte, wer sie da anschaute. Augenblicklich richtete sie ihren Kopf auf und schaute Emma wissend an, warum diese vorhin so merkwürdig reagiert hatte.

 

„Wie oh? Doch nicht gut? Ist er hässlich?“, fragte Bibi total verwirrt, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass irgendwas gerade völlig an ihr vorbei entging, wobei sie erneut zwischen den Mädels hin und her schaute und auf eine Antwort wartete. Doch Ilkas Blick war noch immer mitfühlend auf Emma gerichtet, während sie keine Ahnung hatte, wie sie ihr gegenüber reagieren sollte. Und was war mit Lotte? Die merkte den Stimmungswandel und bekam langsam Zweifel, ob es wirklich das Richtige gewesen war, den Film mitzubringen. Eigentlich hatte sie sich darüber gar keine Gedanken gemacht, denn schließlich ist das Ganze schon zig Jahre her und sie dachte, es würde ihrer Schwester nichts mehr ausmachen. Zudem meinte sie, dass Emma sicher auch gerne erfahren wollte, was aus ihrem damaligen Freund geworden ist. Schließlich war es kaum zu fassen, dass ihre Schwester mal mit einem „Star“ zusammen war. Aber anscheinend hatte sie sich getäuscht und für einen Moment trat eine unangenehme Stille in den Raum, bis schließlich Bridget diese unterbrach. „Äh, kann mich jetzt mal bitte einer aufklären, was hier genau los ist? Ich kapier hier irgendwie gerade gar nichts!“ Ilka drehte sich zu ihr um, legte die DVD erneut in ihre Hände, wobei sie nur stumm mit dem Finger auf den jungen Mann zeigte. „Scheiße“, war das Einzige, was erschrocken über Bibis Lippen geschossen kam, als sie die Erkenntnis traf, dass Edward von Emmas Ex verkörpert wurde. Ihr war sofort klar, welche Gefühle bei ihrer Freundin geweckt wurden, als sie ihn gerade erkannt haben musste. Schließlich hatte sie damals, zusammen mit Ilka, Emma aufgefangen und ihr beigestanden, als sie völlig aufgelöst aus London zurückgekommen war, und es hatte Monate gedauert, bis sie einigermaßen über die Trennung hinweggekommen war. Doch richtig nachvollziehen, warum Emma sich damals von ihrer großen Liebe getrennt hatte, obwohl sie ihn augenscheinlich noch liebte, konnten beide nicht. Emma hatte nie wirklich darüber gesprochen und es war auch für sie beide schwer gewesen, ihre Freundin so leiden zu sehen, während sie mehr oder weniger hilflos danebengestanden hatten. Ganz gleich, was an dem Wochenende noch weiter vorgefallen war, ihre Entscheidung hatte ihr das Herz gebrochen, aber dennoch hatte Emma konsequent an dieser festgehalten. Und nun das…

 

„Hey Mädels, kein Grund, hier zu fluchen. Ich bin gespannt, wie der Film ist, dann kann ich vielleicht deine Schwärmerei für die Geschichte endlich verstehen“, meldete sich schließlich Emma selbst zu Wort, wobei sie versuchte, sich ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern und ihre Hand sanft auf Ilkas Schulter legte. Skeptisch und zugleich irritiert über ihre Reaktion, waren alle Augen auf sie gerichtet, als Ilka ihre Zweifel stotternd aussprach: „Aber…aber, also ich mein, bist du dir da sicher?“

„Ja, also ich könnte schon verstehen, wenn du es nicht anschauen möchtest“, brachte sich Bridget unterstützend mit ein, wobei Lotte nur stumm nickte. Erst jetzt bemerkte sie deutlich, wie unachtsam ihre Idee mit diesem Film wirklich war, was aber überhaupt nicht in ihrer Absicht lag und ein unbehagliches Gefühl stellte sich in ihr ein. Doch ihre Schwester schmunzelte nur über die Fürsorge ihrer Freunde, denn auch, wenn ihre Gefühle gerade etwas aus der Bahn geraten waren, hatte sie doch die Neugierde gepackt. Erstens auf die Geschichte, den Film und zweitens auch irgendwie auf Rob. Sie war doch gespannt auf seine Leistung, was aus ihm geworden war und es war eine Möglichkeit, ihn zu sehen, ohne ihm gegenüberstehen zu müssen.

 

Gott, sie mochte gar nicht drüber nachdenken. Das hätte noch gefehlt.

 

Sie spürte zwar den Schmerz, der erneut in ihr aufkeimte und versuchte diesen direkt wieder in den Hintergrund zu verbannen, denn schließlich war es nur ein Film. Nichts, was sie aus der Fassung bringen bräuchte – zumindest versuchte sie, sich das einzureden. „Ich mag es wirklich anschauen und außerdem ist es sechs Jahre her. Es macht mir nichts aus“, versuchte sie mit voller Überzeugung zu sagen, obwohl in ihrer Stimme deutlich ein Hauch von Unsicherheit mitschwang. Ihre Freundinnen schauten sie weiterhin misstrauisch an, ob sie den Worten von Emma trauen konnten, bis schließlich ein erleichtertes Seufzen von Lotte zu hören war. „Mann, bin ich froh! Ich glaubte gerade wirklich, dass ich einen großen Fehler gemacht habe, als ich kurz deine Reaktion gesehen habe. Aber ich dachte, es würde dich interessieren, erstens wegen des Themas an sich und gut auch, dass Rob seinen Traum wahr gemacht hat.“ Man sah Lotte ihre Erleichterung an, als sie ihren Gedanken sowie Erklärung freien Lauf ließ, während Emma ihre Gefühle weiter in den Hintergrund drängte. Liebevoll nahm sie ihre kleine Schwester in den Arm und versicherte ihr flüsternd: „Das tut es auch“, bevor sie sich wieder aus der Umarmung löste. „Also, dann würde ich sagen, wir zeigen dir jetzt erst einmal dein neues Zuhause und vor allem dein Reich. Und dann machen wir es uns mit Pizza, Cola und dem ganzen ungesunden Kram vorm TV bequem. Wir können ja nicht die ganze Zeit hier in der Küche hocken.“ Emma drehte sich um, schnappte sich Lottes Tasche vom Boden, während sie sich bereits auf dem Weg in den Flur machte. „Kommt ihr mit?“, fragte sie die anderen, mit einem kleinen Schmunzeln in ihrer Stimme, wobei sie noch immer deutlich die Blicke ihrer Freundinnen auf sich spürte. Die beiden glaubten ihren Worten nicht, dass sie Robs Anblick nicht aufwühlte und sie dem Film lässig gegenüberstand. Wie gut Ilka und Bridget sie doch kannten, aber sie würde ihnen jetzt unter keinen Umständen zeigen, wie es innerlich in ihr aussah. Sie freute sich auf den Abend mit ihren Mädels und wollte die Geschehnisse des Tages vergessen, schließlich war das schon aufregend genug gewesen. Und auch ein Robert Pattinson würde ihr das nicht kaputtmachen können - das hatte sie sich fest vorgenommen und daran würde sie festhalten. Egal, was sie gleich erwarten würde, sie würde es irgendwie schaffen ihre Emotionen hinter der errichteten Mauer zu verbergen – wie all die Jahre zuvor auch.

 

Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm, wie sie befürchtete?

 

Entschlossen schritt sie den Flur entlang, während ihr die anderen wortlos folgten und das restliche Gepäck mitnahmen. Als sie schließlich gemeinsam das Zimmer von Lotte erreichten, vernahmen sie nur ein freudiges Quicken, als die Kleine auch schon an ihnen vorbei huschte. Die drei Freundinnen schauten sich an und begannen zu lachen. Lotte war eben doch manchmal noch das kleine Mädchen von damals und das würde ganz sicher, noch mehr Leben in die WG bringen. Da waren sich die Mädels einig, aber sie freuten sich auf das Zusammenleben mit ihr, auch wenn es, sicherlich manchmal anstrengend werden könnte. Sie stellten das Gepäck der Jüngsten in das geräumige und liebevoll von Bibi hergerichtete Zimmer, während Lotte mit Begeisterung alles unter die Lupe nahm. Als die erste Begeisterungswelle abgeebbt war, zeigten die drei Lotte die gesamte Wohnung und auch hier war ihr die Begeisterung deutlich anzumerken. „Das ist meine erste fast eigene Bude!“, sprühte Lotte vor lauter Euphorie, während sie sich auf dem Stuhl fallen ließ und die anderen die Küchen betraten. Emma setzte sich kurz zu ihr, um ihr noch ein paar Regeln zu erklären, während Bibi unüberhörbar, in der gesamten Küche nach dem Prospekt von der Pizzeria suchte. Ständig hörte man, wie die Schranktüren und Schubladen zugeschmissen wurden, wobei sie leise vor sich hin schimpfte, wo das verfluchte Teil nur abgeblieben war. Die beiden Schwestern beobachteten amüsiert die Szenerie, wobei sie sich das Lachen verkneifen mussten, bis plötzlich Ilka mit dem Prospekt winkend und dem Telefon in der Hand, zurück in die Küche geschritten kam. „Suchst du das vielleicht? Das war in der Kommode im Flur.“

Mit den Augen rollend ging Bridget auf ihre Freundin zu und schnappte sich den Fetzen Papier aus deren Hand. „Dann lasst uns mal aussuchen, was wir uns Leckeres bestellen.“

 

Nachdem sie die Bestellung bei ihrem Lieblingsitaliener aufgegeben hatten, nutzte Lotte die Wartezeit, um sich schon ein wenig in ihrem Zimmer einzurichten, während Bridget und Ilka alles Weitere für den Mädelsabend vorbereiteten. Emma entschied sich, sich noch mal kurz bei Timothy zu melden, damit er sich nicht weiter Sorgen zu machen brauchte. Sie erklärte ihm, dass sie den Schock von heut Früh verdaut hatte, und erzählte ihm von den abendlichen Plänen mit den Mädels, ohne dabei ihren Ex zu erwähnen. Ihr Freund war beruhigt und froh, dass es ihr besser ging und versprach, morgen vorbeizukommen, da er heute noch ein Geschäftsessen hatte. Als sie sich liebevoll voneinander verabschiedet hatten, ging Emma zurück in die Küche, um ihren Freundinnen zur Hand zugehen. Aber es war so weit alles schon erledigt und gerade als sie alle wieder versammelt waren, wurde auch schon die Pizza geliefert. Während Emma die Lieferung entgegennahm, machten sich die anderen schon auf den Weg ins Wohnzimmer, um den gemütlichen Teil des Abends zu beginnen. Einen Moment blieb Emma vor der Wohnzimmertür stehen und schloss die Augen, damit sie noch einmal in sich hineinhorchen konnte. Der Zeitpunkt war gekommen, wo sie das erste Mal nach Jahren, zumindest für einen Moment, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurde, die sie so sehr hinter ihrer Mauer verbannt hatte.

 

Würde sie es schaffen, ihre schmerzhaften Erinnerungen dahinter verborgen zu halten?

 

Sie spürte, wie sich die Nervosität in ihr immer weiter ausbreitete, wenn sie an den Film – an Rob – dachte und ihr Magen zog sich langsam zu. Doch gleichzeitig verspürte sie auch die unfassbare Neugierde, wissen zu wollen, was aus ihm geworden war. Ihr Gefühlskarussell kam wieder voll in Fahrt, genauso, wie es das damals schon immer bei ihm getan hatte. Verdammt! Das sollte so nicht sein und verunsicherte sie nur mehr. Dabei war es doch nur ein blöder Film.

„Du packst das!“ Emma raffte ihre Schultern und atmete einmal tief durch, bevor sie schließlich entschlossen durch die Tür ins Wohnzimmer schritt. Bridget hatte gerade die DVD in den Player eingelegt, als sie die Pizzen auf den Couchtisch stellte. Ilka und Lotte hatten es sich schon mit den Kissen auf der großen Couch bequem gemacht, während sie sich ausgiebig über Twilight unterhielten, ohne Emma dabei zu bemerken. Erst als sie begannen über Rob und seiner Rolle von Edward zu sprechen, verstummte augenblicklich das Gespräch, als Lotte ihre Schwester neben sich wahrnahm.
„Ah, endlich Essen“, rief sie sofort aus, um die Unterhaltung auf etwas anders zu lenken, während Ilka Emma abwartend beobachtete, als sie neben ihr Platz nahm. Auf was wartete sie?

„Ihr braucht nicht aufhören über den Film oder ihn zu reden, wenn ich dabei bin. Das ist schon okay, schließlich werde ich mir Twilight auch gleich mit anschauen. Und ehrlich gesagt, bin ich ganz schön neugierig“, gab Emma den beiden mit einem Lächeln zu verstehen, obwohl es ihr gleichzeitig einen kleinen Stich ins Herz versetzte. Sie hatte ihre Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da setzte sich auch schon Bridget, mit der Fernbedienung bewaffnet, zu ihnen und schaute sie fast schon herausfordernd an. „So Mädels, genug gequasselt. Jetzt beginnt der lustige Teil des Abends… es ist DVD-Time und ich sterbe vor Hunger!“ Mit einem Kichern in ihrer Stimme griff sie nach einer Schachtel, zog sie auf ihren Schoß und legte ihre Füße auf den Sessel, der vor ihr stand. Die anderen drei schauten sie nur schmunzelnd an, bevor sich jeder seine Pizza schnappte. „Seid ihr bereit? Kann der Spaß beginnen?“, fragte Bibi fast schon ungeduldig und schmiss den Player direkt an, als alle gleichzeitig ihre Frage mit einem lauten „Ja“ beantworteten.

 

Alle vier saßen auf der Couch und verfolgten den Film mit einer gewissen Anspannung und Erwartungshaltung, während sie dabei ihre Pizza sowie Popcorn verspeisten. Während einer kleinen Pipipause schnappte sich Bridget die Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und sie stießen auf Lottchens Einzug an, bevor sie weiter Twilight anschauten. Über die gesamte Länge des Films sprach niemand auch nur ein einziges Wort. Jeder folgte gebannt dem Geschehen auf der Mattscheibe. Emma saß mit den Beinen angewinkelt auf der Couch und hatte ein Kissen mit ihren Armen umschlungen, während sie auf dem Bildschirm starrte. In jeder Szene, wo sie ihn sah, seine Stimme hörte, spannte sich ihr gesamter Körper augenblicklich an und sie umfasste das Kissen nur noch fester, so, als wenn es der Anker vorm Ertrinken wäre. Ihr Puls und Herz raste bei seinem Anblick und sie hatte Mühe, die Erinnerungen im Zaum zu halten, die langsam versuchten, an die Oberfläche zu kriechen. Doch zu ihrer eigenen Überraschung verspürte sie nicht eine Sekunde, den Drang aufzustehen und den Raum zu verlassen, denn der Film, die Story und auch Rob selbst, faszinierten sie. Ihr Gefühlskarussell drehte zwar seine Runden, aber es war erträglich. Den anderen schien, der Film ebenfalls in den Bann zu ziehen, denn in einer Tour hörte sie Ilka und ihre Schwester seufzen, wobei Bridget sich ganz lässig auf der Couch rekelte. Dennoch schien sie nicht gelangweilt zu sein. Als schließlich der Abspann lief, entspannte Emma sich allmählich und Lotte sowie Ilka begannen direkt über den Film zu diskutieren. Wie nicht anders zu erwarten, war ihre Freundin von dem Film begeistert, auch wenn wenige Szenen umgeändert oder gar nicht vorgekommen waren, wie sie immer wieder am Rande betonte. Bridget und auch Emma beteiligten sich jetzt ebenfalls an ihrer Unterhaltung und so wurde aus der anfänglichen Diskussion eine ausgewachsene Schwärmerei. Beinah jede Szene wurde von den Mädels genauestens analysiert, dabei wurden aber Robs Schauspiel und seine Leistung von Emmas Freundinnen und ihrer Schwester tunlichst vermieden. Emmas Aufmerksamkeit galt im gesamten Gespräch über den Film, allein der Handlung und der Darstellung – sie versuchte tunlichst Robs Part, soweit es möglich war, auszusparen und war dafür dankbar, dass ihre Freundinnen es ebenfalls probierten. Bis Ilka schließlich begann Lotte bezüglich des zweiten Teils auszufragen, weil sie sich brennend für die Fortsetzung des Films interessierte und jene zuvor die Verfilmung des zweiten Buches erwähnt hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, erzählte Lotte, dass New Moon gerade erst abgedreht war und in diesem Winter in den Kinos kommen würde. Auch der dritte Teil, Eclipse, würde verfilmt werden und Rob sowie die anderen Darsteller hätten sich dazu verpflichten lassen. Erst, als sie ihre Worte vor lauter Begeisterung ausgesprochen hatte, schaute sie ihre Schwester verunsichert an und wartete darauf, wie sie reagieren würde. Doch Emma zeigte keine besondere Reaktion, sie saß weiterhin mit einem zaghaften Lächeln auf der Couch und hörten ihnen aufmerksam zu. Aber sie beteiligte sich nicht weiter an ihrem Gespräch und nach kurzer Zeit wurde das Thema fallen gelassen. Noch eine ganze Weile saßen sie quatschend und lachend, bei Erzählungen über ihre Kindheit zusammen, bis sie schließlich weit nach Mitternacht aufräumten und sich nach und nach ins Bett verabschiedeten. Emma räumte noch schnell die Spülmaschine ein, bevor auch sie sich schlussendlich ins Bett begab.

 

 

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(Emma PoV)


Schlaflos lag ich in meinem Bett und wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere, während meine Gedanken um all das kreisten, was heute geschehen war. Es wollte mich einfach nicht ruhen lassen, egal, wie mühsam ich es auch zu verdrängen versuchte. Es wollte mir einfach nicht gelingen. „Warum bin ich heute überhaupt aufgestanden?“, grummelte ich vor mich hin, während ich mich ein wiederholtes Mal herumdrehte und mein Gesicht ins Kissen vergrub.

 

Das konnte doch alles nur ein schlechter Traum gewesen sein… so etwas kann doch gar nicht alles an einem einzigen Tag passieren.

 

„Mir anscheinend schon“, murmelte ich ins Kissen, wobei mir immer wieder die Bilder vom Unfall im Kopf herumspukten und mir augenblicklich das unwohle Gefühl in meinem Magen zurückbrachten. Doch das war nicht das Einzige, was mich so aufwühlte und mich nicht schlafen ließ. Den Unfall hatte ich zwar noch nicht überwunden, aber ich hatte es im Griff… zumindest dachte ich das! Viel mehr vermischten sich jetzt die Bilder von dem roten Auto mit dem Gesicht von Rob. Ständig sah ich die goldenen Augen, die mich anschauten und nicht mehr loslassen wollten. Und dann war noch seine sanfte und unverwechselbare Stimme, die sich in meinem Ohr fast schon festgebissen hatte. Stöhnend richtete ich mich auf, als erneut der Klang seiner Stimme in meinem Kopf widerhallte.

 

Konnte es nicht einfach aufhören? Konnte ich ihn nicht einfach wieder vergessen?

 

Ich wollte nicht an ihn denken und seine Stimme hören wollte ich schon gar nicht. Das hatte ich mir vor Jahren krampfhaft und vor allem schmerzhaft verboten. Es war damals schon alles schrecklich genug gewesen. Verfluchter Mist! Hätte ich mir nur nicht den Film angeschaut… aber ich dachte, ich dürfte meinen Freundinnen und schon gar nicht Lotte zeigen, wie sehr mich allein der Anblick von ihm, aus der Bahn warf. Meine Schwester kam doch gerade zu uns und hatte sich nichts weiter dabei gedacht, oder? Ich schnaubte. Ja, warum auch? Es war schließlich schon ganze sechs Jahre her, wo ich mich von ihm getrennt hatte. Man sollte meinen, ich sei wirklich darüber hinweg und außerdem hatte mich dieser… Film einfach nur unheimlich interessiert.

Aber warum reißt es mir dann nur den Boden unter den Füßen weg? Sicher, Bibi und Ilka hatten es sofort gemerkt, dass es mich mitnahm. Ich hatte es an ihren Reaktionen und vor allem an ihren Blicken gesehen, als es ihnen bewusst wurde. Doch ich hatte es irgendwie geschafft, mich zusammenzureißen, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern und so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen. Ich hatte geglaubt, es gelang mir ganz gut, zumindest nahm es mir Lotte ab, bei den beiden anderen war ich mir nicht so sicher gewesen. Schließlich hatten sie damals miterlebt, wie sehr ich mit meiner Entscheidung und den Konsequenzen zu kämpfen hatte, auch wenn ich mich ihnen nie 100 Prozent anvertraut hatte. Ich hatte ihnen nie genau erzählt, was vorgefallen und mich zu diesem fatalen Schritt gebracht hatte, weil ich einfach vergessen und abschließen wollte – nein, ich musste, sonst wäre ich daran zerbrochen.

 

Völlig genervt von mir selber, streifte ich mir die Decke von den Beinen und stand auf. Ich hatte es aufgegeben, das mit dem Schlafen wollte nicht klappen, also warum sollte ich mich weiter im Bett quälen? Während ich meinen Morgenmantel vom Boden aufhob und ihn mir überwarf, entschied ich mich, mir einen Tee zu kochen. Vielleicht verhalf mir ein heißes Getränk endlich zur Ruhe zu finden.
Leise schlich ich barfuß über den dunklen Flur in die Küche, denn ich wollte keinen der anderen wecken und achtete darauf, nicht irgendwo gegen zu laufen, was leider des Öfteren meiner Art entsprach. Direkt, als ich die Küche betrat, griff ich nach dem Wasserkocher, der neben der Spüle stand, und füllte diesen mit frischem Wasser. Durch den Mondschein wurde der Raum in ein sanftes Licht getaucht, sodass ich darauf verzichtete die Lampe einzuschalten. Während ich darauf wartete, dass das Wasser endlich heiß wurde, schritt ich leicht seufzend in Richtung Küchenfenster und schaute hinaus in die dunkle, sternenklare Nacht.

 

Wieso brachte mich ein Bild von ihm noch nach all den Jahren so aus der Fassung? Und das, obwohl ich mir ein ganz neues und auch so weit glückliches Leben aufgebaut hatte. Sollte er mir doch noch mehr bedeuten, als ich mir selbst eingestehen wollte? Oder hatte ich mir nur die ganze Zeit all die Gefühle verboten?

Nein! Abwegig schüttelte ich mit dem Kopf, während ich zurück zur Anrichte ging und mir einen Früchtetee machte. Diese Gedanken waren doch einfach absurd. Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich zurück in mein Zimmer und somit wieder ins Bett gehen sollte, doch die Idee verwarf ich sofort wieder. Mit der Tasse in der Hand ging ich auf die große Fensternische in der hinteren Ecke von der Küche zu. Dort angekommen ließ ich mich auf der Bank nieder, stellte die Tasse beiseite, um mich mit der Wolldecke, die auf der Lehne lag, einzuwickeln. Ein weiteres leises Seufzen entfuhr mir, während ich mir meine Beine eng an den Körper zog, um sie mit meinen Armen zu umklammern. Vorsichtig nahm ich die Tasse in meine Hände und schaute hinaus in den sternenbehangenen Himmel, während sich erneut die ungewollten Bilder vor mein inneres Auge schoben, die ich nicht mehr in der Lage war zu verdrängen. 


Ich sah Rob vor mir, wie er mit einem Lächeln auf mich zu gerannt kam, seine Arme um meine Taille schlang und mich vor Freude in die Höhe hob. Er setzte mich behutsam und mit seinem schiefen Lächeln im Gesicht auf den Boden ab, streifte mir sanft eine Haarsträhne hinter mein Ohr, wobei seine topasblauen Augen direkt in mein Herz sowie in meine Seele schauten. Die mir so oft den Atem genommen haben. Augenblicklich durchfuhr meinen Körper, dasselbe Kribbeln, wie es das damals schon getan hatte, als die Erinnerung weiter auf mich ein prasselten. Und das, obwohl die gemeinsame Zeit mit ihm, schon eine Ewigkeit her war, waren diese Bilder noch immer so real für mich, als wäre es erst gestern geschehen. Für einen Moment schloss ich die Augen und ich meinte, noch immer seine Berührungen spüren und seinen Duft wahrnehmen zu können, wobei ich spürte, wie sich Tränen versuchten, den Weg nach oben zu bahnen. Ich riss die Augen auf und starrte hinaus, auf die dunkle Straße Londons, während ich versuchte, meine Gefühle und Erinnerungen unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder hatte ich mich geweigert, mich an all jenes zu erinnern, was damals zwischen uns passiert war. Aber heute wurden mit einem Mal alle verborgenen Wunden, die nie wirklich geheilt waren, erneut aufgerissen. Im Grunde war es mir klar gewesen, dass mich meine Vergangenheit irgendwann einholen würde, doch ich hatte es nicht wahrhaben wollen. Es versetzte mir einen schmerzhaften Stich ins Herz, als ich mich an unsere Trennung zurückerinnerte. Als ich ihn mit seinem tränenverschleierten Blick vor mir sah und seine Worte noch immer zu mir sagen hörte, dass ich ihn nicht verlassen durfte. Ich hatte ihm an jenem Tag das Herz gebrochen, genauso, wie ich es mir mit meiner Entscheidung herausgerissen hatte. Ich schluckte, die aufkommenden Tränen hinunter, als mich die weiteren Erinnerungen überrollten. Obwohl ich ihn damals darum gebeten hatte, mich nicht zum Flughafen zu begleiten, war er dennoch dort aufgetaucht. Als wäre es nicht schon so schwer genug für mich –Nein!- für uns gewesen. Ja, ich hatte seine verzweifelten Rufe nach mir gehört und es hatte mir schlicht den Boden unter den Füßen weggerissen. Innerlich hatte es mich zerrissen und ich hatte mit mir gerungen, mich einfach zu ihm umzudrehen und mich wieder in seine Arme fallen zu lassen. Wie gerne hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre in seine Arme gerannt. Wie gerne hätte ich ihn damals gesagt, wie sehr ich ihn liebte, obwohl ich ihn verließ. Dass er was ganz Besonderes für mich war und uns was Besonderes verband, – und das eigentlich bis heute. Es hatte nie wirklich aufgehört, aber ich würde es nicht wieder zulassen. Doch mir war damals schon klar gewesen, dass es nur für einen Moment wieder gut sein würde und ich ihm auf Dauer im Weg stehen würde, dafür waren die Umstände einfach zu verfahren gewesen. Ich war nicht in der Lage, mit der Situation umzugehen und wegen mir, hätte er niemals seinen Traum aufgeben dürfen. Davon war ich absolut überzeugt gewesen. Deshalb hatte ich mein gebrochenes Herz ausgestellt, mein Verstand nur auf Notbetrieb gestellt, um mit aller Macht gegen den Drang anzukämpfen, und war mit zittrigen Beinen, den Gang zum Flugzeug entlanggeschritten, während stumme Tränen unkontrolliert über meine Wangen hinuntergelaufen waren.

 

Bei den Erinnerungen verkrampfte sich abermals mein Magen und ich spürte, wie meine Hände begannen zu zittern. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es mich noch so tief berühren würde, denn all die Gefühle von damals kamen mit einem Donnerschlag wieder hochgeschossen. Hastig nahm ich einen Schluck Tee, um den Klos in meinem Hals hinunterzuspülen, als meine Gedanken weiter zurück in die Vergangenheit schweiften. Die Wochen und Monate nach der Trennung waren einfach die pure Hölle für mich gewesen, denn ich vermisste all unsere abendlichen Telefonate, seinen Humor, seine Nähe, seinen Duft… Ihn! Es war kein Abend vergangen, an dem ich mich nicht in den Schlaf geweint hatte und ohne meine Freundinnen, die mich versucht hatten aufzufangen und abzulenken, wäre ich wohl nicht so schnell aus dem tiefen Loch rausgekommen. Auch wenn sie meine Beweggründe und in ihren Augen, meine Sturheit, nicht genau hatten nachvollziehen können, waren sie immer für mich da gewesen. Ohne dabei auf mich weiter einzureden, wenn Rob wieder versucht hatte, mich zu erreichen und ich nicht darauf reagiert hatte. Ich hatte mir später sogar eine neue Handynummer zugelegt, damit er mir keine Nachrichten mehr schicken konnte und nach einiger Zeit wurden auch seine Anrufe weniger, bis sie schließlich ganz aufgehört hatten. Obwohl mir jeder Anruf und jede Nachricht von ihm ein Stich ins Herz verpasst und es all meine Willensstärke gekostet hatte, nicht mit ihm zureden, vermisste ich ihn schrecklich. Doch ab diesem Moment war mir bewusst geworden, dass er anscheinend mit mir abgeschlossen hatte und ich es mit ihm ebenfalls tun sollte - musste.

 

Ich seufzte und legte mein Kinn auf meine Knie, während ich meine Beine ein wenig fester umklammerte. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, es wühlte mich auf und ich spürte, wie eine einzelne Träne sich aus meinem Augenwinkel stahl, die langsam die Wange herunterrann. Leicht verärgert über mich selber, wischte ich mir diese mit dem Handrücken weg. Es war doch verrückt jetzt über die Vergangenheit nachzudenken, schließlich hatte ich mir meinen Weg ohne ihn selbst ausgewählt. Und was brachte es mir jetzt noch, nach all der Zeit? Nichts! Zudem es nur ein Bild beziehungsweise ein Film war, sollte es mich doch nicht so sehr beschäftigen, oder?


Um mit der Trennung zurechtzukommen und Rob verdrängen zu können, hatte ich mich stur auf meine Schule konzentriert, bis ich mein Abitur endlich mit Erfolg abgeschlossen hatte. Die Lust, Bekanntschaften mit anderen Jungs zu schließen, hatte ich nicht im Geringsten verspürt, da ich sie stets und ständig mit dem Bild von Rob, verglichen hatte. Von daher ging ich wenig aus und wenn, dann waren es reine Mädelsabende mit Bibi und Ilka, die ich sehr genossen hatte. Auch wenn ich mir selbst verboten hatte über Rob nachzudenken oder der Vergangenheit nachzuhängen, gab es dennoch immer wieder Momente, wo ich mich gefragt hatte, was aus ihm geworden war. Was er jetzt wohl machen würde? Oder wenn all dies nicht geschehen wäre, ob wir noch ein Paar gewesen wären? Doch das tat ich schon lange nicht mehr… bis heute.

Schließlich hatte ich mich dazu entschlossen mir nach der Schule eine kleine Auszeit zu nehmen und alles andere hinter mir zu lassen. Es war mir schwergefallen mich von meinen beiden besten Freundinnen und meiner Familie zu verabschieden, als ich mich auf den Weg in die USA machte, um dort für 2 Jahre, als Au-Pair zu arbeiten. Doch wie immer, war ich überzeugt davon gewesen, dass es das Beste für mich war, um mir auch über meine Zukunft klar zu werden. Ich hatte wirklich Glück gehabt und war in einer wunderbaren kleinen Familie untergebracht gewesen, wo mich die beiden Kinder sofort ins Herz geschlossen hatten, so wie ich es mit ihnen getan hatte. Bei dem Gedanken an Samantha und Jaydon umspielte ein Lächeln meine Lippen, denn beide hatten mir ihre Liebe geschenkt und ich wusste, dass es für mich wirklich die beste Entscheidung gewesen war, nach Bosten gegangen zu sein. So hatte ich mich, trotz Heimweh, ziemlich schnell bei der Familie Anderson eingelebt und es war mir recht leichtgefallen, mich mit deren Nachbarstochter Catherine anzufreunden. Während meiner gesamten Zeit in den Vereinigten Staaten hatte ich oft meine Freizeit mit ihr verbracht und wir waren über die Zeit hinweg richtig gute Freunde geworden.


Mit einem Schmunzeln erinnerte ich mich an jenen Abend, wo ich das erste Mal auf Timothy getroffen war. Im Grunde hatte ich keine Lust auf eine Feier gehabt, denn ich war noch nie ein Party-Mensch, doch ich wollte Cathy nicht enttäuschen, schließlich war es ihr Geburtstag gewesen. Schlussendlich hatte ich also an der Bar ihrer Eltern in einem vollkommen überfüllten und lauten Partykeller gestanden und wartete auf meine bestellte Cola. Ich hatte auf meine Uhr geschaut, um festzustellen wie lange ich bereits da gewesen war, denn es war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und ich hatte gehofft, dass ich mich bald unbemerkt herausschleichen könnte, als meine Cola endlich vor mir abgestellt wurde. Sofort hatte ich mir mein Glas geschnappt, um aus dem stickigen Raum raus zu kommen, und an die frische Luft zu gehen. Leider hatte ich nicht den jungen Mann bemerkt, der sich direkt hinter mir gestellt hatte. Noch während ich mich mit einem Ruck umdrehte, rempelte ich ihn mit meinem Arm an und meine gesamte Limonade hatte sich auf seinem T-Shirt verteilt. Ich lachte leise auf, als ich wieder Timothys Gesicht vor Augen sah, wie er leicht angeekelt an seinem, in Limonade ertränktem, Shirt herumzupfte. So etwas konnte natürlich nur mir wieder passieren, aber in dem Fall war ich dankbar dafür, denn ansonsten hätte ich Timothy wohl nie kennengelernt.

Nachdem ich ihm völlig hektisch und peinlich berührt, sein Oberteil mit der Servierte abgetupft hatte, hatte er mich einfach nur angelächelt und mir mehrfach versichert, dass es nicht so schlimm sei.
Schon da spürte ich, dass mich seine Berührung nervös machte, was ich mir eigentlich nie mehr hatte vorstellen können. Gemeinsam gingen wir schließlich auf die Veranda und verbrachten dort die halbe Nacht mit Quatschen und Lachen. So erfuhr ich, dass er der Cousin von Cathy war und eine Ausbildung zum Bankangestellten machte. Wir hatten uns von Anfang an sehr gut verstanden und Timothy besaß die Gabe, mich zum Lachen zu bringen. Wir tauschten Telefonnummern aus, hatten fast allabendlich miteinander telefoniert und uns dann auch regelmäßig getroffen. Es war schon fast eine Ewigkeit her, dass ich einen Jungen so nah an mich herangelassen hatte und mich dabei auch noch so wohl fühlte, ohne dabei gleich an Rob denken zu müssen. Im Gegenteil, Timothy konnte mich alles vergessen lassen und ich ließ es am Ende zu mich in ihn zu verlieben. Auch wenn es anders war, als mit Rob, aber durch Tim fühlte ich mich wieder lebendig und wir genossen unsere Zweisamkeit in jeder freien Minute. Ich hatte mich entschlossen, nach meiner Au-Pair Zeit in Boston mein Studium zur Lehrerin zu beginnen. Timothy und ich wollten uns nicht mehr trennen und ich hatte bereits eine kleine Wohnung in Aussicht gehabt. Sogar den Collegeplatz hatte ich in der Tasche gehabt, als er plötzlich das Angebot bekam, in London bei der Barclays-Bank anfangen zu können. Kurzerhand waren wir gezwungen gewesen, unsere ganzen gemeinsamen Pläne über den Haufen zu werfen, und da für uns keine Trennung infrage kam, hatte ich beschlossen mit zurück nach England zu gehen.

Bibi und Ilka waren vollkommen begeistert gewesen, als sie von unseren neuen Plänen erfahren hatten und mir direkt das Zimmer in ihrer Wohnung angeboten, da sie mittlerweile ebenfalls in London studierten. Natürlich hatte ich ihr Angebot sofort angenommen, denn etwas Besseres, als mit seinen besten Freundinnen zusammen zu wohnen und gleichzeitig seine Liebe in der gleichen Stadt zu wissen, gab es in meinen Augen nicht. Endlich hatte ich wieder das Gefühl von Glück auf meiner Seite, auch wenn mir der Abschied von den neuen Freunden und den Kindern wirklich schwergefallen war.
Auch wenn London keine guten Erinnerungen für mich besaß, drängte ich auch vor einem halben Jahr mein Unbehagen und Gedanken an das Geschehene in den Hintergrund. Schließlich konnte ich Timothy nicht seine Chance als Filialleiter nehmen, die ihm damit angeboten wurde. Und genau so bin ich wieder in diese Stadt zurückgekehrt und saß nun mitten in der Nacht, allein in der Küche meiner Mädels-WG und dachte über Dinge nach, die geschehen waren und sich nicht mehr ändern lassen würden. Teilweise positiv, teilweise aber auch negativ.

 

Gedankenverloren nippte ich an meinen Tee, spuckte diesen aber sofort wieder zurück in die Tasse – er war eiskalt. Seufzend stand ich auf, stellte den Becher in die Spüle und entschied mich wieder in mein Zimmer zu gehen. Vielleicht würde es jetzt mit dem Schlafen besser klappen, nachdem ich meinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Doch ich befürchtete, dass es eher ein unruhiger Schlaf werden würde, denn noch immer spukten die Bilder in meinen Kopf herum, die ich zwanghaft versuchte, wieder hinter die Mauer zu verbannen, als ich mich in mein Bett legte und mir die Decke erneut bis über den Kopf zog.


Mir wurde bewusst, wie sehr mich meine Vergangenheit endgültig eingeholt hatte, doch zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass es nicht das letzte Mal sein sollte, dass ich damit konfrontiert werden und es mich aus der Bahn werfen würde.


 

 

Nichts ist, wie es scheint

 

Kapitel 3

Nichts ist, wie es scheint


„Wo ist denn das Brot schon wieder hin?“, fragte Ilka genervt, während sie die einzelnen Schränke in der Küche durchsuchte. Lotte und Bibi saßen derweil, im Pyjama gekleidet, am Küchentisch und tranken ihren Kaffee. Bridget hatte dabei ein Bein auf ihrem Stuhl gestellt und es eng an ihren Körper gezogen, wobei Lottchen mit dem Arm ihren Kopf auf dem Tisch abstütze und gedankenverloren in ihrem Kaffee rum rührte. „Hört ihr mir überhaupt zu?!“ Ilkas Stimme klang gereizt, als sie die Schranktür mit Absicht zuknallen ließ, weil ihr immer noch keiner geantwortet hatte. Das Geräusch ließ Lotte und Bibi einmal zusammenzucken, wobei Letztere den Blick hob und in die Richtung zu ihrer Freundin schaute. „Ah, bitte nicht so laut, mir brummt der Schädel“, beklagte sich Bridget und legte ihre Stirn in Falten, während sich Ilka zu ihnen an den Tisch setzte. „Wovon hast du denn Kopfschmerzen? Wir haben doch nur ein bisschen Sekt getrunken.“ Ungläubig schaute sie ihre Freundin an, während sie sich selbst eine Tasse Kaffee einschüttete. „Ja, aber das war der süße Sekt, den kann ich irgendwie nicht vertragen, da reichen schon zwei Gläser. Und ich glaube, ich hatte definitiv mehr getrunken. Na ja, und warum hast du heute Morgen so eine miese Laune?“

 

„Weil hier irgendwie das Brot Beine bekommt! Erst vorgestern habe ich Frisches gekauft und heut‘ ist wieder nichts da“, brummte ihr Ilka als Antwort entgegen und ließ einen Würfel Zucker in ihren Becher plumpsen, während Lotte noch immer mit dem Löffel den Boden ihrer Tasse malträtierte.

„Ach, sorry, das hab ich vergessen zu besorgen. Peter und ich haben das Letzte gestern in der Früh noch gegessen“, antwortete Bibi schlicht und schaute nun abwartend zu der Schwester ihrer Freundin, wann diese wohl endlich mit dem Rühren fertig sein würde, während diese anscheinend weiterhin ihren Gedanken nachhing. „Na super, und was sollen wir jetzt Frühstücken?“ Seufzend richtete Ilka ebenfalls ihren Blick auf Lotte, denn sie wunderte sich ebenso über ihr Verhalten. Einen Moment herrschte Stille zwischen den dreien und man hörte nur das monotone und gleichmäßige Kratzen des Löffels an dem Porzellan, bis schließlich Bridget die unruhige Stille unterbrach.

 

„Erde an Lotte! Du hast bald ein Loch in der Tasse!“


„Was? Wie?“ Ruckartig hob Lotte ihren Kopf, während sie die beiden Mädels verwirrt anschaute, dabei nahm sie den Löffel aus dem Kaffee und legte ihn schließlich auf den Tisch. „Alles okay bei dir? Du bist heute so abwesend“, fragte Ilka leicht besorgt, denn irgendwie gefiel sie ihr nicht. Eigentlich musste sie fröhlich sein und ihre neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen genießen, zumal sie gestern noch so aufgedreht gewesen war. „Ja, alles gut. Ich bin nur noch müde und ein kleiner Morgenmuffel. Brauche meine Anlaufzeit.“ Mit einem herzhaften Gähnen unterstrich sie ihre Antwort und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. „Da merkt man, dass ihr Geschwister seid, du und Emma. Sie braucht auch morgens immer ihre Zeit und man darf den Kaffee bloß nicht vergessen“, murmelte Bibi, während sie mit den Fingern ihre Schläfen massierte. „Wo ist sie denn überhaupt?“, warf Ilka kurz ein, wobei sie aufstand, zur Anrichte ging und in der Schublade einen Streifen Tabletten herausnahm. „Sie schläft noch. War wohl alles ein wenig zu viel mit dem Film und der Erkenntnis, dass Rob die Hauptrolle spielt." Lotte seufzte schwer und senkte den Blick, ehe sie sich zwang, einmal tief durchzuatmen. Sie beschlich das Gefühl, einen riesengroßen Fehler begangen zu haben und das schlechte Gewissen Emma gegenüber nagte unaufhörlich an ihr. Das hatte sie schließlich nicht gewollt - sie hatte allen nur eine Freude bereiten wollen und stattdessen sorgte sie dafür, dass es ihrer Schwester schlecht ging! Sie schnaubte innerlich, ehe sie fortfuhr: „Ich habe sie heute Nacht noch in der Küche sitzen sehen und sie wirkte ziemlich durcheinander. Ich hätte die DVD einfach nicht mitbringen dürfen, aber ich war so euphorisch und dachte wirklich, dass es in Ordnung wäre. Immerhin ist das schon so lange her“, ließ Lotte ihren Gedanken freien Lauf, wobei ihre Stimme mit jedem Wort leiser wurde und schließlich nur noch ein Flüstern war. Man spürte, wie sie sich grämte, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass es Emma noch etwas ausmachen würde. Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und versuchte damit ihr schlechtes Gewissen herunter zu spülen. Natürlich half es nicht und Ilka sowie Bridget seufzten gleichzeitig auf, als sie den schuldbewussten Ausdruck in ihren Augen erkannten.

 

Sie hatten schlussendlich alle am Abend gemerkt, dass es Emma wirklich belastet hatte, ihn wiedersehen zu müssen. Natürlich hatten sie auch mitbekommen, wie ihre Freundin den ganzen Film über um Fassung bemüht gewesen war, und die drei konnten sich nur allzu gut vorstellen, wie es in ihrem Inneren ausgesehen haben musste. Sie hatten den Grund der Trennung damals nicht nachvollziehen können, da es doch vollkommen offensichtlich war, dass beide sich liebten und füreinander bestimmt waren. Und um ehrlich zu sein, wunderte es sie nicht, dass Emma, wie Lotte bereits gesagt hatte, durcheinander gewesen war. Auch wenn sie gut geschauspielert und zudem mehrfach betont hatte, dass es ihr nichts ausmachen würde, ihn zu sehen, wussten Ilka und Bibi es besser – es hatte ihr etwas ausgemacht und wahrscheinlich sogar mehr, als ihr lieb gewesen war. Doch sie waren sich einig, dass Lotte nicht erahnen konnte, wie enorm Emmas Reaktion auf ihn ausfallen würde – besonders nicht nach all der vergangenen Zeit. Keiner konnte das und Ilka sowie auch Bibi wollten nicht, dass die Kleine sich die Schuld dafür gab. Sie selber hätten ihre Freundin jederzeit mit dem Film konfrontieren können, oder sie hätte Rob auch einfach so über den Weg laufen können. Schließlich lebte sie in London, in seiner Heimatstadt, was sie auch an ihre gemeinsame Zeit erinnern dürfte, aber sie hatte nie einen traurigen oder gar einen bekümmerten Eindruck auf sie gemacht, seit sie zu ihnen gezogen war. Ganz im Gegenteil, sie wirkte immer glücklich an Tims Seite und man spürte die Liebe, die sie füreinander empfanden.

 

Erneut seufzte Ilka, als sie sich wieder an den Tisch setzte und beiläufig den Streifen Tabletten zu Bibi auf dem Tisch legte. „Ach Süße, das haben wir alle nicht erwartet, also mach dir bitte keine Vorwürfe. Emma macht es sicher auch nicht. Und es war auch klar, dass sie auf kurz oder lang ihre Vergangenheit einholen wird. Vor allem hier in dieser Stadt. Wenn du sie nicht damit konfrontiert hättest, hätte es jemand anderes getan. Aber ich denke, sie wird sich schnell wieder fangen. Es waren gestern einfach ein paar Ereignisse zu viel.“ Sie biss sich auf die Zunge, als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte, wobei ihr Bibi augenblicklich einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Augenrollend wandte sich ihre Freundin von ihr ab und noch bevor Lotte, die verwirrt ihre Stirn runzelte, eine Frage stellen konnte, fuhr Bridget nahtlos mit dem Gespräch fort. „Ilka hat recht, so sehe ich es auch. Ich denke, in den letzten Tagen hatte sie sich schon sehr auf ihre kleine Schwester gefreut und dann noch die letzte Prüfung im College, da kann man schon mal etwas aus der Bahn geraten. Aber sie würde es dir nie übel nehmen. Also mach‘ du das auch nicht!“, sagte sie absolut überzeugend und ein Lächeln zierte ihre Lippen, während sie Lotte ansah, die erleichtert zurücklächelte. „Ach, ich glaube auch. Ich warte einfach ab und werde bei Gelegenheit noch einmal mit ihr reden. Aber ich glaube, besser ist es, wenn ich es erst einmal dabei belasse.“ Ihre Worte klangen schon weitaus fröhlicher als gerade eben noch, während sie sich dabei erneut einen Schluck Kaffee gönnte.

 

Die beiden anderen Mädels bemerkten ihren Stimmungswandel und waren froh darüber, dass Lotte sich nicht weiter über das Geschehene Gedanken machte. Denn es war wirklich das Richtige, es auf sich beruhen zu lassen und auf Emmas weiteres Verhalten zu warten. Obwohl sie sich sicher waren, dass ihre Freundin es in erster Linie versuchen würde, es mit sich selber auszumachen, würde sie dennoch irgendwann auf sie zugehen, wenn sie es für richtig erachten würde. Das war nun mal typisch für sie und anscheinend schien sie damit immer recht gut klargekommen zu sein. Sie mussten ihr einfach vertrauen und selber wussten sie, dass sie zur Stellen waren, sobald Emma Hilfe in jeglicher Form brauchte. Und wenn es nun einmal Ruhe war, bekam sie diese auch – vorerst. Als Bridget gerade eine Kopfschmerztablette einnehmen wollte, schrillte unerwartet die Klingel laut auf, was sie alle kurz zusammenzucken ließ. „Wer ist denn das, um die Zeit?“, fragte Lotte irritiert und sah dabei auf die Küchenuhr, die über der Tür hang. Es war zehn Uhr in der Früh. Ohne eine Antwort zu geben, sprang Bridget von ihrem Stuhl auf und hechtete zur Haustür, während Lotte hinter ihr her starrte und Ilka nur „Peter“ vor sich hin murmelte.

 

Wenige Augenblicke später trat ihre Freundin in den Armen eines sportlichen und freundlich lächelnden jungen Mannes mit kurzen, dunklen Haaren, zurück in den Raum. „Guten Morgen die Damen. Ich hab Scones mitgebracht, weil ich euch das letzte Brot weggefuttert habe“, sagte er mit einer sanften Stimme und zwinkerte dabei Ilka zu, die ihn nur lächelnd sowie kopfschüttelnd ansah, wobei er die Tüte auf den Tisch legte. Lotte hingegen saß noch immer stumm auf ihrem Stuhl und blickte ihn mit großen Augen an, bis er sich ihr zuwandte. „Und du musst Lotte sein, die kleine Schwester von Emma, richtig? Ich bin Peter, der Freund von der heißen Braut hier“, stellte er sich vor und kniff Bridget in ihren Po, woraufhin diese erschrocken aufquiekte. Ungeachtet von dem Aufschrei seiner Freundin reichte er Lotte seine andere Hand, die ihre wiederum nur zögernd in seine hineinlegte. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht, als er in ihren Augen den Unglauben über sein Verhalten erkannte, während er ihre Hand schüttelte. „Hab ich dich etwa geschockt? Keine Angst, ich bin harmlos nur manchmal ein kleiner Spaßvogel.“ Lotte war total verwirrt von seinem Auftreten und wandte ihren Blick fragend zu Bibi, die direkt neben ihrem Freund stand und nur mit einem Lächeln auf den Lippen nickte, während Ilka amüsiert mit den Augen rollte und sich ein Scones aus der Tüte nahm.

 

„Hallo Peter“, war schließlich das Einzige, was Lotte zögerlich über ihre Lippen bekam, als sie leicht schmunzelnd den Kopf schüttelte, während sie ihre Hand aus seiner befreite.
Der Typ gefiel ihr und er passte zu Bridget, er schien den gleichen Humor und vor allem dasselbe Mundwerk zu haben, wie ihre Freundin. Peter wandte sich von ihr ab und setzte sich auf den Stuhl, wo zuvor Bibi gesessen hatte. Bevor diese jedoch protestieren konnte, zog er sie auch schon seitlich auf seinen Schoß und schlang einen Arm um ihren Bauch. „Du bist blass um die Nase“, stellte Peter mit hochgezogener Augenbraue fest, wobei er seine Freundin abwartend betrachtete. „Ich habe auch Kopfweh und wollte gerade eine Aspirin nehmen, als du vor der Tür standst.“

„Scheiß Timing, was?!“, fragte er schmunzelnd, als er die Tabletten vor sich liegen sah und ihr diese schließlich in die Hand drückte.

„Wie immer“, konterte Bridget mit einem Augenzwinkern, was auch Ilka und Lotte zum Kichern brachte. Endlich nahm Bibi die Pille, um den leicht stechenden Schmerz in ihrem Kopf loswerden zu können, während Peter ihr mit seinen Fingerspitzen sanft den Nacken entlangfuhr.


„Willkommen in unserer WG…das wirst du jetzt öfters zu Gesicht bekommen“, sagte Ilka mit vollem Mund und sichtlich amüsiert, als sie den Blick von Lotte sah, der noch immer auf das eng umschlungene Liebespaar gerichtet war.

 

 


Verschlafen rieb Emma sich über die Augen und gähnte ausgiebig, ehe sie sich langsam aus dem Bett schälte. „Wer in Gottes Namen schellt um diese Zeit an und das noch auf einem Samstag? Das kann doch nur wieder so ein Reklame-Futzi sein“, grummelte sie leise, während sie in ihre Hausschuhe und den Morgenmantel schlüpfte. Normalerweise hätte sie sich noch einmal herumgedreht und versucht weiterzuschlafen, aber ihre Blase machte sich auf unangenehmerweise bemerkbar und somit war an Schlaf nicht mehr zu denken. Also schleppte sie ihren müden Körper aus dem Zimmer und schlurfte ins Bad, um sich ein wenig frisch zumachen. Die letzte Nacht war definitiv viel zu kurz gewesen, aber wider erwartend nicht so unruhig, wie sie befürchtet hatte. Seufzend stand sie am Waschbecken und wusch sich die Hände, als sie sich dabei im Spiegel betrachtete. „Ich schau aus, als hätte mich ein Bulldozer überrollt“, murmelte Emma, wobei sie sich mit den Fingern unter den Augen entlangstrich. „Ich sollte eindeutig mehr schlafen und ich brauch‘ jetzt jede Menge Kaffee.“ Sie schnappte sich das Handtuch vom Haken, trocknete sich ihr Gesicht sowie ihre Hände ab, bevor sie immer noch verschlafen das Bad verließ. Schon im Flur kam ihr lautes Gemurmel und Gelächter aus der Küche entgegen, es schienen schon alle anderen wach zu sein. Was sie stutzig machte, denn normal war sie meist die Erste, die aufstand und Frühstück zubereitete.

 

Wie spät war es eigentlich? Und wie lange hatte sie überhaupt geschlafen?

 

Als sie die Küche betrat, saßen ihre Freundinnen und auch Schwester bereits gemütlich am Tisch und aßen Scones. Es dauerte einige Sekunden, bis sie auch den Übeltäter, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, entdeckte. Bridget saß noch immer auf seinem Schoß und er hatte sie fest mit seinen Armen umfasst, während sein Kopf an ihrer Schulter lehnte. Die beiden waren zwar schon fast eine kleine Ewigkeit zusammen, aber sie machten den Eindruck, als wären sie noch immer, wie am ersten Tag ineinander verliebt. In ihrer Ausgelassenheit schien keiner Emmas Anwesenheit zu bemerken, die sich langsam und lautlos an den anderen heranschlich. Kurz bevor sie den Tisch erreicht hatte, klopfte sie Peter auf die Schulter, wobei sie ihn gleichzeitig: „Da ist also mein persönlicher Wecker!“

 

Erschrocken fuhr Peter zusammen, sodass er seine Freundin beinahe von seinem Schoß auf dem Boden katapultiert hätte. Bridget stieß, zum wiederholten Male an diesem Morgen, einen Schrei aus und umklammerte Peters Nacken, während Emma in einem lauthalsen Lachen verfiel. Lotte und Ilka stimmten augenblicklich mit ein, denn die Gesichter der beiden, sahen eindeutig zu komisch aus. „Mann, sag mal, musst du mir so einen Schrecken einjagen, Frau?“, fragte Peter sie mit einer leicht zittrigen Stimme und Bibi schaute sie etwas zerknirscht an, doch Emma konnte sich ihr Lachen nicht verkneifen. Er war leicht blass um die Nase und das sah sie nicht alle Tage, denn für gewöhnlich war er es, der solche Scherze veranstaltete und es war ihr mehr als eine Genugtuung, ihm das Ganze einmal heimzahlen zu können. „Peter mein Lieber, brauchst du was für deine Nerven? Du bist so blass!“, säuselte ihm Emma mit einem breiten Lächeln entgegen, während sie sich auf den letzten freien Stuhl, neben Lotte, fallen ließ. „Das gefällt dir wohl, mich mal so zu sehen, was? Aber warte es ab, die Rache kommt…. irgendwann. Du kennst mich doch!“ Lässig zwinkerte er ihr zu, wobei er Bridget einen Kuss auf den Nacken gab. Emma wandte kopfschüttelt den Blick von ihm ab, und schaute in die fragenden Gesichter ihrer Schwester und Ilka. Bridget hingegen war noch immer mit Peter beschäftigt und bekam augenscheinlich nichts anderes mehr mit.

 

„Äh, guten Morgen erst einmal. Ist noch Kaffee da?“, fragte sie die beiden, während sie ungeduldig mit ihren Augen den Tisch absuchte. „Mädels, ist was?“

Ilkas Blick war noch immer mit einem fragenden Blick auf ihre Freundin gerichtet, und sie überlegte, wie sie reagieren sollte. Eigentlich wollten sie das Thema nicht ansprechen, aber auf diese ausgelassene Stimmung von Emma, war sie nicht vorbereitet gewesen. Nicht, nach dem gestrigen Tag.

„Hmm, nein, wir wundern uns nur. Du bist so… so gut gelaunt“, antwortete sie schließlich zögernd, ohne nicht dabei ihre Freundin aus den Augen zu lassen. „Ja, alles okay. Ich fühl mich gut, zwar noch müde aber dennoch gut. Aber verdammt Mädels, ich brauche Kaffee, also wo ist die schwarze Brühe?!“ Kaum hatte sie ihre Worte ausgesprochen, goss Lotte ihr bereits einen Kaffee ein und lächelte sie erleichtert an. Es fiel ihr wahrhaftig ein Stein vom Herzen, ihre große Schwester so ausgelassen zu sehen, und die Gedanken und Vorwürfe von vorhin kamen ihr plötzlich nur noch lächerlich vor.

Den restlichen Morgen verbrachten die Mädels zusammen mit Peter in der Küche, frühstückten ausgiebig und unterhielten sich über die unmöglichsten Dinge aus ihrem Leben. Dabei lachten und amüsierten sie sich allesamt und sie bemerkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Es war ein wundervoller gemütlicher Morgen und Emma genoss ihn in vollen Zügen. Fast all ihre Lieben hatte sie um sich versammelt und es versprach noch, eine wunderbare Zeit mit ihnen zu werden. Sie war einfach glücklich, auch wenn sie jetzt Timothy gerne dabeigehabt hätte, um sich an seine starke Schulter zu lehnen oder nur um seine Nähe zu spüren. Doch ihr Freund war geschäftlich sehr eingespannt und sie hatten oft einfach wenig Zeit füreinander, obwohl sie in der gleichen Stadt lebten. Im Grunde, war sie sehr froh darüber, dass er in so jungen Jahren schon so erfolgreich und auch angesehen in seinem Beruf war, dennoch würde sie gern mehr Zeit mit ihm verbringen. Aber wirklich beschweren konnte Emma sich nicht, denn er war immer für sie da, wenn sie ihn mal brauchte. Das hatte er ihr gestern wieder einmal gezeigt.

 

 

******

 

 

 

Es war bereits Nachmittag und Bridget war mit Peter schon eine ganze Weile in ihrem Zimmer verschwunden, als Ilka und Emma die Küche aufräumten. Lotte saß derweil mit ihrem Laptop am Küchentisch und machte sich zum hundertsten Mal über die Anwaltskanzlei schlau, bei der sie am Montag ihr Praktikum beginnen würde. Man konnte ihre Nervosität im Raum förmlich spüren und Emma fragte sich, wie sie es ihr wohl in zwei Tagen ergehen würde. Sie machte sich einen kleinen Moment Sorgen um ihre kleine Schwester, ob sie ihrer Berufswahl wirklich gewachsen war. Aber sofort schüttelte sie den Gedanken wieder ab; sicher war es das Richtige, denn wer sonst sollte die Verbrecher verteidigen können, wenn nicht ihre Schwester mit dem unfassbaren Talent einem die Worte im Mund umdrehen zu können?! So einige Male hatte sie die Eltern mit ihren eigenen Waffen und auch Worte geschlagen und dafür bewunderte Emma sie wirklich, auch wenn sie ihr manchmal den letzten Nerv mit ihrem Mundwerk raubte. Also ja, sie war die geborene Rechtsverdreherin und sie würde es mit ihrem Ehrgeiz schaffen, da war ihre Nervosität kein großes Hindernis. Emma wischte gerade die Anrichte mit einem feuchten Tuch ab, als sie durch ein Klingeln aus ihren Gedanken gerissen wurde.

 

„Ich geh schon“, sagte sie zu Ilka, die gerade noch die Spülmaschine einräumte, und schritt gleichzeitig Richtung Flur, wobei sie den Lappen auf der Anrichte fallen ließ. Emma selber hatte nach dem gestrigen Tag nicht damit gerechnet, das alles so schnell wieder hinter sich lassen zu können, aber gerade der gemütliche Morgen mit ihren Freunden hatte ihr sehr geholfen. Noch immer in ihren Gedanken versunken öffnete sie die Haustür und schaute in ein paar strahlend grüne Augen, die ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Vor ihr stand ihr Freund mit einem bunten Blumenstrauß in der Hand und mit einem kleinen Grinsen auf den Lippen. Er sah, wie immer gut aus, seine kurzen braunen Haare hatte er, leicht aufgestylt, dazu trug er eine saloppe Bluejeans und ein dunkles T-Shirt.

„Was machst du denn hier?“, fragte Emma freudestrahlend, während Timothy die Diele betrat und sie die Tür hinter ihm schloss. „Ich hatte doch gesagt, dass ich heute vorbeischaue. Außerdem ist es Wochenende, endlich mal wieder Zeit für uns, Liebes.“ Er drehte sich zu ihr um und gab ihr einen kleinen Kuss auf den Mund. „Oder passt es dir gerade nicht?“ Emma entging der dezente Unterton nicht, der in seiner Stimme lag, als sie ihre Arme um seinen Nacken legte. „Nein, ich freu mich, dass du endlich hier bist. Habe dich schon vermisst.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, während sie ihm einen kleinen, dennoch sehr gefühlvollen Kuss auf die Lippen hauchte, den er sofort erwiderte und seine Arme um ihre Taille schlang. Timothy drückte sie sanft an seinen Körper, wobei er zärtlich mit seiner Zunge über ihre feuchten Lippen strich. Sie gewährte ihm Einlass und ihre Zungen spielten im langsamen aber gleichen Rhythmus miteinander, was ihr einen kleinen Schauer über ihren Rücken laufen ließ, als er auch noch dabei zärtlich mit einer Hand ihren Nacken kraulte. Er wusste genau, was ihr gefiel und wie er sie aus dem Konzept bringen konnte. Doch bevor Emma sich und ihre Umgebung vergessen konnte, löste sie sich aus dem Kuss und schaute Timothy leicht atemlos an. „Wir sind nicht allein“, hauchte sie ihm als Erklärung entgegen, warum sie den Kuss abgebrochen hatte, während er ihr eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich. „Aber ich mag jetzt gar nicht mehr aufhören, nach der Begrüßung“, flüsterte er leicht schmollend und legte dabei seine Stirn auf ihre. „Ich weiß, aber du musst dich noch gedulden.“

 

„Und wenn ich das nicht kann?“

 

„Du musst! Geduld ist eine Tugend, Mister!“, sagte Emma, als sie sich komplett aus seiner Umarmung löste und ihn mit hochgezogener Augenbraue triumphierend anlächelte. „Du bist schon ein kleines Biest, das weißt du, oder?!“, protestierte Timothy, während er sie mit leicht zusammengekniffen Augen anschaute und ihm wieder der Blumenstrauß in seiner Hand einfiel. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen schelmischen Grinsen, als die Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. „Okay, junge Dame, somit haben Sie den Strauß Blumen soeben verspielt.“

„Was? Wieso?“, brachte Emma nur noch überrascht über die Lippen, denn es waren all ihre Lieblingsblumen, die er da in seinen Händen hielt. Was wollte er denn jetzt mit denen machen? Er konnte sie doch nicht einfach wegwerfen, oder? Doch Timothy antwortete ihr nicht, sondern schritt, mit dem Grinsen im Gesicht, einfach an ihr vorbei in Richtung Küche. Das konnte er doch nicht machen! „Halt! Bleib stehen, schmeiß die Blumen bloß nicht weg!“, rief sie schließlich, als sie sich nach einigen Sekunden aus ihrer Starre befreien konnte und hinter ihm herlief. Kurz bevor sie ihn erreicht hatte und ihn fast am Arm zu fassen bekam, betrat er auch schon die Küche.

 

Ilka wie auch Lotte musterten beide mit einem merkwürdigen Blick, als sie sahen, wie Emma in die Küche stolperte und an Timothys Rücken abprallte, der im Türrahmen stehen geblieben war. „Aua“, murmelte sie nur, nachdem sie sich neben ihm hingestellt hatte, und keine Chance bekam weiter zu sprechen, weil ihr Freund langsam auf den Küchentisch zu steuerte. „Herzlich Willkommen im schönen London“, begrüßte Timothy ihre kleine Schwester mit einem Lächeln, während er ihr den Blumenstrauß entgegenstreckte. Lottes Gesicht begann zu strahlen, nachdem sie von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um die prächtigen Blumen in ihre Hand zunehmen. „Ah, das ist aber lieb, danke dir, Tim“, quietschte sie fast vor Freude über das Geschenk aus und schloss ihn dabei in ihre Arme. Lotte kannte Timothy schon eine ganze Weile, er war schon öfter mit Emma bei ihren Eltern, in Manchester, zu Besuch gewesen und sie mochte ihn sehr gern leiden. Doch es war einige Zeit her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und sie freute sich ehrlich, ihn wiederzusehen. Emma stand noch immer leicht schmollend im Türrahmen und beobachtete die Szene, die sich vor ihr abspielte. Sie war froh, dass ihre kleine Schwester sich hier schon so wohl fühlte und von allen so toll aufgenommen wurde. Es war einfach wunderbar, wie ihr Leben sich mit ihren Freunden und Familie entwickelte, und bei dem Gedanken daran umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen.

„Also ich muss wohl noch mal hier herziehen, damit ich auch mal so einen tollen Blumenstrauß bekomme“, meldete sich nun Ilka schmunzelnd zu Wort, wobei sie Lotte eine Vase reichte und Tim mit ihrem Ellenbogen leicht in die Seite stieß. Dieser grinste sie mit den Augenbrauen wackelnd an, als er ihr antwortete: „Wer weiß?!“

„Du bist echt unmöglich, hast du heut‘ einen Clown gefrühstückt?“, fragte Ilka recht amüsiert, als sie Lotte half, die Blumen in die Vase zu stellen.

„Nein, aber ich habe endlich mal wieder ein Wochenende Zeit für meine Süße, da kann ich nur gute Laune haben“, stellte er schmunzelnd fest, dabei zog er Emma eng an sich heran, die sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schlang beide Arme um seinen Körper und sog seinen Duft ein, während sie seine Nähe genoss. Einen kurzen Moment standen sie nur eng umschlungen da und beobachten die beiden anderen, wie sie mit den Blumen kämpften. Es war einfach wieder schön, von seinen Armen gehalten zu werden, denn die letzten paar Wochen waren diese Momente rar gesät gewesen, da er oft bis spät abends oder auch an Wochenenden arbeiten musste. „Ich habe dich wirklich vermisst“, seufzte Emma gegen seine Brust, während er sanft über ihre Haare strich. „Ich dich auch, Liebes.“

 

In ihrer Zweisamkeit bemerkten sie nicht, wie sich Lotte und Ilka bereits aus der Küche hinausgeschlichen hatten, um ihnen ein wenig Privatsphäre zu gönnen. Langsam drehte sich Emma zu ihm um, sodass sie direkt vor ihm stand und legte leicht den Kopf in den Nacken, damit sie hinauf in seine grünen Augen schauen konnte. „Ach, es ist doch verrückt, da leben wir in der gleichen Stadt und sehen uns weniger, als zuvor in Boston.“ Zärtlich strich Timothy mit seinem Finger über ihre Wange und wandte dabei nicht den Blick noch von ihrem Gesicht. „Es tut mir leid! Es ist einfach derzeit viel zutun, aber es wird bald wieder besser, versprochen. Aber heute gehöre ich nur dir, okay?“
„Vollkommen okay!“, flüsterte sie und ein Lächeln zierte ihr Gesicht, während sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte. „Und was stellen wir mit dem Tag an?“

„Ich habe mir gedacht, ich entführe dich in die Welt des Meeres.“ Fragend und mit einem Schmunzeln im Gesicht legte Emma den Kopf leicht schief, ehe sie eine Augenbraue fragend in die Höhe hob.

 

Was wollte er?

 

„Wir gehen ins Sea Life. Also mach dich fertig, die Haie warten schon!“, beantwortete er ihre stumme Frage und begann leise zu lachen, während sie im einen Kuss auf den Mund gab und sich dann von ihm löste. „Das ist toll. Ich beeile mich, warte hier und wag‘ es nicht dich wegzubewegen“, rief sie ihm noch zu, als sie aus der Küche und in den Flur, Richtung Bad lief. Timothy schaute ihr mit einem Lächeln und leicht kopfschüttelnd hinterher, während er sich auf die Bank an der Fensternische fallen ließ.


Wo sollte er denn auch ohne seine Emma hingehen?

 

 

******

 


Am späteren Abend saß Emma an der Bar von dem Pub, wo Bridget kellnerte, und nippte an ihrem Cocktail, während sie ihre Freundin beim Ausschank beobachtete. Es machte ihr sichtlichen Spaß mit den Gästen zu flirten und kassierte dadurch ordentlich Trinkgeld. Peter saß auf dem Hocker neben Emma und warf immer mal wieder ein Blick auf Bibi, obwohl er ihr natürlich vertraute und auch wusste, dass es zu ihrem Job gehörte, spürte man eine gewisse Eifersucht, die von ihm ausging. Leicht schmunzelnd nahm Emma noch einen Schluck von ihrem Bitter Chocolate Mai Tai, wobei sie ihre Augen durch den großen Raum schweifen ließ, um Ausschau nach ihrem Freund und ihrer Schwester zu halten. Die leicht rockige Musik dröhnte ihr bereits schon einige Zeit im Schädel und sie bemerkte, wie ihr der Cocktail langsam zu Kopf stieg; noch einen Drink würde sie nicht so einfach verkraften, ohne dass es ihr schwerfallen würde, geradeaus zu laufen. Sie kicherte, als sie die beiden, zwischen den ganzen anderen Menschen auf der Tanzfläche, entdeckte. Timothy tanzte tatsächlich mit ihrer kleinen Schwester; nun ja, was man so tanzen nennen mochte, denn Lotte hopste mehr oder weniger vor ihrem Freund fröhlich hin und her, während er versuchte, seine Hüften zum Rhythmus der Musik zu bewegen. Es war ein Bild für die Götter und Emma konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, während sie spürte wie dieses vertraute und auch wunderschöne Bild ihr Herz berührte. Sie liebte diesen Mann, der stets für sie da war und ihr heute einen wunderschönen Tag bereitet hatte. Auf die Idee mit ihr einen Nachmittag im Sea Park zu verbringen, um dort in der ruhigen und herrlichen Meereswelt, ihre Lieblingstiere zu beobachten, konnte wirklich nur er kommen. Timothy wusste meist, was sie brauchte und vor allem was sie liebte - er war ihr Fels in der Brandung.

 

Was sie eigentlich nie mehr für möglich gehalten hatte, dass sie noch einmal so empfinden konnte – auch wenn es gänzlich anders war, als bei ihrer ersten großen verlorenen Liebe.

 

Als sie schließlich am frühen Abend, ausgelassen wieder in der WG hineingeschneit kamen, waren bereits die anderen in ihrer Planung für das Nachtleben in London vertieft. Lotte war auf die glorreiche Idee gekommen, einfach in The Cow zu gehen, um dort Party zumachen, da Bridget heute arbeiten musste. So wäre auch sie wenigstens dabei und das wiederum wäre ein toller Kompromiss gewesen. Auch wenn Emma nicht der Sinn danach gestanden hatte und lieber mit Tim den Abend zu zweit verbracht hätte, stimmte sie der Idee zu. Es war schließlich das erste Mal, wo ihre kleine Schwester London bei Nacht erleben sollte und die anderen waren von ihrem Einfall begeistert gewesen. So waren sie alle hier in dem Pub gelandet und es war wirklich ein toller Abend mit viel Spaß geworden, doch jetzt verspürte Emma einfach nur noch das Bedürfnis nach Hause zugehen und die restliche Zeit mit Timothy alleine zu verbringen. Genau in dem Moment, wo Emma aufstehen und zu ihnen auf die Tanzfläche gehen wollte, schaute ihr Freund zu ihr rüber und sie winkte ihm mit einem Lächeln zu. Er verstand sofort, und gab Lotte ein Zeichen mit ihm zurück zu ihrer Schwester zu gehen und wenige Minuten später hatten sie sich beide durch die Menschenmasse zu ihr durchgekämpft. Lotte ließ sich völlig verschwitzt neben Peter und Ilka auf dem Hocker nieder, bestellte sich eine Cola bei Bibi und begann sich angeregt mit ihnen zu unterhalten. Timothy hingegen stellte sich direkt vor Emma und schaute sie liebevoll aber fragend an, während sie ihn zu sich heranzog und ihn mit wenigen Worten zu verstehen gab, dass sie nun liebend gern mit ihm allein sein wollte. Denn sie sehnte sich nach den wenigen Momenten der Zweisamkeit mit ihm und wollte sie stets mit ihm genießen. Er nickte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, als er sich von ihr löste, um sich über die Theke zu legen und zu bezahlen. Emma drehte sich derweil zu Lotte, um sich von ihr und den anderen zu verabschieden. Es war schon vorher abgesprochen gewesen, dass ihre Schwester mit den anderen zurückzurückfahren würde. Einige Sekunden später stand Tim bereits mit den Jacken wieder vor ihr und Emma sprang mit einem Lächeln von ihrem Hocker.

„Bitteschön junge Dame“, sagte er und zwinkerte ihr zu, während er ihr die Jacke hinhielt, sodass Emma direkt mit den Armen hineinschlüpfen konnte. „Danke der Herr“, antworte sie mit einem neckischen Unterton in ihrer Stimme und legte einen Arm um seine Hüfte. Gemeinsam verabschiedeten sich noch einmal von ihren Freunden, die ihnen noch eine aufregende Nacht wünschten, woraufhin Emma gespielt genervt mit ihren Augen rollte.


„Wohin darf es denn gehen, zu dir oder mir?“, fragte Tim, während sie Arm in Arm den Pub verließen und in die laue Spätsommernacht gingen. „Zu Dir. Die Geduld hat ein Ende“, antwortete sie ihm mit einem verführerischen Lächeln und hauchte ihm einen kleinen Kuss auf seine Lippen, woraufhin er sie näher an sich zog und diesen gierig erwiderte.

 

 

 

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Mit gesenkten Kopf, dabei die Cap bis ins Gesicht und die Mütze vom Hoodie darüber gezogen, hastete Rob mit eiligen Schritten durch das Flughafengebäude, während Tom hinter ihm her hechtete. Dean, sein Bodyguard, war direkt an seiner Seite und schirmte ihn, so gut es ging, vor der Menschenmasse ab, die ihn sofort umgab, sobald sie ihn erkannten. Sein Puls raste und er hoffte jedes Mal aufs Neue, schnell aus der Situation und dem Gebäude zu kommen, um endlich im schützenden Auto sitzen zu können. Das waren die Schattenseiten seines Erfolgs und er hasste genau diese Momente, die es seit Twilight um seine Person gab. Auch kein, fast 15 Stunden Flug konnte ihn darauf vorbereiten, was ihn erwartete, sobald er das Flugzeug verließ oder wenn er nur einen Fuß in die Öffentlichkeit setzte. Zumal er den Eindruck hatte, dass es mit der Zeit immer extremer wurde. Nur wildes Stimmengewirr nahm er um sich herum wahr, wobei sein Name immer wieder schreiend oder gar kreischend zu ihm durchdrang, während er mühsam versuchte, seine Umgebung auszublenden. Er verspürte nur mehr den Drang, endlich vom Flughafen wegzukommen und dass bitte so schnell, wie es nur möglich war, als er seine Schritte noch ein wenig mehr beschleunigte. Es war alles so unwirklich, dass die Menschen auf ihn teilweise hysterisch reagierten, wenn er irgendwo auftauchte und es war mehr als nur befremdlich - es schreckte ihn ab. Das Schlimmste waren die absolut nichtvorhandenen Berührungsängste, die anscheinend ein Teil der Leute nicht besaßen und er von Wildfremden einfach angefasst, umarmt oder gezerrt wurde. Sie überschritten eindeutig ganz klare Grenzen, die in ihm eine innere Angst auslösten. Es erschütterte ihn, als wenn er ein Stück Fleisch wäre, was jeder mal antatschen durfte, und das war der Punkt, womit er die größten Probleme mit seinem Erfolg hatte. Es war ein bedrückendes Gefühl und die Beklemmung, die versuchte ihm den Atem zu nehmen, breitete sich immer weiter in ihm aus, in dem Bewusstsein, nicht länger in der Lage zu sein, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können - nicht ohne ständig in Alarmbereitschaft sein zu müssen. Rob hielt schützend eine Hand vor seinen Augen, obwohl er seine Ray-Ban auf der Nase trug, als er durch den Ausgang ins Freie trat und augenblicklich das Blitzlichtgewitter über ihn hereinbrach. Das war fast wie ein Blindflug, sobald die Fotografen das Feuer für „das“ Bild auf ihn eröffneten. Man sah rein gar nichts mehr und es schmerzte unfassbar in den Augen. Dabei war das vollkommen gleich, ob es Tag oder Nacht war. Unvermittelt spürte er eine Hand, - er hoffte, es war Deans- an seinem Oberarm und zeitgleich, wie er zur Seite gezogen wurde, um auch schon einen kurzen Moment später ins Auto geschoben zu werden. Erst als die Autotür zufiel und sein Kumpel, neben ihm, auf der Rückbank vom SUV mit getönten Scheiben, Platz nahm und der Wagen sich in Bewegung setzte, nahm er die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. Noch immer hatte Rob ein grelles Flackern im Sichtfeld und er versuchte vergebens, einen klaren Blick zu bekommen, während er sich genervt die Mützen vom Kopf riss.

 

Was für ein verdammter Mist.

 

Was hatte die Horde an Paparazzi eigentlich davon, ihn beim Verlassen des Flughafens zu fotografieren? Er verstand es nicht und würde es wohl auch nie. Seufzend ließ er sich gegen die Rückenlehne zurückfallen, als ihm erleichtert bewusst wurde, dass er den kleinen Spießrutenlauf überstanden hatte. Tom saß neben ihm, sagte kein Ton und rieb sich ebenfalls die Augen, doch eher aus Müdigkeit, denn der Flug war lang und anstrengend gewesen. Beide hatten keine Chance gehabt, ein wenig Schlaf zu bekommen, denn er war innerlich viel zu unruhig gewesen und hatte Tom damit ebenfalls wachgehalten. Er hatte noch bis spät in den Abend hineingedreht gehabt, bis er anschließend direkt vom Set aus, zum Flughafen gehetzt war, um endlich für ein paar Tage Urlaub machen zu können. Das war eigentlich der Plan gewesen, nachts abzureisen, damit er eine kleine Chance hatte unbeobachtet das Land zu verlassen und einreisen zu können.

 

Tja, das war wohl gründlich in die Hose gegangen.

 

Nach über einem dreiviertel Jahr hatte er endlich mehr als nur 2 Tage am Stück frei und die Freizeit wollte er jede Sekunde auskosten – komme was wolle! Als sein Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren begann, fischte er umständlich mit zwei Fingern in der Tasche rum, bis er es schließlich erfolgreich herauszog. „Ja“, meldete er sich müde, während er ein Gähnen unterdrückte.

„Ah, du bist gelandet. Ist alles gut gegangen?“, hörte er seine Managerin, wobei er vorsichtig seinen Hals von links nach rechts neigte, der dabei gefährlich zu knacken begann. Sein ganzer Nacken und Schulterbereich schmerzte vor Verspannung und er spürte, wie die Erschöpfung ihn langsam zu übermannen drohte. „Wie immer. Dabei hatte ich gedacht, hier wäre es ruhiger“, antworte er schließlich und konnte das Gähnen nicht länger zurückhalten. „Es muss irgendjemand der Presse einen Tipp gegeben haben, sonst wären da nicht so viele gewesen. Normal hätte dich keiner hierzulande vermutet. Zumindest nicht heute“, versuchte sie ihm die Situation zu erklären, was Rob nur leise aufschnaufen ließ. Das konnte dann ja noch lustig werden. So weit hatte er noch gar nicht gedacht, wenn die jetzt seine Ankunft mitbekommen hatten, dann hatte er die blöden Paparazzi wohl an den Fersen. Frustriert rieb er sich mit der Hand durchs Gesicht, bevor er verärgert in den Hörer sprach: „Ich hoffe, ich steh nun hier nicht auch unter Dauerbeschuss, sonst kann ich meinen Urlaub direkt vergessen!“ Seine Laune war im Steilflug in den Keller gestürzt und er schloss für einen Moment die Augen, um die drohend aufkeimende Wut unter Kontrolle zu halten, schließlich konnte Steph auch nichts dafür. Sie war diejenige, die immer nach Lösungen suchte und alles in Bewegung setzte, damit er zumindest ein Teil seiner Freiheit erhalten konnte und gleichzeitig seinen Sturkopf aushielt, wenn er am Liebsten, wie in Momenten wie diesen, frustriert alles hinschmeißen wollte. Denn er hatte wirklich keine Lust, sich nur noch verstecken zu müssen, schließlich wollte er leben und dieses auch genießen können. Doch das funktionierte nicht, wenn er nur noch in irgendeinem Kämmerchen hockte und wie ein „Vampir“ nur im Schutz der Dunkelheit oder im Tarnumhang vor die Tür konnte.

 

Was eine Ironie!

 

„Also, ich habe euch ein Apartment und kein Hotelzimmer, unter einem falschen Namen, gemietet. Somit habt ihr etwas Luft und keiner weiß, wo du untergekommen bist. Dean hat alle Details und fährt euch gerade hin. Wir sollten uns morgen früh noch mal treffen und über ein paar Kleinigkeiten sprechen, bevor du dann deine freien Tage wirklich genießen kannst, Rob!“

 

„Hmm, ja Okay. Wann kommst du rum?“, fragte er, während er die Informationen versuchte zu verarbeiten. Es klang gut, was sie sagte und er hoffte inständig, dass es eine Möglichkeit war, wenigsten ein bisschen an Normalität zurückzuerlangen – zumindest für ein paar Tage. Tom warf ihm einen fragenden Blick zu, den er mit einem Augenrollen, begleitet von einem Schmunzeln, beantwortete, während seine Managerin weiter zu ihm sprach: „Ich bin gegen 12 da. Schlaf dich erst mal aus. Der Tag war lang genug und der Jetlag wird dir auch noch in den Knochen stecken.“ Sie lachte leise. „Ach, bevor ich es vergesse, dein Wagen steht in eurer Unterkunft, in der Tiefgarage und der Schlüssel ist am Empfang hinterlegt. Alles Weitere machen wir morgen.“

 

Leise seufzend fuhr Rob sich mit der Hand durch sein Haar, ihm war es unangenehm, dass man ihm seine Sachen „hinterhertrug“, denn er war gerne für seine Dinge selbst verantwortlich und würde es problemlos schaffen, sich selbst zu versorgen. Und da war es wieder, kein selbstbestimmtes Leben mehr. Doch er wusste genau, wie Stephanie es gemeint hatte, schließlich wollte sie ihn nur unterstützen und dabei einen Gefallen tun. Sie arbeiteten schließlich schon einige Jahre zusammen und es hatte sich mittlerweile über die Arbeitsbeziehung hinaus, eine Freundschaft entwickelt. „Danke Steph, aber das wäre nicht nötig gewesen. Ich hätte ihn mir auch selbst holen können.“

 

„Habe ich gern gemacht. Melde dich, wenn irgendetwas sein sollte. Bis morgen.“ Noch ehe Rob etwas erwidern konnte, hatte sie auch schon aufgelegt. Das war typisch für sie. „Wir haben ein Apartment für uns“, schmiss Rob seinem besten Freund, die Information um die Ohren, der nur müde ein „Okay“ vor sich hin brummelte und seine Stirn seitlich an der Fensterscheibe angelehnt hatte. Nachdem er sein Handy zurück in die Hosentasche gestopft hatte, ließ Rob seinen Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen, während der Wagen weiter über die dunklen Straßen rollte. Er freute sich nur noch auf ein Bett und eine Mütze voll Schlaf, bevor er –hoffentlich-  endlich seine Freizeit in vollen Zügen genießen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht erahnen, dass alles ganz anders kommen sollte.

Unverhofft kommt oft....

Kapitel 4

Unverhofft, kommt oft…

 

Es war ein sonniger Tag, den Emma schon seit Stunden in ihrem Zimmer am Schreibtisch verbracht hatte, und in ihre Bücher vertieft war. Wie jeden Nachmittag, in den vergangenen Tagen, lernte sie für die kommenden Klausuren und langsam spürte sie, wie sich alles in ihrem Kopf immer mehr in ein leeres Nichts verwandelte. Resigniert über ihren ausbleibenden Lernerfolg, ließ sie den Stift auf ihren Block fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. „So ein Mist, wie soll ich die Klausur nur packen, wenn nichts in meinen verdammten Schädel hängen bleiben will?!“, murmelte sie frustriert, während sie leise aufstöhnte und sanft ihre Schläfen zu massieren begann. Sie hatte das stetig wachsende Gefühl, dass ihr Kopf bei der Menge an Informationen drohte zu platzen, welche sie schon seit Tagen versuchte in sich hinein zu hämmern. In den nächsten Wochen stand ihr sprichwörtlich ein Klausuren-Marathon bevor, den sie bestmöglich meistern wollte. Etwas anderes ließ ihr Ehrgeiz auch gar nicht erst zu. Emma nutzte jede erdenklich freie Minute zum Lernen, und auch wenn sie merkte, dass es ihr in diesem Moment nicht wirklich gelang, sich auf den Stoff zu konzentrieren, konnte sie die Bücher nicht einfach beiseitelegen, um sich eine Pause zu gönnen. Sie wurde stets von einem innerlichen Druck sowie Angst begleitet, was sie immer wieder befürchten ließ, in irgendeiner Form zu versagen. Seufzend nahm sie den Kuli wieder in die Hand, um erneut einen Blick auf ihre Unterlagen zu werfen. Es brachte ja schließlich nichts, irgendwie musste es doch einen Weg geben, den verdammten Stoff in ihr Hirn zubekommen. Doch kaum hatte sie die ersten Zeilen von dem Bericht gelesen, klopfte es an der Tür.

 

„Ja“, sagte Emma etwas lauter, wobei sie die Augen nicht von ihrem Buch nahm und nebenher eine weitere Notiz aufs Blatt Papier kritzelte. „Mann, aus deinen Ohren kommt ja schon Qualm. Du brauchst mal dringend eine Pause“, hörte sie die Stimme ihrer Schwester hinter sich, die langsam, mit einer Tasse in ihren Händen, auf sie zuging. Emma entwich nur ein leises „pfft“, während sie weiter den Stift über das Papier führte. „Was heißt hier pfft? Seit Tagen sieht man dich nur noch zum Essen oder nur kurz vorher, bevor du zur Uni huschst. So viel Lernerei kann doch unmöglich gesund sein.“ Lottes Worte klangen sowohl ermahnend als auch besorgt, während sie den Becher Kaffe zu Emma auf den Tisch stellte und dann einen Schritt von ihr wich. Ihr war es bewusst, wie sehr ihrer Schwester das Studium am Herzen lag, aber es war an der Zeit sie ein wenig hinter ihren Büchern hervorzulocken. Mit einem Lächeln sah sie, wie das schwarze Gebräu, seit sie den Raum betreten hatte, es zum ersten Mal schaffte, dass Emma den Blick von ihren Unterlagen abwandt und sich der Tasse widmete. „Hmm, ist der für mich?“ Mit geschlossenen Augen sog Emma den Kaffeeduft in sich auf, während sie den Becher in die Hand nahm, bevor sie einen kräftigen Schluck trank. „Ja klar, ich dachte, du kannst das gebrauchen.“ Lotte betrachtete ihre Schwester mit einer hochgezogenen Augenbraue, sie wirkte erschöpft und sie beschloss, dass sie Emma auf andere Gedanken bringen musste. Sie brauchte definitiv eine Pause, sonst würde sie ihr wohl noch zusammenklappen. Ganz gleich, was ihre Schwester ihr entgegen zusetzten hatte, sie würde sie auf jeden Fall irgendwie an die frische Luft befördern.

Kaum war ihr Entschluss gefallen, hatte Lotte auch schon eine Idee, wie sie ihr Vorhaben umsetzen konnte. Noch während sie erneut auf den Schreibtisch zuging, sprach sie Emma mit einem wissenden Lächeln an. „Weißt du, was mir gerade eingefallen ist?“

„Hmm“, war das Einzige, was ihre Schwester leise von sich gab, während sie noch immer stillschweigend ihren Kaffee genoss. „Du löst jetzt dein Versprechen ein und es gibt keine Widerworte“, säuselte sie und stütze sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab, wobei sie erwartungsvoll in das verdutze Gesicht ihrer Schwester schaute. „Wovon sprichst du und vor allem - was willst du jetzt von mir?“, gab Emma mit gerunzelter Stirn wieder und setzte langsam den Becher Kaffe auf die Tischplatte ab, ohne dabei den Blickkontakt zu verlieren. „Na komm schon, du weißt genau, was ich meine. Du hast mir schließlich vor ein paar Tagen versprochen mit mir Shoppen zu gehen.“

„Ach Lotte, das ist jetzt nicht dein Ernst oder? Du weißt genau, was ich noch alles lernen muss und wie viel Stoff das alles ist.“ Während sie ihre Worte aussprach, ließ sie die Finger über ihre Notizen und Bücher gleiten, wobei ihr ein leises Seufzen entwich. Allein der Gedanke daran, was ihr noch alles bevorstand, machte ihr Angst, doch sie hatte keine Chance, weiter einen Gedanken daran zu verschwenden. Denn ohne ihr nur einen Moment der Pause zu gönnen, redete Lotte auch schon weiter auf ihr ein. Anscheinend wollte sie wirklich nicht lockerlassen. „Nix da, hier wird sich jetzt nicht heraus geredet! Du hast für heute genug gelernt und nun wird es Zeit für ein bisschen frische Luft und Ablenkung“, beharrte sie weiter und verdeutlichte ihre Worte, indem sie die Bücher mit einer kleinen Handbewegung zuklappte, während sie ununterbrochen weitersprach: „Außerdem brauche ich dringend ein Kleid für Samstag oder willst du, dass ich in meinen alten Lumpen eine Einweihung-Begrüßungsparty schmeiße?“ Mit hochgezogener Augenbraue und einem schiefen Lächeln schaute Lotte sie erwartungsvoll an. „Oh Mann!“ Seufzend schüttelte Emma mit ihrem Kopf und konnte in dem Blick ihrer Schwester erkennen, dass sie keine wirkliche Chance hatte, sich deren Vorsatz zu widersetzen. Denn wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie davon definitiv nicht mehr abzubringen.

 

Dieser kleine Sturkopf!

 

Vielleicht hatte sie wirklich recht, sie saß tatsächlich schon seit Tagen vor ihren Büchern oder dem Notebook, um für irgendwelche Referate zu recherchieren oder für Klausuren zu lernen. Tim hatte sie ebenfalls seit über einer Woche nicht mehr gesehen, da er beruflich am Wochenende verreisen musste und sie unter der Woche genauso wenig Zeit hatte. Nur ein flüchtiges Aufeinandertreffen war drin gewesen, als sie ihre Bücher bei ihm abgeholt hatte, die sie dort hatte liegen lassen. Sie vermisste ihn und sie spürte beim abendlichen telefonieren, dass es ihm nicht anders erging. Im Grunde merkte sie auch, wie ihre Konzentration gar nicht mehr vorhanden war und eine Pause eigentlich das Vernünftigste wäre. Also warum gönnte sie sich nicht ein paar Stunden Ruhe, lernen konnte sie schließlich auch noch am Abend, wenn sie wieder zurück wären.

 

„Hey, sag mal, was grübelst du denn noch?“, unterbrach Lotte ihre Gedankengänge und als sie unvermittelt die Hand ihrer Schwester auf ihrer spürte, zuckte sie unter der unerwarteten Berührung kurz zusammen. „Was bist du denn so schreckhaft? Aber jetzt sag schon…“, fragte Lotte feixend und warf ihr gleichzeitig einen ungeduldigen Blick zu. „Ja ja… ich geh mit, du olle Nervensäge.“ Augenrollend schob Emma den Blog ein Stück weit von sich weg. „Lernen kann ich auch noch später.“

„Ja, endlich hast du es verstanden… zumindest ein bisschen. Oh das wird toll, endlich mal wieder mit dir die Läden und vor allem die Umkleidekabinen unsicher zu machen! Wir können dann auch gleich noch unterwegs schön was essen gehen… das Nando´s soll so toll sein und hach… ich rede zu viel, oder? Ach, egal. Ich geh mich eben fertigmachen und du machst das Gleiche. Wir treffen uns dann in der Küche, ja?“ Lottes Aufregung prasselte in einem Wortschwall auf Emma ein, die noch immer auf ihrem Stuhl saß und sie mit leicht geöffnetem Mund anschaute. Ohne jedoch auf ihre Antwort zu warten, drehte sich ihre hibbelige Schwester auf dem Absatz um und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. „Äh, ja klar!“, murmelte Emma verwundert und schüttelte den Kopf, während sie beobachtete, wie die Tür mit einem kräftigen Schwung ins Schloss fiel.


„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich meiner Herausforderung „Lotte“ zustellen.“ Mit einem Seufzen raffte sie ihre Schultern, stand auf und verließ ebenfalls ihr Zimmer, um sich im Bad frisch zu machen.

*******

 

 


Zwei Stunden später fand sich Emma, in einem der beliebtesten Bekleidungsgeschäfte der Londoner, in einer kleinen Umkleidekabine wieder. Mühsam versuchte sie, sich ihren eng anliegenden Pulli über den Kopf zu streifen. Allerdings wollte es ihr nicht wirklich gelingen, denn egal wie sie sich auch positionierte, sie donnerte immer wieder mit einem Arm gegen die Wand. „Warum verflixt noch mal, musste ich auch ausgerechnet den Pulli anziehen?“, schimpfte sie in den Stoff hinein, als es ihr schließlich doch irgendwie gelang den Saum ihres Oberteils mit gekreuzten Armen zupacken, um ihn dann endlich mit Erfolg über den Kopf zu ziehen. „Autsch, verdammt!“, schrie sie schmerzhaft auf, als sie dabei mit dem Ellenbogen erneut gegen die Kabinenwand schmetterte. Reflexartig zog sie ihren Arm an den Oberkörper und strich mit der Hand über die schmerzende Stelle, während der Stoff achtlos zu Boden fiel. Emma hatte keine Ahnung, wie sie hier gelandet war, denn ursprünglich wollte sie ihre Schwester beim Kauf eines neuen Kleides, mit guten Ratschlägen zur Seite stehen, und sich nicht selber mitten in einer Kabine wiederfinden. Doch dann hatte sie dieses kleine verspielte Negligé gesehen, was ihr förmlich –kauf ´mich- zugerufen hatte.


„Sag mal, reißt du die halbe Kabine ab? Du sollst doch nur das neckische Teil anprobieren“, erklang dumpf die Stimme von Lotte durch den roten Vorhang, wobei ihr Kichern nicht zu überhören war.

„Sehr witzig, das ist scheiße eng hier, versuch´ du dich hier mal umzuziehen“, blaffte Emma zurück und nahm das cremefarbene Nichts mit den eingenähten rosa Bändchen vom Bügel, um dort irgendwie hineinzuschlüpfen. „Das Vergnügen werde ich auch noch haben, schließlich steh´ ich hier vollgepackt vor deiner Kabine.“ Lotte kicherte. Sie war froh darüber, dass ihr Plan funktioniert hatte und merkte, wie ihrer Schwester der Einkaufsbummel guttat und anscheinend auch genoss. Denn sie hatten schon ein paar Stunden mit ihrer Shoppingtour verbracht und dabei eine Menge Spaß gehabt, auch wenn Emma anfangs überhaupt nicht der Sinn dazu gestanden hatte. Da war die zu enge und stickige Umkleide nur ein kleiner Minuspunkt gewesen, weshalb kurzzeitig drohte, die ausgelassene Stimmung runtergezogen zu werden. Doch sie war sich sicher, sobald sie selber ihre Auswahl an Kleider anprobieren konnte, würde wohl Emma grinsend und kichernd vorm Vorhang stehen. Sie hoffte inständig, dass es nicht mehr all zulange dauern würde, bis sie sich endlich auch im Spiegel betrachten konnte. Leider waren die anderen drei Kabinen ebenfalls besetzt und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mehr oder weniger geduldig zu warten. Was ihr zugegebener Maßen nicht so leicht fiel, zumal sie auch noch das Gefühl hatte, dass ihr linker Arm gleich von der Last der Klamotten, den sie darauf drapiert hatte, abfallen würde.


„Bist du denn bald soweit?“

„Jahaaa, aber ich weiß nicht so wirklich...“ Emma zupfte unsicher an dem dünnen Stoff herum, der sich zart um ihre Haut schmiegte, während sie sich skeptisch im Spiegel betrachtete. „Was weißt du nicht?“, fragte Lotte neugierig und machte einen Schritt auf die Kabine zu. „Nee, das sieht nicht aus“, murmelte ihre große Schwester, während sie sich weiterhin frustriert vor dem Spiegel hin und her drehte und dabei ihre Augen abermals über ihren Körper gleiten ließ.

„Mensch, sei nicht immer so skeptisch.“ Vorsichtig aber dennoch ohne Rücksicht, zog Lotte ein Stück den Vorhang beiseite und steckte ihren Kopf neugierig in die Kabine, wobei sich ihre Lippen augenblicklich zu einem „WOW“, formten. „Also, wenn du nun sagst, du weiß nicht, dann weiß ich es nicht, was du außer ´nen Omateil anziehen magst?! Tim werden die Augen rausfallen, wenn er dich SO sieht, alter Schwede!“

„Meinst du wirklich?“ Unsicher, ob sie den Worten ihrer Schwester trauen konnte, richtete sie den Blick direkt auf sie, wobei Lotte als Antwort, nur genervt mit den Augen rollte, bevor sie ernst anschaute. „Na klar! Das sieht so heiß aus…. Nein, DU siehst heiß aus! Du hast einfach die perfekte Figur dafür und Mensch, sei doch nicht immer so verdammt selbstkritisch! Ich prophezeie dir, wenn du DAS an hast, schlägt seine Wünschelrute ins Unermessliche aus.“

„Charlotte!“, rief Emma empört ihren Namen aus und schaute sie mit weitaufgerissen Augen an, während sie augenblicklich spürte, wie ihr die Hitze, die Wangen emporkroch. „Kannst du BITTE einmal, nicht solche Aussagen treffen? Wir sind hier schließlich nicht alleine!“
„Was denn? Ist doch die Wahrheit… außerdem, seit wann bist du so prüde?“ Neckisch und herausfordernd zwinkerte sie ihrer Schwester zu, die sie noch immer peinlich berührt anschaute und dabei nervös am Saum des Negligés herum zupfte.

 

„Bin ich doch gar nicht, aber wir sind hier nun mal nicht unter uns und nicht jeder muss mitbekommen, was ich anprobiere“, flüsterte sie ihr ermahnend zu, doch Lotte rollte nur grinsend mit den Augen, während sie unbeirrt nachfragte: „Und? Kaufst du es jetzt?“

„Hmm, ich… ich überleg es mir noch. Und du, meine Liebe, nimmst jetzt bitte deinen Kopf aus meiner Kabine.“ Sie schnappte sich den Saum des Vorhangs und zog ihn rasch vor Lottes Nase zu, die daraufhin nur ein weiteres Mal, grinsend, die Augen verdrehte und dabei amüsiert mit dem Kopf schüttelte. „Denk dran Schwesterherz, du wirst es bereuen, wenn du das Teil nicht kaufst!" Ohne darauf einzugehen, schälte sich Emma gedankenverloren und unsicher, ob sie das Teil wirklich mitnehmen sollte, aus dem Negligé und zog sich wieder an. Sie seufzte, während sie, fertig angezogen, den Hauch vom Nichts in ihren Händen hin und her drehte.

 

Kaufen oder nicht kaufen?

 

Es war wirklich ein hübsches kleines Dingen und sie war sich ziemlich sicher, dass es Tim gefallen würde. Schon allein Lottes Reaktion war nicht von schlechten Eltern gewesen, aber dennoch waren da ihre kleinen Zweifel, ob sie einen Kauf nicht später bereuen würde. Kurzerhand beschloss sie, ihre Entscheidung auf später zu verschieben, erst einmal wollte sie ihrer Schwester bei der Kleiderwahl behilflich sein. Zudem hatte sie auch noch ein wenig Zeit für ihre Entscheidung gewonnen. Entschlossen schob sie den Vorhang zur Seite und verließ die Kabine, wobei ihr Lotte erwartungsvoll ins Gesicht lächelte. „Ich weiß noch nicht, ob ich es mitnehme“, beantwortete sie sofort die stumme Frage und ging auf sie zu. „Aber jetzt bist du erstmal dran, dein Arm hängt schließlich schon auf halb Acht und ich bin gespannt, wie die Kleider an dir aussehen werden. Also hopp, hopp.“ Langsam aber zugleich mit Nachdruck schob sie ihre kleine Schwester in die Umkleide, während sie sich, irritiert darüber wie ihr geschah, versuchte zu ihr umzudrehen.

„Äh, häng´ das Teil bloß nicht weg, verstanden?“

 „Ja, verstanden und nu mach´, dass du dich umziehst. Und denke an deine Ellenbogen.“ Mit einem Grinsen auf den Lippen sowie leise kichernd, zog Emma abermals den Vorhang vor Lottes Nase zu. Fassungslos darüber, was gerade geschehen war, stand Lotte einen Bruchteil einer Sekunde vor dem roten Stoff und starrte sprachlos darauf, während sich Emma wieder gut gelaunt im schmalen Gang umschaute, bis sie schließlich am Ende der Umkleide einen kleinen schwarzen Sessel entdeckte. Erschöpft von der Umzugsprozedur und der Shoppingtour ließ sie sich in das kühle Leder fallen.

 

Was ein Tag!

 

Emma legte ihre Tasche samt dem Negligé auf ihren Schoß und ließ ihren Blick über das neckische Teil schweifen. Tim würde es gefallen, da hatte Lotte ganz sicher recht, aber selber hatte sie so etwas noch nie getragen. Zaghaft ließ sie ihre Finger über die Träger des Stoffes gleiten und hob es hoch, um es noch einmal im Ganzen zu betrachten. Es war schon verdammt schön und traf vollkommen ihren Geschmack, also vielleicht sollte sie es wirklich wagen und einfach mitnehmen?! Die Idee, ihren Freund damit zu überraschen und etwas aus der Fassung zu bringen, gefiel ihr sehr. In ihren Gedanken vertieft legte sie es zurück auf ihren Schoß. Doch je länger sie so dasaß, über die Möglichkeiten nachdachte und ein paar Szenarien in ihrem Kopf Gestalt annahmen, wie sie das Teil am besten Tim präsentieren könnte, umso mehr spürte sie, wie sehr er ihr fehlte. Es war eindeutig zu lange her gewesen, wo sie Zeit miteinander verbracht hatten und vor allem sich nah gewesen waren. Sie seufzte, doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie jäh, von einem lauten Fluchen, aus ihrer Gedankenwelt gerissen.

 

„Mist noch mal. Emma!“

 

Sofort sprang sie auf und eilte zu ihrer Schwester. Kaum war sie bei ihr angekommen, steckte sie den Kopf ein Stück weit in die Kabine und musste sich ein Lachen krampfhaft verkneifen.

„Was ist denn das?“, fragte sie glucksend und musterte Lotte mit hochgezogener Augenbraue, die nur im Schlüpfer bekleidet und mit einem schwarzen engen Volantkleid über den Schultern gespannt in der Kabine stand. Die Arme hatte sie über der Brust gekreuzt und versuchte, den Stoff an ihrem schmalen Körper herunter zu ziehen, dabei hüpfte sie ungeduldig auf der Stelle, doch es wollte einfach nicht gelingen. Emma selbst hatte die größte Mühe bei dem Anblick, der sich ihr bot, nicht im schallernden Gelächter auszufallen. „Schwesterherz, wo hast du das Kleid gesehen? In der Kinderabteilung? Das ist definitiv zu klein…“

„Nein, das passt! Ich sag´s dir, DAS passt!“, beharrte Lotte und versuchte ein weiteres Mal, das Kleid über ihren Körper zu streifen, dabei schnaufte sie einmal frustriert auf, als es sich nicht einen Millimeter von der Stelle rührte. „Hey, lass das, es wird gleich noch reißen. Du wirst da nie reinkommen.“ Schmunzelnd stellte sich Emma neben ihre Schwester und schaute sie abwartend an. Diese hingegen gab nicht auf und wibbelte noch immer unruhig auf einer Stelle hin und her, um das verdammte Ding doch irgendwie überwältigt zu bekommen. „Mann, aber das Kleid muss doch eng sitzen und das schaute so toll auf dem Bügel aus“, schmollte Lotte.

„Aber doch nicht so eng, dass du erstens Atemnot hast und zweitens beim Anziehen ausschaust wie ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen.“ Emmas Versuch, ihr Lachen zurückzuhalten scheiterte kläglich, und sie prustete laut los, was ihr wiederum einen ziemlich bösen Blick von Lotte bescherte. „Weißt du was? Ich helf´ dir erstmal aus dem Ungetüm raus und dann schau ich, ob es das Kleid noch eine Nummer größer gibt, okay?“, lenkte sie ein und half ihr dabei, sich behutsam das kleine Schwarze über den Kopf zu ziehen. „Okay, ich versuch mich so lange an den anderen Sachen. Ich hoffe, das gibt es noch, denn es ist definitiv mein Favorit. Auch, wenn ich es noch nicht komplett an mir gesehen habe. Hey, und hör auf zu lachen!“ Emma stand noch immer glucksend vor ihr, doch auch Lotte konnte sich selber ein Grinsen nicht länger verkneifen. Sie musste schon arg komisch ausgesehen haben, wenn ihre Schwester sich noch immer köstlich amüsierte. „Ich versuche es Liebes, und du massakrierst dich bitte nicht bei der Anprobe. Ich beeil mich auch“, antwortete Emma schlicht, während sie, mit dem Kleid und Negligé in den Händen, die Kabine verließ. Als sie den Flur in Richtung Verkaufshalle entlang schritt, hörte sie, wie Lotte leicht schmollend vor sich hin grummelte, was sie erneut leise aufkichern ließ. Lotte war wirklich eine Marke für sich und es machte immer wieder Spaß mit ihr shoppen zu gehen, denn solche Aktionen wie die von gerade eben, konnte wirklich nur ihre Schwester bringen und das hatte Emma mal wieder den Tag versüßt. Sie war sich sicher, wenn sie daheimgeblieben wäre, hätte sie es definitiv bereut.

 

Nach einigen Metern hatte Emma die richtige Abteilung erreicht und stand schließlich vor dem Kleiderständer, an welchem noch einige Exemplare von Lottes zukünftigem Kleid hingen. Nachdem sie es wieder feinsäuberlich auf dem Bügel gefädelt hatte, hing sie es zurück und schaute nach der passenden Größe für ihre Schwester. Sie war gerade dabei, die unterschiedlichen Kleidungsstücke durchzugehen, als sie völlig unvermittelt von zwei Männerstimmen, in ihrer unmittelbaren Nähe, aufgeschreckt wurde.

 

Moment, die kannte sie doch…

 

„Ach, hör doch auf oder meinst du wirklich, meine Beine würden in diesen samtigen Nylonstrümpfen zur Geltung kommen?", ahmte einer der beiden eine Frauenstimme nach und machte gleichzeitig eine typische Handbewegung, während er die Packung dem Anderen vor die Nase hielt.

 

„Aber natürlich, Schatz, zu deinem kleinen Schwarzen sicher“, antwortete dieser und beide begannen zu lachen.

 

Emma stand, in ihrer Haltung verharrt und mit dem Rücken zu ihnen gewandt, vor dem Kleiderständer, während sie vergebens versuchte, die Stimmen einzuordnen. Aber sie kam einfach nicht drauf, obwohl sie ihr so verdammt vertraut vorkamen. „Bist du dir sicher, dass es das Richtige für mich ist?“, hörte sie abermals, die ihr am vertrautesten von beiden Stimmen und augenblicklich begann ihr Herz zu rasen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um die Erkenntnis halbwegs verkraften zu können, zu wem die beiden Stimmen gehören konnten.

 

Das konnte nicht sein … Nein! … Das konnte unmöglich sein!

 

Ihr Gedächtnis spielte ihr sicher einen üblen Streich. Sie musste sich täuschen – ja, sie täuschte sich, da war sie sich beinahe sicher. Dennoch nahm sie nur zögerlich ihre Hand vom Etikett und harrte den Bruchteil einer Sekunde mit sich, ob sie sich Gewissheit verschaffen oder es einfach dabei belassen sollte? Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie sie reagieren sollte, wenn sich ihr Verdacht doch bestätigen würde. Sie spürte noch immer, wie sich ihr Herz in der Brust vor Aufregung fast überschlug, als sie ein weiteres Mal, die eine unverkennbare Stimme vernahm. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe, wobei sie spürte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden. Verdammt!

Den Klang dieser Stimme, hatte sie schon so lange nicht mehr so nah gehört, dennoch war sie ihr so vertraut und sie würde diese wohl sicher unter 1000 anderen sofort wiedererkennen. Aber trotzdem waren da noch Zweifel – konnte sie es wirklich sein? Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, stand Emma noch immer auf dem gleichen Fleck und traute sich nicht, sich umzudrehen, um nachzusehen, ob diese Stimme wirklich zu ihm gehörte. Unentschlossen, ob sie nun hinschauen oder es einfach ignorieren sollte, biss sie sich ein weiteres Mal auf die Unterlippe. Denn da war zu einem in ihrem Inneren die Angst, wenn er es wirklich sein sollte, dass er sie womöglich auch sehen und dazu noch erkennen könnte. Oh Gott nein, das wollte sie auf keinen Fall, denn wer wusste schon, wie er auf sie reagieren würde? Aber andererseits war da die Neugierde, und sie verspürte einen inneren Wunsch, ihn wiederzusehen.

 

Was wäre, wenn sie es nicht wagen würde zu schauen und somit nie erfahren könnte, ob er es nicht doch gewesen war? Würde sie es später bereuen?

 

Aber das wollte sie wiederum auch nicht. Mist! Also schloss sie erneut ihre Augen, während sie all ihren Mut zusammennahm und langsam den Kopf in jene Richtung drehte, aus der sie zuvor seine vermeintliche Stimme vernahm. Ihr Atem stockte, als sie zwei junge Männer von hinten sah, die geradewegs dabei waren, die Abteilung zu verlassen. Beide waren sportlich gekleidet und jeder hatte eine Tüte in der Hand. Der Rechte von ihnen, war einen halben Kopf kleiner, trug ein paar abgelaufene graue Turnschuhe, dazu eine passend farbige Jeanshose und eine schwarze Jacke. Seine Haare schienen dunkel zu sein, doch Emma konnte es nicht genau erkennen, da er eine schwarze Mütze trug. Sie kannte diese Mütze, es war das gleiche Modell, welches sie vor Jahren einmal in den Händen gehalten hatte und die ebenfalls den Kopf seines Begleiters zierte.

 

Konnte es wirklich sein, dass sie hier und heute…?

 

Emma musste schlucken, während sie zögerlich den Blick zu seinem Kumpel schweifen ließ, wobei ihr Herz bis zum Hals schlug. Doch ehe sie ihn richtig fokussieren konnte, waren die beiden jungen Männer um die Ecke gebogen und sie hatte keine Chance mehr, den anderen näher zu betrachten. „Verdammt“, murmelte sie verärgert darüber, dass sie zu lange gewartet hatte, während sie weiterhin auf den Punkt starrte, da wo die jungen Männer verschwunden waren. Ihr Herz hämmerte noch immer wie verrückt in ihrer Brust und die Tatsache, dass sie im Grunde niemanden erkannt hatte, ließ sie zu ihrer eigenen Überraschung etwas frustrieren. Nervös und ratlos, was sie jetzt weitermachen sollte, schulterte sie ihre Tasche und verharrte immer noch in ihrer Bewegung. Doch gleichzeitig überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf.

 

Sollte sie es dabei belassen oder ihnen etwa folgen?


Das war doch absurd, ihr konnten doch die vermeintlichen Fremden wirklich egal sein. Abwegig über ihre Gedankengänge schüttelte Emma den Kopf und wandte sich wieder dem Kleiderständer zu. Wahrscheinlich waren es eh nur irgendwelche Unbekannten und sie bildete sich das –Vertraute- nur ein. Zumindest versuchte Emma sich das einzureden, und sich zugleich damit zu beruhigen. Sie musste in den letzten Tagen definitiv zu viel gelernt haben, wenn ihr Gehirn schon begann, verrückt zu spielen. Seufzend durchsuchte sie erneut die Kleidungsstücke und versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – ein Kleid für Lotte zu finden. Doch das gelang ihr nicht, immer wieder hörte sie die Stimme in ihrem Kopf und es beschäftigte sie nur eine einzige Frage – war er es? Sollte sie ihn nach all´ den Jahren hier wiedersehen? Der Gedanke, dass diese winzige, aber dennoch greifbare Wahrscheinlichkeit bestand, ließ ihre Neugierde erneut aufflackern und sie spürte, wie sich die Nervosität immer weiter in ihr ausbreitete. Sie musste es einfach wissen, egal wie absurd das alles auch zu sein schien. Ohne weiter darüber nachzudenken, richtete sie noch einmal die Träger ihrer Handtasche und ging eilig den beiden Männern hinterher.

 

Kurz nachdem sie um die Ecke gebogen war, ließ sie ihren Blick durch die Männerabteilung schweifen, um die Männer wiederzufinden. Doch alles was sie sah, waren jede Menge Anzüge, männliche Pappaufsteller, vereinzelte Männer und Frauen bei der Suche nach was Passenden und in der Nische eine kleine Kasse, wo die Kassiererin gerade dabei war ein älteres Ehepaar zu bedienen. Aber nirgends konnte sie die Beiden entdecken. Es war, als wären sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen.

Das kann doch jetzt nicht sein. Sie müssen doch hier irgendwo sein.

 

Emma schritt weiter den Gang entlang, vorbei an unzähligen Menschen, wobei sie immer ungeduldiger nach ihnen Ausschau hielt. Doch je länger sie die Abteilung erfolglos mit ihren Augen absuchte, desto mehr breitete sich die Enttäuschung in ihr aus. Aber was hatte sie auch von ihrer Aktion erwartet? Im Grunde war es wohl wirklich nur ein Hirngespinst von ihrerseits gewesen und ihr Verhalten einfach nur lächerlich. „Was mach ich hier eigentlich?“, stellte sie sich Augen rollend selbst die Frage und legte das Negligé, welches sie immer noch krampfhaft in ihrer linken Hand hielt, über ihre Tasche. Ich bin doch nicht mehr ganz bei Trost. Ich sollte mich wirklich um Lotte kümmern und nicht irgendwelchen Erscheinungen hinterherjagen, schimpfte sie in Gedanken mit sich selbst, während sie sich langsam zurück auf dem Weg zur Damenabteilung machte. Sie konnte es nicht fassen, was in sie gefahren war. Gerade eben war sie noch ausgelassen auf Shoppingtour gewesen und dann ließ sie sich von einer Stimme, jawohl, von einer Stimme, völlig aus dem Konzept bringen. Also irgendetwas konnte nicht mit ihr stimmen, da war sie sich sicher. Noch immer kopfschüttelnd über ihr Verhalten, ging sie gerade an der Unterwäschen-Abteilung für Herren vorbei, als sie abermals diese eine unverkennbare Stimme zusammenzucken ließ. Abrupt blieb sie stehen, riss den Kopf in jene Richtung, wo sie den Klang der Stimme vernahm und spürte, wie ihr das Herz erneut vor Aufregung in ihrer Brust zu rasen begann.

 

 

Ingrid Michaelson – Keep Breathing

http://www.youtube.com/watch?v=GKVsfP0QGKs

 

 

Da standen die beiden, erneut mit dem Rücken zu ihr gewandt, und schauten sich eine Auswahl an Boxershorts an. Emma stockte der Atem, als sie sich diesmal den Größeren von ihnen genauer betrachtete. Er hatte ebenfalls ausgelatschte schwarze Nikes an, dazu eine gleichfarbene Jeans und trug eine Bluejeans-Jacke. Sein Kopf war mit einer schwarzen Beanie bedeckt und nur ein paar vereinzelte dunkelblonde Strähnen ragten am Nacken heraus. Regungslos stand Emma da, während sie spürte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden und sie gleichzeitig die Aufregung überrollte, als sie die Erkenntnis mit voller Wucht traf, dass er es wirklich war. Das konnten nur Rob und sein Kumpel Tom sein, denn nur die Beiden, konnten auf die Idee kommen, mitten im Juli eine Wollmütze zu tragen. Und dann erklang erneut diese eine unverkennbare Stimme zu ihr durch.

 

„Oh mein Gott, er ist es“, flüsterte sie kaum hörbar und versuchte unauffällig einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, um auch noch den letzten Zweifel begraben zu können, während ihr Puls weiterhin raste. Doch er stand so ungünstig mit dem Rücken zu ihr, dass sie es einfach nicht erkennen konnte.


Mist! Was sollte denn jetzt sie machen?

 

Jetzt, wo sie ihnen schon gefolgt war, brauchte sie die absolute Gewissheit und konnte nicht einfach wieder umdrehen und so tun, als wäre nichts geschehen. Aber zu ihnen einfach rübergehen und locker, „Hallo Rob, lange nicht gesehen“ sagen, würde sie ganz sicher auch nicht. Nein, das ging wirklich nicht. Auf keinen Fall wollte sie, dass er sie überhaupt sah, und schon gar kein Gespräch mit ihm führen. Dennoch war da dieser Drang und das Verlagen in ihr, einmal sein Gesicht zu sehen. Jahrelang hatte sie sich immer wieder in ihrem Kopf ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie ihn wiedersehen würde. Und jedes Mal waren da diese gemischten Gefühle, von Freude aber auch Angst, wie er auf sie reagieren würde, trotz der verstrichenen Jahre. Doch jetzt in diesem Moment, gab es nur eins und das war die Aufregung, zugleich auch die Freude, welche überwog, ihn endlich wieder zu sehen. Vergessen war alles, was zwischen ihnen vorgefallen war, wobei ihr Körper eine ganz andere Sprache momentan sprach. Ihr Herz sowie Puls rasten, während ihre Hände gefährlich zu schwitzen begonnen hatten, sobald sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein durchgedrungen hatte, das es wirklich ihre vergangene Liebe war. Zögerlich ging Emma noch einen weiteren Schritt nach rechts, um vielleicht doch einen Blick auf sein Gesicht erhaschen zu können, als er sich genau in diesem Augenblick in ihre Richtung drehte. Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang sie abrupt hinter das nächstbeste hohe Regal und hielt für einen Augenblick den Atem an.

 

Oh Gott, hoffentlich hatte er nichts gemerkt!


Bitte, bitte … lass ihn mich nicht gesehen haben!, betete sie wie ein Mantra herunter, während sie mit dem Rücken ans Regal gelehnt stand und dabei versuchte ihren beschleunigten Atem, unter Kontrolle zu bringen. Für einen kurzen Augenblick hatte sie schon befürchtet, dass ihr Herz stehen bleiben würde, als er sich zu ihr herumdrehte. Was machte sie auch hier und wieso brachte sie sich überhaupt in so eine Situation? War sie jetzt von allen guten Geistern verlassen worden? Sie stand hier, wie eine verdammte Stalkerin hinter dem Regal und betete, dass ihr Ex-Freund sie nicht erkannt hatte, während dieser sich seine neue Unterwäsche aussuchte.

 

Wie abstrus war das denn, bitte?

 

„Super, gemacht Emma! Das war mal wieder eine Glanzleistung“, schnaubte sie verärgert über sich selber, während sie darüber nachdachte, wie sie sich unbemerkt davonschleichen konnte. Nach einem kurzen Moment des Wartens traute sich Emma, sich aus ihrer Starre zu befreien, um vorsichtig durch die, mit Socken bestückten, Regalwänden zu linsen. Tom befand sich recht nah mit dem Rücken zu ihr gewandt am Regal, wohingegen Rob ihr mit gesenktem Blick gegenüberstand. Sie schluckte und ihr Herz hämmerte erneut wie wild gegen ihren Brustkorb, als sie endlich sein Gesicht sehen konnte. Augenblicklich spürte sie, wie der Boden drohte unter ihren Beinen nachzugeben, als sie wie gefangen in sein – immer noch- wunderschönes Gesicht schaute. Sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm zu lösen und sog jede einzelne Sekunde den Anblick, der ihr so viele Jahre verwehrt war, in sich auf, während sie wie erstarrt hinter dem Regal stand. In dem Moment war ihr vollkommen gleich, dass sie wie eine heimliche Verehrerin wirken musste, die zwei junge Männer beim Kauf ihrer Boxershorts, beobachtete. Emma hatte keine Ahnung, was sie dazu trieb, nicht wieder zurück zu ihrer Schwester zu gehen. Doch sie wollte ihre einmalige Chance, die sie hatte, um Rob zu sehen ausnutzen, auch wenn sie sich nicht wirklich wohl dabei fühlte. Dabei blendete sie ihre negativen Gefühle sowie Gedanken aus und beobachtete, wie die beiden Kumpels erneut herumalberten. Rob hatte noch immer dieses charmante Lachen, was sie damals so sehr an ihm geliebt hatte. Ein leises Seufzen entwich ihr, als sie spürte, wie bei dem Anblick ihre Knie erneut weich wurden, genauso wie sie es früher schon getan hatten und ein kleines nervöses Kribbeln stellte sich in ihrem Körper ein.

 

Das konnte doch nicht sein. Was ging hier mit ihr vor? Was trieb sie hier?


Schlagartig wurde sie mit einem kräftigen Handschlag auf ihrer Schulter, jäh aus ihrer Beobachtung gerissen, was sie mit einem leisen Aufschrei hochschrecken und herumwirbeln ließ. Ihr Herz drohte den Dienst, unter den Schock, zu quittieren, als sie unvermittelt in das irritierte Gesicht von ihrer Schwester blickte. „Sag mal, was machst du hier?“ Stirnrunzelnd, wie sie Emma hier vorfand, stand Lotte vor ihr. „Ich hab´ dich überall gesucht und du stehst hier in der Unterwäsche-Abteilung für Männer, hinter einem Regal. Geht’s noch?“

„Pscht! Nicht so laut“, flüsterte Emma, während sie sie am Ärmel packte und hektisch zu sich zog. „Er soll mich nicht hören und schon gar nicht sehen.“

„Äh, was bitte? Emma, geht’s noch? Was wird das hier? Bist du unter die Stalker gegangen?“ Lotte schaute sie sichtlich geschockt an, wobei Emma das nur mit einem weiteren „pscht“ kommentierte und erneut durch die Fächer schaute. Sie wollte sehen, ob Rob oder Tom irgendetwas von dem Vorfall mitbekommen hatten, doch diese waren noch immer völlig unbeeindruckt mit der Auswahl an Boxershorts beschäftigt. Erleichtert atmete sie auf, als sie sich wieder zu Lotte drehte, die noch immer, mit hochgezogener Augenbraue sowie verschränkten Armen vor der Brust, neben ihr stand. „Erklärst du mir mal bitte, was das hier soll?“, fragte sie angesäuert und Emma sah an ihrem Blick, dass sie wirklich nicht begeistert von ihrer Aktion war. „Ja, ich… es tut mir leid, dass ich nicht zurückgekommen bin, aber...“, stotterte sie und wusste nicht, wie sie ihrer Schwester das Ganze hier erklären konnte. Sie wusste ja selber nicht, was in sie gefahren war, wie sollte sie es dann ihrer Schwester erklären? „Du glaubst nicht, wer hier ist.“

„Hm, der Papst in der Schlüppi-Abteilung?“ Die Ironie in der Stimme ihrer Schwester entging Emma nicht, als dabei auch noch ein freches Grinsen ihr Gesicht zierte. „Das würde zumindest dein Verhalten erklären.“ Ihr kleiner Ärger schien mit einem Schlag wie verrauscht zu sein und sie sah Emma mit einem erwartungsvollen Blick an, bis diese endlich antwortete: „Nein, Rob!“

 

„Was? Wo?“, haute Lotte aufregt und entgeistert ihr um die Ohren, bevor sie sich neben sie platzierte und sie schließlich gemeinsam durch die Regale, wie kleine Voyeure linsten. Die Jungs standen immer noch auf der gleichen Stelle wie gerade eben, lediglich Rob hatte sich etwas mehr in ihre Richtung gedreht und begutachtete eine weitere Boxershorts. „Da ist ja auch Tom“, platze es aus Lotte voller Begeisterung heraus, wobei Emma bis auf die Knochen erschrak. Sie schaffte es nicht einmal mehr, ihren Blick von Rob abzuwenden, als dieser durch den Ausruf, seinen Kopf hob und ihr prompt in die Augen schaute. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und sie sich nur noch wünschte, sofort im Erdboden versinken zu können. Doch der verdammte Boden wollte sich einfach nicht auftun und so blieb sie, nicht fähig auf irgendeiner Art und Weise zu reagieren, regungslos auf dem Fleck stehen. Ihm schien es nicht anders zu ergehen, während er sie mit seinen strahlend topasblauen Augen fixierte, bis er schließlich mit leicht gerunzelter Stirn einen Schritt auf sie zumachte. Sie schluckte und spürte, wie die Panik in ihr aufstieg.

„Oh Gott, bitte nicht“, flehte sie innerlich und betete inständig, dass noch ein Wunder geschehen würde und er sich einfach von ihr abwenden würde. Einen Bruchteil einer Sekunde später brach Rob tatsächlich den Augenkontakt, mit einem Kopfschütteln, zu ihr ab und drehte sich zu seinem Kumpel herum. Tom wühlte noch immer komplett unschlüssig in der Auslage rum und schien von all´ dem nichts mitbekommen zu haben. Völlig erleichtert über die Wende der Geschehnisse schloss Emma ihre Augen und atmete einmal tief durch, während sie versuchte, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Doch dieser raste unaufhörlich in ihr weiter.

 

Mein Gott, war das knapp!

 

Sie konnte es kaum fassen, dass noch einmal alles gut gegangen war, und ihr Herz sowie Atem begannen sich ganz langsam, wieder zu beruhigen. Bis sie unvermittelt die Stimme ihrer Schwester hörte.

 

„Hi Rob!“ Emma riss erschrocken den Kopf in die Richtung ihrer Schwester und sie traf fast der Schlag, als sie sah, wie Lotte fröhlich winkend sowie lächelnd am Regal stand.

 

Das war jetzt nicht ihr verdammter Ernst! Das hatte sie nicht wirklich gebracht, oder? War sie denn komplett von allen guten Geistern verlassen?


Reflexartig schlug sie wütend auf die Schulter von Lotte ein, die sofort den Kopf zu ihr drehte und Emma sie bitterböse anfunkelte. „Sag mal, spinnst du? Hast du noch alle Tassen im Schrank?“, blaffte Emma sie wütend an, während Lotte nur mit den Schultern zuckte. „Ich dachte, wenn er uns eh schon gesehen hat, dann kann ich ihn auch gleich begrüßen.“

„Hattest du Tomaten auf den Augen? Er ist wieder weggegangen und hat uns wahrscheinlich gar nicht erkannt!“ Ihre Stimme wurde immer lauter, während sie sich maßlos über Lottes Verhalten ärgerte und dabei spürte, wie die Wut augenblicklich in ihr emporkroch. Lotte spinnt wohl! Sie wusste doch schließlich, wie sie zu Rob stand, und dann brachte sie so eine Aktion! Doch ihre Schwester schaute sie nur weiter, ohne ein einziges Wort zu verlieren, an. „Meinst du, ich würde mich hier hinter dem Regal verstecken, wenn ich gewollt hätte, dass er mich sieht? Verdammt Lotte, was sollte das?“

„Ja, was sollte denn deine Aktion, ihn heimlich zu beobachten? Mensch Emma, ich hab nicht drüber nachgedacht.“

„Genau das ist dein… dein Pro… Problem…“ Ihre Stimme wurde immer leiser und brach schließlich komplett ab, als sie plötzlich Rob und Tom auf sie zukommen sah. In ihrer Auseinandersetzung hatte sie völlig vergessen zu überlegen, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Was sollte sie denn machen? Wegrennen war definitiv zu spät.

 

Als Emma gänzlich bewusst wurde, dass heute der Tag gekommen war, an dem sie Rob nach der schmerzhaften Trennung, das erste Mal wieder gegenüberstehen würde, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Ihre Nervosität gemischt mit der aufkommenden Panik, wie er auf sie reagieren würde, breitete sich immer mehr in ihr aus. Völlig hilflos schaute sie ihre Schwester an, die mit dem Rücken gewandt zu den Jungs stand und sich genau in dem Moment zu ihnen umdrehte, als die beiden direkt neben ihr zu stehen kamen. Emma versuchte, den Klos in ihren Hals vergebens herunterzuschlucken, der sich augenblicklich gebildet hatte, und drohte immer weiter anzuschwellen, als sie die fröhliche Stimme ihrer Schwester, neben sich vernahm.

 

„Na, wer hätte das gedacht, dass wir uns ausgerechnet hier wiedersehen?“ Mit einem breiten Lächeln begrüßte Lotte die Jungs, während Emma neben ihr stand und unsicher auf den Boden schaute, denn sie scheute den Blick nach oben. Tom positionierte sich direkt neben ihrer Schwester und schenkte den beiden Mädels ebenfalls ein freundliches Grinsen, wobei Rob nur stumm zur Begrüßung nickte. Einen kurzen Moment trat eine unangenehme Stille ein und Emma hatte das Gefühl, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Sie haderte mit sich, was sie genau machen sollte, ohne gleich vor Scham rot anzulaufen. Unsicher, und ängstlich, dass ihre Nervosität sie überrennen würde, biss sie sich auf die Unterlippe, bevor sie all ihren Mut zusammennahm und langsam den Kopf hob. „Hallo Rob“, sagte sie mit zittriger Stimme, als ihre Blicke bewusst, das erste Mal nach so langer Zeit, wieder aufeinandertrafen. Schlagartig verkrampfte sich ihr Magen, und ein eiskalter Schauer jagte über ihren Rücken, als sie die Kälte in seinen Augen erkannte, die sie so unergründlich anschauten. Die Wärme und das Funkeln, die sie eben noch ausgestrahlt hatten, war mit einem Mal gänzlich verschwunden.

 

 

Das Schicksal und seine Folgen

 

Kapitel 5

 

Das Schicksal und seine Folgen

 

 

Ohne auch nur eine weitere Reaktion auf ihre Begrüßung folgen zu lassen, schaute Rob, Emma weiterhin mit einem schier unergründlichen Blick an. Es schien, als wollte er krampfhaft versuchen, jegliche Reaktion zu unterdrücken, um ihrem überraschten Aufeinandertreffen keine weitere Bedeutung zu verleihen. „Hallo... Emma“, brachte er schließlich zögerlich über seine Lippen, wobei nicht schwer zu erkennen war, wie sehr auch ihn die Situation überforderte. Ganz gleich, wie krampfhaft er bemüht war, keinerlei Emotionen zum Ausdruck kommen zu lassen, war es ihm deutlich anzumerken. Emma konnte seiner Mimik jedoch nicht entnehmen, in welche Richtung seine Gedanken gehen mochten, als ihr Herz ohne Unterlass, weiter wie wild gegen ihren Brustkorb hämmerte. Nervös begann sie, mit ihren Fingern zu spielen, während sie in seinen – wenn auch kühlen und distanziert wirkenden – Augen gefangen war. Die unangenehme Stille brach derweil über sie ein und sie fragte sich, wo das alles nur hinführen sollte. Zu viert standen sie hier in diesen Gang, hinter dem Regal und keiner brachte nur einen einzigen Ton heraus, während Emma und Rob sich weiterhin stillschweigend anschauten. Keiner der beiden war in der Lage, den Blick von den anderen abzuwenden, auch wenn in ihnen beiden die Gefühle tobten. Unsicher, wie sie weiter verfahren konnten, schauten Lotte und Tom zwischen den beiden hin und her, bevor sie sich selbst ratlos anschauten. Es schien beinahe so, als wenn sie selber nicht wussten, was sie sagen sollten oder gar konnten, um die unangenehme Situation zu lösen. Rob hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben, während an seinem rechten Handgelenk eine Tüte baumelte. Verunsichert darüber, wie er jetzt mit der Situation umgehen sollte, schaffte er es schließlich doch, sich stillschweigend aus Emmas Blick zu lösen, und drehte seinen Kopf zu den beiden anderen. Sein Blick traf direkt auf den von Lotte, woraufhin sich auf ihrem Gesicht direkt ein freudiges Lächeln platzierte, bevor er sie ansprach: „Wieso spielt ihr hier verstecken?“ Seine Stimme war gleichbleibend tonlos und strahlte eine gewisse Kälte aus, die Emma erneut frösteln und ihr den Drang verspüren ließ, aus seiner Nähe zu wollen. Die ganze Wärme und der melodische Klang, der seine Stimme ausgemacht hatte, war gänzlich verschwunden. Doch Lotte ließ sich davon überhaupt nicht beirren oder gar von seiner abwehrenden Haltung irritieren. Ganz im Gegenteil, es schien, als wenn sie seine angespannte und distanzierte Haltung gar nicht wahrnahm.

 

„Ach, wir verstecken uns nicht, sondern…“, wiegelte sie leichthin ab und unterbrach somit ihren Satz, um nach einer plausiblen Erklärung für die bizarre Situation zu suchen. Nachdenklich drehte sie den Kopf zur Seite, wobei ihr wieder das Regal ins Auge stach: „… suchen ein paar Socken für unseren Dad, aber die Wahl fällt uns einfach schwer.“ Sie schnappte sich schnell zwei Paar unterschiedlich farbene Fußwärmer aus dem Fach und hielt sie Rob direkt vor die Nase. „Welche würdest du denn wählen?“, während Emma sie mit irritierten Blick anstarrte.

 

Mensch, Charlotte war echt nicht auf den Mund gefallen. Aber das war jetzt schon skurril.


„Äh …“, brachte Rob nur irritiert sowie überrumpelt von der Reaktion seines Gegenübers über die Lippen. Ihm blieb schlichtweg die Sprache weg. Schließlich war die Situation, in der sie sich hier gerade befanden, absurd und er dachte, sein bisheriges Verhalten würde selbst Lotte ein wenig aus dem Konzept bringen. So wie es Emma wohl erging, denn er hatte es in ihren Augen gesehen, wie sie über seinen kühlen Ausdruck in den Seinen erschrocken war. Zu Recht!

„Also ich würde die Schwarzen, Schlichten nehmen. Die passen ja nun zu allem“, war es Tom, der sich ins Gespräch mischte und damit die abermals aufkommende Stille unterbrach, während Emma weiterhin völlig verstummt und verwirrt, das chaotische Geschehen vor ihr beobachtete. Sie traute sich kaum, sich in irgendeiner Art und Weise zu rühren, denn ein weiteres Mal mochte sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken und somit Robs distanzierte Art ihr gegenüber spüren müssen. In ihr tobte das schlechte Gewissen sowie das Gefühl endlich aus seiner Nähe und diesem Laden verschwinden z­­u können. Dies hier überstieg ihre Vorstellungskraft – von allem, was sie sich in all den Jahren ausgemalt hatte. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er noch immer so emotional angegriffen auf sie reagieren würde, geschweige denn, noch so wütend und sauer auf sie sein könnte.

 

Freute er sich denn nicht ein klein wenig, sie wiederzusehen? Herrgott, wieso hatte sie ihrer Neugierde und dem Drang ihn wiederzusehen nur nachgegeben? Verdammt! Wenn sie nur auf der Kleidersuche geblieben wäre, dann wäre ihr diese ausweglose und bizarre Situation auch erspart geblieben. Warum war sie ihnen noch mal gefolgt?

 

Der Gedanken ließen sie nicht los, schließlich hatte sie all jenes, was zwischen ihnen vorgefallen war, auch für einen Moment in den Hintergrund geschoben gehabt – bis sie seine Reaktion gesehen und schmerzhaft gespürt hatte. Vorsichtig warf sie noch mal einen Blick auf Rob, der weiterhin leicht irritiert über Lottes Frage und über das mittlerweile muntere Gespräch, welches sich zwischen ihr und Tom gestaltete, hin und her blickte. Was genau die Beiden miteinander beredeten, bekam Emma nicht mit, viel mehr war sie mit ihrem rasenden Puls und den wirren Gedanken beschäftigt, die sie nicht ruhen lassen wollten. Ratlos darüber, wie sie nun schnell und einigermaßen geschickt aus seiner Nähe kommen konnte, nestelte sie ungeduldig an den dünnen Stoff ihres Negligés, welches noch immer über ihrer Tasche hing.

 

Verdammt, das Negligé!

 

Schlagartig überrollte sie eine weitere Welle ihrer inneren Unruhe, als ihr bewusst wurde, dass sie das Teil noch immer bei sich hatte. Was würde wohl Rob von ihr denken, wenn er es sehen würde? Augenblicklich spürte sie, wie die Hitze in ihren Wangen emporkroch und sie biss sich nervös auf die Unterlippe, wobei sie ihrer Schwester einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Langsam ließ sie die Tasche hinter ihren Rücken gleiten, sodass der verhängnisvolle Stoff aus dem Blickfeld verschwand. Mit beiden Armen hinter ihrem Rücken verschränkt und mit den Händen die Tasche festumklammert, stand Emma zwischen den anderen dreien, während sie nur noch den brennenden Wunsch verspürte, von hier zu verschwinden. Das zweite Mal am heutigen Tage flehte sie innerlich, dass sich der Erdboden auftun und sie einfach verschlingen würde, doch auch diesmal wurden ihre Gebete nicht erhört.

 

Lotte stand derweil noch immer lustig plaudernd mit Tom vor ihr und bekam rein gar nichts von dem Gefühlschaos ihrer Schwester mit. Sie freute sich einfach die Jungs wiederzusehen und es musste schon ein großer Zufall, oder gar Schicksal, gewesen sein, ihnen gerade in einem so großen Kaufhaus zu begegnen. „Seit wann seid ihr in London?“, fragte Tom sie interessiert und schaute sie mit einem Lächeln auf den Lippen an. Auch er schien wirklich erfreut zu sein, die Mädels wiederzusehen. Rob hingegen fokussierte Tom genauso ungläubig, wie auch Emma ihre Schwester mit ihren Blicken beschwor. Ihnen beiden war diese Plauderei ganz und gar nicht angenehm.

 

Was dachten sich die Zwei nur dabei?

 

„Ich bin erst seit über einer Woche hier. Ich habe hier ein Praktikum begonnen und die Mädels haben mich bei sich aufgenommen“, brabbelte Lotte unbeirrt weiter. „Wirklich? Ihr wohnt hier?“ Tom war überrascht, er wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie hier leben könnten. Urlaub hatte er eher vermutet. „Ja“, nickte Lotte zustimmend. „Emma wohnt schon eine ganze Weile hier und absolviert ihr Studium, zusammen mit ihren Freundinnen. Wir sind nun eine richtige kleine Mädels-WG.“ Die Begeisterung schwang nicht nur in ihrer Stimme mit, als sie Tom all die Informationen um die Ohren haute, sondern ihr ganzes Gesicht strahlte dabei, während Emma sie mit ihren stechenden Blicken am liebsten verflucht hätte. „Cool“, erwiderte er nur und wandte sich Emma zu, die noch immer auf der Unterlippe kauend vor ihnen stand und ziemlich zerknirscht aussah. „Hey Emma, geht’s dir nicht gut?“ Er klang besorgt, denn ihre leichte Blässe, ließ ihn befürchten, dass sie sich anscheinend unwohl fühlte.

 

Ach was?!

 

„Wie?“, kam es zögerlich sowie verwundert, dass sie mit einem Mal von ihm direkt angesprochen wurde, über ihre Lippen. Damit hatte sie in diesem Moment nicht gerechnet, selbst war sie zu sehr mit sich und ihren Gedanken beschäftigt gewesen. Es dauerte einen Augenblick, bis seine Frage zu ihr durchgedrungen war und sie schließlich beschwichtigend antwortete: „Doch, doch mir geht’s gut.“
Auch Rob hatte seinen Blick wieder auf sie gerichtet und schaute sie abermals mit dem, für sie, undefinierbaren Blick an. Sie musste unwillkürlich schlucken, als sie ihm erneut in die Augen sah. So wunderschöne Augen, die so kühl sein konnten und ihr dennoch drohten, den Boden untern den Füßen wegzuziehen. 

 

Was dachte er nur? Und warum wirkte er immer noch so ablehnend ihnen gegenüber? War er wirklich wegen der Vergangenheit so gestimmt oder über diese ganze Aktion, wie sie sich wieder getroffen hatten?

 

Emma konnte sich all die Fragen nicht beantworten, aber dennoch drehten diese fröhlich ihre Runden auf ihrem Gedankenkarussell. „Bist du sicher? Du schaust irgendwie blass aus“, drang dumpf eine weitere Frage von Tom zu ihr durch, während Rob weiterhin seinen Blick auf sie gerichtet hatte und kein Wort verlor. Oh nein, das fehlte jetzt auch noch, dass sie sich anscheinend nicht zusammenreißen konnte und die beiden bemerkten, wie ihr die Situation zusetzte. Das wollte sie auf gar keinen Fall. Mühsam zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen und versuchte, locker und gelöst zu wirken. „Klar geht es mir gut. Ich bin einfach nur absolut überrascht über unser Treffen.“ Emma hoffte inständig, dass es ihr gelungen war, als Tom ihr mit einem Lächeln antwortete: „Ja, das bin ich auch. Nach all den Jahren, sich hier wieder zu sehen und das ausgerechnet in einem Kaufhaus, ist schon sehr strange.“ Emma sah aus dem Augenwinkel, wie Rob seinen Blick wieder von ihr abwandte und nervös begann mit dem Fuß auf dem Boden zu tippen, als Lotte sich wieder ins Gespräch mit einbrachte: „Was macht ihr denn eigentlich hier?“

 

„Rob braucht ein paar neue Schlüppis, daher haben wir uns, männeruntypisch, auf eine kleine Shoppingtour gewagt.“ Mit einem Zwinkern schaute Tom seinen Kumpel an und bekam daraufhin direkt einen genervten und gleichzeitig verärgerten Blick zugeworfen. Emma glaubte sogar, ein leises Schnaufen von seiner Seite aus wahrgenommen zu haben, welches sie kurz zusammenzucken ließ. Er schien wirklich alles andere als erfreut über das Gespräch zu sein. „Hast du so einen Verschleiß an den Dingern, dass du sie gleich in der Großpackung kaufst?“ Lottes vorlauter Mund stand wirklich nicht still und Emma fühlte nur noch mehr, wie gern sie sich jetzt wegbeamen würde. Hatte denn ihre Schwester nicht mal in diesem Moment ein bisschen Taktgefühl? Schließlich musste doch auch sie bemerkt haben, dass Rob nicht gerade zu Scherzen aufgelegt war. Aber nein, sie musste natürlich munter und wie ihr Schnabel gewachsen war weiterreden. Ohne auch nur einmal auf ihr Gegenüber zu achten. Einzig und allein schien nur Tom ihre Frage amüsant zu finden, als er lachend, an Rob gewandt, feststellte: „Siehst du, nicht nur ich, stelle dir die Frage.“

 


„Was kann ich dafür, wenn mir die ganzen Boxershorts ständig abhandenkommen? Keine Ahnung, was die in der Wäscherei damit anstellen.“ Robs Antwort klang zwar genervt, aber in seiner Stimme lang bei Weitem nicht mehr so eine Kälte, wie gerade eben noch. Es machte sogar ein wenig den Eindruck, dass Lottes Art und ihre Frage, ihn widererwartend doch etwas amüsierte. Als Emma sah, wie sich ein kleines Grinsen auf sein Gesicht stahl, überrollte sie augenblicklich die Erinnerung an sein schiefes Lächeln, was er ihr immer geschenkt hatte.

 

Ach, Verdammt noch mal!

 

Emma schüttelte die Erinnerung von sich ab und war von Robs augenscheinlichen Stimmungswandel völlig verwirrt. So langsam verstand sie rein gar nichts mehr, aber irgendwas zu dem Thema oder zu den anderen sagen wollte sie auch nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, was sie dazu überhaupt beitragen sollte – es war viel zu skurril. Lieber beobachtete sie weiter die Szene, die sich vor ihr bot, und hoffte inständig, dass sie davon bald erlöst werden würde. „Ich möchte es erst gar nicht wissen.“ Tom verzog etwas angewidert und augenzwinkernd sein Gesicht, wobei Rob mit den Augen rollte. „Ich möchte deine Gedanken jetzt nicht mit dir teilen, also behalte sie bitte für dich“, fügte er noch schnell hinzu, wohingegen sein Freund und auch Lotte gleichzeitig begannen zu lachen. „Ihr habt sie doch nicht mehr alle“, kommentierte Rob grinsend und gleichzeitig kopfschüttelnd das Gelächter.

 

Wo –und vor allem wie- war er nur hier gelandet? Eigentlich sollte es ein ruhiger, sofern dass noch mit den Paparazzi möglich war, entspannter Tag mit seinem besten Kumpel in seiner Heimat werden. Er hatte sich vorgenommen, sich seinen Spaß von irgendwelchen Fotojägern nicht nehmen und sich einsperren zu lassen. Schließlich hatte er endlich mal wieder Urlaub, verbrachte seinen ersten wirklichen freien Tag in London und ausgerechnet dann kommt es zu dieser absolut abstrusen sowie aufwühlenden Begegnung. Mit einem Schlag war seine Ausgelassenheit sowie Entspannung wie weggeflogen, aber Lotte schaffte es irgendwie, ihm ein kleines Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Die Kleine hatte sich wirklich nicht verändert, sie hatte noch immer ihr koddriges kleines Mundwerk, was einfach nicht stillstehen wollte. Ganz genau so, wie sie früher schon war. Trotzdem war er über ihre Schonungslosigkeit und von ihren nicht vorhandenen Berührungsängsten überrascht und verblüfft gewesen. Das aber ausgerechnet sein bester Kumpel Tom so losgelöst und gar freudig auf das Treffen reagierte, hatte ihn verärgert, schließlich wusste er genau, was er durchgemacht hatte, nachdem Emma ihn einfach so hatte sitzen lassen.

 

Emma ...  Sein Blick glitt noch einmal in ihre Richtung, sie stand ihm nach wie vor schräg gegenüber, direkt neben ihrer Schwester und hatte die Arme krampfhaft hinter ihren Rücken verschränkt. Ihr Gesicht wirkte äußerst angespannt und war zu ihren Füßen gerichtet. Er war froh, dass sich ihre Blicke nicht ein weiteres Mal trafen, denn innerlich war er nicht im Geringsten auf sie vorbereitet gewesen. Ihr Anblick brachte mit einem Mal all die vergrabenen Gefühle wieder zum Vorschein, die er jahrelang hinter einer großen Mauer verborgen hatte. Sie hatte sich kaum verändert, außer dass sie erblondet war, und schien noch immer die gleiche unsichere Art an sich zu haben, wie damals, als sie sich in Cornwall kennengelernt hatten. Die Erinnerungen daran versuchten sich schmerzhaft einen Weg durch die Mauer bahnen zu wollen, die er krampfhaft versuchte dahinter verborgen zu halten. In ihm brodelten die unterschiedlichsten Emotionen und er war gar nicht in der Lage, anders ihr gegenüber reagieren zu können. Es war ihm schlichtweg nicht möglich, sie freudig in seine Arme zu schließen. Nicht nach ihrer Vergangenheit, nicht nachdem was sie ihm angetan hatte. Was fiel ihr auch ein, ihn wie ein verrückter Fan hinter einem Sockenregal zu beobachten. Ja, er hat erst geglaubt, es wäre mal wieder so eine Irre, die nur Edward Cullen in ihm sah und meinte ihn nicht einmal in Ruhe seine Freizeit genießen lassen zu können. Er dachte, mit einem Lächeln und einem Foto wäre die Sache schnell erledigt gewesen und er hätte rasch seinen Frieden wieder gehabt. Doch als er die beiden vermeintlichen „Irren“ erkannte, hatte es ihm schlichtweg den Boden unter den Füßen weggezogen. Nein, froh sie wieder zu sehen war er ganz und gar nicht und im Grunde wollte er nur noch aus diesem Geschäft und aus ihrer Nähe verschwinden. Leichte Panik stieg in ihm auf, als ihm bewusst wurde, dass jeden Augenblick von irgendwo her ein Fan oder gar ein Paparazzi auftauchen und diese bizarre Situation mitbekommen könnte. Unter gar keinen Umständen wollte er demnächst über irgendwelche Fotos oder sogar Schlagzeilen über ihr Aufeinandertreffen stolpern.

 

>>Robert Pattinson –  Date im Kaufhaus!<<

 

Er sah den absurden Titel schon vor sich, mit dem fadenscheinigen Bericht und Bildern darunter, die sich wie ein Lauffeuer im Internet verbreiten würden. Kopfschüttelnd und resigniert seufzend begann er, erneut unruhig und ratlos, wie er aus dieser Situation fliehen konnte, von einem Bein aufs andere zu wippen. Dabei richtete er sein Augenmerk wieder auf Tom und Lotte, die weiterhin ungehindert und ausgelassen plauderten.

 

Konnten die beiden nicht einfach aufhören? Wie sollte er es anstellen, dass sie endlich von hier wegkamen?

 

„Ist ja cool. Wann soll es denn losgehen?“, hörte Rob seinen Kumpel begeistert fragen, was auch Emmas Aufmerksamkeit auf das Gespräch richten und ihre Schwester skeptisch anschauen ließ.
Über was redeten die beiden denn nur? Keiner von ihnen hatte auf die Unterhaltung der anderen geachtet, selbst waren sie viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken und Empfindungen beschäftigt gewesen, doch in Emma keimte ein leiser Verdacht auf und sie betete inständig, dass sie sich täuschte.

„Um 20.00 Uhr soll es losgehen. Wird nichts Großes, aber sicher lustig. Ich und sicher auch die Mädels würden uns freuen, wenn ihr auch kommen könntet. Da haben wir auch die Möglichkeit, unser Wiedersehen zu feiern und können gleichzeitig ein wenig über vergangene Zeiten reden.“ Die Euphorie war bei Lotte nicht zu übersehen, als sie die Einladung an den Jungs gerichtet aussprach und gespannt, wie ein Flitzbogen auf deren Reaktion wartete. Emma starrte mit weitaufgerissenen Augen ihre Schwester an, wobei ihr, sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich und dabei spürte, wie ihr förmlich der Schweiß in den Händen zusammenlief, während sich ihre Finger noch enger um den dünnen Stoff des Negligés krallten.

 

Das war nicht ihr verdammter Ernst? Sie musste sich verhört haben. Das konnte Lotte nicht bringen!

 

Ihre Schwester hatte nicht wirklich gerade Tom sowie Rob zur Einweihungsparty eingeladen?! Nein, so rücksichtslos und vernebelt konnte Charlotte doch gar nicht sein! Nein, das war sicher nur ein Streich ihres Gehirns oder ihrer Ohren, oder...oder? Sie schluckte und wartete voller Anspannung auf die Antwort von einem der beiden jungen Männer. Rob stand mit gerunzelter Stirn da und schaute wortlos, aber unruhig auf den Beinen wippend, seinen Kumpel an. Der wiederum strahlte Lotte an und schien einen Augenblick zu überlegen, was er darauf sagen sollte. Doch der Moment dauerte nicht lange an, bis Emma plötzlich mit Schrecken ein: „Klaro, bin ich dabei“, vernahm. Ihr Herz rutschte ihr sprichwörtlich in die Hose und sie spürte, wie sich nun ebenfalls kalter Schweiß auf ihrer Stirn bildete. Reflexartig flog ihr Blick zu ihrem Ex-Freund hinüber, der nun völlig perplex und genauso überrumpelt über das Geschehene dastand. Bitte sag, Nein. Sag, dass du keine Zeit oder sonst was hast, flehte Emma gedanklich und hielt den Umstand der unangenehmen Stille fast nicht mehr aus.

 

Wie konnte Lotte nur so verdammt gedankenlos sein?

 

„Rob, du bist doch auch von der Partie, oder? ´ne Möglichkeit zum Feiern lässt du dir doch nicht entgehen!“ Tom klopfte seinem Kumpel augenzwinkernd auf die Schulter, der unter der unerwarteten Berührung zusammenzuckte und den Eindruck erweckte, aus einer Trance gerissen worden zu sein, als er vollkommen verwirrt reagierte: „Äh, was für ´ne Party und wann überhaupt?“

„Diesen Samstag, die Einweihungsparty von Lotte in der WG“, klärte Tom ihn auf, während Emma immer noch krampfhaft versuchte, die Fassung zu bewahren. Langsam wich der Schock, über die Aktionen von ihrer Schwester, der Wut und am liebsten hätte sie Charlotte auf der Stelle die Meinung gegeigt. Doch das wäre hier im Laden und vor den Jungs nicht angemessen gewesen, also blieb Emma weiterhin regungslos auf der Stelle stehen und bedachte Lotte nur mit einem weiteren wütenden Blick. „Also ich weiß nicht…“, begann Rob unsicher sowie verärgert zu antworten, wobei man ihm anmerkte, wie unangenehm ihm die gesamte Situation war. „Ach komm schon, nach dem ganzen Stress kannst du ein bisschen Feiern und Spaß gebrauchen“, redete Tom weiter auf ihn ein, er schien genauso gedankenlos, fast schon rücksichtslos, wie Lotte zu sein.

 

Bekam denn keiner von den beiden mit, dass die Idee weder ihm noch Emma gefiel? Es war eine ausgesprochene Schnapsidee… wie passend!

 

„Mensch Tom, ich weiß noch nicht“, brach es gereizt und gleichzeitig genervt aus Rob heraus, denn er konnte überhaupt nicht begreifen, was sich hier gerade vor seinen Augen abspielte. Genauso wenig wie es seine Ex-Freundin nicht fassen konnte. Ausgerechnet er sollte auf deren Feier erscheinen und am besten noch so tun, als wenn nichts gewesen wäre. Das konnte nur ein schlechter Film sein, in dem er sich befand, anders konnte er sich das Ganze nicht mehr erklären.

„Wisst ihr was Jungs, ich geb euch die Adresse von uns und ihr überlegt es euch einfach, ob ihr kommen mögt oder nicht. Sind ja noch zwei Tage bis zur Party, aber ich würd´ mich freuen, euch dabei zu haben.“ Lotte zückte einen kleinen weißen Zettel und einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb rasch alle benötigten Daten auf, bevor sie diesen Tom überreichte „Ich hab auch noch meine Handynummer drauf geschrieben, für den Fall, dass ihr es nicht finden solltet oder so.“

 

Innerlich schnaubte Emma auf, während sie mühsam und mit aller Macht versuchte, ihre lodernde Wut in den Hintergrund zu schieben, die schlagartig in ihr hochgeschossen kam. Ihre Schwester hatte eindeutig den Bogen überspannt – fast schon gerissen. Was fiel ihr bloß ein? Sie in so einer Situation zu bringen und nicht eine einzige Sekunde über ihr Handeln nachzudenken. Da gab sie den beiden auch noch ihre Adresse. Lotte hatte doch den Schuss nicht mehr gehört.

 

Die konnte sich auf was gefasst machen. So nicht, Fräulein!

 

Mit einem Ruck befreite sie sich aus ihrer Starre und schritt entschlossen auf Lotte zu. Sie musste das Geplänkel auf der Stelle beenden, bevor die kleine Hexe noch mehr Unheil anrichten konnte. „Wir müssen langsam gehen“, sagte sie betont bestimmend und versuchte dennoch freundlich dabei zu klingen, während sie Lotte einen stechenden Blick zuwarf. Mit viel Mühe gelang es ihr, ihre Wut vor den Jungs verborgen zu halten, außer vor Lotte, die endlich den Stimmungswandel ihrer Schwester zu bemerken schien, als diese ihren Oberarm etwas stärker umfasste. „Oh ja, du musst ja noch lernen“, lenkte Charlotte direkt ein und lächelte entschuldigend die beiden Kumpels an. „Wir müssen uns auch langsam wieder auf den Weg machen, bevor man mich hier noch entdeckt“, antwortete Rob sichtlich erleichtert, dass auch er endlich aus der Situation befreit wurde. „Okay, habt ihr noch einen schönen Tag“, ergriff Emma wieder das Wort und setzte zögerlich ein Lächeln auf ihr Gesicht, während sie Lotte mit einem leichten Ruck am Arm zum Gehen aufforderte und den Jungs den Rücken zudrehte. „Euch auch und vielleicht sieht man sich“, antwortete Tom mit einem Augenzwinkern an Lotte gerichtet, während ihre Schwester langsam den Gang entlang schritt, bevor sie sich noch einmal zu den anderen wandte. „Komm jetzt!“, flüsterte sie ihrer kleinen persönlichen Hexe wütend zu, wobei ihr Puls vor Rage raste und sich ihre Gedanken vor Zorn überschlugen. Sie wünschte sich nur noch, dass sie hier so schnell wie möglich herauskommen würde, denn es war definitiv kein entspannter und wunderschöner Shoppingausflug mit ihrer Schwester geworden. Nein, es hatte sich zu einem reinsten Höllentrip entwickelt und sie hatte das Gefühl, dass Lotte der Teufel persönlich war.

 

Verdammt noch mal, was ging in ihr nur vor? Womit hatte sie das bloß verdient?

 

Emma schnaubte, schulterte ihre Tasche und spürte ihre Schwester, die dicht hinter ihr ging, aber kein einziges Wort zu ihr sagte. Wahrscheinlich hatte sie endlich selbst bemerkt, was für ein Bock sie da eben geschossen hatte und in welcher Stimmung Emma sich befand. Plötzlich und völlig unerwartet hörte sie die Stimme von Rob hinter sich: „Emma... wart´ mal!"

Abrupt blieb sie stehen und drehte sich auf dem Absatz zu ihm um, bevor sie in ihrer Haltung völlig verharrte. Was war denn jetzt? Sie wollte doch nur noch hier raus und sich endlich Lotte vorknöpfen. Die ganze Zeit hatte er sie nur mit strafenden, kühlen Blicken bedacht und kein Wort mit ihr geredet. Kam er jetzt etwa auf die Idee mit ihr plaudern zu wollen?

 

Oh Gott, bitte nicht!

 

Innerlich war sie am Brodeln, sie spürte, wie die Wut in ihr, sie langsam zum Zittern brachte, da sie diese weiter, mit aller Macht, zu Unterdrücken versuchte. Auf keinen Fall wollte sie ihren Zorn an Rob auslassen, schließlich galt sie ausschließlich Charlotte und sie hoffte inständig, dass sie sich noch einen Moment beherrschen konnte. "Du hast was verloren", sprach er weiter, während er mit großen Schritten auf sie zukam. Er hielt einen kleinen zarten Stoff in seiner rechten Hand, den er ihr schon beim Näher kommen entgegen streckte. Ohne diesen lange betrachten zu müssen, erkannte Emma, was er in seinen Händen hielt und lief schlagartig knallrot an. Verdammt!, fluchte sie innerlich und spürte, wie ihr das Herz vor Scham in ihrem Brustkorb hämmerte. Entsetzt und peinlich berührt ließ sie sofort ihren Blick auf ihre Taschen fallen und sah, dass ihr tatsächlich das Teil heruntergerutscht war.

 

Himmel, das darf doch nicht wahr sein! Blieb ihr denn heute wirklich nichts erspart? Wieso konnte sich denn nicht wenigstens jetzt der verdammte Boden auftun und sie verschlingen? Konnte sie denn keiner aus diesem Albtraum befreien?

 

Nein, ihre Schwester hatte sie geradewegs dahin befördert und Emma verfluchte es, dass sie sich zu der Shoppingtour überhaupt hatte breitschlagen lassen. Wäre sie doch nur am Schreibtisch und vor ihren Lehrbüchern sitzen geblieben. Als Rob endlich vor ihr zum Stehen kam, nahm sie ihm verlegen das Negligé ab. „Ähm, danke“, stammelte sie kaum hörbar und vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Auch er mied jeglichen Blickkontakt und antworte ihr wieder einmal nur mit einer kühlen und distanzierten Stimme, während er sich bereits auf dem Weg zurück zu seinem Kumpel machte.

„Kein Thema“

 

Emma, die weiterhin peinlich berührt und mit hochroten Kopf auf derselben Stelle dastand, beobachtete, wie die beiden jungen Männer die Abteilung verließen. Ihre Schwester, die die Szene stillschweigend beobachtet hatte, trat schmunzelnd neben ihr. „Willst du es denn kaufen? Apropos Kaufen, wir müssen noch mein Kleid in der richtigen Größe raussuchen. Das muss ich unbedingt haben!“, riss Lotte sie aus der Beobachtung, wobei sich der Scham und die Röte aus ihrem Gesicht verflüchtigte und die Wut blitzartig wieder in ihr hochschoss.

„Wir gehen jetzt! Ich hab keine Lust mehr. Dein Kleid kannst du dir alleine kaufen!“, spie sie ihrer persönlichen Teufelin entgegen, während sie ihr einen giftigen Blick zuwarf und dabei das Negligé mit einer schnellen Bewegung über den Ständer, der neben ihr stand, schmiss. „Aber…Aber…“, stotterte Lotte völlig überrumpelt über den Wutausbruch ihrer Schwester, die bereits mit schnellen Schritten Richtung Ausgang marschierte. „Komm!“, schrie sie ihr nur entgegen ohne sich dabei umzudrehen. „Oder bleib hier. Mach, was du willst, aber ich geh jetzt!“ Sie spürte, wie ihr Körper vor lauter Anspannung und Wut weiter begann zu beben. Emma musste hier raus, und zwar schleunigst, denn sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich noch zurückhalten konnte, bevor sie ihre Wut übermannen würde. Sie musste ihren angestauten Ärger endlich Luft machen, den sie schon viel zu lange unterdrückt hatte, aber inmitten der ganzen Menschen war es schier unmöglich.

 

Verdammt, was dachte sich die Hexe nur dabei?

 

Anscheinend nichts, denn offenbar ist es ihr egal, wie ich mich bei ihren ganzen Aktionen fühle, schlussfolgerte Emma, während sie sich wutendbrand durch die Menschenmassen schlängelte, um auf dem schnellsten Wege zum Ausgang zu gelangen. „Und das nennt sich Schwester. Pah!“ , schnaubte sie verächtlich, als plötzlich die Stimme von Lotte zu ihr durchdrang, die mühsam versuchte sie einzuholen. „Emma, nu warte doch mal! Was ist denn los?“ Was los war? Fragte sie nun allen Ernstes, was los war? Sie schnallte wohl gar nichts mehr?!  Ruckartig blieb Emma stehen und drehte sich auf dem Absatz zu ihrer Schwester um, die durch die unerwartete Reaktion, beinahe in sie hineingerannt wäre.

 

„Huch.“

„Du fragst mich doch gerade nicht wirklich, was los ist?“, blaffte sie Lotte an, die wiederum sie völlig verwirrt und mit gerunzelter Stirn anschaute. „Doch, ich… ich verstehe gerade gar nichts“, stammelte diese unsicher und biss sich auf die Unterlippe. Emma schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete einmal tief durch, bevor sie Charlotte bestimmend und mit warnender Stimme antwortete: „Dann denk mal scharf nach, denn das werde ich dir hier jetzt sicher nicht erläutern. DAS werden wir daheim klären, Schwesterchen!“ Ohne auf irgendeine Reaktion von ihr zu warten, schulterte sie ihre Tasche, drehte sich wieder herum und marschierte durch die große Eingangshalle, hinaus an die frische Luft.

 


**********

 


Zu Hause angekommen pfefferte Emma ihre Tasche auf die Kommode, wobei die darauf stehende Glasschale bedrohlich schwankte. Lotte folgte ihrer Schwester wortlos in die Wohnung, ließ sich auf den Hocker neben den Schränkchen nieder und entledigte sich ihrem Schuhwerk. Sie war noch immer völlig irritiert über Emmas Verhalten und konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war. So hatte sie ihre große Schwester noch nie erlebt. Die gesamte Heimfahrt über hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen oder sich gar eines Blickes gewürdigt. Lotte hatte befürchtet, sobald sie noch einmal den Mund aufmachen würde, würde Emma vor Wut explodieren. Also hatte sie beschlossen, es vorerst dabei zu belassen und nicht weiter nachzuhaken, was Emma so auf die Palme gebracht hatte. Auch wenn es sie selbst nicht im geringsten Ruhen ließ.

War es wegen des Zusammentreffens mit Rob und Tom? Aber was war daran schlimm? Gut, wie das Aufeinandertreffen zustande gekommen war, war schon etwas seltsam. Aber daran war doch dann Emma selber Schuld, schließlich war sie doch diejenige gewesen, die sich hinter dem Regal versteckt hatte und wie eine Stalkerin, die beiden beobachtet hatte! Das konnte sie ihr doch jetzt nicht allen Ernstes vorwerfen. Zumal Tom doch sichtlich erfreut gewesen war und richtig nett mit ihnen geplaudert hatte. Er war wirklich noch genauso schlaksig wie damals und auch vorwitzig schien er noch immer zu sein. Wobei sie daran zurückdachte, wie er Rob vorhin auf den Arm, wegen seiner Boxers, genommen hatte. Okay, Rob war schon etwas distanzierter zu ihnen gewesen und hatte kaum etwas gesagt, aber das war sicher nur, weil er ebenfalls überrascht über die unerwartete Begegnung gewesen war. Also konnte es daran nicht gelegen haben, oder doch? Emma hatte sich schließlich auch nicht ins Gespräch mit eingebracht gehabt, aber das war vor sechs Jahren, bei der ersten Begegnung, auch nicht anders gewesen. Da hatten die beiden doch auch, wie zwei stumme Fische im Wasser gestanden und kaum ein Wort herausgebracht. Also konnte das doch unmöglich der Grund sein, weshalb ihre große Schwester jetzt so mies gelaunt war und zudem auch noch sie dafür verantwortlich machte. So viel hatte Lotte mittlerweile verstanden, die Wut ihrer Schwester galt ihr, das hatte sie ihr im Geschäft schon mehr als deutlich gemacht gehabt. Aber verdammt noch mal warum? Je länger sie über die möglichen Gründe für Emmas Missmut nachdachte, desto wahnsinniger machte sie es, dass sie noch immer im Dunkeln tappte. Sie musste jetzt wissen, was los war. Entschlossen stand sie auf, stellte ihre Schuhe in den Schrank und ging einen Schritt auf Emma zu, die noch immer an der Kommode stand.

 

„Willst du mir nicht endlich sagen, was dich so wütend gemacht hat?“

 

„DU!“, blaffte Emma ihr entgehen, während sie sich zu ihr umdrehte und sie wütend anstarrte. „Hast du das noch immer nicht verstanden?“

„Wieso denn ich? Was bitte habe ich denn so Verwerfliches getan, dass du mich so behandelst?“ Erschrocken über die heftige Reaktion ihrer Schwester, wich sie ein Stück zurück. „Charlotte, so dumm kann man doch nicht sein! Kapierst du denn gar nicht, was du dir da im Laden alles geleistet hast? Wie kommst du dazu, mich in so eine Situation zu bringen?!“ Aufgebracht funkelte Emma ihre Schwester weiter an, während ihr Puls raste und ihr das Herz bis zum Hals schlug. Aber es tat gut, endlich ihren Frust herauslassen zu können, der sich die letzten Minuten angestaut hatte. „Ich hab´ mir gar nichts geleistet. DU hast dich selber in die Lage gebracht, in der WIR waren!“ Lotte spürte, wie auch sie langsam die Wut packte, denn Emma machte sie ernsthaft für die Situation, in der sie sich selbst gebracht hatte, verantwortlich. Das meinte sie doch bitte nicht ernst! „Du warst diejenige, die wie ´ne Irre hinter dem Regal gehockt hat, um die beiden zu beobachten. Das willst du mir hier jetzt doch nicht ankreiden?!“


„Wie bitte? Du spinnst doch! Ich habe nicht, nachdem Rob sich endlich wieder abgewandt hatte, nach ihm gerufen. Ihn wie ´ne dämliche Kuh angegrinst und wild gewinkt.“ Emma ging einen Schritt auf Lotte zu, während sie eine Handbewegung mit wedelnden Händen nachahmte und sie dabei weiterhin mit einem stechenden Blick fokussierte. Was fiel ausgerechnet ihr ein wütend zu werden, schließlich musste sie doch langsam mal kapieren, dass sie den Fehler gemacht hatte. Sie war diejenige, die sich hier entschuldigen musste und nicht andersherum. „Ohne dein Zutun wäre nichts, rein gar nichts passiert. Du wusstest doch, wie sehr ich nicht mit ihm konfrontiert werden wollte. Aber nein, du hast nichts Besseres zu tun, als mich bloßzustellen!“


„Nee, du hast nichts gemacht, stimmt. Ich war mal wieder die Doofe, weil du den Mund nicht aufbekommen hast, die sich mit den Jungs unterhalten musste. Du hättest auch ruhig mal was sagen können, dass es dir nicht passt, dann wäre es schnell vorbei gewesen. Doch dazu warst du ja nicht in der Lage und es ist natürlich jetzt ein Leichtes mir die Schuld dafür zu geben, als die bei sich selbst zu suchen!“ Auch Lotte wurde, bei jedem Wort, lauter und hielt dem Blick ihrer Schwester stand. Sie sah es gar nicht ein, sich dafür schuldig zu fühlen, was ihre große Schwester selbst provoziert hatte. Ihr Puls begann ebenfalls zu rasen und sie spürte, wie sich ihr Atem, vor Zorn der Ungerechtigkeit wegen, beschleunigte. Emma stand mit zusammengekniffenem Mund und angespannter Haltung vor ihr und atmete tief durch. Es war ein kläglicher Versuch sich zu beruhigen, denn Lottes Worte brachten sie geradewegs erneut auf hundertachtzig.

 

Sie kapierte es einfach nicht… oder wollte es einfach nicht verstehen, was sie so in Rage brachte?


„Es reicht Charlotte! Es reicht einfach. Soll ich dir was sagen? Du bist einfach rücksichtslos und kapierst rein gar nichts! Hast du vergessen, was ich durchgemacht habe? Warum ich jegliches, was ihn betrifft, immer gemieden habe? Weil ich es nicht verkrafte… noch immer nicht! Und dann kommst du freudestrahlend daher, winkst mit einer DVD und BÄMM ist alles zurück. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Nein, natürlich nicht! Wie auch, du bist viel zu sehr mit dir beschäftigt. Es war, als wenn mir einer mit seiner bloßen Hand in die Wunde gegriffen hätte. Du fährst deinen Weg, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Und als wenn das alles nicht genug wäre, schließt du beide, ohne irgendetwas von mir mitzubekommen, freudig in deine Arme. Plauderst, als wenn rein gar nichts vorgefallen wäre. Du hast rein gar nicht geschnallt, dass Rob überhaupt nicht, über das Aufeinandertreffen, erfreut gewesen war. Nicht einmal, wie distanziert er auf mich – uns - reagiert hat. Du warst viel mehr mit Tom beschäftigt und deiner verdammten Euphorie. Doch das Schlimmste, was du mir je angetan hast, war, dass du die Frechheit besessen hast, die beiden zu der Party einzuladen. Und du sollst meine Schwester sein? Super, da brauch´ ich keine Feinde mehr!“ Emma schleuderte und schrie ihre Wut Lotte entgegen, während sich ihre Hände vor Spannung in Fäuste verwandelten, das Herz sich in ihrer Brust überschlug und sie währenddessen ihre aufkommenden Tränen krampfhaft unterdrückte. Ihr ganzer Körper begann vor lauter Anspannung und Wut zu beben, während sich die Fingernägel in ihre Handflächen schmerzhaft hineinbohrten. So einen Gefühlsausbruch gegen ihre Schwester hatte sie noch nie und es erschrak sie selbst, wie aufgebracht, sie Lotte anschrie. Aber sie konnte einfach nicht anders reagieren, zu sehr hatte Charlotte, sie mit ihrem Handeln heute verletzt und gleichzeitig enttäuscht.

Lotte stand völlig erschlagen von den Vorwürfen und Wortschwall ihrer Schwester vor ihr und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. In ihr tobten die Gefühle vor Entsetzen, Wut aber auch Enttäuschung, dass sie so von ihr gesehen wurde. Rücksichtslos, egoistisch und gefühllos, Sie? Nein, das stimmte nicht! Sie wollte ihrer Schwester nie etwas Böses und wusste genau, was sie damals durchgemacht hatte. Aber verdammt, das war nun sechs Jahre her, so sehr konnte sie das doch heute nicht mitgenommen haben. Und woher sollte sie nun wissen, dass es Emma mit der DVD so zugesetzt hatte, schließlich hatte sie es die ganze Zeit abgestritten. Auch als sie sich selber solche Vorwürfe gemacht hatte, dass sie den Film mitgebracht hatte, hatte Emma sich nichts anmerken lassen… Aber wenn sie doch nicht mit ihm konfrontiert werden wollte, warum hatte sie ihn dann so beobachtet. Das passte doch alles nicht zusammen…  Dennoch sickerte es langsam zu ihr durch, was sie sich im Geschäft alles geleistet hatte. Wie sehr sie Emma geschockt haben musste, dass sie die Jungs tatsächlich eingeladen hatte. Das war wirklich gedankenlos von ihr gewesen und ging echt zu weit. Das wurde ihr mittlerweile bewusst.

 

Was hab ich mir nur dabei gedacht? Verdammt!


Doch noch ehe sie ihre Gedanken weiter ausführen oder gar ordnen konnte, schleuderte ihr Emma, weiterhin völlig außer sich vor Wut, den weiteren Wortschwall um die Ohren: „Weißt du was? Es wäre besser gewesen, du hättest dir ´ne eigene Bleibe gesucht und wärst hier gar nicht erst aufgeschlagen!“ Mit weit aufgerissen Augen stand Lotte da und stierte ihre Schwester an, als ihr die verletzenden Worte langsam ins Bewusstsein drangen.

 

Sie wünschte, ich wäre hier nie aufgetaucht!

 

„Halt! Emma, jetzt gehst du zu weit!", mischte sich überraschend Bridget ins Gespräch ein, die verschlafen im Türrahmen stand und schon eine Weile den Streit stillschweigend beobachtet hatte. „Ich weiß, dass du es so nicht meinst, und das, was Lotte getan hat, war wirklich nicht angebracht. Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber jetzt wirst du unfair." Sie stellte sich zwischen den beiden und legte beruhigend die Hand auf die Schulter ihrer Freundin. „Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!" Abwehrend hob Emma ihre Arme, drehte sich auf dem Absatz um und verließ aufgebracht den Flur. Sie wollte nichts weiter von alldem hören und nur noch ihre Ruhe haben. Was wusste Bridget schon, wie es ihr ergangen war? Nichts! Und nun stellte sie sich auch noch auf die Seite ihrer Schwester.

 

Na super! Verräterin!

 

Mit einem Türknallen flüchtete sie sich in ihr Zimmer, lehnte sich an die Tür und ließ sich mit dem Rücken daran zu Boden gleiten. „Verdammte Scheiße", fluchte sie leise, als sie ihren Kopf in ihren Knien vergrub und die Arme um die Beine schlang, während ihr stumm die Tränen, die Wangen herunterliefen. Was war das nur für ein beschissener Tag gewesen. Wieso musste das alles passieren? Was hatte sie verbrochen, dass sie so vom Pech verfolgt war? Alles begann mit dem Einzug ihrer Schwester und dem verflixten Film. Ganz egal, was ihre Freundin gerade gesagt hatte, oder auch von ihr denken mochte, im jetzigen Moment bereute sie es wirklich, dass sie ihre Schwester hatte, bei sich einziehen lassen. Denn wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ihr der heutige Tag in dieser Form erspart geblieben. Mit einem leisen Schluchzen zog sie die Beine enger an ihren Körper und wünschte sich, dass dieser Tag nie geschehen wäre.

 

Zerrissen

Kapitel 6

 

Zerrissen


Es war ein gut besuchtes und gemütliches Lokal, zu dem Rob sich nach alldem, was heute vorgefallen war, mehr oder minder geflüchtet hatte. Seit einer guten halben Stunde saß er nun schon an dem Tisch, direkt am Fenster, und hielt mit beiden Händen den großen Becher Kaffee fest umklammert. Seine Tasche hatte er achtlos neben seinen Stuhl fallen gelassen und seitdem kein Wort mehr mit seinem Kumpel gesprochen. Tom saß ihm, Muffin essend und Kaffee schlürfend, gegenüber und warf ihm immer mal wieder einen skeptischen Blick zu. Was Rob jedoch weitestgehend versuchte zu ignorieren, denn viel zu sehr war er mit seinen aufgekommenen Gefühlen und Gedanken, was das Aufeinandertreffen mit Emma hervorgerufen hatte, beschäftigt. Seine komplette Ausgelassenheit und Entspannung war ab dem Zeitpunkt spurlos verschwunden - hatten sich gänzlich in einem Nichts aufgelöst. Er spürte nur, wie seine innere Unruhe und teils die Wut, ihn versuchten zu beherrschen. Nicht im Entferntesten war er auf diese Situation vorbereitet gewesen und nie hatte er damit gerechnet, seiner Ex hier über den Weg laufen zu können. Ihr überhaupt jemals wieder begegnen zu können.

Warum auch? Schließlich lebte sie auch nicht in London – zumindest hatte sie das nicht!

 

Verärgert seufzte Rob auf, während er, mit einer Hand, seinen Griff um den Becher lockerte, um einen großen Schluck von der schwarzen Brühe zu trinken. Das brauchte er jetzt - einen schönen heißen und vor allem starken Kaffee, um wenigstens ein bisschen seine Nerven beruhigen zu können. Die letzten Tage hatte er sich nur stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, wie er am geschicktesten und am besten unbemerkt von L.A nach London kommen konnte. Und dann war der Plan vollkommen in die Hose gegangen, als er mal wieder, von einer Horde Paparazzi in Empfang genommen wurde. Es nervte und frustrierte ihn zugleich so dermaßen, dass er ständig auf der Hut sein musste, wenn er versuchte sich, wie ein Normalsterblicher in der Öffentlichkeit zu bewegen, während ihn dabei eine stets vorhandene Nervosität begleitete. Von daher hatte er schon den gesamten Ausflug damit verbracht, unruhig durch die Einkaufspassage zu schauen, ob er irgendwo einen Paparazzi oder irgendwelche Fans sah, die ihn bereits entdeckt haben konnten. Das brachte zwar sein Erfolg mit sich, aber so richtig konnte er sich nicht daran gewöhnen. Rob vermisste sein normales Leben, obwohl er seinem Erfolg auch vieles zu verdanken hatte. Ja, er war dankbar, aber auf den ganzen Rummel und Fokus auf seine eigene Person konnte er gut und gerne verzichten. So besonders war er ja schließlich auch nicht. Er hatte den lang ersehnten Urlaub von seinem öffentlichen Leben herbeigesehnt. Endlich konnte er wieder Zeit mit seiner Familie und Freunden verbringen, ohne Termindruck – einfach und unbeschwert, darauf hatte er sich gefreut. Aber ausgerechnet heute, am ersten wirklichen Tag seines Urlaubs, wurde er schmerzlich und völlig unvorbereitet mit seiner Vergangenheit konfrontiert – Emma! Da wären ein paar Paparazzi oder Fans sein kleinstes Problem gewesen. Diese hätte er mit einem Lächeln, Autogrammen und eventuell einem Foto schnell zufriedengestellt gehabt. Doch nie hätte er damit gerechnet, dass ausgerechnet Emma der vermeintliche Fan hinterm Regal gewesen war.

 

So ein verdammter Mist!


Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch sein dunkelblondes und zu lang gewachsenes Haar, als die ganzen verdrängten Erinnerungen auf ihn einprasselten. Die Mauer, die er all die Jahre hochgezogen hatte, begann zu bröckeln und es gefiel ihm nicht im Geringsten. Wut machte sich in ihm breit, als er wieder Emma vor sich stehen sah, die ihm einst, so sehr das Herz gebrochen hatte. Nie hatte sie auf seine Anrufe oder Nachrichten reagiert. Nie hatte sie ihm eine Chance gegeben, all jenes zu verstehen, was damals vor sechs Jahren in seinem Zimmer geschehen war. Sie hatte ihn einfach verlassen und vergessen. Ihre Liebe, und seine Liebe zu ihr, hatte sie mit einem einzigen Wimpernschlag weggeworfen. Nach Wochen der vergeblichen Versuche, irgendwie mit ihr in Kontakt treten zu können und als sie dann auch noch offensichtlich ihre Handynummer geändert hatte, damit er wirklich gar keine Chance mehr hatte eine Erklärung von ihr zu bekommen, gab er schließlich auf und sein Entschluss festigte sich. Auch er wollte nichts mehr, als vergessen – sie vergessen und schwor sich, Emma nie wiedersehen zu wollen oder gar in sein Leben zu lassen. Nie wieder!

 
Die Erinnerung daran versetzte ihm noch heute einen Stich in seinem Herzen und sofort versuchte er, diese wieder zu verbannen. Diese Gefühle durften nicht wieder an die Oberfläche kommen, das hatte er sich schon vor langer Zeit verboten, auch wenn es ihm gerade jetzt schwerfiel. Besonders nachdem sie vor einer guten Stunde noch vor ihm gestanden hatte, ihn mit ihren warmen braunen Augen angeschaut hatte und ihm ein leises „Hallo“ zu gehaucht hatte. Es klang genauso schüchtern und verunsichert, wie damals als sie sich kennengelernt hatten. Doch heute hatte sie blass ausgesehen und er hatte direkt ihren inneren Zwiespalt gespürt, ausgerechnet auf ihn zu treffen. Natürlich war sie genauso unvorbereitet sowie überfordert mit der Situation gewesen, wie er. Das hatte er sofort an ihrer Haltung und dem nervösen Nesteln mit ihrem Fingern gesehen, doch er hatte es vermieden, sie weiter zu betrachten oder mit ihr ein Gespräch zu führen. Er hatte nur noch den dringenden Wunsch verspürt, aus ihrer Nähe zu verschwinden, sich zurückziehen und schon gar nicht sie spüren zu lassen, dass es ihm genauso erging. Seine Mauer hatte er in dem Moment noch ein stückweit höher gezogen, hatte seinen undurchdringlichen Blick aufgesetzt und hatte gehofft, dass es schnell vorbei gehen würde. Er war schließlich kein schlechter Schauspieler, aber er hatte die Befürchtung, vorhin kläglich gescheitert zu sein – zumindest fühlte es sich so an, denn ob er es wollte oder nicht – sie hatte ihn aus der Fassung gebracht. Leider hatte er diese Rechnung, schnell aus der Situation kommen zu können, nur ohne Lotte und Tom gemacht, denn die beiden hatten begonnen, ein recht lockeres und ungezwungenes Gespräch zu führen. Anscheinend hatten die Beiden sich über ihr unerwartetes Treffen sichtlich gefreut und er empfand seinen Kumpel als Verräter, denn der wusste genauestens, wie es Rob damals ergangen war. Wie schwer er die Trennung verkraftet hatte und was er sich geschworen hatte. Nun hatte er dagestanden und so getan, als wäre nie etwas geschehen. Zudem verstand er nicht, die sichtliche Freude der beiden, die damals eher wie Hund und Katz waren und wie sie heute so getan hatten, als wenn sie die besten Freunde gewesen wären. Er spürte, wie seine Wut immer weiter in ihm emporkroch, als er den Griff um seine Tasse erneut verstärkte.

 

Wie konnte Tom nur?


Verräter!, fluchte Rob leise in sich hinein, bevor er erneut einen Schluck von seinem Kaffee nahm.
„Was?“, fragte Tom völlig überrascht darüber, dass Rob anscheinend seine Sprache wieder gefunden hatte, nachdem er die halbe Ewigkeit geschwiegen hatte. Ungläubig schaute er seinen Freund an und wartete darauf, dass er ihm antwortete, doch Rob nippte erneut völlig abwesend an seinem Kaffee.

„Was hast du da gerade in deinen Bart genuschelt?“, führte er seine Frage nun weiter aus, wobei er ihn noch immer mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrte. Rob setzte seinen Becher auf den Tisch ab und schaute ihn direkt an. Sein Blick war seltsam, so als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte und etwas zurückhielt. „Ich sagte Verräter“, platzte es dann schließlich doch noch aus ihm heraus, ohne den Blick von seinem Kumpel zu nehmen. Der wiederum kräuselte vor lauter Unverständnis seine Stirn, bevor er nur knapp fragte: „Wer? Ich?“

 

„Ja du!“

 

„Was habe ich getan, dass du mich so bezeichnest?“


Seufzend und erneut mit der Hand durch seine Haare fahrend, versuchte er seine Wut unter Kontrolle zu bringen. Er konnte Tom nicht die Schuld geben oder gar ihm große Vorwürfe machen, schließlich hatte er die Situation nicht heraufbeschworen. Viel mehr galt seine Verärgerung Emma, die augenscheinlich wie eine irre Stalkerin hinter diesem verdammten Regal auf ihn gelauert hatte. Dennoch war sein Kumpel für seinen Geschmack etwas zu offen mit dem Treffen umgegangen. „Tom sag mal, wie konntest du nur so verdammt erfreut über das Treffen mit den Mädchen sein?“, stellte er ihn prompt zur Rede, während er erneut an dem Kaffee nippte. Seine Stimme klang zwar ruhig, aber man konnte den Vorwurf deutlich heraushören. Tom hingegen hatte sich wieder seinem Muffin gewidmet, biss ein großes Stück ab, bevor er Rob kauend und schulterzuckend antwortete. „Warum nicht? War doch nett sie wieder zu treffen.“ Seine ungezwungene Antwort, brachte Rob völlig aus dem Konzept und schockiert starrte er seinen –noch- besten Kumpel an.

 

Hatte er das jetzt richtig verstanden?

 

Prompt verschluckte er sich an seinem Kaffee, begann kräftig zu husten und stellte reflexartig die Tasse wieder auf den Tisch, während er sich die andere Hand vor seinem Mund hielt. „NETT?“, brachte er schließlich hustend und lauter als beabsichtig hervor, denn er konnte nicht glauben, dass sein Kumpel das gerade wirklich von sich gegeben hatte. „Ja, nett. War schön sie mal nach so langer Zeit wiederzusehen. Hätte nie damit gerechnet“, sagte Tom leichthin und spülte sein Stück Muffin mit einem großen Schluck Kaffee herunter. Rob war nicht in der Lage darauf etwas zu erwidern, sondern starrte seinen Kumpel nur weiter fassungslos an. Der wiederum spürte den Blick auf sich ruhen und schaute ihn schließlich mit hochgezogener Augenbraue an.

„Wieso stört dich das eigentlich?“

„Tut es doch gar nicht“, stritt es Rob sofort murmelnd ab und richtete dabei seinen Blick wieder auf seinen Becher, wobei ihm ein leiser Seufzer entwich. „Sicher?“ Tom warf ihm einen skeptischen sowie argwöhnischen Blick zu, während er erneut in seinen Muffin biss. Irgendwas stimmte mit seinem Kumpel nicht – aber was? Er erkannte an seiner Reaktion, dass ihm die Situation nicht behagt hatte, doch es war ihm nicht begreiflich warum.

 

Und weshalb leugnete er das jetzt auch noch?


„Ja“, brachte Rob zwar schnell aber genauso murmelnd über die Lippen, wie zuvor, bevor er schnell den letzten Schluck Kaffee seine Kehle hinunterspülte. „Und warum nennst du mich dann einen Verräter, fährst dir ständig durch die Haare und redest kein Wort mehr?“

„Weil ich nicht darauf vorbereitet war.“ Seufzend und unruhig drehte er den Becher in seiner Hand. „Ich dachte, es wären irgendein paar Fans, die sich nicht trauten mich anzusprechen. Ich hatte zwar jemanden hinter diesem Regal bemerkt, aber versucht zu ignorieren, bis ich meinen Namen gehört hatte. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es sich um Emma handeln könnte. Ich war schlichtweg überfordert und du plauderst auch noch bereitwillig mit ihr.“


„Na, ich war auch nicht drauf vorbereitet, war ´ne große Überraschung, findest du nicht?“

„Hmm…“ Ohne seinem Freund Beachtung zu schenken, starrte Rob weiterhin seinen Becher in der Hand an, den er noch immer langsam über die Tischplatte drehte. „Ich dachte, nach so einer langen Zeit, wärst du darüber hinweg“, flüsterte Tom eigentlich mehr zu sich selbst, doch Rob hatte es nur allzu deutlich verstanden, was augenblicklich sein Augenmerk wieder auf ihn richten ließ, bevor er ihm knapp antwortete: „Bin ich auch.“

 

„Das sieht aber gerade ganz anders aus. Warum reagierst du dann so?“

 

„Wie reagiere ich denn?“, fragend schaute er seinen Freund an, während sich sein Ärger langsam nicht mehr unterdrücken ließ. Warum war Tom auch nur so schwer vom Begriff? „Mann, weil ich sie verdammt noch mal heute das erste Mal wiedergesehen habe. Völlig unvorbereitet… nach…“, brach es schließlich lauter und aggressiver aus ihm raus als überhaupt beabsichtigt, wobei er spürte, wie sich die Wut seinen Weg weiter an die Oberfläche bahnte.

 

Wut? Auf Wen oder Was? Auf sich? Auf Tom? Auf Emma? Auf die ganze Situation?

 

Er unterbrach sich selbst, atmete einmal tief durch und wollte seinen irrationalen Gefühlen nicht nachgeben. Ihm war bewusst, dass er dem –Vorfall- keine besondere Bedeutung verleihen durfte. Es war nur ein zufälliges Aufeinandertreffen von ehemaligen Freunden gewesen- mehr nicht!

„Eurer Trennung!“, hörte er plötzlich Tom seinen Satz vollenden, während er sich zum wiederholten Male durch seine Haare strich. „Aber das ist sechs Jahre her, Rob. Sechs lange Jahre und es hat sich vieles verändert. Ich verstehe einfach nicht, wie du dich da so aus dem Konzept bringen lassen kannst.“

„Ach, ich lasse mich nicht aus dem Konzept bringen – nicht wirklich. Wie schon gesagt, ich war nicht darauf vorbereitet“, versuchte er sich und seinen Freund zu überzeugen, als er sich dabei seine Tasse an den Mund setzte, um einen Schluck von der braunen Brühe zutrinken. Es war ein kläglicher Versuch, um sich beruhigen zu können. -Nur ein zufälliges Aufeinandertreffen von einer ehemaligen Freundin-, redete er sich immer wieder in Gedanken selbst ein, doch es wollte einfach nicht klappen. Frustriert ließ er die Tasse zurück auf die Tischplatte knallen, als er auch noch feststellte, dass der verdammte Kaffee alle war, woraufhin Tom erschrocken zusammenzuckte.  

 

FUCK!

 

„Verflucht Tom, sie hat MICH damals sitzen lassen. Ohne eine Erklärung – einfach so. Sie gab mir nie eine Chance, dass alles zu begreifen, weil sie alle meine Kontaktversuche blockiert hat. Und jetzt steht sie einfach vor mir“, schleuderte er aufgebracht seinem Freund entgegen und ließ seinen Gedanken freien Lauf, während Tom ihn nur sprachlos anschauen konnte. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass Emma ihn, nach all den Jahren, immer noch so aufwühlte – ihm so naheging. Was Rob nie zugeben würde, da war er sich sicher, denn das hatte er an der Reaktion vorhin gesehen. Er hatte wirklich geglaubt, dass Rob schon lange über sie hinweg gewesen wäre. Tom spürte, wie aufgebracht sein Freund war, und versuchte die richtigen Worte zu finden, um ihn ein bisschen zu beruhigen. „Ich verstehe“, sagte Tom verständnisvoll, als sich die Bilder der Vergangenheit vor sein innerliches Auge schoben. Rob hatte mit der Trennung stark und sehr lange zu kämpfen gehabt, er hatte sich zurückgezogen und sich mehr oder minder von allem abgekapselt gehabt. Sogar für ihn, seinem besten Kumpel, war es schwer gewesen, an ihn heranzukommen und es hatte viel Überzeugung gekostet, ihn dazu zu bewegen, nicht mit dem Schauspielern aufzuhören. Für einen Moment brach erneut das Schweigen zwischen den beiden aus, bis schließlich Tom die Stille unterbrach: „Aber schau, was aus dir geworden ist. Du bist ein erfolgreicher Schauspieler, hast deine Ziele soweit erreicht. Hast eine wunderbare Familie, Freunde, die immer zu dir stehen, und hast doch soweit ein herrliches Leben. Du bist doch glücklich, oder?“

 

Rob wandte seinen Blick von dem leeren Becher, den er schon die ganze Zeit gedankenverloren angestarrt hatte, ab und betrachtete seinen Kumpel mit einem undefinierbaren Blick. Ja, er hatte recht. Warum machte er sich auch so viele Gedanken wegen einem kurzen Zusammentreffens aus seiner Vergangenheit? Er war größtenteils glücklich mit seinem Leben, mit seinen Lieben, die alle zu seinem jetzigen Leben gehörten. Und er würde Emma nie wieder sehen, da war es doch grotesk, dass er hier den halben Tag trübsinnig in dem Café saß, anstatt seinen ersten Urlaubstag weiter mit seinem Freund zu genießen. „Du hast vollkommen recht“, stimmte er ihm schließlich zu und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, als er dabei all die aufgekommenen Gefühle von sich abschüttelte. „Na endlich! Willkommen zurück Bruder.“ Erleichtert klopfte Tom, Rob auf die Schulter, bevor er sich wieder auf seinen Stuhl setzte. „Ähm, also ich gehe davon aus, dass du dann nicht mit auf die Party gehen wirst. Macht es dir was aus, wenn ich dann gehe?“, fragte er vor sich hin drucksend. „Sicher kannst du dahin gehen. Lotte würde sich sicher freuen“, war Robs wirklich ehrliche Antwort, denn es machte ihm tatsächlich nichts aus. Warum auch? So lange er da raus gehalten würde, wäre es ihm vollkommen gleich, dass er Zeit mit ihnen verbrachte. Dabei wuchs in ihm immer mehr die Erkenntnis, wie lächerlich seine Reaktion und seine Gedanken, wegen all dem gewesen waren. Aber Emma noch einmal wiedersehen? Nein, das kam gar nicht infrage! Tom könnte gehen, aber ihn würde nichts auf die Party bringen. „Gut, dann lass uns mal weiter streifen. So langsam wird’s mir hier zu langweilig.“ Kaum hatte Tom seine Worte ausgesprochen, begann Robs Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren. Eilig zog er es raus und beim Blick auf die erhaltene Nachricht fluchte er: „Fuck!“

 
Mit gerunzelter Stirn beobachte Tom, wie Rob auf seinem Handy herum tippte, es anschließend wieder in seine Hose stopfte und aufstand. „Was ist denn jetzt?“, fragte er verwundert, weil sein Kumpel seine Tasche vom Boden aufhob, seine Beanie vom Tisch fischte, aber immer noch kein Wort verloren hatte, was ihn so hektisch werden ließ. „Wir haben Tanya vergessen. Wir waren vor einer halben Stunde in –The Cow- mit ihr verabredet. Also komm!“, ratterte Rob als Antwort herunter, während er sich umdrehte und Richtung Ausgang marschierte, ohne dabei auf seinen Freund zu warten. Schnaufend und mit den Augen rollend stand auch er nun auf und folgte seinem Kumpel murrend zum Ausgang: „Die hätten wir auch weiter vergessen können!“ Tom konnte Tanya nicht ausstehen, sie war ihm gänzlich unsympathisch. Er selbst konnte nicht erkennen, was Rob an dieser Frau lag, mochte oder die beiden miteinander verband. Doch Tanya war Rob anscheinend sehr wichtig und hielt große Stücke auf sie, also versuchte er seinem Freund zuliebe, die Antipathie ihr gegenüber zu verbergen, was ihm nicht immer sonderlich gut gelang.

 

 

 

********

 

 

 

Emma saß, am Samstagmorgen, am Tisch in der Küche und ging zum gefühlten hundertsten Mal, die Einkaufsliste für die Feier durch. Sie hatte noch immer das Gefühl irgendetwas vergessen zu haben, doch ihr wollte partout nicht einfallen, was es sein sollte. Heute Abend würde die Party stattfinden und im Grunde hatte sie überhaupt keine Lust auf das ganze Trara – weder um das ihrer Schwester noch das Rob hier auftauchen, könnte. Am liebsten würde sie sich einfach nur in ihr Zimmer verkriechen, so wie sie es die letzten vergangenen Tage auch getan hatte. Doch sie hatte ihren Freundinnen versprochen bei der Fete anwesend zu sein, außerdem war das nach längerer Zeit wieder eine Möglichkeit mit Tim zusammen sein zu können. Verärgert dachte sie an dem Vorfall im Kaufhaus sowie dem darauffolgenden Streit mit Lotte zurück, bis zum heutigen Tag hatten sie und ihrer Schwester kein Wort mehr darüber verloren – geschweige denn überhaupt miteinander geredet. Sie waren sich beide seit dem weitestgehend aus dem Weg gegangen, nur die üblichen Floskeln, wenn sie sich kurz gesehen hatten, kamen über ihrer beider Lippen. Was jedoch mehr angespannt und distanziert war, als alles andere. Die gesamte Anspannung schlug auf das gemeinsame WG-Leben über. Sie hatte seit dem Tag ihre beiden Freundinnen kaum noch gesehen oder gar gesprochen. Emma vermisste sie und die sonst so harmonische Stimmung im Haus, doch sie war immer noch sauer auf ihre Schwester und konnte das nicht einfach vergessen. Eigentlich wollte sie nur noch ihre Ruhe - nichts sehen und nichts hören. Seufzend betrachtete sie sich noch einmal die Liste, als sich unvermittelt Ilka zu ihr gesellte.


„So kann das nicht weitergehen!“, stellte ihre Freundin vorwurfsvoll fest und platzierte ihre Tasse Tee vor sich. Verwirrt und stirnrunzelnd, was sie damit jetzt meinte, richtete Emma ihren Blick nach oben und schaute in das ernste Gesicht von ihrer Freundin. „Was, was meinst du?“

„Mit dir und Charlotte. So geht das nicht mehr. Ihr müsst endlich miteinander reden.“ Ilka hatte die Unterarme auf die Tischplatte gelegt und ihre Hände ineinander gefaltet, dabei schaute sie Emma eindringlich an. Sie schien es ernst zu meinen und Emma spürte, wie auch sie unter der ganzen Situation litt. „Aber…“

„Kein aber“, unterbrach sie Bridget, die gerade zusammen mit Lotte die Küche betrat und sich ebenfalls zu ihnen an den Tisch setzte. „Das wird hier jetzt aus der Welt geschafft, heute Abend ist schließlich die Feier und die Stimmung im Haus ist nicht mehr zu ertragen. Setz dich doch Lotte.“ Ihre Stimme klang entschlossen und ernst, während sie auf den Stuhl neben sich deutete, worauf sich Lotte nur zögerlich und auf der Unterlippe kauend niederließ. Ihre Nervosität gefolgt von der Verunsicherung war ihr deutlich anzumerken, als sie augenblicklich die distanzierte Stimme ihrer Schwester vernahm: „Ich mag aber nicht darüber reden.“ Emma hatte nicht im Geringsten das Bedürfnis ausgerechnet jetzt, das Geschehene erneut aufwühlen zu wollen, nachdem sie mühsam versuchte, alles hinter ihrer Mauer zu vergraben. Obwohl ihr bewusst war, dass es so nicht weitergehen konnte, denn auch sie selbst litt unter der Gesamtsituation, sah sie sich nicht in der Lage, darüber sprechen sie können. Auch wenn das schlechte Gewissen an ihr nagte, nachdem was zwischen ihnen vorgefallen war, war Lotte trotzdem nicht gerade unschuldig an der Eskalation gewesen. Sie war es schließlich, die über die Stränge geschlagen hatte – nicht sie!

 

„Nein, jetzt gibt es hier keine Ausflüchte mehr! Wir…“ Ilka deutete auf Bridget und sich, „machen das nicht länger mit. Die Stimmung ist nicht mehr auszuhalten und wir vermissen euch beide! Es kann nicht angehen, dass ihr euch wegen eines missglückten Vorfalls nicht mehr anschaut und aus dem Weg geht. So haben wir uns unser Zusammenleben nicht vorgestellt!“ Emma schaute zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her, bis ihr Blick auf ihre Schwester fiel, die ihr stumm und mit gesenktem Blick gegenübersaß. Ihr Magen zog sich, bei diesem Anblick, zusammen und sie spürte, wie ihr schlechtes Gewissen sich immer weiter in ihr ausbreitete. Sie hatten ja recht, aber wie sollte sie das wieder aus der Welt schaffen? Sie hatte Lotte so viel an diesem Tag vor den Kopf geworfen, da war es nicht einfach alles Ungerechte wieder zurückzunehmen. Zudem war sie immer noch wütend darüber, in was für einer Situation Lotte sie gebracht hatte. Erneut führten ihre Gefühle, von Schuld und verletztem Stolz, in ihr eine Art Machtkampf. Schnaubend legte sie den Stift auf den Tisch und strich mit beiden Händen durch ihr Gesicht. „Na gut. Was hast du mir zu sagen“, unterbrach sie schließlich die Stille und schaute Lotte direkt an, woraufhin diese ihren Blick ebenfalls auf ihre Schwester richtete. Bridget und Ilka saßen währenddessen ruhig auf ihren Stühlen und beobachten schweigend die Szene, wobei sie hofften, dass die Geschwister wieder zueinanderfinden würden. Doch die Formulierung ihrer Frage und Reaktion von Emma, bereitete ihnen ein wenig Sorge, denn das war kein guter Anfang.


„Es tut mir leid“, antwortete Lotte mit einer leisen und fast schon brüchigen Stimme und man merkte ihr an, wie sehr ihr die Situation zusetzte, als sie ihren Blick auf ihre Hände fallen ließ, die unruhig am Saum ihres Pullis nestelten. Emma hatte Mühe, die Worte ihrer Schwester zu verstehen, bevor sie als Antwort ein, „Ja, mir auch“, murmelte. Sie war immer noch aufgebracht, aber gleichzeitig tat es ihr aufrichtig leid, wie ungerecht sie Lotte gegenüber gewesen war, auch wenn das Gefühl von Wut sie weiterhin beherrschte. „Aber ich kann das, was du getan hast, nicht einfach verzeihen oder vergessen. Mit einem – es tut mir leid – ist es nicht getan, Lotte!“ Ihre Stimme klang deutlich gefasster und lauter, als sie ihre Schwester eindringlich anschaute, die bei ihren Worten ihren Blick wieder ihr zugewendet hatte. Emma sah augenblicklich den Wandel in deren Augen, von Unsicherheit zu Enttäuschung und ebenfalls Wut?

 

War sie etwa wütend? Sie?

 

„Ach ja?! Und meinst du, dass was du mir vorgeworfen hast, ist mit einer kleinen Entschuldigung getan?“, blaffte ihr Lotte entgehen, wobei sie ihre Hände aufgebracht auf den Tisch knallen ließ. „Nicht nur du bist verletzt und enttäuscht! Das bin ich auch!“

Emma presste ihre Lippen fest aufeinander, während sie mit beiden Händen den Stift krampfhaft umklammerte und dabei den Blick nicht von ihrer Schwester nahm. Mit zusammengekniffen Augen schauten sich beide mit einer gar schier aufgebrachten Miene an, als währenddessen eine unangenehme Stille um sie herum hereinbrach. Die angespannte und aufgeladene Stimmung, die augenblicklich in der Luft lag, war so deutlich spürbar, dass Ilka und Bridget sich kurz einen ratlosen Blick zuwarfen.

 

War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, auf die Aussprache zu bestehen?

 

„Du machst mich für deine Entscheidungen und Verhalten verantwortlich. Du hast dich selbst in die Situation hineinmanövriert, nicht ich. Du hast mich die letzten zwei Tage gemieden, wie der Teufel das Wasser und mich voller Hass angeschaut. Meinst du, das geht an mir spurlos vorbei? Nein! Und ich sag dir jetzt eins: Ich habe darauf keinen Bock mehr, für dich den Prellbock zu spielen! Gut, ich habe einen Fehler gemacht, aber zu diesem Zeitpunkt habe ich gedacht, sie hätten uns eh schon bemerkt gehabt. Doch ich sehe keinen Fehler darin, dass ich mich mit Tom unterhalten habe. Warum auch? Ich habe mich gefreut, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Und wenn es dir nicht gefallen hat oder dir, dass alles unangenehm war, hättest du die Initiative ergreifen müssen. Das war dein Fehler, nicht für dich und deiner Entscheidung, sie zu beobachten, einzustehen. Und mir dann zusagen, du bereust, dass ich hier eingezogen bin, war unfair und tut verdammt weh! Du bist meine Schwester und ich wollte dir nichts Böses, aber du musst deine Fehler genauso sehen, nicht nur meine!“ Lotte unterbrach mit ihrem aufgebrachten Wortschwall, worin all ihr angestauter Frust und all ihre Gefühle lagen, die Stille, während sie gegen die aufkommenden Tränen ankämpfte – teils aus Wut, aber auch teils aus Verletzlichkeit. Emma stand ihr regungslos gegenüber und schaute sie vollkommen verwundert, sowie verwirrt an, während sie versuchte, ihre Gedanken und Gefühle irgendwie zu ordnen. Emma spürte, die Blicke von ihren beiden Freundinnen auf ihr ruhen, die erwartungsvoll auf eine Reaktion von ihr warteten, als die Worte ihrer Schwester unaufhörlich in ihrem Kopf widerhallten. Sie musste sich eingestehen, dass da was Wahres dran war. Sie machte Lotte tatsächlich für ihr eigenes Verhalten verantwortlich – zumindest für einen Teil. Dennoch begriff ihre Schwester einfach nicht, warum sie so reagiert hatte und warum sie weiterhin so aufgewühlt war. War sie wirklich noch wütend, oder war das Gefühl von Wut, der von Angst gewichen? Sie wusste es nicht, denn die Emotionen in ihr spielten verrückt und sie hatte keine Chance sie zu ordnen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Das Gedanken-; und Gefühlskarussell trieb sie fast in den Wahnsinn und sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie mit all dem umgehen sollte. Wenn sie nur an den Abend dachte, drehte sich ihr Magen um, denn was würde passieren, wenn Rob tatsächlich hier aufschlagen würde? Wie sollte sie reagieren – wie würde sie reagieren? Noch wichtiger, wie sollte sie sich, bei seiner Anwesenheit noch wohlfühlen und das in ihrem eigenen zuhause? Das war schier unmöglich, nach ihrer gemeinsamen Vergangenheit und wenigstens das hätte Lotte doch bewusst sein müssen.

 

„Du hast sie eingeladen, Lotte! Du hast sie einfach zu uns eingeladen!“, schrie und schleuderte sie ihrer Schwester entgegen, während sie den Griff um den Stift deutlich verstärkte, als wenn er eine Art Anker wäre. „Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Ich ärger mich über deine Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit mir gegenüber! Ja, ich habe auch Fehler gemacht, das streite ich gar nicht ab. Es tut mir auch wirklich leid, was ich dir an den Kopf geworfen habe, aber ich war einfach geschockt und verletzt. Ich war mit alldem überfordert und konnte nicht reagieren. Ihn nach der Zeit wiederzusehen hat mir schlicht den Boden unter den Füßen weggezogen. In mir spielen gerade die Gedanken und Gefühle, wegen heute Abend, verrückt. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, weil ich nicht weiß, wie ich mit seinem bevorstehenden Auftauchen umgehen soll. Du selbst hast gesehen, wie er auf mich reagiert hat. Wie kann ich da froh sein, dass du ihn eingeladen hast? Du weißt, wie viel er mir mal bedeutet hat und dass die Trennung mich viel Kraft gekostet hat. Und sein Verhalten im Kaufhaus hat nicht gerade dazu beigetragen, dass ich mich bei dem Gedanken ihn wiederzusehen wohlfühle. Verdammt Lotte, ich war wütend, dass du mir das antust. Ich habe einfach Rot gesehen!“ Während sie ihren Gedanken endlich freien Lauf ließ, spürte sie, wie sich die Erleichterung in ihrem Körper ausbreitete und die Wut sich langsam legte. Ihre Stimme war deutlich ruhiger und ihr Blick, der immer noch auf Lotte gerichtet war, verlor seine Härte, als sie zudem den Wandel in Lottes Augen erkannte.

Beide schienen den jeweils anderen allmählich besser verstehen zu können, während sich erneut eine, aber diesmal angenehme Stille, über sie legte, als die Geschwister in ihren eigenen Gedanken gefangen waren.

 

Lottes lehnte sich deutlich entspannter an die Stuhllehne zurück, bevor sie vorsichtig ihre Schwester ansprach: „Aber du hast nie darüber gesprochen, was damals vorgefallen ist. Hast es uns nie erklärt. Und um ehrlich zu sein, dachte ich, du wärst darüber schon lange hinweg. Wie soll ich da wissen, dass dich das alles noch heute so aufwühlt?“ Unsicher, ob es richtig war, ihre Gedanken auszusprechen, biss sie sich auf die Unterlippe, als Emma leise aufseufzte und sich dabei mit den Händen durchs Gesicht strich. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, denn ihre Schwester hatte recht. Sie hatte es nie erklärt, sondern sie nur mit der Tatsache konfrontiert gehabt, dass sie sich getrennt hatte, und hatte sich ganz ihrem Schmerz hingegeben. Natürlich sollte man annehmen, dass sie darüber hinweg sei – bis vor ein paar Wochen hatte sie es schließlich selber auch daran geglaubt gehabt. Doch spätestens nach dem Aufeinandertreffen mit Rob kroch ihr schlechtes Gewissen wieder an die Oberfläche. Weil sie auch ihm nie eine richtige Erklärung gegeben hatte und sich mehr oder minder, feige aus seinem Leben geschlichen hatte. Mit dieser Erkenntnis wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihrer Schwester unrecht getan und verletzt hatte – nicht aus Wut, sondern aus Angst. Angst, wieder mit alldem konfrontiert zu werden, was sie selbst verschuldet hatte. Einen Augenblick schloss sie ihre Augen und atmete einmal tief durch, bevor sie aufstand und um den Tisch ging. Verwundert schauten ihre Freundinnen zu ihr, die noch immer schweigend das Gespräch verfolgt hatten, und fragten sich, was sie wohl vorhatte. Ilka war kurz davor sie anzusprechen, als Emma sich direkt vor Lotte stellte und sie entschuldigend anlächelte.


„Schwesterchen, es tut mir wirklich schrecklich leid, was ich zu dir gesagt und wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Es war nicht deine Schuld -  nichts von allem war deine Schuld. Es war meine und ich hätte dir nicht solche Vorwürfe machen dürfen. Ich habe mich einfach von meinen irrationalen Gefühlen und Ängsten leiten lassen, aber ich konnte einfach nicht anders. Das war ein großer Fehler, den ich bereue und hoffe, dass du mir verzeihen kannst.“ Es war Emmas Herz, was sie sprechen ließ, als sie ihre Schwester liebevoll anlächelte und sie um Entschuldigung bat. Ihre Worte entsprachen der vollen Wahrheit und ihren Empfindungen, als die Erkenntnis zu ihr durchdrang, wie sehr sie selbst, für das Geschehene verantwortlich gewesen war. Der Fehler, den sie vor sechs Jahren gemacht hatte und nicht mehr rückgängig machen konnte, hatte sie selbst in die Lage gebracht und nicht Lottes Verhalten an sich. Ihre Schwester stand mit einem zögerlichen Lächeln ebenfalls auf und erwiderte ihren Blick, als sie mit leiser Stimme zu ihr sprach: „Es tut mir auch so leid. Ich hätte wirklich nicht so gedankenlos sein dürfen. Ich hab wirklich ein schlechtes Gewissen und weiß nicht, wie ich das wieder gut machen kann. Bitte…“


„Ach komm her!“ Ohne Vorwarnung zog Emma ihre Schwester in ihre Arme, bevor diese ihren Satz überhaupt zu Ende führen konnte, und flüsterte ihr „Ich hab dich lieb!“, ins Ohr, wobei Lotte ihre Umarmung feste erwiderte. „Ich dich doch auch“, murmelte sie an ihrer Schulter, bevor sich beide allmählich aus der Umarmung lösten, um sich anschauen zu können. „Lass uns einfach versprechen, dass wir nicht noch einmal so dumm sind und uns selber das Leben so schwermachen, ja?“, fragte Emma und lächelte ihre Schwester an, die nur stumm als Antwort nickte, während sie beide spürten, wie ihnen vor Erleichterung, ein riesiger Brocken vom Herzen plumpste. Auch wenn Emma anfangs gegen die Aussprache war und keinerlei Bedürfnis verspürt hatte, sich mit dem Streit auseinanderzusetzen, war sie im Nachhinein froh, dass ihre Freundinnen sie dazu gedrängt hatten. Erst jetzt wurde ihr gänzlich bewusst, wie sehr ihr wirklich die Auseinandersetzung – gar die ganze Situation- zugesetzt und sie gelitten hatte. Und das, wo sie selbst für diese verfahrene Lage verantwortlich gewesen war. Es wäre ein Fehler gewesen sich nicht mit Lotte auszusprechen.

„Na endlich, das wurde aber auch Zeit“, hörten beide, Ilka und Bridget gleichzeitig sagen und drehten sich umgehend zu ihnen um. Bridget stand freudestrahlend und augenzwinkernd vor ihnen, während auch Ilkas Gesicht ein breites Lächeln zierte. Man sah ihnen beiden an, wie sehr sie einer Versöhnung herbeigesehnt hatten. „Dann kann die Fete ja steigen!“

 

Wäre da nur nicht Rob!

 

„Jap“, war nur Emmas gedankenverlorene Antwort, als sie an ihrer Schwester vorbei, an die Wand hinter ihr, schaute und versuchte sich die Situation vorzustellen, falls er tatsächlich auftauchen würde. Die Vorstellung zog ihr augenblicklich wieder den Magen zusammen und sie hoffte inständig, dass er ihr einfach fernbleiben würde, denn sie hatte keinerlei Ahnung, wie sie damit umgehen konnte. „Ich denke nicht, dass er kommt, Süße“, riss Ilka sie unvermittelt aus ihren Gedanken und beantwortete ihre stumme Frage.

 

„Meinst du?“

 

„Ja, das denke ich. Denn so, wie ihr mir sein Verhalten geschildert habt, kann ich mir nicht vorstellen, dass er Lust hat zu erscheinen.“ Sie stellte sich neben Emma und strich ihr beruhigend über die Schulter. „Das glaube ich aber auch“, beteiligte sich Lotte an ihrem Gespräch und auch Bibi nickte zur Zustimmung. „Aber, wenn Tom ihn dazu überredet hat, mitzukommen, was dann? Was mach ich dann?“ Emma richtete ihren Blick fragend auf ihre Freundinnen, während Ilka noch immer mitfühlend über ihre Schulter strich. Bibi kam mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, noch einen Schritt näher auf sie zu, als sie leise und mit einer leicht drohenden Stimme zu ihr sprach: „Dann machst du dir einen schönen Abend, lässt den Herrn, wenn er noch immer so ausgesprochen freundlich zu dir ist, einfach links liegen. Und wenn das nicht funktioniert, bekommt er es mit uns zu tun!“ Mit einem erneuten Augenzwinkern zeigte sie langsam auf Ilka, Lotte und zuletzt auf sich, was Emma umgehend ein Lächeln ins Gesicht zaubern und ihre Angst ein wenig in den Hintergrund wandern ließ. Es war wunderbar und tat so unheimlich gut, zu wissen, solche Freundinnen zu haben, auf die sie sich immer verlassen konnte. Sie waren stets für sie da gewesen, ohne Wenn und Aber – ohne Einschränkung und dafür war sie unendlich dankbar. So etwas fand man selten und sie war sich bewusst, wie kostbar diese Menschen für sie waren. Dank ihnen, begann sie sich langsam auf die Feier zu freuen und sie schaffte es, ihre Bedenken und Ängste weiter in den Hintergrund zu schieben.

 

Ach, soll er doch kommen!


Es würden all ihre Freunde und Lieben da sein, was sollte er da schon ausrichten können? Nichts! Oder? Egal, sie raffte ihre Schultern und nahm sich vor, wenn er wirklich hier aufschlagen sollte, würde sie sich nichts von ihm verderben lassen.

 „Also dann auf in die Vorbereitungen, wir haben noch eine Menge zu tun.“ Entschlossen setzte sie sich zurück an den Tisch, schnappte sich den Zettel, um die Liste erneut durchzugehen, während die anderen drei sie verwundert anschauten. „So gefällst du mir schon bedeutend besser!“, kommentierte Bridget schmunzelnd, als sie sich zusammen mit Ilka und Lotte zu ihr setzte, um gemeinsam den Abend zu planen.

 

 


 

Partygeflüster

 

Kapitel 7

 

Partygeflüster

 

„Hallo meine Schöne“, hauchte Timothy Emma liebevoll ins Ohr, die an der Anrichte in der Küche stand und eine Schüssel mit Knabbereien auffüllte. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, als sich seine Arme um ihre Taille legten und sie eng an sich zog. Sofort ließ Emma die Tüte auf die Arbeitsplatte fallen, drehte sich zu ihm herum und gab ihm einen kleinen Kuss auf seine Lippen. Die Party war jetzt schon eine Weile im Gange und sie hatte sich bereits gewundert, wo ihr Freund abgeblieben war. Alle anderen Freunde waren bereits angekommen und amüsierten sich prächtig im Wohnzimmer mit ihren Freundinnen sowie Lotte. Mit Erleichterung hatte sie festgestellt, dass weder Rob noch Tom aufgetaucht waren und sie hoffte, dass sich das auch nicht ändern würde. Mit jeder Minute, die er fernblieb, entspannte sie sich sichtlich und genoss die ausgelassene Stimmung der anderen. Erst recht, wo jetzt auch Tim bei ihr war, ihre Stimmung steigerte sich augenblicklich noch ein Stück weit mehr, was ihr sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberte. „Da bist du ja endlich, habe dich schon vermisst“, murmelte sie an seinen Lippen und legte dabei ihre Arme um seinen Nacken, bevor ihr Mund den Seinen erneut umschloss. Tim presste sie noch näher an seinen Körper, während ihre Zungen sanft im Einklang miteinander spielten. Emma spürte, wie sich ihr Verlangen, ihn wieder so nah an sich spüren zu können, weiter in ihr ausbreitete. Es tat so gut ihn endlich wieder bei sich zu haben, ihn zu fühlen sowie zu riechen, sodass jegliches Zeitgefühl verschwand und sie sich ganz in seinen Armen und seinem Kuss verlor. Ihre Hände wanderten seinen Nacken empor und vergruben sich in seinen kurzen Haaren, als Tim sanft über ihren Rücken strich. Sie verspürte einen Druck an ihrer Wirbelsäule, während Timothy den Kuss noch leidenschaftlicher erwiderte und sie dabei stürmisch gegen die Anrichte drückte. Nichts wollte sie mehr als den Augenblick mit ihrem Freund genießen und alles vergessen – die Party, die Freunde, einfach alles. Es gab in diesem Moment für sie nur noch ihn. Doch ein leises Räuspern, hinter ihrem Freund, zerstörte jäh ihre traute Zweisamkeit und ließ Emma frustriert aufseufzen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht alleine waren. Zögernd und widerwillig löste sie sich von Timothys Lippen und schaute über seine Schulter, um den Störenfried ausfindig machen zu können. Mit einem freudigen Quieken riss Emma sich aus Tims Armen und lief um ihn herum, während sie erstaunt fragte: „Was machst du denn hier?“ Ihr Gegenüber schaute sie freudestrahlend an und schloss sie direkt in die Arme.

„Ich wollte dich endlich mal wieder sehen.“


Tim hatte sich mit dem Rücken an die Anrichte gelehnt und beobachtete, mit vor der Brust verschränkten Armen, lächelnd die beiden Freundinnen. Er hatte gewusst, dass Emma sich über die Überraschung, seine Cousine mitzubringen, freuen würde, und genoss sichtlich seinen Erfolg. „Ah, ich freu mich so, dass du hier bist. Aber warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst, Catherine?“, quietschte Emma ausgelassen vor Freude, als sie sich aus der Umarmung löste. „Weil es eine Überraschung werden sollte. Außerdem hat mich mein Cousin zum Schweigen verdonnert“, antwortete sie lapidar und zwinkerte Tim keck zu. Emma drehte sich mit hochgezogener Augenbraue und auf den Hüften gestemmten Armen zu ihm herum. „Ach, hast du?“

„Jap“, war nur seine kurze sowie gleichzeitig schmunzelnde Antwort, während er weiterhin lässig an der Anrichte angelehnt stand und die Füße dabei gekreuzt hatte.

„Du Schuft.“ Mit einem Lächeln und gespielter Entrüstung, schritt sie auf ihren Freund zu, als sie plötzlich einen Klaps auf ihren Po spürte. Erschrocken sprang sie hoch und drehte sich abrupt um, wobei ihr Freund hell auflachte. „Und mich begrüßt hier niemand? Mir würde mindestens genauso eine Begrüßung zustehen wie meiner kleinen Schwester. Obwohl ich auch nichts gegen so Eine einzuwenden hätte, die Tim bekommen hat!“ Emma schaute geradezu in ein paar grün-graue Augen, die sie förmlich anfunkelten und in ein verschmitztes breitgrinsendes Gesicht. Sie konnte sich ein Augenrollen und Grinsen nicht verkneifen, als sie den Bruder ihrer Freundin erkannte. Nur er konnte so dreist sein und so einen Spruch drücken, ohne dass sie es ihm übel nehmen würde. Joshua war ein Typ für sich, er war verschlagen, ein Lebemann und reiste schon seit Jahren in der Weltgeschichte umher, doch er hatte sein Herz am rechten Fleck. Auch wenn Emma sich manchmal fragte, warum er so ganz anders als der Rest seiner Familie war. Er war groß und kräftig gebaut. Seine wohlgeformten Oberarmmuskeln stachen aus dem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt heraus, die er zu seiner schwarzen, engen Lederhose mit den passendfarbigen Bikerstiefeln trug. Er hatte nackenlange braune Haare und eine Strähne fiel ihm locker über seine Stirn.

 

„Vergiss es“, hörte Emma augenblicklich ihren Freund antworten, bevor sie auch nur einen Hauch einer Chance hatte, Joshua Paroli zu bieten. „So eine Begrüßung gebührt nur mir!“ In seiner Stimme war glasklar die Verärgerung zu hören und man merkte ihm an, dass er nicht sehr erfreut über sein Erscheinen war. Noch ehe sich Emma versah, hatte sich Tim neben sie gestellt und spürte, wie sich sein Arm um ihre Taille legte. Was sie nur mit einem genervten augenrollen kommentierte, als sie wieder einmal die Anspannung zwischen den beiden wahrnahm. Tims Verhältnis zu seinem Cousin war nie besonders gut gewesen, denn er hatte wenig Verständnis für seinen Lebenswandel. Doch das jetzige Verhalten von Timothy konnte sie nicht nachvollziehen, schließlich kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass sie selber mit Joshuas Art zu Recht kam. Vorsichtig nahm sie seinen Arm von der Taille und umarmte den Bruder ihrer Freundin freundschaftlich, denn sie freute sich wirklich ihn nach so langer Zeit wieder zusehen. Catherine stand derweil weiter neben ihm und strahlte alle freudig an, wohingegen Tim sie nur misstrauisch beobachtete.

 

Oh bitte! Konnte er seinen Beschützerinstinkt nicht einfach mal ablegen?


Das war eine Eigenschaft, die sie so gar nicht an ihm mochte und weswegen sie, schon des Öfteren einige Auseinandersetzungen mit ihm hatte. Sie spürte, dass er ihr vertraute sowie auch liebte, aber sein Problem war, dass er der restlichen Männerwelt kein Vertrauen schenkte. Er sah hinter jedem anderen eine potenzielle Gefahr für sie. Warum war ihr schleierhaft. Anfänglich ihrer Beziehung war es deutlich ausgeprägter, was sie ihm aber recht schnell abgewöhnt hatte, doch in letzter Zeit bemerkte sie wieder, das wachsende Misstrauen seiner Umwelt gegenüber. Doch Joshua gegenüber, würde er sein Verhalten wohl nie ablegen können, dafür waren sie einfach zu grundverschieden. Emma beschloss, nach der Party mit Tim zu sprechen, denn sie musste wissen, was momentan mit ihm los war. Sie spürte genau, dass ihn irgendetwas beschäftigte, konnte aber nicht bestimmen, woran es lag. Vielleicht war er auch einfach nur überarbeitet, was bei seinem derzeitigen Arbeitspensum nicht verwunderlich wäre. Innerlich seufzend stellte sie sich wieder neben ihren Freund, bevor sie Joshua verwundert fragte: „Und was hat dich hier hin verschlagen?“

„Ich wollte mal die schöne Frau wiedersehen, die sich mein Cousin geschnappt hat, und sehen, ob es ihr noch immer gut geht.“ Tim schnaufte verächtlich, wobei es diesmal Emma war, die ihm ihren Arm beruhigend um seine Hüfte legte. „Lass den Mist, Brüderchen“, meldete sich Catherine tadelnd zu Wort, wobei sie ihm einen kleinen Klaps auf seine Brust gab. „Als er hörte, dass ich dich besuchen fahre, hat er seine Tasche gepackt und wollte mit. Und nicht nur um dich wiederzusehen, sondern auch Tim. Aber du weißt ja, das würde er nie zugeben.“ Catherine schaute, während sie sprach erst ihren Bruder mit einem wissenden Lächeln an und zwinkerte anschließend Emma und Tim zu, der nur leise ein „Wers glaubt“, vor sich hin brummte. Emma, die es gehört hatte, zwickte ihn warnend in die Seite.

 

Na das kann ja noch was werden, wenn die beiden sich den ganzen Abend so verhalten werden, dann würd´ es wohl noch spaßig werden.

 

„Ich freu mich auf jeden Fall, dass ihr da seid. Mensch, du musst mir alles erzählen, was in Boston los ist! Wie es den Kindern geht und…“

„Emma, wo bleiben denn die Knabbersachen“, wurde sie jäh aus der Unterhaltung gerissen, als Ilka in die Küche marschierte. „Oh Tim, du bist ja da und hast noch Besuch mitgebracht?“ Sie blieb überrascht neben ihnen stehen und schaute verwundert zu den beiden Gestalten, die vor ihr standen. Catherine ging direkt einen Schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin Catherine, kannst mich aber auch Cath nennen. Ilka schüttelte mit einem Lächeln ihre Hand. „Hi, ich bin Ilka. Und wer bist du?“, fragte sie mit dem Blick auf Joshua, der sie nur mit einem merkwürdigen Blick anschaute. „Das ist Joshua, der Bruder von Cath und Tims Cousin“, übernahm nun Emma seine Vorstellung, weil er noch immer stumm wie ein Fisch, aber mit dem seltsamen Blick auf Ilka gerichtet, dastand. „Du weißt doch, wer Catherine ist, oder?“

„Ja klar. Freu mich dich endlich kennenzulernen. Emma hat schon viel von dir erzählt“, brachte Ilka zögerlich aber freundlich über ihre Lippen. Sie spürte noch immer den Blick von Joshua auf sich ruhen, was sie schier nervös machte. Es war ihr unangenehm und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Der Typ sah zwar gut aus, aber dieser irre Blick, der war ihr nicht geheuer. Plötzlich schien Joshua sich aus seiner Starre zu lösen und ein breites Lächeln umspielten seine Lippen, was Ilka noch mehr verunsichern ließ. Er machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie völlig unvorbereitet in seine Arme.

„Hallo schöne Frau. Jetzt weiß ich, warum ich unbedingt nach London kommen wollte“, murmelte er ihr ins Ohr, während er sie weiter in seine Arme hielt. Absolut von dieser skurrilen Situation überfordert, ließ Ilka ihre Arme schlaff an ihrem Körper herunterhängen, während ihr Kopf gegen seine Brust gedrückt wurde. Himmel, was wird das hier und wie sollte sie denn jetzt aus dieser irrsinnigen Lage wieder herauskommen? Umarmen kam gar nicht infrage, denn sie verspürte nur noch den dringenden Wunsch, Abstand zwischen ihren beiden Körpern zu bringen. Doch sie war in diesem Augenblick in keiner Weise fähig, sich auch nur einen Millimeter zu rühren – geschweige denn zu reagieren. Also stand sie weiterhin eng an den fremden Körper gepresst da, und warf Emma einen hilfesuchenden Blick zu, als sie erleichtert Timothys Stimme vernahm. „Mensch, lass das!“ Schroff packte er seinen Cousin an den Kragen und zog ihn augenblicklich von Ilka weg, die erleichtert aufseufzte und noch immer nicht begriff, wie ihr gerade geschehen war. „Was ist denn wieder in dich gefahren?“

„Mann Tim, lass mich doch einfach dieses bezaubernde Wesen umarmen“, antwortete Joshua mit einer sanften Stimme, ohne dabei den Blick von ihr abzuwenden. „Ilka, sag mal hast du Schmerzen?“ Er schaute sie besorgt an. „Was? Wie?“, brachte sie nur irritiert heraus. Was wollte er denn jetzt von ihr?
„Du musst doch Schmerzen haben.“ Sein Tonfall wurde immer sorgenvoller, während er weiter auf sie zuschritt und seine Hände schließlich begannen ihre Arme zaghaft abzutasten. Verwundert standen die Anderen in der Küche und beobachteten die merkwürdige Szenerie zwischen den Beiden, wobei keiner so recht begriff, was Joshua gerade da abzog. Ilka war gänzlich bewegungsunfähig und beobachtete mit gerunzelter Stirn Joshuas Hände, die mittlerweile dazu übergegangen waren, ihren restlichen Körper abzutasten.

 

Was trieb er hier? Er sollte sich bloß wagen, ihre Brüste zu berühren, dann könnte er aber was erleben!


„Nein ... Nein“, war schließlich das Einzige, was sie zögerlich sowie irritiert über ihre Lippen brachte.

 

Der Typ war doch irre.

 

„Bist du dir sicher?“

„Ja verdammt, ich hab keine Schmerzen!“, blaffte sie Joshua an, er machte sie schier verrückt. Was ging diesem Kerl bloß durch den Kopf? „Das verstehe ich nicht“, sinnierte er ruhig vor sich hin, nahm die Hände von ihren Armen und strich sich grüblerisch übers Kinn. „Das kann nicht sein.“

„Was kann nicht sein, sag schon?!“ Gott, dieser Kerl trieb sie noch in den Wahnsinn.

Langsam nahm er seine Hand vom Kinn und schaute ihr direkt in die Augen, als er mit einer lieblichen Stimme und einem Lächeln im Gesicht zu ihr sagte: „Du musst dir doch wehgetan haben, als du vom Himmel gefallen bist!“ Im gesamten Raum ertönte ein synchrones Raunen, wobei Ilka ein lautes Schnaufen entwich, sie die Augen verdrehte und dabei die Arme genervt durch die Luft wirbelte. Das war jetzt bitte nicht sein ernst? Was ein platter Anmachspruch. Sie musste hier weg… und beschloss, ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Der Typ war definitiv nicht mehr ganz bei Trost. Sie drehte sich um, schnappte sich die Schüssel von der Theke und marschierte ohne ein weiteres Wort, kopfschüttelnd, zurück ins Wohnzimmer. Die anderen drei hingegen standen noch immer steif auf ihren Fleck und schauten irritiert auf Joshua. Bis er schließlich von Catherine einen Schlag vor die Brust und von Tim einen in den Nacken versetzt bekommen hatte. „Spinner“, sagten alle drei gleichzeitig und schüttelten verärgert und teils amüsiert ihren Kopf.

 Nachdem die drei Joshua den Kopf zurechtgerückt hatten, beschlossen sie gemeinsam zu den anderen zu gehen. Tim hatte seinem Cousin verklickert, dass er es vermeiden sollte, weiter solche Shows hier bei seinen Freunden abzuziehen, sonst würde er mit ihm aneinandergeraten. Er hatte ihm das Versprechen zwar gegeben, aber so ganz befürchtete er konnte er nicht aus seiner Haut. Außerdem hatte er sich vorgenommen, noch ein bisschen dieser Ilka auf den Zahn zu fühlen. Sie entsprach ganz seinem Geschmack und sie hatte ihm gerade eben, sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch wenn sie die Flucht angetreten hatte, hatte sie seinen Ehrgeiz geweckt. Als sie schließlich alle im Wohnzimmer angekommen waren, hatte Emma ihre Freunde allesamt einander vorgestellt und sie verteilten sich schnell untereinander. Die Musik dröhnte aus den Lautsprechern, einige tanzten bereits in der Küche, wo sie eine große „Tanzfläche“ aufgebaut hatten. Im Wohnzimmer war der kleine Couchtisch dem großen Küchentisch gewichen, sodass dort alle gesammelt sitzen, reden, essen oder sich auf die Couch zurückziehen konnten. Emma saß mit Cath, Lotte und Ilka, bei ihren Lieblingscocktails –Coco Twist- beisammen und unterhielten sich über die Zeit im Boston und was sich seitdem dort alles ergeben hatte. Ein lautes Lachen ertönte vom Tisch gegenüber, wo Bridget und Peter zusammen mit ihren gemeinsamen Freunden Archie und Olivia saßen sowie auch Joshua, der sich dazu gesellt hatte. Es schien, als ob der neue Gast irgendeinen obszönen Witz gerissen hätte, da Olivia sich schlagartig die Hand vor ihren Mund schlug. Was wiederum Peter noch lauter auflachen ließ. Ilka hatte Joshua aus dem Augenwinkel beobachtet und kommentierte sein Auftreten nur mit einem weiteren Kopfschütteln, bevor sie sich wieder den Mädels zuwendete, die sich noch immer heiter miteinander unterhielten. Timothy schien sich derweil mit einigen anderen Freunden in der Küche zu amüsieren, denn er hatte sich schon eine geraume Zeit nicht mehr bei ihnen blicken lassen. Es war eine rundum ausgelassene Stimmung und Emma fühlte sich pudelwohl und glücklich im Kreise ihrer Freunde. Auch Lotte genoss die feuchtfröhliche Party und lächelte die ganze Zeit, bis plötzlich unerwartet die Türklingel ertönte. Einen kurzen Moment zuckte Emma erschrocken zusammen, entspannte sich aber sofort wieder, als Cath ihr zuprostete und sie erneut in einem Gespräch verwickelte.

 

„Ich geh schon“, sagte Lotte beiläufig, als sie aufsprang und eilig zur Tür lief. Ein erstauntes sowie freudiges „Oh“ entwich ihr, als sie sah, wer da vor ihr stand. Tom stand mit einem breiten Lächeln im Türrahmen und hielt eine kleine Tüte in der Hand. „Hallo Kleines“, sagte er fröhlich und ging an ihr vorbei, als sie ein kleines Stück zur Seite wich, um ihn so hereinzubitten. Sie freute sich riesig, dass Tom doch ihrer Einladung gefolgt war, wunderte sich dennoch ein wenig, dass er allein zu sein schien. Neugierig schaute sie sich draußen um, ob Rob nicht doch noch hinterherkam, bevor sie schließlich die Tür schloss. „Bist du alleine?“

„Jo, Rob hatte heute schon eine andere Verabredung“, antwortete er lapidar, während er sich zu ihr herumdrehte und ihr die Tüte entgegenstreckte. „Ich hab eine Kleinigkeit als Dankeschön für die Einladung mitgebracht.“

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, antwortete sie verlegen, als sie in die Tüte schaute und eine Flasche Wein heraus fischte. „Dankeschön.“

„Ist doch kein Ding. Ich dachte, die köpfen wir gleich zusammen.“ Sein Lächeln wurde breiter, während er ihr zu zwinkerte. Lotte spürte, wie ihr die Röte in die Wagen stieg- und gleichzeitig schüchtern ihren Blick von ihm abwendete.

 

Gott, was passierte denn hier? Das ist doch nur Tom! Reiß dich zusammen, Lotte!

 

Tom bemerkte natürlich ihre Verlegenheit und umschloss, weiter mit einem Lächeln, ihre Schulter und drückte sie ein Stück an sich. „Kein Grund rot zu werden, Lotte.“ Mit einem koketten Blick streckte sie ihm gespielt sie Zunge raus und schüttelte seinen Arm von ihrer Schulter. „Komm, lass uns lieber ins Getümmel stürzen.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn, der verwundert über ihre Offensive war, mit sich in Richtung Küche, wo nun noch ein wenig lauter die Bässe aus den Boxen dröhnten.

Mittlerweile hatten sich auch alle anderen auf die Tanzfläche versammelt und tanzten und grölten ausgelassen zu Katy Perrys- E.T. Tim hatte sich vor Emma, mit weit aufgerissen Armen, platziert und wackelte, nah an ihrem Körper mit seinen Hüften. Sie schmiss lachend ihren Kopf in den Nacken und umschloss mit einem Arm seine Hüfte, bevor sie ihm, rhythmisch zum Takt wippend, einen kleinen Kuss auf die Lippen drückte. Joshua hatte sich Olivia geschnappt und tanzte mit seiner Bierflasche in der Hand vor ihr. Bridget tanzte lachend mit Archie, während sich Ilka von Peter über die Tanzfläche führen ließ. Die Stimmung wurde von Stunde um Stunde immer ausgelassener, was wohl auch ein wenig dem Alkohol zu verdanken war. Nachdem Lotte mit Tom aufgetaucht war, hatte sich in Emma kurzzeitig wieder das flaue Gefühl im Magen bemerkbar gemacht. Sie hatte sofort hinter den beiden nervös umher geschaut, ob auch Rob mitgekommen war. Erst als Tom ihr bestätigt hatte, dass sein Kumpel nicht zur Party erscheinen würde, entspannte sie sich sichtlich und freute sich ehrlich über sein Kommen und die Fete entwickelte sich zu einer richtigen Sause.

 

Lotte und Tom saßen nun schon eine ganze Weile zusammen in der Küchennische auf der Bank, hatten bereits die Flasche Wein geleert und mittlerweile zum Bier gewechselt. Sie unterhielten sich ausgelassen über Gott und die Welt, lachten und Charlotte spürte immer mehr, wie Tom noch immer der gleiche Typ geblieben war, der er damals schon gewesen war. Er war erfrischend und jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie doch seine Art vermisst hatte. Die Erkenntnis hatte sie leicht erschrocken, da er ihr schließlich noch vor Jahren tierisch auf die Nerven gegangen war, doch immer wenn sich ihre Blicke trafen, spürte Lotte ein kleines Kribbeln in ihrem Bauch. „Tom kann ich dich mal was fragen?“, unterbrach Lotte schließlich ihre Unterhaltung über irgendwelche neumodischen Musikrichtungen.
„Klaaarooo“, lallte er als Antwort, denn der Alkohol zollte langsam sein Tribut.

„Hat …hmm.. hat Rob wirklich heute eine andere Verabredung, oder wollte er nicht kommen?“ Ihre Frage kam zögerlich und sie wusste nicht, ob es wirklich der richtige Augenblick war, um mit dem Thema zu beginnen. Aber der Gedanke schwirrte ihr schon den ganzen Abend in ihrem Kopf herum und ließ ihr einfach keine Ruhe. Tom, der nach vorne gebeugt mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkel gesessen hatte, setzte sich wieder auf und schaute ihr jetzt direkt in ihre Augen. Ein kleiner Seufzer entwich ihm, bevor er ihr antwortete: „Nein. Er hohockt daheim und schmollt.“

„Er schmollt?“ Tom griff nach seinem Bier und genehmigte sich einen großen Schluck.

„Joap. Dihie Begegnung mit deiner Schweechschter hat ihm gaanz schöhon zugesetzt. Er wollte partout nischt mitkommen“, brachte er mühsam heraus, denn seine Zunge wollte ihm nicht mehr so recht gehorchen. Charlotte hatte Mühe, ihn zu verstehen, auch sie bemerkte langsam den Alkohol, der sich seinen Weg durch ihre Blutbahn bahnte. „Emma ging´s nicht anders. Wir hatten einen riesen Streit wegen der ganzen Sache. Sie war gar nicht erfreut, dass ich euch eingeladen habe.“

„Hmm… ja Rob haahat auch keine Freuhdensprügche gemacht. Herrgott, das ischt dosch schon Ewigkeiten her. Isch weisch echt nischt, was deren Problem ischt.“ Noch während er sprach, nahm er einen weiteren großen Schluck Bier und stellte die Flasche schließlich etwas unsanft auf den kleinen Tisch ab. „Weischt du wasch meiheine Schöööne?“, führte er seinen Satz leiernd fort, während Lotte ihn nur fragend anschaute. Er beugte sich zu ihr herüber und legte seine Hand auf ihre Schultern, wobei sie mit hochgezogener Augenbraue seiner Hand folgte und er unbeirrt weiter lallte: „Isch rufe jetzscht, denn Herrn Mieschepeter Pätterschon an!“, dabei kramte er unbeholfen mit der anderen Hand in seiner linken Hosentasche, bis er schließlich mit Erfolg sein Handy herauszog. Charlotte schaute weiterhin mit einem fragenden Blick dabei zu, wie er wild auf dem Teil herumtippte, bis sie ihn schließlich fragte: „Und warum das, Tom?“

„Damit der seinen Arsch hierher bewescht.“ Für einen kurzen Augenblick hörte er auf sein Handy zu malträtieren und schaute Lotte direkt in die Augen, was sein Herz einen Moment ins Stolpern brachte. Er mochte sie noch immer gerne leiden. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als damals. Sie war so hübsch und noch immer das kleine freche Lottchen von früher, obwohl sie zu einer wunderschönen Frau herangewachsen war. Für einen kurzen Moment verspürte er das Verlagen, sie küssen zu wollen, als ihre smaragdgrünen Augen ihn wie gefangen nahmen.

 

Hatte sie schon immer so bezaubernde Augen?

 

„Und wie willst du das anstellen? Und warum soll er überhaupt hier auftauchen? Ich denke, das ist keine gute Idee.“, riss Lotte ihn jäh aus seinen Gedanken heraus, als sie ihm ihre Bedenken mitteilte. Lotte hatte sich gerade wieder mit ihrer Schwester versöhnt und, wenn jetzt doch noch Rob hier auftauchen würde, wüsste sie nicht, wie Emma darauf reagieren würde. Auf gar keinen Fall wollte sie eine Auseinandersetzung mit ihrer Schwester heraufbeschwören.

„Dosch, dosch.... wir wisschen beide, dass eine Auschprache überfällisch ischt. Sonscht hätten sie beide nischt so reagiert, wie sie reagiert haben. Außerdem musch er misch abholen.. isch kann nisch mehr fahren. Dasch ischt die Gelegenheit“, leierte und lallte er, wobei er sich wieder seinem Handy zuwendete und erneut darauf eintippte, als wenn sein Leben davon abhinge. „Nein, la...“, versuchte Lotte vergebens ihn davon abzuhalten, als er sich bereits den Hörer ans Ohr hielt und sie dabei breit grinsend anschaute.

„Hey Kumpelschen... du muscht mischt abholen!“

 

 

 

Emma tanzte mittlerweile ausgelassen mit Peter, während Bridget sich ausgiebig mit Timothy unterhielt. Ilka hingegen hatte sich auf die Bank in der Küchennische zurückgezogen, wo zuvor Lotte und Tom gesessen hatten, und beobachtete die Szenen, die sich vor ihr boten. Sie versuchte, noch immer Joshua aus dem Weg zu gehen. Er war so ganz das Gegenteil von ihr und er war ihr sichtlich unangenehm. Vorhin hatte sie beobachtet, wie er eine Flasche Bier auf ex getrunken hatte und danach kräftig aufgestoßen hatte, wie ein Affe hatte er seine Arme nach oben geschmissen und vor den anderen Gästen stolz posiert. Sie schüttelte sich bei der Erinnerung daran. Der Kerl hatte einfach kein Benehmen und sie fragte sich, wie Timothy oder gar die liebreizende Charlotte mit ihm verwandt sein konnte. Sie schaute gerade Peter dabei zu, wie er Emma über den Küchenboden wirbelte und beide ausgelassen lachten, als sie ein Stuhl rücken leicht aufschrecken ließ. Neugierig, was das war, drehte sie ihren Kopf in jene Richtung und verdrehte genervt die Augen. Joshua hatte sich direkt neben sie niedergelassen und grinste sie breit an. Das war so was von klar, dass ihr das nicht erspart blieb. Seufzend versuchte sie, sich ein kleines Lächeln ins Gesicht zu zaubern, was ihr auch einigermaßen gelang. Denn sein Grinsen wurde nur noch breiter und es schien ein Funkeln in seinen Augen aufzublitzen. Er hatte seine Flasche Bier direkt vor sich auf den Tisch gestellt und hielt sie mit seiner rechten Hand festumklammert. Seine andere Hand hatte er lässig auf seinen Oberschenkel abgelegt und beugte sich leicht zu ihr hinüber. Der Biergeruch, der ihn umgab, flog ihr direkt ins Gesicht und sie rümpfte angewidert die Nase.

„Warum sitzt eine so hübsche Frau wie du, so ganz allein hier?“, fragte er sie weiterhin mit einem Grinsen im Gesicht und schaute sie erwartungsvoll an. Es schüttelte sie innerlich, ihre Haare an ihren Armen stellten sich auf und sie verspürte, den Drang aufzustehen und einfach wegzugehen. Doch irgendetwas war da, was sie nicht gehen ließ- wie eine unnatürliche Macht. Sie konnte es nicht beschreiben, aber sie war sich sicher irgendetwas in seinen Augen zu erkennen, in die sie noch immer starrte. „Ähm… weil ich einen Moment für mich sein wollte“, antwortete sie leicht irritiert und wendete schließlich den Blick von ihm ab und schaute auf ihre Hände, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Noch immer spürte sie den durchdringenden Blick von ihm, während ein Moment der Stille hereinbrach. Sie hoffte so sehr, dass er ihre Antwort respektieren und wieder weggehen würde. Aber da hatte sie die Rechnung ohne Joshua gemacht, denn er beugte sich noch ein Stückchen weiter vor und fasste ihr mit einem Finger unters Kinn. Sanft aber bestimmend drückte er ihren Kopf nach oben, sodass sie ihn erneut in seine grün-braunen Augen schauen musste. Sie schluckte und biss sich nervös auf die Lippe, als ihre Gefühle in ihr begannen zu toben. Ihr Instinkt sagte ihr – flieh- doch auf unerklärlicherweise war sie von seinen Augen gefangen. Das war doch irre! Der gesamte Kerl war irre, so wie er sich verhalten hatte.

 

Warum war es ihr dennoch nicht möglich einfach aufzustehen oder ihn in seine Schranken zu weisen?

„Das ist aber schade. Eine Frau wie du sollte nicht alleine sein“, hauchte er ihr zu, wobei ihr der Biergeruch erneut direkt zugeweht wurde. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und sie schüttelte ihren Kopf. Himmel, was tat sie hier? „Lass mich einfach in Ruhe!“, schrie sie ihn aufgebracht an und schlug seine Hand unter ihrem Kinn weg. Joshua schaute sie völlig verwundert, aber dennoch mit einem zaghaften Lächeln an. Beinah hatte er geglaubt, sie um den Finger gewickelt zu haben, so wie sie ihn angeschaut hatte. Doch sie schien eine härtere Nuss zu sein, als er gedacht hatte. Ilka stand ruckartig auf und wollte gerade aus der Küche flüchten, als Emma direkt vor ihr stand. „Was ist los?“, fragte sie besorgt, als sie den Gesichtsausdruck von ihrer Freundin sah. „Nichts“, antwortete Ilka knapp. „Ich muss nur aufs Klo.“ Noch bevor sie ihre Worte ganz ausgesprochen hatte, war sie auch schon an ihr vorbei gehuscht und verließ fluchtartig die Küche. Emma schaute einen Moment ihrer Freundin hinterher, bevor sie sich mit hochgezogener Augenbraue wieder Joshua zuwendete. Dieser kommentierte Ilkas voreiligen Abgang nur mit einem Schulterzucken und verschmitztem Lächeln. Doch bevor Emma weitere Fragen an den Bruder ihrer Freundin richten konnte, hörte sie zum wiederholten Male die Klingel läuten. „Wer ist denn das?“, murmelte sie mit gerunzelter Stirn in sich hinein, als sie in Richtung Flur ging. Sie war noch nicht ganz in der Diele angekommen, da ertönte die Schelle ein weiteres Mal. Mit einem genervten „Ja doch!“, öffnete sie ruckartig die Tür und starrte in ein ihr nur allzu bekanntes Gesicht. Ihr Herz fing vor Nervosität an zu stolpern und mit einem Schlag war ihre ausgelassene Stimmung dem Gefühl der Unsicherheit gewichen.

 

„Rob!?“

 

Sturmtief

 

Kapitel 8

 

Sturmtief

 

 „Rob?!“ Völlig entgeistert starrte sie auf den Mann, der sich mit einem Schlag direkt vor ihr befand. Ihr Atem beschleunigte sich und sie spürte, wie ihre Knie vor Nervosität begonnen hatten zu zittern.

 

Das konnte jetzt nicht wahr sein! Nein, er konnte nicht wirklich vor ihr stehen!

 

Verunsichert, ob ihre Augen oder der Alkohol, ihr nicht doch einen bösen Streich spielten, begann sie zu blinzeln. Vielleicht war er nur eine Art Fata Morgana – eine Begleiterscheinung vom erhöhten Alkoholkonsum. Gab es sowas? Sie überlegte angestrengt, während sie weiter versuchte, das Erscheinungsbild wegzublinzeln, ob sie tatsächlich schon so viel Wein oder Sekt getrunken hatte, dass sich ihr persönlicher Albtraum einfach vor ihren Augen schieben konnte. Aber egal wie oft sie ihre Lider auch schloss und wieder öffnete, Rob blieb weiterhin leibhaftig vor ihr stehen und löste sich nicht in Luft auf, so, wie sie es sich erhofft hatte. „Was willst du hier?“, platze es schließlich überfordert aus ihr raus, während sie sein Gesicht weiterhin ungläubig fixierte. Sein Blick war hart sowie kalt auf sie gerichtet und es schien, als würde es ihm ebenfalls missfallen, hier vor ihrer Tür zu stehen. Na dann sollte er doch fernbleiben, damit würde er ihnen beiden einen Gefallen tun, außerdem hatte ihn niemand hier hergebeten. Also, was stand er dann vor ihr? Emmas spürte, wie ihr Herz sowie Puls unaufhörlich in ihr rasten und sie dabei absolut keine Ahnung hatte, wie sie ihre Empfindungen unter Kontrolle bringen sollte - zumindest nicht so lange, wie ihr Rob noch gegenüberstand. Er hatte die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, während er, wie versteift und angespannt vor ihr stand, wobei er tunlichst versuchte, jeden unnötigen Augenkontakt zu vermeiden. Es umgab ihn eine kühle und distanzierte Aura, die Emma noch nie zuvor, von ihm wahrgenommen hatte und es machte den Eindruck, als probierte er krampfhaft seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.

 

Oh Gott, verschwinde doch einfach!

 

„Kann ich jetzt reinkommen?“, fragte er, ohne auch nur ansatzweise auf ihre Frage weiter einzugehen, und mit einer so unnahbaren Kälte in seiner Stimme, dass es Emma eiskalt den Rücken herunterlief. Komplett von seiner Haltung und barschem Tonfall überrumpelt, machte sie einen Schritt zur Seite, damit er eintreten konnte.

 

Warum? Sie hätte ihm doch auch einfach die Tür vor die Nase zuknallen können.

 

Als Rob den Flur betrat, schaute er sich ohne Umschweife ungeduldig und suchend um. „Wo ist Tom?“, knallte er ihr direkt die nächste Frage um die Ohren, dabei würdigte er ihr abermals keinen einzigen Blick, während Emma nur weiterhin, wie versteinert in der Tür stand und krampfhaft den Knauf umfasste. „Ich... ich weiß nicht“, brachte sie nur stotternd und verwirrt hervor, denn sie fühlte sich augenblicklich wieder ins Kaufhaus zurückversetzt. Ihre Hände begannen zu schwitzen und ihr Herz wollte einfach nicht aufhören in ihrer Brust wie wild zu hämmern. Warum ließ sie sich von ihm und seinem Auftreten so nervös machen? Es war ihr Zuhause, wo er gerade hereinspazierte, und er wollte etwas von ihr und nicht umgekehrt. Entschlossen ihre Nervosität in den Hintergrund zu schieben und dem Ganzen ein Ende zu setzen, ließ sie die Tür mit einem kräftigen Schwung ins Schloss fallen. Sie straffte ihre Schultern, atmete einmal tief durch und ging zu Rob herüber, der noch immer mit dem Rücken gewandt zu ihr stand. „Ich habe keinen Plan, wo sich dein Kumpel herumtreibt. Aber du kannst ihn gerne suchen. Irgendwo wird er hier schon sein!“, schnappte sie ihm verärgert entgegen, während sie an ihm vorbei rauschte. Sie hatte von seinem Benehmen die Faxen dicke, nicht im Geringsten verspürte sie das Bedürfnis, noch länger mit ihm in einem Raum zu bleiben. Sollte er doch machen, was er wollte und zusehen, wie er Tom fand. Sie war hier fertig! Sollte er bloß machen, dass er sich seinen Kumpel schnappte und schleunigst wieder verschwand. Ihr Albtraum wurde mit einem Schlag wahr und sie ärgerte sich schwarz, dass sie sich selbst, die letzten Stunden vor der Party so gegeißelt hatte, wo er sie gerade nur schlagartig, mit seinem Verhalten wütend machte.

„Muss ich wohl“, blaffte er ihr hinterher, was er noch im selben Augenblick, dass er so unfreundlich ihr gegenüber war, bereute. Aber er konnte nicht anders … Wie auch? Aber was tat er hier? Er war sauer … ja, sauer, wenn nicht sogar stinkwütend, denn obwohl er sich geschworen hatte, nicht auf dieser gottverdammten Party zu gehen, stand er jetzt in Emmas Flur! Das hatte er allein Tom zu verdanken!

 

Danke auch!

 

Warum musste sich dieser Trottel auch so die Kante geben, dass er es nicht mal mehr alleine nach Hause schaffte? Aber auch Emma hatte ihn bereits von der ersten Minute an, als sie ihm die Tür geöffnet hatte, auf die Palme gebracht gehabt. Warum musste auch ausgerechnet sie ihn begrüßen?! Es war ja nicht so, dass hier nicht genug andere Leute da gewesen wären! Aber nein, ausgerechnet seine schlimmste Befürchtung musste sich bewahrheiten. Es hätte ja auch so einfach sein können. Auf den Weg hier her, hatte er inständig gehofft, dass irgendjemand, die Tür öffnen würde. Er Tom einfach in Empfang nehmen und sich unbemerkt herausschleichen könnte, ohne ihr überhaupt über den Weg laufen zu müssen. Er hatte sogar Tom beschworen, er sollte vorm Haus warten, aber er hatte nicht wirklich erwartet, dass sein Freund noch in der Lage war, seine Anweisung folge zu leisten. Dafür klang er schon viel zu besoffen am Telefon.

 

Ganz großes Kino!

 

Seufzend und mit der Hand durch seine Haare fahrend, schaute er Emma nach, wie sie, ohne auf seine Aussage zu reagieren, weiter den Flur entlang stampfte. Verdammt noch mal! „Könntest du mir vielleicht helfen … Emma?“, rief er ihr nun lauter und widerwillig hinterher, woraufhin sie abrupt stehen blieb, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte. Die Kälte in seiner Stimme war für einen winzigen Moment verschwunden und ohne zu zögern, drehte sie sich zu ihm um. Er stand noch immer auf demselben Fleck in der Diele und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Haare standen ihm in allen Himmelsrichtungen wüst ab und seine Hände hatte er noch immer in den Hosentaschen vergraben. Das fehlte ihr jetzt auch noch – ihr Ex stand wie bestellt und nicht abgeholt – zugleich genauso atemberaubend wie eh und je - in ihrer Wohnung und sein Kumpel ließ sich nicht blicken.

 

Na toll!

 

Einen Augenblick blieb sie regungslos stehen und überlegte, was sie jetzt tun sollte, während ihr Herz weiterhin unaufhörlich gegen ihren Brustkorb schlug. Eigentlich war genau das eingetreten, wovor sie die ganze Zeit Angst gehabt hatte und am liebsten würde sie ihn einfach ignorieren. Aber aus irgendeinem Grund konnte sie ihn plötzlich nicht mehr so im Flur stehen lassen. Nicht nachdem sie sah, wie er unsicher und mit dem Blick auf seine Füße gerichtet, vor ihr stand. Resigniert schlug sie sich leicht mit der Hand auf ihren Oberschenkel, wobei sie leise aufseufzte. „Na gut. Weit kann er ja nicht sein.“

 

Rob, der sich noch immer nicht vom Fleck wegbewegt hatte, folgte ihr jetzt auf dem Fuße. „Machen wir schnell“, war nur seine knappe Ansage, als sie gemeinsam die Küche betraten und sich nach seinem Kumpel umschauten. Es dröhnte noch immer die kraftvollen Bässe aus den Boxen. Auf der Tanzfläche wurde es lichter, nur ein, zwei Pärchen schunkelten eng umschlungen zum Takt der Musik. Der Rest der Gäste hatte sich in der Küche und so wie es schien im anderen Teil der Wohnung verteilt. Einige unterhielten sich rege, andere lachten und amüsierten sich lautstark. Emmas Blick fiel auf die Bank in der Küchennische, wo gerade eben noch Ilka mit Joshua gesessen hatte. Der Cousin ihres Freundes lehnte entspannt, mit einer weiteren Bierflasche am Mund, lässig auf der Bank, hatte seine Beine auf der Armlehne ausgestreckt und beobachtete das Treiben vor sich. Doch von Tom war nichts zu sehen.

 

„Hier ist er nicht“, stellte Rob hinter ihr genervt fest, als sie noch weitere, für ihn unendliche Sekunden, auf die Geschehnisse in der Küche starrten. „Wo kann er noch sein, Emma?“ Seine Stimmung war ohnehin schon auf dem Tiefpunkt, aber dass er sich nun auch noch auf die Suche nach seinem betrunkenen Freund machen musste, schaffte es diese noch weiter zu verdüstern. „Im Wohnzimmer“, antwortete sie mit einer ebenfalls genervten Stimme. Auch ihr missfiel die entstandene Situation sichtlich. Ihre Nervosität hatte sie einigermaßen geschafft im Zaum zu halten, dennoch setzte ihr das ungute Gefühl im Magen zu. Ohne darauf zu achten, ob Rob ihr folgte, marschierte sie zügig durch die Küche ins Wohnzimmer, wo sie im Türrahmen stehen blieb und sich ungeduldig nach Tom umschaute. Doch ihre Hoffnung, dass sie hier schnell ihren Ex an seinen Kumpel übergeben konnte, zerplatze wie eine Seifenblase. Auch hier war er nicht! Nur Bridget und Peter lagen schmusend und küssend auf der Couch, während sich Ilka mit Olivia und Archie am Tisch köstlich amüsierte. Verwundert darüber, dass sie ebenfalls weder Timothy noch Lotte entdecken konnte, runzelte sie die Stirn. Wo waren denn die beiden? „Verdammt, wo ist denn der Kerl?“, hörte sie überrascht Rob hinter sich fluchen, was sie augenblicklich aufschrecken ließ. Den hatte sie ja ganz verdrängt. „Nur mit der Ruhe. Geflüchtet wird er schon nicht sein“, entgegnete sie ihm mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme, wobei sie genervt mit den Augen rollte.

 

„Natürlich nicht! Das übernehmen andere“, murmelte er scharf, was Emma zu ihm herumwirbeln und ihm einen verwunderten Blick zuwerfen ließ. „Was hast du gesagt?“

„Nichts!“, antwortete er rasch, als ihm bewusst wurde, dass sie ihn gehört hatte. „Lass uns endlich Tom finden, ich bin schließlich nicht zu meinem Vergnügen hier!“ Emmas Augen verengten sich gefährlich und der Ärger über sein Verhalten keimte erneut in ihr auf. Warum hatte sie ihn nicht einfach im Flur stehen gelassen? Ach ja, weil ich einfach nur blöd war, beantwortete sie sich in Gedanken die Frage selber. „Weißt du was? Ich hab auch Besseres, vor allem Angenehmeres zu tun, als mich deinen Launen auszusetzen!“, schleuderte sie ihm aufgebracht entgegen und starrte ihn weiter mit verengten Augen an, wobei ihr Mund sich zu bedrohlich schmalen Linien formten. Rob kannte den Blick von früher nur allzu gut, denn wenn Emma wirklich wütend war, war Vorsicht geboten. „Du kannst auch alleine weiter auf die Suche gehen. Da geht es zum Balkon und da gelangst du zu den anderen Räumen! Viel Spaß!“ Stocksauer, aber auch über sich selbst überrascht, fuchtelte sie mit dem Finger in jene Richtungen, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte, zu Ilka an den Tisch stöckelte und Rob im Türrahmen stehen ließ. Sollte er doch seine Laune an seinem Kumpel auslassen und nicht an ihr.

 

Wo oder Wer war sie denn, dass sie sich das gefallen lassen musste?

 

Er kam hier in ihre Wohnung und benahm sich wie ein ungehobelter Klotz! Schnaubend ließ sie sich neben Ilka auf dem Stuhl fallen, schnappte sich die Flasche Bier, die auf dem Tisch stand und setzte sie an den Mund an. Ilka schaute verwundert und leicht irritiert über das Verhalten ihrer Freundin zu, wie sie die Flasche mit einem Zug halb leerte und diese mit einem lauten Knall auf die Tischkante absetzte. „Danke, das brauchte ich jetzt!“

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ilka sie vorsichtig, denn so hatte sie ihre Freundin noch nicht erlebt. „Nein!“, war Emmas barsche Antwort, bevor sie merkte, dass sie ihren Ärger ungerechterweise an ihrer Freundin ausließ. „´tschuldigung, war nicht so gemeint. Er macht mich einfach nur wütend“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, während sie sich mit dem Handrücken über die Lippen strich. „Wer? Hast du Streit mit Tim?“ Ihre Freundin schaute sie nur noch verwirrter an, während sich Olivia und Archie zurückzogen. „Nein, Rob der Tölpel.“ Sie kicherte über ihre eigene Aussage und spürte langsam, wie der Alkohol ihre Sinne vernebelte. Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee gewesen, nach den ganzen Gläsern Wein und Sekt jetzt zum Bier zu wechseln. Ach, das war jetzt auch egal! Sie nahm noch einen weiteren großen Schluck aus der Flasche, bevor sie diese erneut unsanft auf den Tisch zurückstellte. „Apropos, wo ist denn Tim überhaupt? Ich hab ihn den halben Abend nicht gesehen“, fragte sie traurig und schaute sich noch einmal im Raum um. Ilka hingegen verstand nun gar nichts mehr von dem, was Emma von sich gab, während die sich lässig, vor ihr, auf dem Stuhl fläzte. „Moment mal. Ich komm nicht mehr mit. Wieso Rob?“

„Robert Douglas Thomas Pattinson hat sich die große Ehre gegeben, mit einer herausragenden Laune hier aufzuschlagen, und ich hatte das Vergnügen ihn in Empfang zu nehmen“, sagte sie schlicht und musste erneut über ihre Worte schmunzeln. Ihre Freundin saß weiterhin konfus vor ihr und verstand nur die Hälfte von dem, was sie ihr versuchte zu erklären. Emma sah ihren verwirrten Gesichtsausdruck, beugte sich leicht vor und versuchte eine weitere Erklärung: „Pass auf! Rob ist hier und warum auch immer sucht er Tom, der aber irgendwie verschollen scheint. Wir sind ein klein wenig aneinandergeraten und ich hab ihn einfach da drüben in der Tür stehen lassen. Soll er doch suchen, bis er Schwarz wird!“ Während sie sprach, deutete sie auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Sie war leer! „Gut, er ist nimmer da. Sucht wahrscheinlich noch oder ist wieder gegangen. Soll mir recht sein!“, sinnierte sie mehr zu sich selbst und ließ sich zurück an die Stuhllehne fallen, wobei Ilka nur mit dem Kopf schüttelte. Der Alkohol schien nun wirklich sein Tribut zu zollen, denn Emma spürte immer mehr, wie ihr Herz auf der Zunge lag. Normalerweise hätte ihr die Situation, dass ihr Ex in ihrer Wohnung herumirrte und dazu noch eine miserable Laune hatte, schlicht wahnsinnig sowie unruhig gemacht und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Doch im jetzigen Moment war es ihr vollkommen egal. Sollte er doch!

 

Pfft!

 

Ilka schaute zwischen der Tür und ihrer Freundin hin und her, als sie langsam begriff, was sie ihr gerade erzählt hatte. Warum blieb Emma auf einmal so ruhig, so lässig? Sie hatte doch die ganze Zeit diese Angst, -Nein- schon fast Panik gehabt, dass genau das passieren würde. Und nun saß sie lässig vor ihr und hatte tatsächlich ihrem Ex die Stirn geboten. Sie schmunzelte und lächelte ihre Freundin an, auch wenn es an dem Alkohol lag, dass sie für sich selbst eingestanden hatte, war sie stolz auf Emma. „Sag schon, hast du Timothy gesehen?“, riss Emma schließlich Ilka aus ihren Gedanken, denn im Grunde wollte sie gerade nichts mehr als ihren Freund bei sich haben. Sie brauchte ihn jetzt. Wo war er bloß? „Nein, ich dachte eigentlich, er wäre bei dir. Hab ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Lotte und Tom hatte ich das letzte Mal gesehen, als sie in der Küche waren, seitdem nicht mehr“, antwortete sie ihr und nahm anschließend auch einen Schluck aus der Flasche. „Hmm… ich glaub, ich-“, setzte Emma gerade an, als sie plötzlich von einer ihr bekannten Stimme unterbrochen wurde.

 

Er war doch noch nicht gegangen! Mist! Wäre ja auch zu schön gewesen.

 

„Sorry. Emma?“ Sie seufzte, als sie die Erkenntnis traf, dass Rob leibhaftig wieder neben ihr stand. Ilka saß weiterhin auf ihren Platz und schaute Rob nur skeptisch an, sagte aber nichts. Emma strich sich mit den Händen durchs Gesicht, bevor sie ihn nüchtern und ohne ihn anzuschauen, fragte: „Was willst du?“

 

Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?

 

„Ähm, es tut mir leid wegen gerade. Aber ich brauche deine Hilfe, denn ich kann Tom nicht finden.“ Seine Stimme hatte die Kälte, die sie vorhin noch ausgestrahlt hatte gänzlich verloren und er schien ernsthaft besorgt zu sein, wobei sie dennoch bemerkte, wie viel ihn seine Bitte an Überwindung kostete. Was sollte das heißen, er konnte seinen Kumpel nicht finden? Die Wohnung war doch nicht das verdammte Bermuda Dreieck, wo Menschen einfach verschwanden oder ein Labyrinth, wo Rob sich einfach nicht zurechtfinden konnte. Genervt aber ohne Umschweife und ohne darauf einzugehen, stellte sie ihm erneut die Frage, die er vorhin nicht beantwortet hatte. „Warum bist du überhaupt hier?“ Tom konnte schließlich gut alleine auf sich aufpassen und Rob wusste anscheinend, dass er hier war, also warum war er besorgt? Er fuhr sich seufzend durchs Haar, bevor er ihr antwortete: “Er hat mich angerufen, dass ich ihn abholen soll. Er klang ziemlich angetrunken, um es höflich auszudrücken!“ Das verwirrte Emma. Tom hatte ihn angerufen, um sich abholen zu lassen und nun war er nicht auffindbar?! Ilka hatte gerade noch erzählt, dass sie Lotte und Tom vor einiger Zeit in der Küche zusammen gesehen hatte und seitdem auch nicht mehr.

 

Moment mal! Lotte war genauso verschollen wie Tom! Hatten die beiden das etwa ausgeheckt…?!

„Verdammt!“, fluchte Emma, als sie die Erkenntnis wie ein Donnerschlag traf und sie ruckartig vom Stuhl aufsprang. Das würden sie doch nicht wagen?! Rob stand mit gerunzelter Stirn vor ihr und konnte genauso wenig ihrer Reaktion folgen, wie Ilka. „Das haben sie nicht getan. Wenn ich die in die Finger bekomme!“

„Was ist?“, fragten ihr Ex und ihre Freundin völlig perplex. „Findest du es etwa nicht merkwürdig, dass dein bester Kumpel dich nachts anruft, um ihn abzuholen und dann verschwunden ist?“

„Ähm…“

„Siehst du. Ich auch! Und meine Schwester hat genauso die Biege gemacht. Aber ich glaub, ich weiß jetzt, wo sie sein könnten. Passiert ist denen sicher nichts.“ Entschlossen die beiden zu finden, marschierte sie aus dem Zimmer und ließ Rob achtlos bei ihrer Freundin stehen, der ihr völlig irritiert hinterher sah. „Na komm schon“, rief sie Rob über dem Musiklärm herüber, als sie im Türrahmen stehen blieb. „Oder willst du dein Herzchen nicht wieder haben?“ Ihre Worte und ihr darauffolgendes Kichern ließen ihn leicht genervt aufschnaufen, bevor er ihr wortlos folgte. Erst als Emma vor der Zimmertür ihrer Schwester stehen blieb, wandte sie sich zu Rob, der direkt neben ihr stand. „Hast du hier auch nachgeschaut?“

„Nein, ich guck doch nicht in fremde Zimmer.“ Was dachte sie von ihm? „Nur im Bad hab ich mal rein gelinst, was sich als schwerwiegender Fehler herausgestellt hatte.“ Emma zog fragend eine Augenbraue hoch. „Frag lieber nicht“, winkte er mit einer schnellen Handbewegung ab, was sie erneut zum Kichern brachte, bevor sie schließlich die Tür zu Lottes Zimmer aufriss. Was sie anschließend zu sehen bekamen, ließ beiden sprichwörtlich den Mund aufklappen. Rob stand stumm im Türrahmen, während Emma mit gerunzelter Stirn aufs Bett ihrer Schwester zu ging. Fassungslos starrten beide auf die zwei Körper, die sich seelenruhig, auf dem Schlafgemach befanden. Tom lag auf den Rücken, einen Arm hinter seinen Kopf vergraben und den anderen um den Körper von Lotte gelegt, die ihren Kopf auf seiner Brust gebettet hatte. Ihrer beider Atem ging gleichmäßig und flach. Sie schliefen!
„Das glaub ich jetzt nicht“, entfuhr es Rob ungläubig, während er sich neben Emma gesellte, die weiterhin vor dem Bett stand und den Anblick von ihrer Schwester und Tom in sich aufnahm. „Der liegt hier seelenruhig und pennt und zitiert mich hier her?!“ Rob beugte sich über Tom und packte ihn an seine Schulter. Noch bevor Emma etwas sagen konnte, rüttelte und schüttelte er seinen Kumpel grob, sodass dieser verschlafen ein Auge öffnete. „Hey… was…, was ist?“, brachte er verwundert und verwirrt über seine Lippen, wobei schließlich auch Lotte wach wurde, sich aufrichtete und ebenfalls überrascht in die Gesichter von Rob und Emma schaute. „Oh..“

 

„Was treibt ihr hier?“, war es Emma, die ihre Schwester fassungslos ansprach und die Hände auf ihre Hüften gestemmt hatte. „Ähm, nichts!“ Lotte rieb sich verschlafen die Augen, während sich auch Tom in eine aufrechte Position brachte, nachdem sein Kumpel endlich von ihm abgelassen hatte. „Dafür hast du mich hier her bestellt, damit ich dich mit Lotte schlafend vorfinde?!“ Rob hatte sich vor ihm, mit verschränkten Armen vor seiner Brust, aufgebäumt und schaute ihn mit einem verärgerten Blick an. Emma war froh, dass dieser Blick nicht ihr galt, denn er strahlte noch mehr Eiseskälte aus, als sie selbst schon gespürt hatte. Himmel war er wütend. „Hey, so war das nischt, wir haben uns unterhalten und da…“, versuchte sich Tom zu erklären, bis er plötzlich unerwartet aufsprang und würgend, an den beiden vorbei, aus dem Zimmer stürmte. Über seine übereilte Flucht aus dem Raum schauten die Drei verwundert hinter ihm her, wobei es schließlich Lotte war, die ihm eilig folgte. Auch Rob rannte kurze Zeit später fluchend hinterher, sodass nur noch Emma diejenige war, die ungläubig auf derselben Position stand und nicht fassen konnte, was da gerade geschehen war. Ihre Schwester hatte doch tatsächlich, Arm in Arm, in ihrem Bett mit Tom gelegen. Hatte sie hier was verpasst? Seit wann würde Lotte auf Tuchfühlung mit Tom gehen? Diese Party nahm immer mehr unerwartete Wendungen an. Der Alkohol in ihrem Blut bahnte sich weiter den Weg an die Oberfläche und sie spürte, wie es ihr leicht schummrig wurde. Sie strich sich mit beiden Händen durch ihr Gesicht, um das gerade Geschehene zu begreifen, als sie ein Tumult im Flur hörte. Vor der geschlossenen Badezimmertür befanden sich Rob und ihre Schwester und beide redeten auf das Stück Holz ein, als würden sie es beschwören. Der Anblick ließ Emma schmunzeln, als sie an sie herantrat.

 

 „Tom geht es dir gut? Kann ich dir helfen?“, war Lotte besorgt und gar fürsorglich durch die Tür am säuseln, während sein Freund weitaus genervter gegen das Holz donnerte. „Alter, mach einfach die Tür auf… ich bring dich Heim!“ Doch aus dem Bad kamen nur weitere Würg-Geräusche und einen Moment lang war es still, bevor Rob erneut die Tür anschrie: „Verdammt, Alter, ich breche gleich das verdammte Ding auf und hol dich da raus!“, wütend donnerte er erneut mit der Handinnenfläche gegen das Holz, was diesmal ihre Schwester kurz zusammenzucken ließ, bevor sie sich wieder ganz auf die Geräusche aus dem Bad konzentrierte. Jedoch kam von deren Freund keine Reaktion, lediglich ein leises Keuchen und Schnaufen war zu hören. „Das bringt doch nichts! Lasst den armen Kerl doch erst einmal sich den Alkohol richtig durch den Kopf gehen, dann geht’s ihm gleich besser. Und wenn du ihn jetzt hier rausziehst und direkt Heim bringst, kannst du deinem Auto anschließend eine schöne Innenreinigung verpassen“, flötete Emma Rob amüsiert zu, während sie langsam an ihm vorbei schlenderte und stehen blieb. Lotte hingegen schenkte ihr gar keine Aufmerksamkeit, viel mehr war sie damit beschäftigt, ihr Ohr an die Tür zu pressen. Rob drehte sich zu Emma um und gab ein genervtes sowie resigniertes Schnauben von sich.

 

„Na toll! Ich brauch erst einmal eine Kippe!“ Noch ehe sie irgendetwas darauf erwidern konnte, rauschte er auch schon aus dem Flur. Ihre Schwester lehnte derweil noch immer mit dem Ohr an der Tür und Emma wusste, es würde nichts weiter bringen, sie davon abzubringen. Also beschloss sie, sie einfach dort stehen zu lassen. Zudem regte sich in ihr immer mehr die Schadenfreude – dass hatten die beiden verdient! Sie sollte jetzt lieber nachsehen, wohin Rob abgerauscht war, bevor sich vielleicht noch die nächste Katastrophe anbahnte. Nicht auszudenken, wenn er mit seiner hervorragenden Stimmung auf Tim oder gar Joshua treffen würde. Die Drei würden zusammen wohl eine interessante und wahrscheinlich hochexplosive Mischung abgeben. Josh mit seinem, manchmal merkwürdigen, Humor. Rob, der diesen derzeit ganz sicher nicht verstehen würde und zu guter Letzt Tim, der völlig ahnungslos auf ihren Ex treffen würde und sich zudem nicht gerade prächtig mit seinem Cousin verstand.

 

Wunderbar! Wie war sie da nur hereingeraten?

 

Auch wenn es ihr bis gerade eben erfolgreich gelungen war, ihre Nervosität zu verdrängen und der Alkohol sein Übriges dazu beigetragen hatte, kam sie nun mit einem Donnerschlag wieder zurück. Robs Anwesenheit in ihrem Haus machte sie schlichtweg wahnsinnig nervös. Sie musste ihn finden und mit ihm sprechen, etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig. Allein schon der bloße Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu, doch es gab keinen anderen Ausweg, wenn sie die Party nicht in einer Katastrophe enden lassen wollte. Sie hatte zwar keinerlei Ahnung, wie sie es anstellen sollte, das Gespräch mit Rob zu überstehen, wenn er es überhaupt zu lassen würde bei seiner derzeitigen Stimmungslage, aber sie schien keine andere Wahl zu haben. Einen Moment überlegte sie, ob es nicht dennoch eine andere Möglichkeit gab, wie sie es umgehen konnte, doch es fiel ihr partout keine Lösung ein, während ihre Gedanken sich überschlugen und ihr verdammtes Herz sein Übriges dazu beitrug. Es wollte sich einfach nicht beruhigen und schlug ungehemmt sowie nervös gegen ihren Brustkorb. Als sie sich gerade auf den Weg machen wollte, sah sie, wie Timothy aus ihrem Zimmer trat. Erleichtert darüber ihn endlich zusehen, ging sie schnell auf ihn zu. „Hey Schatz, da bist du ja“, rief sie, doch ihr Freund schien sie nicht gehört zu haben. Er hatte ihr den Rücken zu gewandt und hielt sich sein Handy ans Ohr, wo er etwas Unverständliches hinein murmelte. Er wirkte abwesend, in seine Gedanken vertieft und sie glaubte, dass er verärgert klang, was sie stutzen ließ. Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, hatte er das Gespräch beendet und stopfte hektisch sein iPhone in die Hosentasche. Emma wunderte sich über sein Verhalten, doch als sie ihm zaghaft auf seine Schulter fasste, drehte er sich ruckartig zu ihr um und ein erleichterndes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

 

„Alles klar?“, fragte sie ihn skeptisch.

 

„Ja sicher, Kleines. Ich hab dich schon gesucht.“ Emma zog eine Augenbraue hoch, denn sie hatte das Gefühl, irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Doch als Tim sie ein Stück an sich heranzog und ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen hauchte, verschwand ihr mulmiges Gefühl sofort wieder. Ohne weiter ihrer Beobachtung und ihrem Gefühl Beachtung zu schenken, lehnte sie sich an seiner Brust, als er seinen Arm um ihre Taille legte. Augenblicklich fiel ihr Rob wieder ein, der irgendwo im Haus rumschwirrte und ihr Magen verkrampfte sich auf ein Neues. Irgendwie musste sie Timothy auf die Schnelle erklären, was in der letzten Stunde vorgefallen war und das am besten noch, bevor er auf ihren Ex traf. Tim war zwar ein ruhiger Typ, aber er hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, wenn es um sie ging. Und einen ausgewachsenen Streit oder gar Rauferei war das Letzte, was jetzt noch fehlte. „Ähm…“, begann sie nervös, während sie versuchte, die passenden Worte zu finden. „Was ist Kleines?“

„Äh, ich muss dir was erklären.“ Verwundert über ihre zögerlichen Worte, ließ er sie los, wich ein Stück zurück und schaute sie ernst an. „Ist was passiert?“ Emma meinte, einen leicht panischen Unterton in seiner Stimme wahrgenommen zu haben, aber ignorierte es sofort. „Nein… nein… nicht direkt“, antwortete sie nur schnell und lächelte ihn an. „Was heißt nicht direkt?“ Noch immer hatte er den Blick auf sie gerichtet und sie wurde das verdammte Gefühl nicht los, dass ihn irgendetwas beschäftigte. Warum war er auf einmal so angespannt und reagierte so besorgt? Sie hatte förmlich gespürt, wie er sich innerlich verkrampft hatte, bevor er sich aus der Umarmung gelöst hatte. Wie sollte sie ihm denn die ganze Situation nur erklären? Sie schloss einen kurzen Moment die Augen und versuchte ihre Gedanken zu sortieren.

 

Wie fange ich an? Und wo überhaupt?

 

„Emma sag´ mir bitte, was los ist.“ Behutsam legte er seine Hände auf ihre Schultern, ohne dabei den Blick von ihr zu nehmen. Sie machte auf ihm keinen sonderlich entspannten oder fröhlichen Eindruck. Irgendetwas war vorgefallen, das spürte er und bekam es, mit der Angst zutun. Sie werden doch nicht … ? Doch noch ehe er den Gedanken weiter ausführen konnte, antwortete ihm Emma endlich. „Also, Rob, mein Ex, ist hier aufgetaucht. Und es ist etwas verzwickt.“ Erleichtert atmete er auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihr Ex, wenn´s mehr nicht ist.

 

„Gut. Was will er denn hier?“

 

„Er wollte Tom abholen, aber der umarmt gerade die Keramik.“ Während sie sprach, drehte sie sich in Richtung Badezimmertür und deutete auf Lotte, die noch immer besorgt davorstand. „Robs Laune ist auch nicht gerade die Beste und ist abgerauscht, um eine zu rauchen. Also…“

„Also was?“ Mit hochgezogener Augenbraue schaute Tim seine Freundin an, die unsicher auf ihrer Unterlippe kaute. Was sie immer tat, wenn sie besonders nervös war. „Soll ich mich um ihn kümmern?“

„Nein!“, stieß Emma etwas schneller hervor, als es ihr lieb war und sie sah, wie Tim sie skeptisch anschaute. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass er sich da einmischte. Wenn, dann war es eine Angelegenheit zwischen Rob und ihr. Sie selbst musste es klären - zumindest versuchen, auch wenn ihr wohler dabei wäre, Tim an ihrer Seite zu wissen. „Ich glaube, er wird noch etwas länger bleiben, bis Tom einigermaßen wieder auf dem Damm ist. Vorher muss ich ihn aber suchen und mit ihm sprechen. Ich möchte das alleine mit ihm klären, das ist mir wichtig.“ Emma schlang zärtlich ihre Arme um seinen Arme und schaute ihm direkt in seine Augen, während sie unvermittelt seine Hände auf ihrer Taille spürte. „Versuchst du mir gerade zu sagen, dass ich dich mit deinem Ex allein lassen soll?“, murmelte er, als er sie enger an sich heranzog, was ihr nur ein ersticktes „Ja“ entlockte, bevor sie ihren Mund auf den Seinen legte. Ihre Lippen und Zungen verschmolzen miteinander, als sie sich leidenschaftlich küssten. Emma war es bewusst, dass sie mit ihren weiblichen Reizen spielte und dass es kein besonders faires Mittel war. Normal war das überhaupt nicht ihre Art, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen und der Alkohol ließ ihre Bedenken gänzlich verdrängen. Sie wollte unter keinen Umständen riskieren, dass die Situation aus dem Ruder lief und das würde sie, wenn Tim auf Rob treffen würde oder umgekehrt. Sie musste ihn so schnell wie möglich finden, mit ihm sprechen und dafür sorgen, dass er wieder von hier verschwand.

 

Er hätte hier erst gar nicht auftauchen dürfen!

 

„Bitte“, hauchte Emma ihm zärtlich entgegen, als sie sich atemlos voneinander lösten. „Verspreche mir, dass du dich nicht einmischen wirst, ja?“ Mit einem leisen und resignierten Seufzen nickte Tim. „Ja, okay, wenn es dir so wichtig ist. Du weißt aber schon, was du da von mir verlangst? Ach verdammt, ich kann dir doch eh nichts abschlagen!“, sagte er mit einem kleinen Lächeln auf seinen Lippen. „Aber eine Bitte habe ich auch an dich, Kleines. Ich möchte, dass du mir nachher endlich erzählst, was damals zwischen euch vorgefallen ist. Du hast nie darüber gesprochen.“ Emma spürte, wie sich vor Erleichterung das Band um ihren Magen langsam löste, und war froh, darüber, dass Tim ihr vertraute. „Danke, das bedeutet mir viel und…“ Bevor sie den Satz weiter ausführen konnte, wurde sie von Tims Handy unterbrochen. Hektisch zog er es aus seiner Hose, schaute aufs Display und schnaubte. „Tut mir leid Kleines, aber da muss ich kurz ran. Aber wenn du Hilfe brauchst, bin ich hier. Ich liebe dich!“ Mit den Worten drückte er ihr noch einen schnellen Kuss auf die Stirn und schon war er wieder in ihrem Zimmer verschwunden, während sie verdutzt im Flur stand. Einen kurzen Moment lang schaute sie auf die geschlossene Zimmertür, bis sie ihre Schultern straffte und sich endlich auf die Suche nach Rob machte. Sie war entschlossen, das ein für alle Mal zu klären und ihn danach nie wieder zu sehen. Also, wo konnte er sein? Er wollte eine rauchen, hatte er gesagt und sie hoffte, dass er den Anstand besaß, es nicht in ihrer Wohnung zu tun.

 

Seit wann rauchte er überhaupt?

 

Wahrscheinlich war er vorm Haus oder auf dem Balkon. Ihr Herz und auch ihr Puls rasten, als sie sich langsam in Richtung Haustür begab. Als ihr gänzlich in ihr Bewusstsein gekrochen kam, dass der Moment gekommen war, wo es kein Zurück mehr gab und sie Rob, das erste Mal nach der Trennung, die Chance auf eine Erklärung geben würde, verschnürte es ihr augenblicklich die Kehle. Sollte sie es wirklich wagen? Noch einmal versuchte sie, vergebens eine andere Lösung zu finden, doch es gab schlicht keine. Emma schnappte sich eine Flasche Bier aus dem Kasten, der in der Diele stand, öffnete sie und trank einen großen Schluck, während Sie inständig betete, dass sie die Courage nicht verließ, sobald sie bei ihm war und dann kein vernünftiges Wort herausbekam.

 

Ganz ruhig, Emma, du wirst ihm die Chance nicht geben, dich zu verunsichern. Du packst das!, sprach sie sich selbst Mut zu, als sie nervös, mit der Hand, den Türknauf umschloss und tief durchatmete.

 

Verlorene Kontrolle

Kapitel 8

 

Verlorene Kontrolle

 

 

Rob fand sich sitzend und mit glimmender Zigarette in der Hand auf den Treppenabsatz vor Emmas Haus wieder. Ihm schwirrte der Kopf und in ihm brannte die Wut sowie der Ärger über sich selbst. Von Tom mal ganz abgesehen. Ausgerechnet er musste ihn in dieses verdammte Haus, in diese Lage und in ihre Nähe locken. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Was fiel ihm ein? Als wenn das Aufeinandertreffen im Kaufhaus nicht schon genug gewesen wäre. Warum hat er überhaupt auf den „Hilferuf“- was augenscheinlich keiner war- reagiert? Hatte er sich nicht verständlich genug ausgedrückt, als er eindringlich seinem angeblich besten Freund zu verstehen gab, dass er auf gar keinen Fall Emma wiedersehen wollte? Es war damals ein langer Kampf gewesen, nachdem er Emma schmerzhaft aus seinem Leben verbannen musste, - sie aus seinem Bewusstsein, seinem Leben zu streichen und er hatte nicht vor, sie jemals wieder dort rein zu lassen. Und dann fand er seinen Kumpel, schlafend und eng aneinander gekuschelt, mit Lotte in ihrem Bett vor. Ging es noch? Ihm widerstrebte der Gedanke, hier auf dieser gottverdammten Party solange festgebunden zu sein, bis Tom sich halbwegs von seiner Sauforgie erholt hatte, nur damit er ihn gefahrlos nach Hause befördern konnte. Aber was hielt ihn davon ab, nicht einfach zu verschwinden? Tom konnte seinen Rausch auch wunderbar hier auskurieren, oder etwa nicht? Schließlich hatte er sich doch schon bestens mit Emmas Schwester amüsiert.

 

Was fiel dem kleinen Verräter bloß ein?

 

Zum wiederholten Male fuhr er sich grob, mit einer Hand, durch die Haare und nahm gleichzeitig einen kräftigen Zug an der Zigarette, bevor er sich seine Beanie über den Kopf zog. Der Rauch kratze auf unangenehme Weise in seinem Hals und brannte in seiner Lunge, was ihm augenblicklich einen starken Hustenanfall bescherte. Keuchend schnippte er die Kippe über den Bordsteinrand auf die Straße, während er den Hustenreiz erfolglos versuchte zu unterdrücken. Prustend, mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt, hustete er sich die halbe Lunge aus dem Leib, während ihm dabei die Tränen in die Augen stiegen. Er schnappte jäh nach Luft und versuchte, weiterhin ohne Erfolg, den Hustenreiz zu unterdrücken, als er plötzlich einen Schlag zwischen den Schulterblättern verspürte. Und noch einmal … und erneut ein Treffer. Der dritte Schlag saß… Nach Luft schnappend setzte er sich auf, drehte sich um und schaute direkt in die, ihm nach all den Jahren doch noch so vertrauten, schokobraunen Augen, die ihn besorgt anschauten. Ihr Blick traf ihn unvermittelt und ungehindert in sein Herz – und zwar schmerzhaft.

„Alles Okay, Rob? Geht es wieder?“

„Ja, … Ja, passt schon“, japste er mit einer ächzenden Stimme, winkte mit einer lapidaren Handbewegung ab, womit er auch zeitgleich jeglichen Augenkontakt zu ihr abbrach. Seine Konzentration galt momentan nur genügend Luft in seine Lungen zu pumpen, ohne damit erneut einen Hustenanfall auszulösen. „Du solltest einen Schluck trinken, das…“, drang erneut ihre besorgte gar fürsorgliche Stimme zu ihm durch, was ihn nur genervt mit den Augen rollen ließ.

 

Konnte sie nicht einfach still sein?

 

„Ich weiß schon, was ich machen sollte, das braucht nicht deine Sorge zu sein“, blaffte er Emma gereizt an, die ihm eine Flasche Bier entgegenstreckte und diese abrupt wieder zurückzog. „Dann halt nicht!“ Mit verengten Augen funkelte sie ihn wütend an, während sie einen großen Schluck kühles Bier in ihre Kehle spülte.

 

Was fiel ihm nur ein, so mit ihr zu reden? Hatte er jetzt ganz seinen Anstand verloren?

 

Ihr gefiel die Tatsache schließlich auch nicht, dass er hier war. Am liebsten hätte sie ihn direkt in die Wüste geschickt, als er hier mit seiner liebenswürdigen Art aufschlug. Warum hatte sie ihn auch nicht einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen gehabt? Dann würde sie erst gar nicht in dieser misslichen Lage sein, in der sie sich gerade befand. Und weshalb hatte sie bis gerade eben noch das Bedürfnis gehabt, mit ihm reden zu wollen? Was hatte sie bloß geritten? Böser Fehler! Sollte er doch hier stehen bleiben, bis er Schwarz würde. Ihr würde schon etwas einfallen, wie sie die Konfrontation mit Tim und ihm vermeiden könnte, damit der Abend nicht vollends in einer Katastrophe endete. Aber mit Rob reden, in dieser Art, wie er es ihr bereits seit seinem Aufschlagen, entgegengebracht hatte, wollte sie unter keinen Umständen mehr. Sollte er bloß auf der Treppe sitzen bleiben, Tom würde sie ihm noch frei Haus daneben setzen, wenn er einigermaßen in der Lage dazu war – samt Lotte! Was fiel den beiden bloß ein, sich so eine Nummer zu leisten? Emma drehte sich auf den Absatz um und war schon fast an der Haustür, als sie plötzlich seine zögerliche gar sanfte Stimme vernahm: „Hast du vielleicht doch ein Schluck für mich, … Emma?“ Mit dem Rücken zu ihm gewandt, blieb sie in ihrer Haltung verharrt stehen und versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen.

 

Was war denn jetzt?

 

Eigentlich sollte sie ihn, ohne ihn weiter zu beachten, dastehen lassen. Reingehen und so tun, als wenn er gar nicht da wäre – oder besser, nicht existierte. Wie all die Jahre zuvor auch. Aber konnte sie das? Die Wut, die sie vor einem Bruchteil von einer Sekunde noch verspürt hatte, war mit einem Schlag verraucht, als seine melodische Stimme zu ihr durchdrang. Die Kälte und das Tonlose war mit einem Mal nicht mehr spürbar und brachte ihren Entschluss, ihn zu ignorieren gefährlich ins Wanken. Zudem fragte sie sich, ob sie überhaupt noch weiter die Kraft aufbringen konnte, all jenes, was seit dem Kaufhausdebakel und heute Abend geschehen war, zu ignorieren? Ob sie es schaffen würde, die Tür wieder in ihrer errichteten Mauer zu schließen und dahinter alles zu vergraben, was langsam und unterschwellig drohte, sich einen Weg nach oben zu bahnen? Oder, ob die kleinen Risse bereits zu stark waren? Wollte sie das überhaupt noch? Unschlüssig, wie sie nun reagieren sollte, biss Emma sich auf die Unterlippe und verstärkte ihren Griff um die Bierflasche. So, als wenn diese der rettende Anker wäre, um nicht in ihrem tobenden Gefühlschaos zu ertrinken, welches er, seitdem er wieder in ihr Leben getreten war, verursacht hatte. Der ganze Abend rutsche in eine absolute Katastrophe hinein. Himmel, sie sollte wohl lieber auf ihren Freundinnen hören und ihn wirklich ignorieren- das wäre schier das Beste, oder doch nicht?

 

Ach verdammt!

 

Emma hatte keine Ahnung, wie lange sie in ihren Gedanken verloren dagestanden hatte, als erneut seine sanfte Stimme zu ihr durchdrang. „Es tut mir …. Leid… Emma.“ Es war nun mehr ein Flüstern und sie hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Aber es war seine sanfte, melodische Stimme wie früher, die ihr augenblicklich einen wohligen Schauer über ihre Haut jagte. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte ihre Gefühle erneut unter Kontrolle zu bringen.

 

Keine Erinnerungen!

 

„Ich wollte dich nicht…“ Seine Stimme klang lauter, gefasster und gefährlich nahe. Erneut biss sich Emma auf ihre Unterlippe, während sie sich weiterhin nicht traute, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Wie erstarrt stand sie auf der obersten Treppenstufe, hatte ihm weiterhin den Rücken zugewandt und hielt die Flasche festumklammert, wobei sie innerlich betete, dass sie keine weiteren Risse in ihre Mauer bekam. Ihr war bewusst, dass sie irgendwie reagieren musste – dass sie augenblicklich aus ihrer Schockstarre auftauen musste, auch wenn sie sich absolut nicht in der Lage dazu fühlte. Und was dann? Wie sollte es weitergehen? Sie hatte keine Ahnung. Das Einzige, was ihr schlagartig bewusst wurde, war, dass der Moment zum Verschwinden verstrichen, und der Zeitpunkt gekommen war, wo sie sich Rob endgültig stellen musste. Mist!

Augenblicklich begann ihr Puls zu rasen und der Knoten in ihren Hals machte sich auf unangenehme Weise bemerkbar, als sie die Erkenntnis, wie ein Donnerschlag traf. Angestrengt überlegte sie, was denn gerade Verwerfliches passiert war, was sie so aus der Fassung bringen konnte. Nichts! Aber zu ihrem Leidwesen brachte es das, auch wenn ihr nicht klar war, warum.

 

„Emma, ist alles in Ordnung? So langsam…“ Die unerwartete Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter, riss sie schlagartig aus ihren Gedanken und ruckartig fuhr ihr Kopf zu ihm rum, bis ihre Blicke, für einen Bruchteil eine Sekunde ineinander verharrten. Ihr Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als sie in seine topasblauen Augen schaute und die Besorgnis, die darin lag, erkannte. Wegen ihr? Unter Garantie wäre ihr die Bierflasche aus der Hand gerutscht, wenn Rob nicht im selben Moment nach dieser gegriffen hätte. „Darf ich?“ Noch bevor Emma ein Wort herausbringen konnte, hatte er auch schon die Flasche angesetzt und nahm einen großen Schluck.

 

Das brauchte er jetzt dringender denn je. Was hatte ihn denn nun bitte geritten, dass er Emma nicht hatte einfach wieder ins Haus gehen lassen? Sie wäre in ihrer Wohnung gewesen, er hätte unbemerkt einen Abgang machen können und das Problem wäre gelöst gewesen. Zumindest für den Augenblick. Aber nein, er musste sie ja aufhalten. Wieso? Er wollte sie doch nicht sehen, nicht in seiner Nähe wissen und schon gar nicht mit ihr reden. Doch als sie ihn so wütend angesehen, sich umgedreht hatte und drohte ihn einfach da stehen zu lassen, war sein Ärger blitzartig verraucht. Es wich dem Gefühl von Angst. Angst? Rob wollte plötzlich nicht mehr, dass sie geht – ihn allein lässt; ihn verlässt. Das war doch hirnrissig…. Irrational… einfach nur bescheuert. Langsam kehrte das Gefühl des Ärgers, vor allem über sich selbst zurück, während er einen weiteren großen Schluck Bier seine Kehle runterspülte.

„Du weißt schon, dass ich von deinen Stimmungsschwankungen ein Schleudertrauma bekomme?“ Rob brach in ein schallendes Gelächter aus, nachdem er den flüssigen Inhalt in seinem Mund, prustend über Emmas Kleid verteilt hatte. „Na besten Dank auch“, brachte sie nur noch ziemlich trocken rüber, während Rob ungehemmt weiter lachte. „Naja, wenigstens kannst du bei dieser Verzehrart nicht besoffen werden“, führte sie weiter aus, wobei sie kläglich versuchte, das Bier mit der Handfläche von ihrem Kleid zu streichen. „Also, was hab` ich denn nun lustiges gesagt, dass du mich wie ein Lama anspucken musstet?“ Schmunzelnd und mit hochgezogener Augenbraue wartete sie auf Robs Antwort, während sie ihn amüsiert beobachtete, wie er weiter ausgelassen lachte. Sie hatte den Eindruck, je mehr sie sprach, umso weniger konnte er sich beruhigen. Seine Beanie war bereits auf halb acht gerutscht und drohte jeden Moment von seinem Kopf zu rutschen und seine Haarpracht zu entblößen. Ohne das es Emma bewusst oder von ihr gar gewollt war, genoss sie den Anblick, von ihrem ausgelassen und lockeren Ex-Freund. So wie sie ihn von früher kannte…. Das war ihr Rob! Es fühlte sich plötzlich so leicht und einfach an. So, als wenn es nie anders gewesen wäre. Alle Mauern, jeglicher Schmerz, verbotene Gefühle sowie Ärger waren in diesem Augenblick vergessen. Erinnerungen krochen langsam an die Oberfläche, aber sie fühlten sich überraschenderweise nicht falsch oder schmerzhaft an. Emma war es egal, was es spätestens morgen für Konsequenzen für sie haben würde. Sie ließ sich einfach dem Gefühl, das der Schwerelosigkeit gleichkam, fallen und treiben. Und ehe sie sich versah, saß sie neben Rob auf der Treppenstufe und hielt sich den Bauch vor Lachen. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als ihr Lachanfall langsam und schleichend abflachte. Auch wenn ihr der Grund bis jetzt immer noch völlig schleierhaft war, saugte sie das Gefühl der Ausgelassenheit und Leichtigkeit in sich auf. Der Donnerschlag würde sie treffen, - da war sie sich sicher – dennoch war sie gegen das Gefühl, was zwischen ihnen lag, völlig machtlos - der Vertrautheit!

 

Ihr heiteres und sanftes Lachen holte Rob in die Wirklichkeit zurück. Ließ seinen Gefühlsausbruch langsam abebben und ihn die Frau, die jetzt plötzlich neben ihm saß, fasziniert beobachten. Wann war das passiert? Seit wann saß Emma, die Frau, wie er sie von früher kannte, neben ihm? – Seine Emma! Bilder von damals tauchten unvermittelt vor seinem inneren Auge auf, wie sie sich beide ausgelassen auf seinem Bett gekugelt haben vor Lachen, weil Patty sich mal wieder unter die Bettdecke geschummelt hatte und sie halb zu Tode erschreckt hatte. Die Erinnerung zauberte ihm ein Schmunzeln auf die Lippen und es schien ihn gar nicht zu stören. Hatte er sich doch jegliche Erinnerungen an die Vergangenheit mit ihr verboten. Er wartete auf den Schmerz, der sich unvermittelt einsetzen sollte – doch er tat es nicht. Viel mehr sog er jede einzelne Bewegung, jede Regung, Mimik von ihrem wunderschönen Gesicht auf und sah, wie sich eine einzelne Träne aus ihrem Auge stahl und ihre Wange sanft hinunterlief. Ohne darüber nachzudenken, streckte er seine Hand aus, um die Träne zärtlich von ihrer Wange zu streichen. Sein Atem stockte bei der Berührung ihrer zarten Haut und sein Herz kam ins Stolpern, als Emmas wunderschöne schokobraunen Augen ihn ansahen - völlig unvorbereitet.

 

Wieso hatte er das getan? Hatte er jetzt den Verstand verloren? Was machte er hier?

 

Seine Gefühlswelt und deine Gedanken spielten völlig verrückt. Abrupt zog er seine Hand zurück und wandte den Blick ab, dabei umschlossen seine Finger die Falsche entschieden fester, denn er musste sich irgendwie wieder unter Kontrolle bekommen. Das durfte nicht sein und das sollte auch so nicht sein. Sie war seit Jahren nicht mehr seine Emma – und das würde sie auch nie mehr. Das hatte er sich geschworen.

 

Seine plötzliche Berührung – seine Haut auf ihrer, hatte Emma zurück ins Hier und Jetzt katapultiert. Ihr Herz schien momentan den Dienst zu verweigern und auch das Atmen fiel ihr bedeutend schwerer – von Bewegung gar nicht erst zu reden. Hatte er sie wirklich angefasst, oder hatte sie sich das doch nur eingebildet? Sein Finger war so schnell wieder von ihrer Wange gehuscht, so wie sie ihn gefühlt hatte. Als ihre Blicke erneut aufeinandertrafen, meinte sie, einen Funken in seinen Augen gesehen zu haben, doch auch dieser war so schnell verraucht, wie er gekommen war. Stumm saßen sie beide nebeneinander, während sich eine eigenartige Spannung zwischen ihnen aufbaute. Der Moment, der Ausgelassenheit und Leichtigkeit war verpufft und keiner wusste, wie sie damit umgehen sollten, während sich die unangenehme Stille, wie ein schleierhafter Nebel um sie legte.

 

Was war richtig? Was war falsch?


„Meinst du, Tom hat das Klo wieder freigegeben?“, versuchte Emma schließlich mit einer unsicheren Stimme, die Stille zu durchbrechen. Doch Rob, der noch immer die Flasche fest im Griff hatte, blickte nicht auf und antwortete nur mit einem „Hm“ begleitet von einem Schulterzucken. Unsicher, was sie nun anstellen sollte, damit sie aus dieser vertrackten Situation rauskam, biss Emma sich zum wiederholten Male auf ihre Unterlippe. Langsam begann es zu schmerzen.

„Wenn du so weiter darauf rum kaust, ist sie gleich kaputtgebissen.“ Oh, er redete mit ihr und als sie sich verwundert zu im wandte, lag sein unverkennbares schiefes Lächeln auf seinen Lippen.

 

Oh Himmel, konnte er das nicht sein lassen?

 

Obwohl er ebenfalls unsicher wirkte, verkannte das Lächeln, zum Ärgernis Emmas, nicht seine Wirkung. Verdammt!

„Wieso machst du das?“

„Wieso mache ich was?“, stellte er prompt die Gegenfrage und nahm einen erneuten Schluck aus der Flasche. Anscheinend war sie leer, denn kaum hatte er sie angesetzt, war sie auch schon wieder von seinen Lippen verschwunden und er stellte sie neben sich auf die Stufe. „Ich weiß momentan nicht, woran ich bei dir bin. Du wechselst deine Stimmung schneller als ein Chamäleon seine Farben.“ Emma mied den Augenkontakt zu ihm und schaute unsicher auf ihre Knie, denn viel zu sehr hatte sie Angst vor seiner Reaktion. War sie mit ihrer Frage zu weit gegangen? Wieso hatte sie es nicht auf sich beruhen lassen? Eigentlich wäre gerade eben der Moment gewesen, wo sie ganz einfach wieder ins Haus gehen, und alles hinter ihrer Mauer weiter verbergen hätte können. Aber sie saß noch immer hier und ihre Emotionen drehten ihre Runden auf dem Gefühlskarussell – so wie sie es damals schon bei Rob getan hatten. Anscheinend war, dass das Einzige, was sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Doch die Gefühle auf ihrem Karussell waren grundverschieden zu damals. Früher waren es all die schönen Emotionen, der Liebe und der Hingabe zu ihm und diesmal waren es die Sorge, die Angst und das schlechte Gewissen ihm – und auch ihr – gegenüber, und was es für sie bedeuten würde, die sie so aus der Bahn warfen. Und trotzdem konnte sie nicht einfach aufstehen und gehen. Das alles war doch total verkorkst. Allerdings schien es ihm nicht anders zu ergehen und es machte den Anschein, dass beide mit der Situation vollkommen überfordert waren. „Ich habe keine Ahnung, Emma. Du bist auch nicht gerade in der stabilsten Stimmungslage. Aber wundert es dich wirklich? Ich habe nichts vergessen… rein gar nichts!“ Seine Stimme klang hart und rau, als er den ersten Donnerschlag auf sie losließ und traf sie mit voller Wucht!

 

Verdammt!

 

Emma musste schlucken, während sie den Schmerz nur allzu deutlich in ihrer Magengrube spürte. Natürlich hatte er nichts vergessen, wie könnte er es auch. Ihr ging es nicht anders. Sie fühlte den Schmerz noch genau so, wie vor sechs Jahren und wusste bestens, was sie ihnen beiden angetan hatte. Auch wenn er es aus seiner Sicht sicher anders sah. Sie verspürte schlagartig, den eiskalten Schauer über ihren Rücken jagen, der sie augenblicklich frösteln ließ, als jene Bilder wieder deutlich – zu deutlich- nach oben krochen. „Ich weiß.“, war das Einzige, was sie mit einer heiseren und zittrigen Stimme erwidern konnte, als sie weiterhin, den Blick auf ihre Knie gerichtet hatte. Sie schaffte es nicht, ihn anzuschauen und versuchte, all die schmerzhaften Erinnerungen hinter ihre Mauer zu drängen.

 

Bitte…. Nicht!

 

„Es war nicht einfach, auf dich zu treffen. So ganz ohne Vorwarnung. Nach all den Jahren, der absoluten Funkstille, standst du einfach so unschuldig, wie eh und je vor mir. Meinst du, es ist an mir spurlos vorbeigegangen? Es strömten all die unterdrückten Erinnerungen an Dich – an uns – auf mich ungefiltert ein. Die mir sehr viel Kraft gekostet haben, sie zu verdrängen. Emma, DU hattest den Kontakt komplett abgebrochen. DU wolltest MICH nicht mehr! DU hast MICH verlassen. Wie aus heiterem Himmel und jede jegliche und nachvollziehbare Erklärung. Du warst es, die mir mein Herz gebrochen hat und mir keinerlei Chancen, es zu verstehen, gegeben hat. Und dann wunderst du dich, dass ich dich nicht mit offenen Armen und freudestrahlend begrüßt habe? Ich habe mir geschworen, dich nicht wiederzusehen, und wo bin ich? Auf deiner gottverdammten Party vor deinem Haus, weil mein bester Kumpel meint, er müsse sich halb ins Koma saufen. Entschuldige, dass ich da not amused bin.“ Donnerschlag Nummer zwei traf sie unvermittelt und doppelt so hart, als seine erste Aussage. Seine Stimme hatte all seine Wärme verloren, als er ihr seine Worte hart sowie kühl entgegenschleuderte, was ihr nur den nächsten kalten Schauer über ihre Haut jagen ließ. Sein Wortschwall trieb Emma die Tränen in die Augen, während ihr Magen sich schmerzhaft verkrampfte und sie ihre Arme schützend um ihren Bauch schlang. All jenes was er sagte, entsprach der reinen und schrecklichen Wahrheit. Sie hatte ihm alles verwehrt, aber nur, weil sie es für sie beide – aber besonders für ihn-  für das Richtige hielt. Egal wie sehr sie sich selbst damit das Herz herausgerissen hatte, hatte sie gehofft, er würde über sie irgendwann einfach hinwegkommen. Sie war damals der Meinung, ein schmerzhafter als auch endgültiger Cut, wäre das Fairste gewesen – für ihn. Doch, dass er genauso durch die Hölle gegangen war, wie sie, hatte sie sich nie vorgestellt.

 

Oder wollte sie sich das einfach nicht vorstellen?

 

Jetzt von ihm zu hören, dass es für ihn genauso schmerzhaft war und ebenso viel Kraft gekostet hatte, brachte mit einem Schlag, all jenes, woran sie sich jahrelang festgeklammert hatte, ins Wanken. Augenblicklich überrollte sie der Schmerz, der vergangenen Tage, als wenn er wieder allgegenwärtig und nie fort gewesen wäre. „Es… Rob… Ich…Weiß nicht…wie…“, sie brach mit erstickter Stimme ab. Ihr Blick war auf ihre Füße gerichtet und ihre Arme umklammerten noch fester ihren Bauch, während sie verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Was sollte sie ihm sagen? Sie wusste es einfach nicht. Emma spürte nur den Schmerz, der begann sie innerlich zu zerreißen, während sich der Drang, von hier weg zukommen, immer weiter in ihr ausbreitete. Sie musste hier weg, bevor sie völlig zusammenbrach, aber ihr Körper und ihr Geist versagten auf klägliche Weise. Regungslos, von ihren Emotionen gefangen, saß sie auf der Stufe und hatte das Gefühl, alles um sie herum würde sich zu drehen beginnen.


Rob saß noch immer stumm, den Blick nach vorne auf die gegenüberliegende Straße gerichtet und mit verengten Augen da, während er selbst völlig über seinen Gedankenausbruch überrascht war. So deutlich hatte er es noch nie ausgesprochen, wie gerade eben. Ihm selbst traf es bis ins Mark und riss schmerzhaft alte Wunden auf – die er, wie seine Seele, hinter einer Mauer verschanzt hatte. Wie er damals völlig aussichtslos auf seinem Bett gesessen hatte, nachdem Emma hinter sich für immer die Tür geschlossen hatte. Einfach so! Wie er sich aus der Schockstarre befreit hatte und ihr verzweifelt zum Flughafen hinterhergefahren ist. Und wie er am Flughafen hinter der Scheibe verzweifelt zusehen musste, wie seine große Liebe aus seinem Leben verschwunden war… für immer! Zumindest dachte er das damals. Doch jetzt saß sie neben ihm und brachte kein Wort heraus - wieder mal nicht. Sie hatte sich einfach feige aus dem Staub gemacht und hatte ihm jegliche Erklärung verweigert. Sich verweigert – so als wenn es sie nie gegeben hätte. Und nun saß sie – stumm wie ein Fisch – neben ihm, obwohl sie genau jetzt die Möglichkeit gehabt hätte, wenigstens ein wenig sich zu erklären. Aber was hatte er auch erwartet? Es würde eh nichts verändern oder etwas bringen. Es war einfach zu spät … Er wollte auch nach all den Jahren nichts mehr von all dem wissen. Schließlich hatte er damit abgeschlossen und sie genauso aus seinem Leben verbannt, wie sie es damals getan hatte. Dennoch tat es ihm, zu seiner eigenen Überraschung, gut ihr all jenes einfach mal sagen zu können, was sie ihm verwehrt hatte. Seufzend fuhr er sich mit seiner Hand durch sein zerzaustes Haar. Es war an der Zeit, mal nach seinem Kumpel zu schauen und dann von hier zu verschwinden – er hatte schon viel zu viel Zeit hier verbracht. Doch als er gerade aufstehen und gehen wollte, hörte er unvermittelt Emmas zaghafte und leise Stimme neben sich, die zu seinem Ärgernis sein Herz zum Stolpern brachte.

 

Warum?

 

Emma versuchte, die richtigen Worte zu finden, was ihr jedoch nicht zu gelingen schien, als sie abrupt abbrach. Verwundert wandte er sich zu ihr und ihr Anblick versetzte ihm unerwartet ein Stich ins Herz.

 

Verdammt! Das war zu viel! So durfte es nicht sein!

 

Emma hatte ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen, sah kreidebleich aus und ihr standen die Tränen in den Augen. Er meinte, eine Träne über ihre Wangen laufen zu sehen und befürchtete, dass sie kurz vorm Zusammenklappen war. Zitterte sie etwa?

Augenblicklich überkamen ihm Zweifel und seine Worte taten ihm leid, auch wenn sie der Wahrheit und seinen Gefühlen entsprachen. Doch Emma so verletzt zu sehen, konnte er einfach nicht ertragen – immer noch nicht. Ganz gleich, was auch zwischen ihnen lag.

 

Ach verdammt!


„Emma, ist alles in Ordnung?“ Eine noch dusseligere Frage hätte er nicht stellen können und er schüttelte über seine eigene Blödheit den Kopf, bis er ihre leise Stimme vernahm.

 „Ja, geht schon!“ Natürlich war nichts in Ordnung – rein gar nichts, das war ihm nur allzu deutlich bewusst. „Rob, hör mir bitte einfach zu… Ich kann nicht verlangen, dass du mir verzeihst oder es verstehen kannst. Damals war alles nicht so einfach zwischen uns. Und wie ich es dir damals schon versucht hatte, zu erklären...“, ihre Stimme drohte bei ihren Worten zu ersticken und Rob hatte Mühe ihr folgen zu können, während er sie wie erstarrt anschaute. Wollte sie sich jetzt etwa erklären? Nach all den Jahren? Er war genauso wenig darauf vorbereitet, wie sie wiedergesehen zu haben, und er hielt den Atem an, als er weiter versuchte, ihr zu zuhören, ohne dass seine Mauer dabei Risse bekommen würde.

 

Oder war es dafür schon zu spät?

 

Emma wusste nicht, ob sie das Richtige tat, aber sie nahm all ihren Mut zusammen, um wenigstens einen kleinen Teil zu erklären, was damals in ihr vorgegangen war. Auch wenn es aussichtslos und schmerzhaft war. „…Ich habe dich verlassen, weil ich dachte, es sei das Beste für Dich. Ich habe dich nicht verlassen, weil ich dich nicht mehr geliebt habe. Ganz im Gegenteil. Ich habe aus Liebe zu dir Schluss gemacht, weil mir klar wurde, dass ich dir für deinen Weg eine Bürde wäre. Und ich dachte, ein endgültiger Cut wäre das fairste – egal wieviel Kraft es mich gekostet hat. Sieh, wie weit du es gebracht hast. Du kannst deinen Traum leben. War es das nicht Wert?“ Die letzten Worte kamen nur noch erstickt und in keiner geringsten Weise fest über ihre Lippen. Noch immer hatte sie ihre Arme um ihren Körper geschlungen und hatte begonnen unruhig mit dem Oberkörper zu wippen. Sie hatte nicht die Stärke sowie Mut Rob bei ihrer Erklärung anzuschauen, ohne dass sie augenblicklich weinend vor ihm zusammengebrochen wäre, und das konnte sie nicht riskieren. Sie musste jetzt all ihre Kraft weiter zusammenhalten, die nötig war, um die Aussprache überstehen zu können, die sie ihm so lange verwehrt hatte. Es erinnerte sie schmerzlich an den Morgen vor ihrer Trennung – nur dass die Seiten vertauscht waren und sie jetzt kein Paar mehr waren. Weil sie es beendet hatte… Sie hatte ihnen beiden das Herz gebrochen. Egal, was es für sie danach bedeuten würde – und es graute ihr davor, aber sie musste das jetzt durchziehen. Das war sie ihm schuldig.

 

Rob saß noch immer regungslos vor ihr, und starrte sie mit einem ausdruckslosen Blick an, wobei er versuchte, ihr Gesagtes zu begreifen. Viel zu langsam sickerten ihre Worte zu seinem Bewusstsein durch und er konnte nicht fassen, was sie ihm gerade gesagt hatte. Meinte sie das tatsächlich ernst? Sie wäre für ihn eine Bürde gewesen? Er hätte sonst seinen Weg nicht gehen können? Was war denn ihrer Meinung sein Weg gewesen? Er hatte damals nicht mal einen richtigen Schimmer, ob es wirklich sein Traum war. Ja, er hatte den Wunsch verspürt gehabt, Schauspieler zu werden, aber sicher war er sich da nicht gewesen – war er bis heute nicht! Er war da mehr oder weniger hineingerutscht. Und deshalb hatte sie ihre Liebe aufgegeben? Rob spürte, wie die Wut dem Unglauben wich und er verwirrter den je war. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass ihre Liebe geopfert wurde. Ihm schwirrte mal wieder der Kopf. „Was willst du mir damit sagen, Emma?“ Sein Blick blieb weiter auf sie gerichtet, während er erwartungsvoll auf eine Antwort wartete, die ihm erneut den Boden unter den Füßen wegziehen sollte.
„Ich habe dich noch geliebt… mehr als alles andere!“ Ihre Stimme war leise, aber klar und deutlich zu verstehen. In seinem Kopf surrte es, er hörte sein Blut durch seinen Körper rauschen und er hätte schwören können, ihm wäre beinah schwarz vor Augen geworden. Doch er raffte sich schnell zusammen. Er begriff es einfach nicht. Sie hatte alles aufgeben, weil sie sich als die Falsche an seiner Seite gesehen hatte? Ohne weiter darüber nachzudenken, rückte er näher an sie ran und nahm vorsichtig ihr Gesicht in seine Hände, sodass sie ihn anschauen musste. Stumm rannen ihr die Tränen die Wangen hinunter und der Anblick versetzte ihm abermals einen bösen Stich ins Herz. Mit seiner sanften und melodischen Stimme redete er auf sie ein, während er mit dem Daumen die Tränen von ihrer Wange wischte – so wie er es früher schon gemacht hatte.

 

 „Warum hast du das getan? Wie kommst du darauf, dass du die Falsche gewesen bist, Emma? Du warst das Beste, was mir damals passiert ist. Ich versteh es nicht. All der Schmerz… all jenes was geschehen ist. Ich habe dich so sehr geliebt…“ Seine letzten Worte waren nur noch ein Flüstern und ihre Blicke verharrten ineinander, während sie eine merkwürdig geladene Spannung umgab, die kurz vorm Explodieren schien. Ihrer beider Herzen schlugen fast im Einklang, als ihre Atem flach sowie schnell gingen, während ihre Pulse rasten und er sich dabei drohte in ihren warmen braunen Augen zu verlieren. Langsam bewegte er sich auf Emmas Gesicht zu, als ihn das starke Bedürfnis, sie küssen zu wollen, schonungslos überrollte. Rob wollte nur noch ihre Lippen auf die Seinen spüren, sie schmecken und ihren Duft in sich aufnehmen – so wie damals – und nach all der verlorenen Zeit ihr wieder nah sein. Dieser eine Moment, ließ ihn all jenes, was er sich die Jahre über verboten, sie ihm angetan und er hinter seine Mauer verschanzt hatte, vollkommen vergessen und die Wand herunterfahren. Er wollte nur noch seinem Verlangen folgen, vollkommen gleich, was ihn danach erwarten würde. Seine Gefühlswelt war vollkommen aus der Bahn geraten. Mit wild hämmernden Herzen kam er ihren Lippen so nah, dass er sie schon beinah auf seinen fühlen konnte, als eine Bewegung aus dem Augenwinkel ihn in seiner Haltung verharren ließ. Alarmiert fuhr er mit dem Kopf zur anderen Straßenseite und augenblicklich verpuffte der Momente sowie die Spannung, die zwischen ihnen lag, während er die Mauer um seine Seele wieder fest verschloss. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand unter einer Laterne, ein dunkler Audi mit getönten Scheiben, der zuvor noch nicht da gewesen war und ließ augenblicklich Robs Alarmglocken in ihm laut auf schrillen.

 

Hatten sie ihn etwa schon wieder aufgespürt? Das durfte doch nicht wahr sein. Wie er das hasste!

 

Aufgebracht scannten seine Augen, im Bruchteil weniger Sekunden, die umliegenden Gebüsche und Bäume ab, aber in der Dunkelheit war nichts richtig zu erkennen. Grau blieb einfach grau. Diese ätzenden Paparazzi konnten ihn auch nirgends in Ruhe lassen. Doch es war auch sein eigener verdammter Fehler gewesen, denn er hatte sich viel zu lange im öffentlichen Raum aufgehalten. So ein verdammter Mist! Er musste schleunigst von der Straße, wenn er nicht nachher von einer Horde „Fotojäger“ umlagert werden wollte. Verärgert über sich selbst, nahm er abrupt seine Hände von Emmas Gesicht und suchte hastig sein Kram von der Treppe zusammen. „Emma, wir sollten unser Gespräch drinnen weiterführen“, sagte er deutlich kühler, als beabsichtigt, wobei er schon auf den Beinen war.

 

Emma, die im absoluten Gefühlschaos, weiterhin wie erstarrt auf der Stufe hockte, wischte sich rasch die Tränen von den Wangen, als plötzlich die Haustür aufgerissen wurde und Timothy heraus stürmte.
„Da bist du ja, Gott sei Dank“, hastete er völlig erleichtert und mit einem Hauch von Panik in seiner Stimme runter, während er Emma von der Stufe hochzog. Eilig suchte auch er die Straßen mit den Augen ab, als wenn er etwas Bestimmtes versuchte zu entdecken. Rob hingegen schaute ihn nur stirnrunzelnd an, bevor er eilig durch die Tür ins Haus trat. Der Typ kam ihm seltsam vor.

 

„Du musst sofort reingehen Emma! Du darfst dich hier nicht länger aufhalten. Komm!“ Noch während Tim sprach, zog er Emma bereits in die Wohnung hinein und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, als erneut sein Telefon klingelte. „Ich muss da ran, bitte geh nicht mehr raus. Versprich mir das.“ Völlig verdattert und irritiert nickte Emma nur stumm, als ihr Freund sich auch schon umgedreht hatte, sich dabei das Handy ans Ohr hielt und wieder in ihrem Zimmer verschwand. Irgendetwas lief hier gerade absolut nicht richtig. Timothy benahm sich total merkwürdig und sie konnte nicht bestimmen, was zu seinem Verhalten führte. Sie erkannte ihn kaum wieder. Diese Panik in seinen Augen hatte sie noch nie gesehen, aber dafür gab es doch keinerlei Anlass. Und wo war Rob plötzlich abgeblieben? Warum brach er mitten in ihrer Aussprache – Oh Gott, er wollte sie küssen und sie hätte sich küssen lassen– alles ab und wollte plötzlich auch rein?

Ihr Gefühls-; und Gedankenchaos war absolut perfekt. Dieses verdammte Karussell raste in einem Mordstempo seine Runden, während sie schwindelig darauf saß und nur noch davon abspringen wollte. Langsam glitt sie, mit dem Rücken, die Wand zum Boden herunter. Was sollte sie bloß machen? Was war gerade geschehen? Warum war es geschehen? Sie hatte keinerlei Schimmer. Ratlos und drohend in ihrem Gefühlschaos zu ertrinken, vergrub sie ihr Gesicht in ihre Hände und hoffte, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde.

 

Doch ihr war schmerzlich bewusst, dass dies nicht geschehen würde – ganz im Gegenteil! Vorsichtig zog sie die Beine an ihren Körper und schlang ihre Arme drum, als sie ihr Gesicht in die Knie vergrub, während ihre Mauer begann endgültig in sich zusammenzubrechen.

 

 

Mauern

Kapitel 10

 

Die Mauern

 

 

„Nein, alles in Ordnung.“, ächzte Rob in den Hörer, als er gerade dabei war, seinen Kumpel unterm Arm in sein Apartment zu befördern. „Ich melde mich später. Muss mich erst mal um Tom kümmern.“ Er hörte nur noch ein leises Schnauben von der anderen Seite, bevor kommentarlos aufgelegt wurde. „Ja, ich dich auch“, murmelte er genervt, während er mühsam versuchte, sein Handy in seiner hinteren Hosentasche zu stopfen, wobei Tom gefährlich zu taumeln begann und ihm beinah aus dem Arm gerutscht wäre. Abrupt fasste er ihm mit der zweiten Hand unter seine Achseln und zog ihn wieder auf Spur. Mein Gott, war der fertig. So hatte er Tom schon lange nicht mehr gesehen und das sollte wirklich was heißen, schließlich feierten sie nicht gerade wenig in letzter Zeit. Aber er hoffte, dass der kleine Verräter morgen seine Tat so richtig zu spüren bekommt. Schließlich fühlte Rob bereits die Folgen, von seiner Aktion – schmerzhaft. Mit dem Fuß ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen, als er Tom langsam zu seinem Sofa schleppte und ihn darauf sacken ließ. Sein Kumpel fiel direkt in die Waagerechte und murmelte irgendetwas Unverständliches ins kleine Sofakissen, bevor Rob ihn eine dünne Decke, die auf der Lehne lag, drüber legte. „Schon klar, Alter. Penn erst mal und kotz mir nicht die Couch voll.“

Leise aufseufzend befreite er sich von seiner Jacke, die er achtlos auf die Sofalehne schmiss, kickte seine Schuhe daneben, während er sich die Beanie vom Kopf riss und diese zur Jacke beförderte. Was war das nur für ein beschissener Abend gewesen. Er konnte es immer noch nicht begreifen, wie ihm heute geschehen war. Frustriert schritt er zur Küchenzeile und angelte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Das brauchte er jetzt dringender denn je, denn er ärgerte sich maßlos über sich selbst, wie er so die Kontrolle über sich hatte verlieren können. Er ging zurück in sein Wohnzimmer und ließ sich auf den kleinen Sessel, neben dem Sofa fallen, wo Tom bereits fröhlich vor sich hin schnarchte. Na toll! Dieser miese Verräter schlief jetzt seelenruhig seinen Rausch aus, während er mit dem Gedankenchaos, das er verursacht hatte, schlaflos im Zimmer hockte.

 

Schönen Dank auch, Tom!

 

Und das nannte sich bester Freund. Mit der Flasche in der Hand beugte er sich vor und ließ den Kopf hängen. Warum musste das alles jetzt passieren? Warum versuchten all die vergangenen Erinnerungen, sich plötzlich einen Weg hinter seiner Mauer zu bahnen? Das durfte nicht sein und er wollte das auch auf keiner Weise. Mühsam versuchte er, die Mauer um seiner Seele zu erhalten, doch nach dem Gespräch mit Emma, blitzte immer wieder etwas hindurch, auch wenn es nur für einen winzigen Moment war, aber er spürte es dafür umso deutlicher. Verdammt!

 

Sein Leben war seit Monaten komplett aus der normalen Bahn geraten, nachdem Twilight so ein Erfolg geworden war und die Medien, Fans und Paparazzi sich, wie die Geier auf ihn stürzten. Er hatte schon mehr als genug Mühe, sich daran halbwegs zu gewöhnen, und hatte erst vor ein paar Tagen beim Remember Me Dreh, auf die unangenehmste Weise feststellen müssen, wie viel Schlimmer der Wirbel um seine Person wurde. Der Schock saß ihm noch immer in den Knochen und ließ ihn innerlich erschauern, wenn er nur daran dachte. Rob verschreckte dieser ganze Hype und verunsicherte ihn viel mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Die Schattenseiten seines Erfolges setzten ihm mehr zu, als ihm lieb war und hatte weitreichende Folgen, die er gerne gemieden hätte – nicht nur seinetwegen. Sondern wegen seines ganzen Umfelds. Familie und Freunde, alle die ihm lieb waren, wurden mit seinem Erfolg mit auf die Radarliste der Pressegeier gesetzt. Personen, die es sich nicht mal ausgesucht hatten - so wie er, als er sich für die Schauspielerei endgültig entschieden hatte, mussten mit den Konsequenzen seiner „Berühmtheit“ leben. Wie er das Wort verabscheute. Er sah sich nicht als „Star“ oder als „Der Edward“ – er war einfach der Typ von nebenan, der seiner Passion nachging, und mehr wollte er gar nicht. Weniger Erfolg hätte ihm auch gereicht. Frustriert fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und spülte sich ein großen Schluck Bier die Kehle runter. Nachdem der Dreh in New York endlich beendet war, hatte er sich hart bei seiner Managerin eine kurze Auszeit erkämpft. Rob wollte einfach aus dem Spießrutenlauf, den es in den USA gab, flüchten und für ein paar Tage in London – bei seiner Familie und Freunden- Kraft tanken. Ein wenig Normalität zurückbekommen. Doch auch hier, wurde er direkt auf der Straße erkannt und auch die Paparazzi lauerten ihm auf, es war zwar ruhiger und etwas gelassener, allerdings war er dennoch, fast unter Dauerstrom und es hatte nichts mehr mit einer Normalität zu tun. Das war jetzt sein neues Leben! Tja und zu allem Übel, stolperte dann noch aus dem Nichts seine vergangene Liebe –Emma- zurück in sein Leben und mischte sein Gefühlschaos noch mehr durcheinander. Ihm schwirrte, wie schon so oft in den letzten Tagen, der Kopf.

 

Heute, nach sechs verdammten Jahren, aus ihrem Mund, den wahren Grund für die Trennung zu hören und ihr Anblick, wie sehr auch ihr die Situation zusetzte, hatte ihn für einen Moment alles vergessen und die Mauer runterfahren lassen. Es zählte nur der Augenblick mit ihr – so wie es früher war – und genau das wollte nicht in seinen Kopf. Wie konnte er das nur zulassen? Er verstand es nicht, aber er konnte auch ihre Worte nicht begreifen. Sie wollten sich einfach nicht in sein Hirn manifestieren. Langsam kroch die Wut, über sich selbst und Emma, wieder in ihm empor. Erstens, dass sich ihre Wege erneut gekreuzt hatten und sie dann unbedingt das Bedürfnis verspürt hatte, sich ihm nach all den Jahren erklären zu müssen. Damit ja alles langsam an die Oberfläche gekrochen kam.

 

Warum verdammt?! Es war doch gut so, wie alles lief!

 

Zweitens ärgerte er sich maßlos über sich, dass er sich hatte so von den vergangenen Emotionen, den Erinnerungen, ihrem Anblick – sie sah so wunderschön aus – hatte leiten und ihn alles hatte vergessen lassen. Er war verdammt noch mal kurz davor gewesen Emma zu küssen. Nein! Das würde ihm nie wieder passieren. Er würde sie auch nie wiedersehen, dafür würde er sorgen. Wie auch? Schließlich lebte er mehr in Los Angeles als hier in London. Problem gelöst! Er musste es nur noch schaffen, die kleinen Risse, die Emma heute in seiner Mauer hinterlassen hatte, wieder zu schließen. Das, was heute zwischen ihnen geschehen war – dieser winzige Augenblick – war einfach der aufgewühlten und einmaligen Situation geschuldet. Das hatte rein gar nichts, mit alten und neu aufflackernden Gefühlen zutun. Zumindest bei ihm nicht – da war er sich sicher. Denn das, was Emma ihm angetan hatte, konnte er nicht vergessen oder gar verzeihen. Dafür war es zu spät! Vor Jahren hätte er alles für ihre Liebe getan, aber das war schon lange vorbei. Ihre Liebe war vergangen. Sie hatte sie damals „geopfert“. Das Wort und die Erkenntnis, dass sie ihn nicht einfach hatte fallen lassen, versetzte ihm kurzweilig einen Stich in die Brust, den er aber schnell wieder von sich abschüttelte. Nein, die Erklärung sowie ihr Anblick änderten rein gar nichts. Das hatte er sich geschworen und daran hielt er eisern fest. Keine Emma… Keine Seele… Keine Macht über ihn. Nie wieder!

 

Erleichtert, dass wegen einer nichtigen Bewegung, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte, nichts geschehen war, was er im Nachhinein bereut hätte, fischte er sich eine Zigarette aus seiner Tasche und zündete sie an. Er hatte heute trotz allem kurzweilig das Glück auf seiner Seite gehabt, denn es hatten ihm doch keine Paparazzi aufgelauert gehabt. So konnte er, als er endlich im Haus einen klaren Gedanken fassen konnte, sich Tom schnappen – der wieder bei Lotte im Bett lag – und von der gottverdammten Party verschwinden. Emma war ihm Gott sei Dank nicht mehr über den Weg gelaufen, als sie sich unbemerkt aus dem Staub gemacht hatten. Er war mehr als froh, dass es so glimpflich für ihn abgelaufen war, denn es war nicht auszudenken, wenn sie ihn in der fraglichen Situation abgelichtet hätten und die Bilder um die Welt gegangen wären. Wie hätte er das seiner Freundin nur erklären sollen?

 

Kräftig den Rauch inhalierend, schüttelte er die Erinnerungen und Emotionen des Abends von sich ab und verbannte all jenes hinter seiner Mauer, bevor er sich entspannt zurück an die Sessellehne fallen ließ. Vorsichtig zog er sein Handy aus der Tasche, trank einen weiteren Schluck Bier, als er die Nummer von Kristen wählte.

 

 

 

********************

 

 

 

„Weißt du, was mit Emma los ist?“ Die Stimme von Timothy drang langsam zu Ilkas Bewusstsein durch, die völlig zerknautscht am Tisch im Wohnzimmer saß und den Kopf auf ihren Händen abgestützt hatte, während sie mit zwei Fingern, sanft ihre Schläfen massierte. Die Feier und der Alkohol zollten ihren Tribut, obwohl sie kaum etwas getrunken hatte, dröhnte ihr dennoch der Schädel, als wenn sie allein einen halben Kasten Bier leergezogen hätte. Nachdem sie endlich die letzten Gäste verabschiedet hatte, und ihre Freundinnen sowie Lotte, wie vom Erdboden verschluckt schienen, war sie erst mal ins Wohnzimmer zurückgeflüchtet, um sich einen Moment ausruhen zu können, ehe sie das Chaos beseitigen wollte. Aber der stechende Schmerz, direkt über ihren Augen, brachte sie schier um, sodass sie schon eine ganze Weile an dem Tisch saß und erfolglos versuchte, ihre Kopfschmerzen weg zu massieren. „Ilka, hörst du mich?“ Vorsichtig und gegen das grelle Licht blinzelnd, dass von der Deckenlampe in ihre Augen fiel, richtete sie ihren Blick auf den Freund von Emma, der sich mittlerweile direkt neben ihr befand und sie ungeduldig sowie besorgt anschaute. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie irritiert, direkt in das sorgenvolle Gesicht von Tim, als sie eine Welle der Übelkeit überrollte. Augenblicklich rieb sie sich mit einer Hand die Augen und betete inständig, dass sich ihre Kopfschmerzen nicht zu einer Migräne entwickeln würden, während sie dabei versuchte, zu verstehen, was Tim von ihr wollte. „Entschuldige, ja klar“, brachte sie schließlich leise hervor, als sie ihren Blick wieder auf ihn richtete. Timothy stand vor ihr und hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben, und wirkte schier ratlos sowie nervös auf sie, bevor er aufgeregt weitersprach: „Weißt du etwas?“ Weiterhin absolut irritiert darüber, was der Freund von ihrer Freundin von ihr wollte, starrte sie ihn noch immer mit zusammengekniffenen Augen an. Das Licht stach wie kleine Nadelstiche in ihren Augen und sie hatte Mühe, Tim folgen zu können. „Ilka, bitte. Ich muss es wissen. Ich mach mir Sorgen“, aufgewühlt redete er auf sie ein, wobei er den Stuhl der hinter ihm stand, zu sich ran zog und sich direkt vor ihr platzierte. „Ich komme gerade zurück, nachdem ich Cath und Joshua zu mir nach Hause gebracht habe, und finde Emma völlig merkwürdig in ihrem Zimmer vor. Sie reagiert auf nichts mehr.“ Er hatte sich mit dem Oberkörper zu ihr vorgebeugt und schaute sie eindringlich an, als wenn er eine Antwort von ihr heraufbeschwören wollte.

 

Was war hier los? Was stimmte mit Emma nicht?

 

Ilka begriff es immer noch nicht, aber Tims Art und die ausgeprägte Besorgnis, die in seiner Stimme lag, ließ ihre innere Alarmglocke auf die höchste Bereitschaft stellen. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich dachte, sie wäre bei dir. Was willst du mir damit sagen, sie reagiert auf nichts mehr?“, fragte Ilka, während sie seinen Blick erwiderte und dabei mit dem Finger weiter ihre rechte Schläfe massierte. Tim hatte die Hände auf seinen Oberschenkeln abgestützt und seufzte leise auf, als er seinen Rücken leicht durchbog. Es machte den Eindruck, als würde er nach den richtigen Worten suchen und seine Ungeduld versuchen zu bändigen. „Ich weiß nicht. Sie sitzt auf ihrem Bett und ist nicht ansprechbar. Nicht einmal auf meine Berührung, als ich sie mehrmals angesprochen habe, hat sie eine wirkliche Reaktion gezeigt. Sie wirkt wie in einer Trance. Ich mach mir echt Sorgen. Ist irgendwas passiert, als ich weg war? Wenn du was weißt, Ilka, du musst es sagen.“ Seine Augen waren weiterhin eindringlich und fast schon flehend auf ihr gerichtet, als sie meinte, ein Funken Panik darin zu erkennen. Verdammt, was war hier los? Angestrengt ließ sie den Abend schnell im Gedächtnis Revue passieren, um eine mögliche Erklärung für Timothys Auftreten zu bekommen. Doch sie fand keinerlei Hinweis, der in irgendeiner Form seine Angst um Emmas beschriebenen Zustand, geben würde. Es war eine ganz normale, ausgelassene und feucht-fröhliche Party gewesen, mit keinen besonderen Vorkommnissen – außer Joshua. Ilka seufze leise auf, als sich sein Bild vor ihrem inneren Auge schob und schüttelte dieses schnell wieder von sich ab. Ihre Freundin hatte sich bestens mit ihnen amüsiert und…. Halt! Bis plötzlich Rob hier aufgeschlagen war, aber das hatte Emma doch auch, zu Ilkas Verwunderung, gut gehändelt. Als sie ihre Freundin das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ihm ordentlich Paroli gegeben und war sogar gelassen vor ihm gestanden – zu gelassen? „Tim, wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“ Ilkas Alarmglocke begann leise zu schrillen, als sich schleichend die Erinnerungen von Emmas Verhalten aus der Vergangenheit wieder in ihr Bewusstsein schlichen – das war nicht gut. „Äh, kurz bevor ich Cath und Joshua gefahren habe. Sie kam gerade aus dem Bad. Hatte mich verabschiedet.“

 

„Wie war sie da drauf?“, hakte Ilka prompt nach und ließ Tim kaum Zeit zum Nachdenken. Ihr Schädel dröhnte zwar immer noch und sie spürte weiterhin eine unterschwellige Übelkeit, aber die wachsende Besorgnis um ihre Freundin, ließ ihr Unwohlsein in den Hintergrund rücken. Denn wenn das Verhalten wirklich mit ihrem Ex zusammenhing, dann hätten sie tatsächlich ein Problem. Tims Beschreibung glich ihrem Verhalten erschreckend zu dem von vor sechs Jahren.

 

„Sie war ruhig und sah fertig aus. Sie meinte, sie wäre einfach nur müde und würde zu Bett gehen. Da habe ich auch nicht dran gezweifelt. Hätte ich das sollen? Ilka, was ist hier los? Du verschweigst doch was.“ Natürlich bemerkte er den Wandel von ihr und auch die Besorgnis, die sie selbst ergriffen hatte. Aber Ilka würde ihm nichts von ihrer Vermutung sagen, so lange sie nicht selbst sicher sein konnte. Was war nur, nachdem sie mit Rob aus dem Wohnzimmer gerauscht war, passiert? Ohne auf seine Fragen einzugehen, ließ sie die Nächste auf ihn los, denn sie musste wissen, was in der Zwischenzeit vorgefallen sein konnte. „Tim, hast du sie vorher noch gesehen gehabt?“ Verwundert über ihre Frage runzelte er die Stirn, während er sich mit dem Rücken gegen die Stuhllehne sacken ließ. „Ja, sie war draußen vor der Tür mit ihrem Ex. Sie wollte irgendetwas mit ihm klären, glaub ich und…“

 

„Mit Rob?“, unterbrach sie ihn erschrockener als beabsichtigt, als in ihr alle Alarmglocken unüberhörbar laut auf schrillten und sie die Erkenntnis traf, dass sich eine Katastrophe angebahnt hatte, von der sie nichts mitbekommen hatte. Ilka hatte zwar keine Ahnung, was zwischen Rob und Emma vorm Haus vorgefallen war, aber es musste definitiv etwas geschehen sein, was ihre Freundin aus der Bahn geworfen hatte. Verdammt noch mal. Eigentlich hätte sie sich das doch denken können. Was war sie nur für eine Freundin?

 

„Ilka! Jetzt sag mir endlich, was hier los ist“, riss sie Timothys ungeduldige sowie drängende Stimme aus ihren Gedanken, wobei sie den Blick von ihm nahm und auf stand. „Ich weiß nicht, was los ist. Aber ich werde es rausbekommen.“ Während Ilka versuchte, den stechenden Schmerz in ihrem Kopf zu ignorieren, der stärker gegen ihre Stirn pochte, machte sie sich eilig auf den Weg in Richtung Küche, wobei sie Tim achtlos auf den Stuhl sitzen ließ. Sie brauchte erst einmal eine Kopfschmerztablette und musste schleunigst Bridget finden, um sie über Emmas Zustand zu informieren, damit sie überlegen konnten, wie sie weiter vorgingen. Die Beschreibung von Emmas Verhalten und die Bestätigung ihrer Vermutung, dass es mit ihrem Ex zu tun hatte, bereitete ihr Angst. Es erinnerte viel zu stark an die Zeit nach der Trennung, und diese hatte einem emotionalen Kampf geglichen, Emma wieder aus ihrem Loch zu holen. Und Gnade Gott, wenn Robert Pattinson ihrer Freundin heute Abend, irgendetwas angetan hatte – ganz gleich in welcher Form – dann würde er es höchstpersönlich mit ihr zu tun bekommen.

 

Ilka fischte gerade den Blister Tabletten aus der Schublade, als Timothy aufgebracht in die Küche gerannt kam. „Du kannst mich doch da nicht einfach sitzen lassen und mir nicht eine einzige Frage beantworten“, schimpfte er, als er sich direkt vor ihr aufgebäumt hatte und ihr einen verärgerten Blick zu warf. Einen Moment überlegte sie, was sie ihm sagen konnte, ohne eine weitere Katastrophe herbeizuführen, denn Tim war ein Beschützertier. Das wusste sie, und wenn sie ihm jetzt erklären würde, wie Emmas Zustand womöglich zustande gekommen war, würde ihr Freund garantiert Rob zur Rechenschaft ziehen. Und das, obwohl noch keiner eine Ahnung hatte, was genau zwischen den Beiden geschehen war. Außerdem wollte sie nicht über Emmas Kopf hinweg entscheiden und ihn in Kenntnis setzen, was seine Freundin damals durchgemacht hatte. Nein, das musste Emma entscheiden, was und wie viel sie Timothy erzählen wollte, da mischte sich Ilka nicht ein. Also entschied sie, ihm nur das Nötigste zu erzählen, ohne dabei Lügen zu müssen, aber ihn dennoch ein wenig beruhigen zu können. „Ich kann dir all deine Fragen nicht beantworten, weil ich es selbst nicht weiß. Aber ich ...“

 

„Hat es mit diesem Robert zu tun?“, donnerte er los und Ilka verharrte einen Bruchteil einer Sekunde in ihrer Haltung, während die Tablette, mit einem leisen Klack, auf die Anrichte fiel, die sie gerade dabei war aus der Packung zu lösen. „Kann ich dir nicht sagen. Wie gesagt, ich weiß es nicht.“ Ihre Stimme klang leise aber dennoch überzeugend, obwohl sie angestrengt nach den richtigen Worten suchte, was sie genau sagen konnte, ohne dass er noch misstrauischer wurde. Ilka griff nach einem sauberen Glas aus dem Schrank und füllte es mit ein wenig Wasser, bevor sie das Aspirin, mit einem großen Schluck, herunterspülte. Irgendwie musste sie Timothy erst mal aus der Wohnung bekommen, denn so lange er hier rumschwirren und Fragen stellen würde, würde sie sicher keine Chance haben, an Emma heranzukommen. Ilka war sich sicher, wenn ihre Freundin sich Tim anvertrauen hätte wollen, hätte sie irgendwie auf ihn reagiert. Sie befürchtete zudem, dass sie selbst auch auf Granit beißen würde, so wie die vergangenen Jahre schon, aber sie musste es mit Bridget versuchen, schließlich waren sie immer für sie da. Entschlossen drehte sie sich zu Tim um, der sie immer noch mit einem verärgerten Blick anschaute und seine Hände wieder in seinen Hosentaschen vergraben hatte, wobei man die Anspannung an seinen Armen, die eng an seinen Oberkörper gepresst waren, erkannte. Er schien seine Ungeduld und gleichzeitig seine Verärgerung krampfhaft verbergen zu wollen, doch Ilka spürte sie nur zu deutlich. „Tim, ich weiß, du bist beunruhigt und machst dir Sorgen. Aber ich denke, es ist besser, wenn du ihr Zeit gibt’s, ja? Emma ist ein Mensch, der vieles mit sich ausmacht und dafür braucht sie wirklich Ruhe. Glaub mir, sie wird zu dir kommen, wenn sie mit dir reden möchte. Das mussten wir, als ihre Freundinnen auch lernen. So ist sie nun mal.“ Mit einer sicheren Stimme versuchte sie, den Freund ihrer Freundin davon zu überzeugen, dass es kaum einen Grund zur Besorgnis gab, obwohl in ihr selbst die Sorge mit jeder Minute wuchs. Doch sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie in Emmas Sinne handelte, ohne dabei wirklich Lügen zu müssen.


Was ein Spagat-Akt!


„Fahr nach Hause zu deiner Cousine und Joshua. Kümmere dich um die beiden. Bridget und ich haben ein Auge auf Emma. Und ich verspreche dir, wenn es wirklich einen Grund zur Sorge gibt, werde ich mich direkt bei dir melden. Aber heute Nacht kannst du nichts ausrichten. Gib ihr einfach Zeit!“

 

Tim schaute sie ungläubig an, während er versuchte, zu begreifen, was Ilka ihm gerade nahegelegt hatte. Er sollte einfach gehen und seine Freundin in diesem Zustand zurücklassen, während er grübelnd und voller Sorge zuhause sitzen würde? Ganz bestimmt nicht. Außerdem hatte er viel zu sehr Angst, dass irgendetwas vorgefallen sein könnte, was nicht zwingend mit ihrem Ex zu tun haben musste. Der wäre das kleinere Übel – da war er sicher, schließlich war es schon eine Ewigkeit her. Dass würde Emma sicher nicht so aus der Bahn werfen, oder? Er musste verdammt noch mal wissen, was passiert war. Diese Ungewissheit fraß ihn innerlich auf, während die Angst sich immer weiter in ihm ausbreitete. Was wenn…? Aber er hatte doch …! Er unterdrückte die Gedanken und fuhr sich mit der Hand durch sein Gesicht. Ja, mit einer Sache hatte Ilka recht. Wenn seine Freundin sich ihm anvertrauen hätte wollen, dann wäre sie doch auf seine Bemühungen eingegangen, aber sie hatte ihn ignoriert. Und dass sie ein Mensch war, der vieles mit sich selbst ausmachte, war ihm – zu seinem Leidwesen – schon ein paar Mal bewusst geworden. Die Chance, dass Emma ihre Freundinnen eher an sich ranlassen würde, war deutlich größer als bei ihm selbst. Schließlich waren sie schon seit Kindertagen befreundet und er hatte immer gespürt, was die drei für ein enges Band mit einander verbunden hat. Ihm widerstrebte der Gedanke, nach Hause zu fahren und nicht für Emma da sein zu dürfen und vor allem im Ungewissen zu bleiben, was seine Freundin so verstört hatte. Wenn es wider erwartend doch dieser Robert gewesen sein sollte, dann könnte der sich auf was gefasst machen. Frustriert seufzte er auf und strich abermals durch sein Gesicht, bevor er Ilka das Versprechen abnahm, dass sie sich umgehend bei ihm melden sollte, wenn nur der kleinste Grund zur Sorge bestand. Widerwillig und mit einer inneren Unruhe verabschiedete er sich bei ihr, und machte sich auf dem Weg nach Hause, während Ilka sich noch einmal mit kalten Wasser ihr Gesicht wusch. Das Aspirin wirkte schnell und der Schmerz in ihrem Kopf war nur noch dumpf spürbar, doch auch wenn er noch immer so präsent wäre, wie vor wenigen Minuten, würde sie sich genauso um ihre Freundin kümmern. Entschlossen sowie besorgt schritt sie eilig aus der Küche, um endlich Bridget zu informieren.

 

Wenige Minuten später stand Ilka mit Bridget, die nur im Morgenmantel bekleidet war, im Flur und redete besorgt auf sie ein. „Moment, Ilka! Mach mal langsam, ich versteh nichts, von dem, was du sagst. Was ist passiert?“ Noch vor ein paar Augenblicken lag sie mit ihrem Freund im Bett, der sie schier mit seinen Händen und Lippen in den Wahnsinn getrieben hatte, bis unvorhergesehen ihre Freundin in ihr Zimmer gestürmt war. Peter hatte nur noch die Chance gehabt, eilig die Decke über seinen entblößten Hintern zu werfen, als Ilka, mit den Händen vor Augen, bereits vor ihrem Bett aufgetaucht war. Sie sah die Besorgnis im Gesicht ihrer Freundin und augenblicklich überkam sie dasselbe Gefühl, denn wenn Ilka einfach ins Zimmer platzte, dann musste was passiert sein. „Emma hat anscheinend einen Zusammenbruch“, ließ sie den Donner auf Bridget los, welcher diese kalt erwischte und sie nur ein erschrockenes „Wie bitte?“ hervorstieß.


„Ich weiß auch noch nicht mehr. Tim hat mich gerade völlig besorgt aufgesucht. Nach seiner Beschreibung sitzt Emma auf dem Bett und reagiert nicht mehr. So in etwa wie damals. Irgendwas muss zwischen ihr und Rob heute Abend vorgefallen sein… Wir müssen was machen. Ich hab Tim schon nach Hause geschickt, damit wir Ruhe und Zeit haben. Aber ich…“

 

„HALT. ROB?“, unterbrach Bibi sie mit einem lauten sowie verwunderten Ausruf, wobei sie die Augen weit aufgerissen und die Arme auf den Hüften gestemmt hatte. Sie begriff gerade gar nichts. Wieso Rob? Irgendwas Entscheidendes schien ihr auf der Party entgangen zu sein. Und wovon sprach Ilka da – was für ein Vorfall und warum Zusammenbruch? Langsam versuchte sie, die Worte ihrer Freundin zu ordnen, während die Sorge um Emma immer weiter in ihr emporkroch. „Ja, er war hier. Hast du ihn nicht gesehen? Emma hatte die Lage auch im Griff. Zumindest wirkte es so auf mich. Aber Tim sagte, sie hätte was mit ihm vorm Haus klären wollen. Mehr weiß ich auch nicht. Nur, dass er sie wie gesagt später so vorgefunden hat. Bibi, ich hab echt Angst, dass es von vorn losgeht.“

 

„Hast du sie schon gesehen?“ Bibi, die sich aus ihrer Starre befreit hatte, straffte die Schlaufe um ihren Morgenmantel, bevor sie sich zu ihrer Zimmertür drehte und diese einen Spalt öffnete. Ohne auf die Antwort von Ilka zu warten, steckte sie den Kopf in ihr Zimmer und wollte Peter Bescheid geben, dass es länger bei ihr dauern würde, doch der schlief schon seelenruhig. „Nein, ich hab dich sofort gesucht. Was machen wir denn jetzt?“ Ilka stand unsicher vor ihr und nestelte unruhig an ihren Fingern, während sie auf die Antwort von ihrer Freundin wartete. Bibi war diejenige, die meist die Initiative ergriff, auch wenn sie oftmals los polterte, während Ilka meist die Grübelnde und Besonnenere von beiden war. Leise zog Bridget die Tür zu und schritt an ihrer Freundin vorbei, wobei sie ihre Hand ergriff und sie mit sich zog. „Wir gehen uns jetzt ein Bild von Emma machen. Und dann hoffe ich, dass wir diesmal eine Chance haben, zu erfahren, WAS Robert Pattinson mit unserer Freundin gemacht hat. Sowohl vor sechs Jahren, als auch Heute, dass sie in so einer Verfassung ist. Und ich sag dir eins Ilka, der Herr kann sich warm anziehen, wenn er ihr wieder wehgetan hat!“, stieß sie aufgebracht hervor, während sie mit ihrer Freundin im Schlepptau, den Flur entlang stolzierte. Der Gedanke, dass dieser Herr, wie sie ihn bezeichnete, hier auftauchte und Emma ins Chaos stürzte, brachte sie regelrecht in Rage.

 

Was fiel dem nur ein? Warum hatte sie ihn nicht gesehen? Und warum verdammt noch mal, war Emma nicht zu ihnen gekommen?

 

Sie hätte ihm schon das Loch gezeigt, was der Maurer gelassen hatte, wenn sie mitbekommen hätte, dass er ihrer Freundin nicht guttat. Schnaubend kam sie vor Emmas Zimmertür zum Stehen und versuchte, ihre aufgebrachten Gefühle wieder runterzufahren, denn ihr war bewusst, dass diese mehr als unangebracht waren. Sie musste es schaffen, genauso die Ruhe zu bewahren, wie es auch Ilka tat. Diese stand neben ihr und schaute sie nervös an, bevor sie ihre Bitte aussprach: „Bitte, nicht los poltern.“

„Natürlich nicht. Du kennst mich doch.“

„Ja, deswegen ja…“ Ohne weiter auf Ilkas Worte einzugehen, öffnete sie leise die Tür und machte zögerlich einen Schritt in das dunkle Zimmer. Nur das Mondlicht sowie die Straßenlaterne, die durch das Fenster schienen, erhellten sanft den Raum und Bibis Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Unruhig ließ sie ihren Blick durch den Raum gleiten, bis sie Emma auf ihrem Bett sitzen sah. Augenblicklich katapultierte sie der Anblick ihrer Freundin, in die Vergangenheit und schonungslos überrollte sie das beklemmende Gefühl sowie die Hilflosigkeit von damals. Ilka schien es bei Weitem nicht anders zu ergehen, als sie sich direkt neben Bibi gesellte und ihr ein leises und gleichzeitig entsetztes Schnaufen entwich. Tim hatte, zu ihrem Bedauern, nicht übertrieben, als er ihren Zustand beschrieben hatte – eher im Gegenteil. Emma saß, mit dem Rücken zu ihnen gewandt, mittig auf ihrem Bett, hatte die Arme um ihre Beine geschlungen, die sie eng an ihren Körper gepresst und ihr Kinn auf die Knie gelegt hatte, während ihr Blick zum Fenster gerichtet war. Vorsichtig machte Bibi ein Schritt aufs Bett zu, um einen Blick auf ihr Gesicht werfen zu können, wobei sich das beklemmende Gefühl unaufhörlich in ihr weiter ausbreitete. Ihre Freundin starrte mit einem leeren Blick hinaus ins Freie, während ihr Atem flach aber zittrig ging und Bibi meinte, Tränen über ihrem Gesicht schimmern zu sehen.

 

Verdammt, was hatte Emma so aus der Bahn geworfen?

 

Ratlos und zeitgleich schockiert, über den fast schon desolaten Zustand von Emma, wandte sie sich zu Ilka, die ihren besorgten Blick erwiderte. Beiden schnürte es ihnen die Kehle zu und versetzte ihren Brüsten einen Stich, ihre Freundin so leiden zu sehen, während sie dastanden und schweigend überlegten, was sie machen sollten. Keiner von beiden war auf Emmas augenscheinlichen Zusammenbruch vorbereitet gewesen und hatten nicht damit gerechnet, dass sie jemals wieder in diese Situation kommen würden. Emma schien ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken, während sie weiter regungslos auf der Matratze kauerte und ins „Nichts“ starrte. In dem Moment, als Bridget gerade Ilka ansprechen wollte, vernahm sie plötzlich ein leises Aufschluchzen und Wimmern hinter sich, was sie augenblicklich erstarren und die Wut schlagartig wieder aufkeimen ließ.

„Oh, Rob!“

 

Trümmerfeld

KAPITEL 11

 

Trümmerfeld

 

 

Das Mondlicht, was sanft mein Zimmer erhellte, brach sich an dem gläsernen Lampenschirm auf meinen Schreibtisch, worauf ich mit tränenerfüllten Blick starrte. Ich saß mit den Beinen, eng an meinen Körper gepresst und die Arme drum geschlungen auf meinem Bett, hatte das Kinn auf meine Knie gebettet, während mich all der Schmerz, der vergangenen Jahre, innerlich zerriss. Er hatte mich mit voller Wucht überrollt und ließ mich nicht mehr los, als all die Erinnerungen mit einem Schlag ungefiltert auf mich herein prasselten und meine Mauer durchbrachen – sie zu Fall brachten. Als ich aus seinem Mund den Schmerz wahrnahm, der darin lag und das Leid in seinem Gesicht gesehen habe, den ich damals herbeigeführt hatte – wurde alles, woran ich mich all die Jahre festgeklammert hatte, wie von einem kräftigen Sog von mir weggezogen. Plötzlich war nichts mehr von dem da, woran ich geglaubt und krampfhaft festgehalten hatte, um den Schmerz, der mich nie wirklich losgelassen hatte, ertragen und verbannen zu können, damit ich überhaupt eine Chance hatte zu überleben. Es hatte mich schonungslos in die Vergangenheit katapultiert und ließ mich alles erneut schmerzhaft durchleben, als wenn keinerlei Zeit seitdem vergangen wäre. Mich hatten die letzten Tage, seit unserem ersten Zusammentreffen, schon so viel Kraft gekostet, nichts an Emotionen und Erinnerungen, an die Oberfläche kommen zu lassen, die sich immer wieder versucht hatten, durch die Mauer zu kämpfen, doch es war kein Vergleich zu dem, was unser Gespräch in mir ausgelöst hatte. Alles fiel, wie ein Kartenhaus in mir zusammen, welches augenblicklich von einem Hurrikane, der in mir tobte, davon gewirbelt wurde. Ich war nicht länger fähig, all die Bilder, Gefühle und Schmerzen weiter zu verdrängen, die mich mit so einer Härte in meinen Kopf, Magen und im gesamten Körper getroffen hatten – oder gar die Mauer langsam wieder zu errichten. Ich umklammerte meine Beine noch fester und presste meinen Körper dagegen, als wenn es mich vor dem Ertrinken aus meinen Gefühlschaos retten könnte - als sich abermals Robs Bild vor mein inneres Auge schob, wie er mir sein schiefes Lächeln schenkte und sich unvermittelt mit dem Mann, der heute Abend neben mir auf der Treppenstufe gesessen hatte, vermischte. Mein Herz setzte einen Moment aus, als ich den schmerzhaften Stich darin nur allzu deutlich spürte. Ich hatte damals alles weggeworfen, hatte seine Liebe – unsere Liebe – keine Chance gegeben, weil ich meinen Ängsten viel mehr getraut, als mir selbst vertraut hatte.

 

War ich damals wirklich nicht in der Lage gewesen, den Veränderungen die vor uns standen, zu bewältigen? Wo wären wir, wenn ich damals nicht diese fatale Entscheidung getroffen hätte? Wären wir noch ein Paar? Wäre er jetzt der gefeierte Star, oder wäre er wirklich, auf Rücksicht auf mich, seine Karriere anderes angegangen?

 

Ich hatte alles geopfert, damit ich ihm nicht im Wege gestanden hatte… Und schon damals, als ich im Flugzeug gesessen hatte, hatte ich gespürt, wie schrecklich falsch meine Entscheidung gewesen war, doch ich war nicht in der Lage gewesen, diese wieder rückgängig zu machen – für ihn. Viel mehr hatte ich meine Gefühle und meine Liebe zu ihm, mir verboten und weggeschlossen, als wenn es sie nie gegeben hätten, um den Verlust und die Entscheidung irgendwie verkraften zu können. Dabei hatte ich mir selbst eingeredet, dass es genau der richtige Weg war und er leicht über mich hinwegkommen würde. Mein Magen verkrampfte sich augenblicklich und mir rann erneut stumm die Tränen die Wangen runter, als ich seine Stimme erneut in meinem Ohr hörte.

 

„Meinst du, es ist an mir spurlos vorbeigegangen? …. Die mir sehr viel Kraft gekostet haben, sie zu verdrängen … Du warst es, die mir mein Herz gebrochen hat…“ Nichts hatte er leicht weggesteckt gehabt und die Erkenntnis, dass alles eine Lüge war – ich mir selbst etwas vorgemacht hatte, ließ alles in einen Trümmerhaufen zusammenfallen. Eine zaghafte Berührung an meiner Schulter, riss mich kurz aus meinen Gedanken und ließ Robs Stimme augenblicklich verstummen.


Nein, bleib!


Egal wie irrational und grotesk es auch war, aber ich wollte Rob weiter hören und vor mir sehen können. Er sollte nicht gehen, egal wie sehr mein Herz auch darunter litt – aber er sollte bleiben. Also versuchte ich, mir seine Stimme wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, und war dabei nicht fähig, auf irgendeiner Weise zu reagieren. Viel zu sehr, war ich auf meinen Gedanken-; und Gefühlskarussell gefangen, wo ich schwindelig drauf saß. „Emma… bitte, was ist mit dir los?“, drang ganz dumpf und schleichend Tims Stimme zu meinem Bewusstsein durch, doch ich blendete ihn und meine ganze Umgebung aus, während ich weiter regungslos und hinaus in die Dunkelheit starrend, auf der Matratze saß. Tim sollte einfach gehen – mich in Ruhe lassen. Bitte! Ich wollte mich nur noch meinem Schmerz, meinen Erinnerungen und meinen Gedanken hingeben können. Ich weiß nicht, ob oder wann Tim mein Zimmer verlassen hatte, als sich plötzlich wieder Robs Bild vor meinem geistigen Auge schob. Er saß neben mir auf der Treppenstufe und schaute mir mit seinen wunderschönen topasblauen Augen mitten in meine Seele. Seine blonden, struwweligen blonden Haare standen ihm wild in allen Himmelsrichtungen ab, während er sanft mein Gesicht in seinen Händen hielt. Mir verschlug es den Atem und mein Puls begann, bei der Erinnerung, zu rasen, als er immer näher mit seinem Gesicht an meines herankam, während ich in seinen Augen versank.

 

Oh Gott, er wollte mich küssen und ich hätte es ohne Weiteres zugelassen.

 

So wie ich es auch in diesem Moment zulassen würde, wenn Rob es noch einmal versuchen würde. Ich hatte in dem Augenblick gespürt, wie sehr auch er das Bedürfnis verspürt hatte, und dass in ihm ebenfalls ein Gefühlschaos tobte, welches er versuchte, unter Kontrolle zu bringen. Denn all seine Härte und Abneigung gegen mich, war mit einem Schlag, wie weggeflogen. Genauso schnell, wie sie wieder da waren, als er kurz vorher plötzlich den Kuss abbrach und mich vollkommen konfus auf der Treppe hatte sitzen lassen. Er war einfach ins Haus gerauscht und seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Rob hatte meine Mauer einstürzen, meine Gefühlswelt und Leben in ein absolutes Chaos fallen lassen und war einfach gegangen. Ich schluchzte leise auf, als mir bewusst wurde, dass er es fast genauso gemacht hatte, wie ich ihn mit seinem Schmerz hatte sitzen lassen. Nur mit dem Unterschied, dass wir damals noch zusammen waren. Mein fataler Fehler hatte alles zerstört, was mir damals alles bedeutet hatte – was uns verbunden hatt­­e und was zwischen uns war. Und es machte keinen Unterschied, wie viel Zeit inzwischen vergangen und wie viel sich verändert hatte – Rob hatte mein Herz nie verlassen. Auch die Tatsache, dass ich Tim wirklich liebte, änderte nichts daran, dass meine Gefühle für Rob nie vergangen waren – ganz im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass sie hinter der Mauer nur gewachsen waren und mich nun mit voller Wucht überrannten, während ich innerlich zerbrach.

 

„Warum hast du das getan? Wie kommst du darauf, dass du die Falsche gewesen bist, Emma? Du warst das Beste, was mir damals passiert ist. Ich versteh es nicht. All der Schmerz… all jenes was geschehen ist. Ich habe dich so sehr geliebt…“, kehrte plötzlich seine Stimme in meinem Gedächtnis zurück, wobei mir die Erkenntnis, dass ich vor sechs Jahren all jenes – seine Liebe, ihn und was uns verband, für immer verloren hatte, einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen ließ. Mein Körper begann unter der Kälte zu beben, während mir weiter die Tränen ungehemmt übers Gesicht strömten und ich krampfhaft versuchte, mir sein Bild vor Augen zu bewahren. Er durfte nicht gehen!

„Oh, Rob!“

 

 

Der Name, das Wimmern und das leise Aufschluchzen von Emma brachte die Wut in Bridget mit einem Donnerschlag zurück. Ihre Freundin war tatsächlich wegen ihres Ex-Freunds wieder in diesem verheerenden Zustand, der ihr den Magen zusammenschnüren ließ. Was hatte der Typ bloß angestellt? Ganz gleich was es war, sie würde ihn definitiv zur Rechenschaft ziehen, aber erst einmal mussten sie schauen, wie sie Emma wieder in die Wirklichkeit zurückbekommen würden. Sie saß weiterhin kauernd auf ihrem Bett, schaute mit tränennassem Gesicht hinaus ins Freie und hatte begonnen am ganzen Körper zu zittern. Verdammte Axt! Das musste aufhören. „Was machen wir denn jetzt?“, flüsterte Ilka neben ihr, die besorgt auf Emma schaute und selbst nicht wusste, wie sie weiter vorgehen sollten. Damals hatte ihre Freundin alle nur von sich gestoßen, nachdem sie sich von Rob getrennt hatte, und war tagelang nicht richtig ansprechbar gewesen. In der Schule war sie genauso teilnahmslos gewesen und hatte es nur über sich ergehen lassen, bis sie sich zuhause wieder in ihrem Zimmer zurückgezogen hatte. Das ging damals ein paar Wochen so, aber diesmal würden Bibi und Ilka nicht einfach so zuschauen und sich damit abfinden.

 

Ohne auf Ilkas Frage einzugehen, ging Bridget aufs Bett zu und setzte sich vorsichtig neben Emma, die ohne eine Reaktion zu zeigen, weiter ins Dunkle starrte. „Emma“, leise und unsicher sprach Bibi ihre Freundin an, während sie ihr direkt ins Gesicht sah, um jede einzelne Regung ablesen zu können. Doch es folgte keine. „Ilka und ich sind da“, sprach sie sanft weiter, während in ihr der Ärger tobte, den sie weiter versuchte, zur Seite zu schieben. Es galt jetzt all ihre Aufmerksamkeit für Emma und die konnte eine wütende Bridget momentan nicht gebrauchen, auch wenn jede Faser ihres Körpers gerade aus der Haut fahren konnte. „Wenn du reden willst…“, klang nun Ilkas leise Stimme durch den Raum, die sich vor Bibi gestellt und zögerlich eine Hand auf die Schulter von Emma gelegt hatte. „Tim habe ich nach Hause geschickt. Wir sind ganz unter uns.“ Doch auch die Berührung und die Worte der Freundinnen, zeigten keinerlei Reaktion von Emma, während diese weiter krampfhaft versuchte, ihre Umgebung völlig auszublenden. „Bitte, sag uns, was dich so aus der Bahn geraten ließ.“ In Ilkas Stimme war klar und deutlich die Angst zu hören, als sie sich auf die andere Seite neben Emma niederließ. „Wir möchten dir helfen und beistehen, aber wir können das nur, wenn du uns auch lässt. Du kannst nicht alles nur mit dir selbst ausmachen. Schau dich an. Du sitzt völlig verstört hier. Emma, das macht uns Angst“, redete Ilka leise, in der Hoffnung zu ihrer Freundin durchzudringen, auf sie ein, doch außer einem leisen Seufzen folgte keine weitere Reaktion.

 

Bridget hatte ihren Ellbogen auf ihren Oberschenkel abgestützt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt und ihre Stirn auf die Handinnenfläche gelegt, wobei sie verzweifelt überlegte, was sie machen konnte. „Wir bleiben so lange bei dir, bis du bereit bist“, hörte sie abermals Ilkas Stimme sanft auf Emma einreden, wobei ihr langsam begann die Hutschnur zu platzen. „Frag doch lieber mal, was ER ihr angetan hat?“, schmetterte sie im Flüsterton schärfer Ilka entgegen, als es von ihr beabsichtigt war. Sie wusste, dass ihre Reaktion vollkommen falsch war, konnte aber ihre Wut gegen den Herrn Pattinson nicht weiter unterdrücken, welche sich immer mehr in ihr ausbreitete, je länger sie den Anblick ihrer Freundin ertragen musste. Der Herr war hier in ihr Haus, ihr Leben gerauscht und war genauso schnell wieder verschwunden, wobei er ein weiteres Mal Emma in einem absoluten miserablen Zustand zurückließ. Das war eindeutig zu viel für ihr Verständnis und wenn Emma nicht in der Lage war, ihnen zu schildern, was passiert war, dann würde sie es anderweitig herausfinden. Es war an der Zeit zu erfahren, was sowohl vor sechs Jahren als auch heute vorgefallen war, um ihrer Freundin helfen zu können. Außerdem könnte dieser Mister sich selbst mal ein Bild machen, was er angerichtet hatte, aber erst, nachdem Bibi ihm den Kopf zurechtgerückt hätte.

 

„Pscht, Bibi nicht so!“ Mit einem ermahnenden Blick und einem strengen Unterton in ihrer Stimme, starrte Ilka sie hinterm Rücken von Emma an. Doch diesmal ließ sie sich nicht davon abbringen, der Gedanke manifestierte sich in ihr, und sie sah auch keinen anderen Ausweg mehr. Die sanfte und zurückhaltende Art, mit der Situation umzugehen, hatte anscheinend damals schon nicht wirklich was gebracht gehabt, sonst würden sie sich nicht Jahre später, wie in einem schlechten Déjà-vu, in derselben Lage befinden. „Nein Ilka, kein pscht. Das bringt so nichts. Schau dir doch Emma an. Sie ist überhaupt nicht in der Verfassung irgendetwas sagen zu können. Sie scheint vollkommen in ihren Gedanken oder Gefühlen gefangen zu sein. Ich weiß nicht, wie wir sie da rausholen sollen. Oder ob wir dazu überhaupt in der Lage sein werden. Vielleicht sind wir auch die Falschen.“ Sie stand auf und wandte sich vom Bett ab, wobei sie sich leicht mit der Hand durchs Gesicht strich. „Bevor wir nicht wissen, was zwischen den Beiden vorgefallen ist, können wir rein gar nichts ausrichten. Und ich sehe nicht dabei zu, wie du wie ein Lämmlein auf sie einredest, während sie vor unseren Augen immer mehr abdriftet.“

 

„So schlimm ist es auch nicht. Du weißt, wie Emma ist. Gib ihr Zeit. Sie wird sich fangen“, flüsternd hatte sich Ilka direkt neben sie gesellt und warf ihr einen beunruhigten Blick zu, woraufhin Bibi sich zu ihr umdrehte. „Nein, ich werde das jetzt auf meine Art versuchen. Ich ertrag es nicht, so hilflos daneben zu stehen, während in mir die Wut lodert, ohne genau zu wissen, warum im Gottesnamen. Und ich werde ihr helfen. Das verspreche ich dir!“

 

Ilka musste schlucken, als die Worte ihrer Freundin zu ihrem Bewusstsein durchdrangen – auf ihre Art! Das versetzte ihr ein wenig die Angst in die Knochen, da Bridgets Art manchmal zu temperamentvoll sein konnte und ob das in der jetzigen Lage, das Richtige war, wagte sie zu bezweifeln. „Was hast du vor?“

 

„Ich werde jetzt erfahren, was passiert ist. Lotte hat doch die Nummer von seinem Kumpel, oder?“
„Äh, ja glaub schon. Warum?“

„Gut,“ Bridget drehte sich, bei ihren Worten, auf den Absatz um und marschierte schnurstracks auf die Tür zu, während Ilka auf dem Fleck wie erstarrt stehen blieb und nur ein entsetztes: „Bridget“ hervorbrachte. Ihre Freundin wirbelte augenblicklich zu ihr rum und warf ihre Hände fragend in die Luft. „Was denn? Ich werde mir jetzt die Nummer besorgen und mir ist völlig wurscht, wen ich alles dafür aus dem Schlaf reiße. Aber man erklärt mir jetzt endlich, was verdammt noch mal hier vorgefallen ist.“, sagte sie im Flüsterton, wobei die Entschlossenheit und Schärfe glasklar ihrer Stimme zu entnehmen war.

 

Während die beiden im Zimmer standen und flüsternd diskutierten, saß Emma weiterhin in ihren Gedanken gefangen und regungslos auf ihrem Bett. Nur die Tränen waren versiegt, als sie die Augen schloss und versuchte, sich weitere Bilder von ihrer gemeinsamen Zeit mit Rob, in ihr Gedächtnis zu rufen. Sie ließ sich in dem Moment ganz von ihrem Gefühlskarussell leiten, ganz gleich, was es noch für sie bedeuten würde – wo sie es hinführen sollte. Es war eh bereits alles in einer einzigen Katastrophe geschlittert, da schlugen wohl ein paar mehr aufgerissene Wunden kaum noch ins Gewicht. So sehr sie es auch versuchte, ihre Freundinnen auszublenden, so mühsam gelang es ihr auch nur. Ihr war bewusst, dass sie ihr nur beistehen und helfen wollten, doch sie wollte gerade nichts mehr, als sich ganz in ihrem Schmerz fallen zu lassen. Vielleicht lag darin die Kraft, diesen irgendwann verarbeiten zu können?! Sie verstand nicht, worüber ihre Freundinnen sprachen, denn es glich eher einem dumpfen Gemurmel, als sich das Bild von Rob mit Gitarre auf der Klippe in Cornwall, vor ihr Auge schob und ihr einen schmerzhaften Stich in der Brust versetzte. Das Wissen sowie ihre Schuldgefühle, dass sie ihnen beiden so ein schreckliches Ende ihrer Liebe, mit ihrer Entscheidung, beschert hatte, schnürte ihr die Luft zum Atmen ab. Ein Ende, was nicht hätte sein müssen?! Sie wusste nicht, ob sie jemals in der Lage dazu sein würde, sich das selbst zu verzeihen und all jenes jemals richtig verarbeiten zu können. Allein, dass sie heute erst gänzlich das Bewusstsein zuließ, Rob für immer verloren zu haben, hatte sie schließlich schon vollkommen aus der Bahn geworfen. Doch ihr war bewusst, dass sie es tun musste und genau aus diesem Grund, versuchte sie, ihn in diesen einzigen Augenblick noch bei sich zu behalten. Ganz gleich, wie grotesk und kurios das Ganze schien.

 

„… und dann werde ich diesem Pattinson gehörig die Meinung geigen. So behandelt niemand meine Freundin. Der darf hier gefälligst aufschlagen und sich anschauen, was er angerichtet hat.“ Unvermittelt drang die aufgebrachte Stimme von ihrer Freundin zu Emmas Bewusstsein durch, welche sie augenblicklich alarmiert aus ihrer Trance riss. Denn Bridget war dabei eine weitere Katastrophe herbei zu führen.

 

Was wollte sie? Rob die Meinung geigen?

 

Nein, unter keinen Umständen konnte sie ihn kontaktieren und ihn hier herbestellen. Spinnt sie jetzt völlig? „Nein“, brachte Emma schließlich leise über ihre Lippen, als sie den Blick auf ihre Freundinnen wandte, die vollkommen verwundert an der Tür standen. Keiner der beiden war in diesem Moment in der Lage sich zu rühren, als sie unvorbereitet Emmas Stimme vernahmen. „Emma“, war es schließlich Ilka, die sich völlig erleichtert, aus ihrer Starre befreite und auf ihr zuschritt, während Bibi noch einen Bruchteil einer Sekunde länger benötigte, bis sie sich ebenfalls zu ihr gesellte. „Geht es dir gut?“

 

„Die Frage erübrigt sich doch, Ilka.“ Mit den Augen rollend ließ sich Bibi direkt neben Emma nieder und schaute sie abwartend an. Sie wartete auf irgendeiner Reaktion, denn sie traute der Situation noch nicht, was wenn ihre Freundin nur einen „wachen“ Moment hatte, um sie an ihrer Aktion zu hindern und wieder in ihrem alten Muster verfiel? Doch auch zu ihrer Erleichterung, war Emma in der Wirklichkeit wieder angekommen, auch wenn sie erschreckend schlecht aussah, als sie zögerlich und niedergeschlagen antwortete: „Nein.“ Ilka trat noch einen Schritt aufs Bett zu, setzte sich schließlich ebenfalls neben ihrer Freundin, bevor sie sie behutsam in ihre Arme schloss und ihr dabei ins Ohr flüsterte: „Egal, was dich so aus der Bahn geworfen hat. Du kannst uns alles anvertrauen. Wir sind da. Immer!“ Ohne zu zögern, ließ sich Emma weinend in ihre Umarmung fallen, als all ihre Emotionen aus ihr herausbrachen.   

 

Emma hatte keine Ahnung, wie lange sie in den Armen ihrer Freundin gelegen und all ihren Schmerz hemmungslos hinausgeweint hatte, als sie sich aus der Umarmung löste. Ihr Gefühlsausbruch ebbte langsam ab, als sie sich aufrecht hinsetzte und sich mit dem Handrücken, die Tränen aus dem Gesicht wischte. Emma spürte, wie eine Art Befreiung sie ergriffen hatte, als sie sich einfach in den Halt ihrer Freundinnen hatte fallen lassen und endlich all ihre Emotionen offen herausgelassen hatte. Alles, was sie sich selbst in den letzten Jahren verwehrt hatte, obwohl sie immer wusste, dass sie für sie da gewesen waren. Aber sie konnte es damals nicht zu lassen, sich so zu öffnen – weil es damit nur noch realer geworden wäre, als es das eh schon gewesen war. Damals sollte der Schmerz einfach nur aufhören - sie wollte nichts mehr fühlen, denken und schon gar nicht mehr an ihn erinnert werden. Einfach nur vergessen. Heute spürte sie, auf schmerzhafte Weise, wie fatal auch diese Entscheidung gewesen war – wie all ihre Entscheidungen in dieser Zeit. Ihr war heute alles vor die Füße gefallen. Schleichend wurde ihr bewusst, dass der Zeitpunkt gekommen war, wo sie gänzlich alle Karten offen auf den Tisch legen musste, um ihren engsten Vertrauten all jenes zu erzählen, was sie damals zur Trennung bewegt hatte. Denn nur so wäre es ihr schlussendlich möglich, überhaupt eine Chance zu haben, alles irgendwann verarbeiten zu können. Die Zeit der Verdrängung war vorbei und dazu war sie auch schlicht nicht mehr in der Lage. Ihre Gefühlswelt glich dafür viel zu sehr einem Trümmerfeld, welches ihr sowie so noch viel Kraft und Zeit kosten würde, es langsam wieder aufzuräumen und zu ordnen. Aber mit dem Wissen, ihre beiden besten Freundinnen an der Seite zu haben, würde sie es vielleicht irgendwann schaffen – da war sie sich sicher, auch wenn jetzt alles kopfstand und sie keine Ahnung hatte, wie sie es bewerkstelligen sollte.

 

Sie fühlte die Blicke von Ilka und Bridget auf ihr ruhen, als sie einen Moment zu lang, in ihren Gedanken versunken, auf ihre Beine geschaut und dabei keine Reaktion gezeigt hatte. Langsam drehte sie sich zu Bibi um, die gerade zum Sprechen ansetzen wollte, als Emma das Wort ergriff. „Ruf nicht Tom an“, schoss sie eilig hervor, als sie den aufgebrachten Blick ihrer Freundin sah und deutlich die Verärgerung von ihr spürte, die sie umgab. „Aber, du willst ihn doch nicht…“

„Rob hat nichts gemacht.“ So ganz entsprach es zwar nicht den Tatsachen, aber zumindest hatte er nichts in dem Sinne verbrochen, was in dem Kopf von ihrer Freundin vorging. Bibi saß mit einem verwunderten Blick vor ihr und konnte schlicht nichts erwidern. Was meinte sie, er habe nichts gemacht? Aber warum hatte sie so verstört auf ihrem Bett gesessen und seinen Namen gewimmert? Irgendwie verstand sie gerade gar nichts mehr. Ilka, die hinterm Rücken von Emma saß, tippte dieser zaghaft auf die Schulter, woraufhin sie sich sofort zu ihr rumdrehte. „Ich denke, es ist an der Zeit uns zu erzählen, was zwischen euch vorgefallen ist“, sprach ihre Freundin ihre Bitte vorsichtig aus, während sie sanft über Emmas Rücken strich. „Ja“, brachte Emma nur knapp über ihre Lippen, als sie dabei ein Stück nach hinten wegrutschte, sodass ihre beiden Freundinnen vor ihr saßen.

 

Emma schloss einen winzigen Moment die Augen, um die Kraft und den Mut aufzubringen, die Vergangenheit noch weiter in die Gegenwart rein zu lassen und zog die Beine wieder an ihren Körper. All jenes laut auszusprechen, was sie so lange hinter ihrer Mauer verborgen und eingeschlossen hatte, kostete sie viel mehr Überwindung, als sie sich je vorgestellt hatte, bevor sie schließlich leise zu sprechen begann: „Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll. Und es wird nicht einfach sein, euch das wirklich zu erklären…“ Sie richtete den Blick auf ihre Freundinnen, die sie erwartungsvoll, aber nicht fordernd anschauten, als ihre Stimme kurzweilig abbrach und sie dabei versuchte, den Knoten in ihrem Hals herunterzuschlucken. „Bibi, du weißt doch noch, was an dem Wochenende vorgefallen ist.“

Ihre Freundin brauchte einen Moment, bevor sie verstand, worauf sie hinauswollte. „Äh, Ja… er hatte fremdgeknutscht!“, brach es schließlich verächtlich aus Bibis Mund heraus, woraufhin Ilka ihr nur einen mahnenden Blick zuwarf.

 

Falscher Zeitpunkt!

 

„Genau… aber das war nicht der Grund für die Trennung … also, nicht nur.“ Emmas Stimme brach erneut ab, als sie unvermittelt, das Gefühl von damals und das Bild von Rob, wie er diese Tanya küsste, überrollte. Warum wühlte sie das noch immer auf? Bridget saß vollkommen verdattert vor ihr und wartete voller Ungeduld darauf, dass sie ihre Erklärung fortführte, denn wenn der Kuss nicht der Trennungsgrund war, hatte sie absolut keinen Schimmer mehr, was Emma damals dazu bewegt hatte, sich zu trennen. Dabei war sie immer davon ausgegangen, dass der Kuss zumindest, der Hauptgrund war, denn sie erinnerte sich noch allzu gut, an das nächtliche und aufgewühlte Gespräch mit ihrer Freundin. Wie sie vollkommen aufgelöst und fertig deswegen war – aber mehr hatten sie nie über das Wochenende erfahren. Ilka schien genauso perplex zu sein wie Bridget, denn diese schaute ebenfalls Emma mit gerunzelter Stirn an und wartete auf eine Erklärung, während sich beide nicht trauten nachzufragen. Denn sie sahen beide, wie Emma um Fassung bemüht war und wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Ihre Freundin saß fast genauso zusammengekauert vor ihnen, wie sie Emma vorhin vorgefunden hatten, nur mit dem Unterschied, dass sie anscheinend nach den richtigen Worten suchte und nicht abgedriftet war.

„Ich habe ihm das Herz gebrochen und nicht er mir“, ließ sie plötzlich und völlig unvorbereitet den Donnerschlag auf die beiden los, die nur mit weit aufgerissen Augen vor ihr saßen und es ihnen schier die Sprache verschlagen hatte.


Wie bitte? Wie das? Und vor allem warum?

 

Bridget war die Erste, die ihre Sprache wiederfand, als sie völlig verdattert Emma mit ihrer Frage bombardierte: „Willst du mich verschaukeln?“

„Bridget“, klang Ilkas entsetzte Stimme über Bibis Ausbruch durch den Raum, während Emma nur starr auf sie beide blickte und nervös mit den Fingern zu nesteln begann. Es war ihr klar gewesen, dass Bridget so reagieren würde und es verletzte sie auch nicht, denn sie war darauf vorbereitet gewesen. Wie sollte sie auch anders reagieren oder es so ohne Weiteres verstehen, wenn sie noch keinerlei weitere Erklärung abgeliefert hatte. Emma atmete einmal tief durch, bevor sie ihren Freundinnen alles ganz genau erzählte, was an diesem verheerenden Wochenende geschehen und in ihr vorgegangen war. Dabei spürte sie immer wieder, wie die alten Gefühle in ihr aufkeimten, die sie damals beherrscht hatten, während ihr die Schilderung öfter sehr schwerfiel, weil sich der Klos in ihrem Hals, auf unangenehme Weise bemerkbar machte. All jenes ließ sie spüren, wie sie nicht im Geringsten mit alldem abgeschlossen hatte – ganz im Gegenteil. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass erst jetzt alles aus ihr herausbrach und ihr nur noch viel schmerzhafter bewusst wurde, was sie aufgegeben hatte, als es unaufhörlich in ihrer Brust zu schmerzen begann. Gleichzeitig wusste sie, dass es für ihre Emotionen zu spät – viel zu spät war und sie einen Weg finden musste, endlich mit allem abzuschließen. Vielleicht war, diese Konfrontation und ihr Zusammenbruch doch gut gewesen, damit sie endlich damit anfangen konnte? Emma war sich absolut nicht sicher – denn in ihr herrschte weiterhin das absolute Chaos.

 

Ihre Freundinnen saßen ihr weiterhin sprachlos gegenüber und lauschten unglaubwürdig ihren Worten, während zwischendrin nur ein Seufzen, Schnaufen oder ein entsetztes „Oh“ von ihnen entwich, bis der Name Tanya erneut fiel und Bibi ruckartig aufsprang. „Jetzt sag mir bitte nicht, Emma, bitte sag mir nicht, dass du dich von ihr so beeinflussen hast lassen, dass du dich wegen so einer Schlange, von deiner großen Liebe getrennt hast!“ Bridget stand, mit den Armen auf den Hüften gestemmt, vor dem Bett und schaute sie weiterhin mit einem ungläubigen Blick an, während Emma nur stumm nicken konnte. „Mensch Emma“, polterte sie, mit einer leisen aber dennoch aufgebrachten Stimme, in der ihr voller Unglauben lag, weiter. „Ich kann nicht fassen, dass du dir selbst das Herz rausreißt. Deine Liebe opferst und alles für dich behältst, während du jahrelang darunter leidest. Da ist es doch kein Wunder, dass du, wie ein Kartenhaus zusammenfällst, nachdem du wieder auf ihn getroffen bist. Verdammt Emma, warum hast du uns damals nicht angerufen? Warum hast du nicht mit uns geredet…. Ich seh dir an, dass du deine Entscheidung bereust, sonst würdest du nicht so vor mir sitzen.“

 

„Halt Bibi, mach mal langsam. Ich bin auch sprachlos, aber irgendwie kann ich Emma verstehen. Die Lage war damals schon arg verzwickt. Die Entfernung, dann sein Fehltritt… und zum Schluss sollte er weiter mit der Schlange auf der Bühne stehen. Also, da wäre ich auch im Gefühlschaos geraten und glaube, die Entscheidung hätte auch ich treffen können. Sie hat sich ja nicht aus Misstrauen von ihm getrennt, sondern aus Liebe zu ihm, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe“, meldete sich Ilka zu Wort, die weiterhin auf der Bettkante saß und Emma mitfühlend anschaute. Während diese, völlig verstummt und überfordert, auf der Matratze saß und angestrengt überlegte, was sie noch sagen konnte. Bridget, die mittlerweile mit dem Rücken zu ihnen gewandt, am Fenster stand, und hinaus in den Himmel schaute, reagierte prompt. „Ich bin nicht sauer und ich will Emma auch gar keinen Vorwurf machen. Ich versuche nur zu verstehen – zu begreifen, wie man so selbstlos sein kann, dass man sich selber so verletzt.“ Sie drehte sich wieder zu ihnen um und ging langsam aufs Bett zu. „Du bist damals, so wie heute, durch die Hölle gegangen, Liebes. Und hast uns nicht ein Wort erzählt. Wieso hast du dich so gequält? Bitte, lass uns verstehen. Ich tu mir gerade wirklich schwer damit.“ In ihrer Stimme war der Unglauben, dem Verständnis gewichen, als sie sich direkt vor Emma niederließ und sie mitfühlend anschaute. Bibi konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, was es ihrer Freundin für Kraft gekostet haben musste, überhaupt den Schritt gegangen zu sein – ihre große Liebe aufzugeben und all die Jahre alles hinter irgendeiner Mauer zu vergraben. Wenn sie selbst nur daran dachte, ihre große Liebe Peter aufgeben zu müssen, drehte sich nur beim bloßen Gedanken daran, ihr Magen um. Das würde sie nicht überleben. Wie hatte Emma das geschafft?

 

Emma biss sich unsicher auf die Unterlippe, als sie dabei mit den Fingern am Saum ihres Kleides nestelte, bevor sie versuchte, ihre damaligen Gedankengänge und Handlungen zu erklären. „Ja, ich habe aus Liebe zu ihm, weil ich ihm seinen Traum nicht verbauen wollte, mich getrennt. Mir das Herz rausgerissen, während ich seines gebrochen habe, Ilka“, antwortete sie leise, während ihr Blick auf ihre Knie gerichtet war. „Damals wollte ich einfach nur vergessen, Bibi. Ich war nicht in der Lage darüber zu sprechen, ohne das es mich zerrissen hätte. Ich wollte weder fühlen, noch denken und ihn schon gar nicht mehr vor mir sehen. Ich konnte die Gefühle nicht zulassen. Ich dachte, wenn ich alles verdränge und vergesse, dann würde Rob einfach irgendwann verschwinden. Ich hielt es für den richtigen Weg. Auch, dass ich dachte, dass er mich schnell vergessen würde. Aber…“ Ihre Stimme brach zum wiederholten Male ab, als sie sich leise räusperte und langsam den Blick auf ihre Freundinnen richtete, die sie weiterhin anschauten. „Als er mir heute Abend gesagt hat, dass es für ihn genauso die Hölle war. Er nichts vergessen hat, da ist alles in mir zusammengefallen, an das ich mich all die Jahre festgeklammert habe, um überleben zu können. Und als er mich beinahe geküsst hat, ist die komplette Mauer eingestürzt und alle Erinnerungen und Gefühle prasselten ungefiltert auf mich ein. Und jetzt? Jetzt sitz ich hier und ich habe absolut keinen Plan, wie ich weitermachen soll.“

 

„Er hat dich geküsst?“ Diesmal war es Ilka, die voller Unglauben vom Bett aufgesprungen war und sie vollkommen entgeistert anschaute, während Bibi diese Information noch zu verarbeiten schien. „Nein, er wollte, aber kurz vorher hat er abgebrochen, ist aufgesprungen und hat mich einfach da sitzen lassen. So wie ich ihn damals“, antwortete sie mit einer immer leiser werdenden Stimme, als sie das beklemmende Gefühl abermals überfiel. „Egal, aber er wollte. Das zeugt nur davon, dass er genau so wenig verarbeitet hat wie du!“, ließ ihre Freundin ihren Gedankengang ohne Rücksicht auf Verluste auf sie los, was Emma unvermittelt einen kleinen Stich ins Herz versetzte. „Das ändert aber gar nichts. Es ist zu spät und vorbei. Ich habe es damals vermasselt und die Gefühle, die mich hier überrollen, sind all die aus der Erinnerung“, versuchte sie sich selbst, und ihre Freundinnen davon zu überzeugen, obwohl sie genau spürte, dass es nicht der Wahrheit entsprach, während Ilka ihr einen skeptischen Blick zu warf. Emma empfand weiterhin mehr für Rob, als ihr lieb war, doch gleichzeitig spürte sie auch, dass sie tatsächlich damit abschließen musste, damit sie überhaupt eine Chance hatte, normal leben zu können. Sie musste einen Weg finden, damit umzugehen – egal wie das ausschauen sollte. Verdrängen war keine Option, man sah schließlich, wohin sie das geführt hatte. „Zudem leben wir in zwei völlig verschiedenen Welten. Ich muss definitiv endlich damit anfangen, mit ihm abzuschließen. Ich muss nur einen Weg finden, auch wenn ich aktuell keinerlei Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen kann. Aber der wichtigste Grund ist, dass ich Tim wirklich liebe.“

 

„Ach, den gibts ja auch noch.“ Bibi hatte anscheinend ihre Sprache wiedergefunden und ließ schonungslos ihren Kommentar ab. Sie mochte zwar Tim, aber irgendwie verhielt er sich seit einer geraumen Zeit merkwürdig und sie wurde das verdammte Gefühl nicht los, dass irgendwas im Argen lag. Und nun mit dem Wissen, dass Emma weiterhin Gefühle für ihren Ex hegte, kam ihr seltsamerweise Timothy plötzlich falsch an Emmas Seite vor. Vor wenigen Minuten hätte sie noch Mr. Robert Pattinson am Liebsten den Hals umgedreht, weil er ihre Freundin in ein absolutes Chaos gestürzt hatte – mal wieder. Aber nach Emmas Offenbarung spürte sie, wie auch nach all den Jahren, sie mehr mit Rob verband, als es wohl jemals Timothy tun würde. Auch, wenn Emma sich das selbst noch nicht eingestehen und erkennen konnte, war es jedoch für Bridget ganz klar spürbar. Schon damals war es bereits deutlich erkennbar gewesen, dass viel mehr zwischen Rob und Emma lag, als nur die erste große Liebe. Daher war sie auch absolut überzeugt, dass ihre Freundin es nie schaffen würde, Rob aus ihrem Herzen zu verbannen.

 

Die Frage war nur, wie sah es bei ihm aus?

 

Genau das galt es, in ihren Augen, herauszufinden. Erstens, wie er die Zeit nach der Trennung empfunden hatte. Zweitens, wie er damit umgegangen war und drittens, wie er heute zu Emma stand.

 

Aber dies durfte nicht allzu schwer sein herauszubekommen, oder?


„Wir sind da und werden einen Weg finden, Liebes“, sagte sie mit sanfter und ehrlicher Stimme, als sie Emma liebevoll in ihre Arme schloss und in ihr eine Idee weiter Gestalt annahm, die ihr ein kleines Lächeln ins Gesicht zauberte.

 

Familie

 

Kapitel 12

 

Familie

 

 

„Was bist du heute eigentlich die ganze Zeit mit deinem Handy zugange?“ Rob lag im Wohnzimmer seiner Eltern auf der Couch, hatte die Beine lang über die Sitzfläche ausgestreckt und seinen linken Arm lässig über die Lehne gelegt, während er mit der Nase im Buch vertieft war. Sein bester Kumpel fläzte sich derweil lässig auf dem kleinen Sessel, in der Ecke, und malträtierte schon seit Stunden sein Telefon, wobei ihm immer wieder ein merkwürdiges Grinsen oder Lachen übers Gesicht huschte. Eigentlich genoss Rob in seinem Elternhaus, die Ruhe und ein wenig Normalität sowie den ganz normalen Wahnsinn eines Familienlebens, was er in den letzten Monaten vermisst hatte. Hier war er einfach nur der Sohn und Bruder, den sie mit all dem unmöglichen Kram aufziehen, ärgern und er zurückkontern konnte – halt völlig stinknormal. Es war ihm tatsächlich gelungen, unbemerkt hier hinzukommen, ohne große Spießrutenläufe oder ohne dass er sich im Auto hinter einer Sitzbank kauern musste. Langsam kam er sich schon vor, wie ein Geheimdienstler, der sich wie ein Unsichtbarer in der Welt bewegen musste, damit ihm seine Umwelt nicht wahrnahm – bloß nicht auffallen. Ihm fehlte eindeutig der Tarnumhang von Harry Potter, damit würde ihm so einiges erleichtert werden. Verdammt, er hätte damals einen von den vielen, vom Set mitgehen lassen sollen. Der Gedanke ließ ihn leise auflachen, als er sich mit dem schwarzen Teil, um seinen Körper gewickelt, über die Straßen flitzen sah.

 

Heute Morgen hatte er zu seinem Leidwesen im Internet, die blöden Paparazzibilder von der Shoppingtour mit Tom entdeckt, wo sie ihn tatsächlich beim Unterwäschekauf abgelichtet hatten. Er mochte sich gar nicht die ganzen Kommentare über seinen Geschmack, die Menge oder gar seinem damaligen Outfit vorstellen, die sich garantiert unter den tausendfach geteilten Bildern befanden. Er war nur heilfroh, dass ihn kein Paparazzi im Kaufhaus oder vorgestern gar vor Emmas Haus entdeckt hatte. Das war auch der einzige und eigentliche Grund gewesen, warum er überhaupt nach sich selbst gegoogelt hatte, denn normalerweise mied er das, wie die Pest. Aber es wäre nicht auszudenken gewesen, was es für Wellen geschlagen hätte, wenn sie ihn mit Emma fotografiert hätten, und das nicht nur in der Medienwelt. Es wäre auch unnötig schwer geworden, die ganze Sachlage Kristen plausibel zu erklären, ohne ihr dabei seine ganze Vergangenheit mit seiner Ex erläutern zu müssen. Denn genau das wollte er tunlichst vermeiden, es reichte schon, dass er ihr zweimal begegnet war. Sein Bedarf, noch mehr in der Vergangenheit rumzustochern, war eindeutig gedeckt. Zudem reagierte Kristen des Öfteren etwas eifersüchtig, obwohl sie selbst am eigenen Leib spürte, wie unerträglich der Hype um sie beide geworden war. Aber das wirklich nervigste und anstrengendste, war, dass sie ihre Beziehung vor der Öffentlichkeit geheim halten mussten. Diese Geheimniskrämerei verschlimmerte diesen Spießrutenlauf sowie den gesamten Medienrummel um sie beide enorm, so sehr, dass sie zusammen kaum einen Fuß auf die Straße setzen konnten. Nur damit alle schön weiter rätselten, ob nun –Bella und Edward- auch im wahren Leben ein Paar waren oder nicht, damit bloß schön der Marktwert der Filme stieg. Er hatte mittlerweile aufgehört zu zählen, wie oft er schon schimpfend vor Steph gestanden hatte, dass er den Mist nicht länger mitmachte – doch sie fing ihn immer wieder mit den vertraglichen Argumenten ein, denen er sich widerwillig beugen musste. Es war einfach, zum Wahninnig werden… Rob ließ sich ungern etwas vorschreiben und in Sachen Privatleben, war er besonders empfindlich.

„Nix besonderes“, riss ihn plötzlich Toms Stimme aus seinen Gedanken, der nach einer Ewigkeit doch noch die Güte hatte, ihm zu antworten.

 

Was hatte er überhaupt gefragt?

 

„Sag mal, sabberst du?“ Rob entwich ein lautes Lachen, als er die Nässe auf Toms Kragen am T-Shirt entdeckte, die sich bis über den Brustbereich erstreckte. „Doch zu viele Pornobildchen auf einmal für deinen Speichelfluss? Ich hoffe, dein Schritt ist noch trocken. Wäre schade um den guten Sessel…“ Sein schallerndes Gelächter und der Knall seines Buches, welches vor seinen Füßen landete, rief augenblicklich seine Mutter, die in der Küche am Hantieren war, auf den Plan. „Was ist denn bei euch los?“

„Nix Mum, Tom muss nur trockengelegt werden“, brachte ihr Sohn mühsam unter seinem Lachanfall hervor, als er mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt auf der Couch saß, während sein Kumpel sein Handy und das Glas auf dem Couchtisch abstellte und vergebens versuchte, die Nässe vom Shirt zu streifen. „Alter, ich war nur unfähig zum Trinken und hab mir die verdammte Limo drüber gekippt.“

„Schon klar… Würde ich auch behaupten“, kommentierte Rob mit einem frechen Augenzwinkern, wobei er noch immer nicht in der Lage war, seinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen. „Wie kann man nur an seinem eigenen Witz so krepieren?“, fragte Tom mit einem Schmunzeln auf den Lippen, als er aufstand und Richtung Clare ging, die im Türrahmen stand und die Szenerie stirnrunzelnd beobachtete. „Ich geh eben das Shirt wechseln. Das klebt wie Pattex.“ Kaum hatte er die Worte über seine Lippen gebracht, prustete Rob hinter ihm erneut los, wobei dieser ein ersticktes „Klar, Limo“ hervorpresste. Kopfschüttelnd huschte Tom an Clare vorbei und ließ seinen Kumpel lachend auf dem Sofa zurück. Seine Mutter schritt weiter in den Raum rein, wobei sie sich ihre Hände am Küchentuch abtrocknete, bis sie vor ihrem Sohn zum Stehen kam und ihn direkt ansprach.“ Na, welchen Clown hast du heute gefrühstückt? Aber, falls du dich noch beruhigen kannst, dann deck bitte den Tisch. Das Essen ist gleich soweit und deine Schwestern schlagen hier auch jeden Moment auf.“

 

„Mum, ich hasse Clowns!“, antwortete er empört, ohne dabei auf die Bitte seiner Mutter einzugehen, wobei sein Lachanfall schlagartig abebbte. „Äh, wo hat sich denn Dad eigentlich verkrochen? Den hab ich heut noch gar nicht wirklich gesehen?“ Rob hob sein Buch auf und richtete sich wieder auf, bevor er seiner Mutter in die Küche folgte. Es roch himmlisch und ließ ihm augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlaufen, als er durchs Ofenfenster die leckersten Yorkshire Pudding, von ganz Großbritanniens sowie die besten Rumpsteaks entdeckte. Wie hatte er das nur vermisst. Seine Mutter stand derweil an der Anrichte und zupfte den Salat in seine Einzelteile, als sie ihm antwortete: „Der ist noch unten im Keller. Kennst ihn doch, der werkelt wieder an irgendetwas „Nützlichem“ rum.“

 

Gerade als Rob einen Stapel Teller aus dem Hängeschrank zog, betrat Tom lachend und mit dem Handy bewaffnet die Küche. „Also irgendetwas, was niemand braucht. Kommt eigentlich John mit?“, fragte Rob, als er die Teller abzählte und sich seine Mutter lachend zu ihm umdrehte. „Ich habe keine Ahnung, womit er mich wieder erfreuen mag. Aber ich bin schon ganz gespannt.“ Das Kichern in ihrer Stimme, war genauso klar und deutlich zu vernehmen, wie auch die Ironie die darin lag. „Nein, Lizzy kommt heute allein.“ Seitdem Richard nicht mehr berufstätig war, verbrachte er viel Zeit in seiner kleinen eingerichteten Werkstatt im Keller und zimmerte, die unmöglichsten Dinge zusammen, die Clare den Alltag erleichtern sollten. Was sie natürlich nie taten, aber das würde sie ihrem Mann nie zu verstehen geben. Er hatte viel zu sehr Freude daran, also ließ sie ihm den Spaß, zudem er beschäftigt war und ihr nicht gleichzeitig ständig, wie ein kleines Kind, vor ihren Füßen rum wuselte, welches nichts mit sich anzufangen wusste. Es gab nichts Schlimmeres im Haus, als ein Mann, der Langeweile schob.

„Kann ich irgendwie helfen?“ Tom stand direkt vor der Kücheninsel und hatte gerade sein Handy in seine Hosentaschen gestopft, als sein Kumpel ihm geradewegs die Teller in die Hand drückte. „Kannst schon mal den Schwung auf dem Tisch verteilen.“ Kopfnickend drehte Tom sich auf dem Absatz um und marschierte Richtung Esszimmer, als der Klingelton seines Handys laut auf schrillte. „Boah, sag mal, mit wem schreibst du heute eigentlich die ganze Zeit? Das Teil steht kaum still“, rief Rob ihm mit einer leicht genervten Stimme hinterher, während er unüberhörbar in der Schublade nach Essbesteck kramte, als Tom geradewegs den Raum verließ – ohne ihm zu antworten.


Mit Gläsern sowie Besteck auf einem Tablett beladen, kam Rob am Esszimmertisch an, wo noch immer die Teller als Stapel draufstanden, während sein Kumpel wie wild auf sein Smartphone eintippte und dabei laut auflachte. „Also, jetzt sag schon. Wer erfreut dich heute schon den ganzen Tag. Du bist doch sonst nicht so…“ Neugierig wartete Rob auf eine Antwort, wobei er langsam begann, den Tisch einzudecken und immer wieder Tom einen fragenden Blick zuwarf. Doch der schien wie in einer anderen Welt zu sein, als er gar nicht auf seine Frage reagierte und nur weiter das Handy malträtierte. Der Klingelton hatte gar keine Chance richtig zu ertönen, wie er auch schon mit dem Finger aufs Display einhämmerte. Ungeduldig ging Rob um den Tisch rum und stellte sich direkt neben seinem Freund, um einen neugierigen Blick aufs Display erhaschen zu können, aber genau in dem Moment steckte sein Kumpel sein Handy zurück in die Hosentasche, wobei ihm erneut ein seltsames Lächeln über die Lippen huschte. „Erde an Tom… Sind sie anwesend oder schwirren sie in den Irren der Datingwelt rum?“

 

„Welche Datingwelt?“, gab Tom stirnrunzelnd wider, während er verwundert auf den Tisch schaute, weil dieser fast komplett gedeckt war. „Sag mal, du kriegst aber heute rein gar nix mit. Hast du dir tatsächlich zu viel Pornobildchen angetan oder was lässt dich so neben dir selbst stehen?“ Mit einem schelmischen Grinsen blickte er auf seinen Freund, der nur mit den Augen rollte und dabei auf ihn wirkte, als ob er sich um eine Antwort drücken wollte. „Na, auf den komischen Portalen, wo du dich rumtreibst.“
„Ich treib mich nirgends rum“, war die erneut knappe Antwort von Tom, als er an ihm vorbei schritt, um sich auf dem Weg zurück in die Küche zu machen und ihn damit einfach am Tisch stehen ließ. Misstrauisch schaute Rob ihm einen Moment nach, bevor er ihm eilig hinterherging. Irgendwie verhielt sich sein Freund heute extrem seltsam, so kannte er ihn gar nicht. Oder drücken wir es anders aus, so hatte er ihn nur äußerst selten erlebt, nur wenn er… Moment mal! Tom hatte sich doch wohl nicht verguckt?

 

Quatsch, in wen auch, aber was veranstaltete er dann den ganzen Tag schon mit seinem Handy? Und warum grinste er immer so merkwürdig?

 

„Hey, du verschweigst mir doch was!“ Clare, die gerade dabei war das Dressing unter den Salat zu mischen, schaute verwundert auf, als ihr Sohn in den Raum gestürmt kam und sich vor Tom fragend aufbaute. Dieser stand direkt an der Kücheninsel und schien nach den richtigen Worten zu suchen, bevor er endlich antwortete: „Nicht wirklich, aber es wird dir nicht gefallen.“ Jetzt verstand er überhaupt nichts.


Was und warum sollte es ihm nicht gefallen?

 

Mit gerunzelter Stirn blickte er direkt in Toms Gesicht, der nur leise aufseufzte und erneut das Handy zückte, weil es wieder einmal eine Nachricht ankündigte. „Könntest du das Teil mal einen Moment beiseitelegen und mir endlich erklären, was bei dir los ist?“

Ohne ihn weiter zu beachten, entsperrte sein Kumpel das Display, während er beiläufig einen Namen murmelte, der Rob fast den Boden unter den Füßen wegziehen sollte – „Lotte“

Das durfte nicht sein Ernst sein. Tom chattete doch nicht die ganze Zeit mit, und grinste ausgerechnet wegen, der Schwester seiner Ex, so grenzdebil… Er verkohlte ihn doch. Er musste ihn auf den Arm nehmen, denn das würde sein bester Kumpel doch nicht ernsthaft bringen. Obwohl, wenn er sich die Aktionen, von dem kleinen Verräter in den letzten Tagen betrachtete, was seit dem Kaufhausdebakel alles vorgefallen war, dann wäre es nicht wirklich abwegig. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Tom ungläubig an, der noch immer mit seinem Telefon beschäftigt war, bis ihm, aufgebrachter als beabsichtigt, ebenfalls der Name über die Lippen schoss: „CHARLOTTE?“

 

Von seinem entsetzten Ausruf fuhr Tom mit dem Kopf zu Rob hoch und schaute ihn, noch recht gelassen an, bevor er versuchte, sich irgendwie zu erklären. Clare stand derweil vollkommen irritiert an der Theke und überlegte, warum ihr der Name so bekannt vorkam und weshalb ihr Sohn darauf so aufgebracht reagierte, als die Türklingel ertönte. Stillschweigend verließ sie die Küche und ließ die beiden Freunde vor der Kücheninsel stehen, die sich noch immer anstarrten, bis Tom endlich das Wort ergriff. „Ja, Lotte… wir haben doch die Nummern …


„Ich weiß nur zu genau, dass ihr eure Handynummern ausgetauscht habt. Du weißt, ich war leider dabei“, unterbrach Rob ihn recht barsch, als er sich dabei mit der Hand durch sein Haar fuhr. Sein Freund fuchtelte noch einen Moment an seinem Smartphone rum, bevor er es endlich in die Hosentasche stopfte und überlegte, wie er es Rob begreiflich machen konnte, ohne dass er einen Wutanfall bekommen würde. Schließlich lag es nicht in seiner Absicht, dass Lotte ihm so naheging und er jede Minute mit ihr genossen hatte, als er auf der Party war, während sie beide sich so wunderbar verstanden hatten. Wenn er an den Abend zurückdachte, umspielten seinen Lippen ein kleines Lächeln und sein Herz setzte für einen Schlag aus. Wie schön sie ausgesehen hatte – was doch für eine tolle Frau aus ihr geworden war, und dennoch hatte sie ihren vorwitzigen Charme und das Herz, was auf ihrer Zunge lag, nicht verloren. Ganz im Gegenteil. Sie brachte ihn sogar bei ihrem aktuellen Nachrichten-Schlagabtausch sprichwörtlich aus dem Konzept – Lotte faszinierte ihn auf eine wundervollen Weise. Aber wie in Gottesnamen sollte er das jetzt seinem besten Kumpel erklären, der eh schon wegen seiner Aktion ordentlich verstimmt gewesen war, auch wenn er es nicht mehr groß zur Sprache gebracht hatte? Er wusste nicht mal, was zwischen ihm und Emma vorgefallen war, obwohl er es zu gern wüsste, doch ehrlich gesagt, traute er sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Rob schien sich nur teuflisch gefreut zu haben, dass er den gestrigen Tag halb tot im Koma gelegen hatte, nachdem der Rausch verflogen war und hatte es auf sich beruhen lassen. Aber das würde er, bei der Tatsache, dass er ausgerechnet die Schwester seiner Ex daten wollte, sicher nicht mehr. Dafür wühlte ihm augenscheinlich, das Treffen mit Emma und die Vergangenheit noch zu sehr auf, obwohl er es nie offen zugeben würde, doch Tom spürte genau, wie er innerlich am Kämpfen war. Er bezweifelte sogar, dass Rob es sich selbst eingestand, denn dafür saßen seine Wunden noch immer zu tief und seine Mauer zu hoch, die er sich krampfhaft erbaut hatte. Sein Verdrängungsrad war im vollen Gange. Tom rieb sich mit zwei Fingern den Nasenrücken, als er erneut versuchte, sein Anliegen zu erklären.

 

„Es tut mir ja auch leid, aber so wirklich kann ich nichts dazu. Außerdem hatte sie mich gestern schon angeschrieben, ob es mir wieder gut geht. Und da sind wir wieder ins Gespräch gekommen…“ Rob schnaufte einmal laut auf, während er sich um neunzig Grad um die eigene Achse drehte und somit seinem Freund den Rücken zuwandte. Die Erkenntnis, dass Tom seit der Party weiter im Kontakt mit Lotte stand, und er sich deshalb so seltsam verhielt, traf ihn mehr, als ihm lieb war. Dabei wollte er nichts mehr, als das alles hinter sich zu lassen, um es einfach abhaken zu können – so, als wenn nie was geschehen wäre. Und was machte Tom? Obwohl er seinen Kumpel, eng umschlungen mit Lotte, in ihrem Bett vorgefunden hatte, hatte er es dem Alkohol zugeschrieben und war nicht im Geringsten auf den Gedanken gekommen, dass die Schwester seiner Ex hinter der Nachrichtenflut stecken könnte. Überfordert rieb Rob sich mit der Hand durchs Gesicht und überlegte, wie er mit der Information umgehen sollte. Dabei fragte er sich, was eigentlich schon dabei war, wenn Tom im Kontakt mit Lotte stand, schließlich hätte er ja nix damit am Hut. Was sollte es ihn also stören - er schrieb ja nur mir ihr, oder? Aber, wenn da doch mehr wäre, dann wäre da zwangsläufig wieder eine Verbindung, die er unter keinen Umständen zu Emma haben wollte. Denn das würde die Wahrscheinlichkeit, dass er mit seiner Vergangenheit und somit mit ihr konfrontiert werden könnte, deutlich erhöhen. Verdammt, genau das versuchte er seit Tagen, wie der Teufel das Wasser, zu meiden und immer, wenn er meinte, er hätte es im Griff, kam erneut ein Schlag. Ihm blieb gar nichts anderes übrig - er musste unbedingt herausfinden, was bei seinem Kumpel genau Sache war. „Was läuft da Tom?“, schmetterte er los, wobei er sich mit einem Schwung wieder umdrehte und eindringlich in das Gesicht seines Freundes schaute, der nur zögerlich ein „Noch nix“ hervorbrachte, während der Klingelton seines Handys abermals ertönte. „Was heißt hier noch nix? Jetzt sag mir nicht, dass du dich in Lotte verguckt hast!“ Tom seufzte erneut auf, während er weiter nach den passenden Worten suchte, um es ihm irgendwie schonend beizubringen. Ausgerechnet in dem Elternhaus seines Freundes, hätte er diese Unterhaltung gerne vermieden, weshalb er des Öfteren auf Robs Anspielungen und Fragerei nicht wirklich eingegangen war. Aber eigentlich war es klar gewesen, dass das nur in die Hose gehen konnte, denn er hatte sich auch nicht in der Lage gesehen, Lottchens Nachrichten nicht zu beantworten. Dafür hatte es viel zu viel Spaß gemacht und er spürte, wie es ihm auch wichtig wurde. Er wollte sie unter keinen Umständen abschrecken, verärgern oder gar ihr ein falsches Zeichen geben – und dennoch fühlte er sich wie ein Verräter, auch wenn er nichts für seine Gefühle konnte.

 

„Na ja“, druckste Tom rum, während er sich abermals mit den Fingern über den Nasenrücken rieb. „Ich glaub schon.“

 

„Wie, du glaubst?“, ungläubig und mit hochgezogener Augenbraue, war Robs Blick weiter auf seinen Freund gerichtet, während er sich dabei zum wiederholten Male durch die Haare fuhr. So wie er es immer machte, wenn er aufgebracht, nervös oder unsicher war. „Mann, Tom!“

„Was, Mann Tom? Ich weiß doch auch nicht.“ Grübelnd drehte er sich mit den Rücken an die Kücheninsel und lehnte sich dagegen, während er versuchte, sein Handy weiter zu ignorieren, welches zum gefühlten hundertsten Mal auf schrillte. „Sie ist einfach toll. Ich hab sie schon damals ganz interessant gefunden, auch wenn sie manchmal eine kleine Kratzbürste war. Aber als ich sie im Kaufhaus…“, er brach kurz seine Erklärung ab, um einen Blick auf seinen Freund zu werfen, der ihn immer noch ungläubig anschaute und versuchte, die Informationen irgendwie zu verarbeiten. „Na ja, im Geschäft gesehen habe, war ich bereits irgendwie total verblüfft. Sie ist eine noch bildhübschere Frau geworden, als sie es schon früher war. Und dann, als ich auf der Party war und den Abend mit ihr verbracht habe, habe ich nur gemerkt, wie sie mich berührt – so richtig, wenn du verstehst. Sie hat immer noch ihren frischen, unverwechselbaren Charme. Genauso, wie ihr Herz auf der Zunge liegt, wobei sie reifer und erwachsener geworden ist. Es lag irgendetwas zwischen uns, so als wenn wir uns schon ewig kennen würden und nie den Kontakt verloren hätten. Und das, obwohl sie damals nicht gerade viel von mir gehalten hat.“ Er kicherte leise, als ihm die Bilder von dem damaligen Urlaub mit ihr, vor seinem inneren Auge aufblitzen, wobei sich ihr lächelndes Gesicht, von vorgestern Abend, mit seiner Erinnerung vermischte.

 

Rob stand, wie erstarrt vor seinem besten Kumpel und konnte nicht fassen, was er gerade von ihm gehört hatte. Viel zu langsam drangen die Worte zu seinem Bewusstsein hindurch, während er spürte, wie ihn die Ratlosigkeit, wie er mit all dem umgehen sollte, überfiel. Der Idiot hatte sich tatsächlich in Charlotte verknallt – in die Schwester seiner Ex.

 

Blieb ihm denn gar nichts erspart?

 

„Ausgerechnet Lotte!“, murmelte er in seine Hände, worin er sein Gesicht vergraben hatte und gleichzeitig mit den Fingern seine Stirn massierte, nachdem er sich, mit dem Rücken an der Anrichte, neben Tom gestellt hatte. „Warum musstest du auch unbedingt auf diese Party?“

„Ich bin nur wegen Lotte hin“, hörte Rob plötzlich Toms kleinlaute Stimme, wobei er immer noch mit dem Blick auf den Boden gerichtet, überlegte, wie er darauf reagieren sollte. Innerlich fühlte er, wie ihn diese verdammte Situation weiter verärgerte, weil er einfach keine Chance bekam, alles hinter sich lassen zu können. Seit fast einer Woche, wo Emma sein Weg gekreuzt hatte, wurde er immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert, die er mühsam verborgen hielt. Und nun steuerte er ausgerechnet dank Tom darauf zu, dass er sich vermutlich immer wieder aufs Neue mit ihr auseinandersetzen musste. Wenn nicht unbedingt mit ihr selbst als Person, aber Lotte war schließlich auch ein Teil aus seiner Vergangenheit – denn sie gehörte zu ihrer Familie. Wie sollte er das also auseinanderhalten können? Aber gleichzeitig konnte er doch Tom keinen Vorwurf wegen seinen Gefühlen machen oder gar von ihm verlangen, sich Lotte aus dem Kopf zu schlagen. Es war zum Verzweifeln. „Ich wollte mich später gern mit ihr treffen“, ließ Tom ungeschönt den nächsten Donnerschlag auf ihn los, welcher ihn innerlich aufschreien und gleichzeitig leise aufseufzen ließ. Irgendwie musste er einen Weg finden, damit umzugehen und gleichzeitig klare Grenzen stecken. Langsam richtete Rob sich auf und wandte sich wieder seinem Freund zu, bevor er ihn mit einer kontrollierten Stimme ansprach, während er spürte, wie die leichte Wut in ihm aufkeimte, weil nichts von dem funktionierte, was er sich vorgenommen hatte. „Tu mir bitte nur einen einzigen Gefallen.“ Mit genau demselben eindringlichen Blick, den er ihm vorhin schon entgegengebracht hatte, schaute er Tom an, während er seine Hände feste in die Hosentaschen vergrub. „Halt mich aus der ganzen Geschichte komplett raus. Ich will rein gar nichts, von ihrer Familie oder Umfeld hören oder wissen. Mich interessiert es nicht die Bohne, was in deren Welten abläuft. Und ich will auch kein Thema bei euch sein. Ich bin tabu! Genauso wie Familie Hillington für mich Vergangenheit ist. Emma ist und bleibt Vergangenheit.“

 

„Emma?“ Clare betrat mit seiner Schwester Lizzy die Küche und warf den beiden einen skeptischen Blick zu, als sie, nach all den Jahren, den Namen aus dem Mund ihres Sohnes vernahm. Schlagartig wurde ihr bewusst, woher ihr der Name Charlotte so bekannt vorgekommen war – Emmas Schwester! Genervt rollte Rob mit den Augen, während ihm ein leises aber frustriertes Schnauben, was sich schon fast wie ein gefährliches Knurren anhörte, entwich und er am liebsten auf der Stelle geflüchtet wäre. Das war doch alles nicht mehr normal. Obwohl es ihm hätte klar sein müssen, dass ausgerechnet dann seine halbe Familie in den Raum marschieren würde, wenn gerade das Thema auf den Tisch kam, begann er sich langsam zu fragen, welchen Höllentrip er als Urlaub gebucht hatte?! Denn von Entspannung und Erholung konnte, weiß Gott nicht die Rede sein. „Was genau ist hier los?“, fragte seine Schwester mit leicht gerunzelten Stirn, während sie abwartend zwischen Tom und ihren Bruder hin und herschaute, als Clare das Blech mit den Yorkshire Pudding aus dem Ofen zog.

 

Oh Nein! Ohne Ihn!

 

„Nix!“, war nur Robs knappe sowie mehr als deutliche Antwort, als er zur Anrichte herumwirbelte, sich die Schüssel mit dem Salat schnappte und schnurstracks Richtung Küchentür marschierte. „Den Rest kann euch gerne Tom erklären. Ich hol Paps aus den Keller.“ Ohne auf eine Reaktion von den anderen zu warten, verließ er die Küche und stellte die Schüssel im Esszimmer auf den Tisch. Er hatte beileibe keine Lust, dass alles, was in den letzten Tagen passiert war, mit seiner Familie auseinanderzunehmen. Das konnte gerne sein „Best Buddy“ übernehmen, dem er schließlich den halben Schlamassel mit zu verdanken hatte. Er hatte definitiv genug von alldem und hoffe inständig, dass das Thema gleich beim Essen ad acta gelegt war.

 

Zu seiner Erleichterung traf auch schon wenige Momente später, nachdem er mit Richard aus der Werkstatt hochgekommen war, Victoria ein und Tom schien im Schnellflug alles, zur Zufriedenheit seiner Mutter, erzählt zu haben. Sie hatte ihm zwar einen fragenden und etwas besorgten Blick zugeworfen gehabt, als sie aus der Küche mit den Rumpsteaks kam, und alle anderen sich schon um den Tisch gesetzt hatten, aber sie hakte nicht nach. Obwohl Rob genau wusste, dass das Thema definitiv für Clare noch nicht erledigt gewesen war, und sie ihn garantiert noch nach seinem Befinden aushorchen würde, sobald sich die Gelegenheit ergeben würde, fiel ihm dennoch in dem Moment ein Stein vom Herzen. Was später irgendwann folgen würde, war ihm fürs Erste gleich, denn damit konnte er sich befassen, wenn es dann so weit war und er war sich sicher, sie irgendwie beschwichtigen zu können. Schließlich war es ja nun doch kein großes Drama. Wichtig war ihm gerade nur, dass zu diesem Zeitpunkt, die Vergangenheit nicht noch weiter in die Gegenwart gerückt wurde und er sich endlich voll und ganz dem leckersten Essen Großbritanniens und seiner Familie widmen konnte.

 

Es wurde ein wirklich harmonisches, lustiges und ausgiebiges Familienmittagessen, was zu Robs Bedauern viel zu selten stattfinden konnte, daher genoss er jeden einzelnen Moment, den er mit all seinen Lieben verbringen konnte. Auch, wenn er seine Familie oft in den Staaten zu Besuch oder zu den Premieren dabei hatte, war es schier etwas ganz anderes, als in seinem Elternhaus, wo er aufgewachsen war. Er liebte es, an einem Tisch mit allen zu sitzen und über die Erlebnisse und Pläne der vergangenen Monate und die noch vor ihnen lagen, zu reden – genauso über all den belanglosen Kram zu philosophieren, der völliger Nonsens war. Tatsächlich schaffte es wirklich nur der Kreis seiner Familie, ihn all seine Anspannung, Hektik sowie auch die einzelnen trüben Gedanken, die ihn stets begleiteten, von sich gänzlich abfallen zu lassen und sich sicher und leicht zu fühlen. Sie gaben ihm den Rückhalt und die Kraft, die ihm immer das Gefühl der Geborgenheit und den Glauben an sich selbst spüren ließen. Genauso, wie sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurückbeförderten, wenn er drohte kurzweilig ein wenig, durch den extremen Rummel um seine Person, abzudriften. Ihm war bewusst, wie wertvoll seine Familie für ihn war und wie glücklich er sich schätzen konnte, sie an seiner Seite zu haben. Auch wenn, wie bei jeder anderen Familie auch, ordentlich die Fetzen fliegen konnten und er selbst auch ein Dickkopf sein konnte, war jeder Einzelne für den anderen sofort zur Stelle – ohne Wenn und Aber. Und das war alles was zählte – Familie und die engsten Vertrauten, das konnte kein Erfolg oder Geld der Welt abwiegen oder ersetzen.

 

Kurz nachdem der Nachtisch, ein Oreo-Peanutbutter- Schokocake, halb vertilgt war, verabschiedete sich Tom bereits zur Verabredung mit Lotte. Rob versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch so recht konnte er sich mit dem Gedanken, dass sein Kumpel sich mit der Schwester von Emma einließ, nicht anfreunden. Vielleicht war das aber auch nur eine Eintagsfliege und würde sich von ganz allein wieder erledigen. Gerade, wenn die Entfernung, in wenigen Wochen, sie trennen würde, war die Wahrscheinlichkeit doch recht groß, dass es im Sande verlaufen würde. Er schüttelte sich bei dem Gedanken, dass er das überhaupt in Erwägung zog und mochte sich gerade selbst nicht leiden, denn das entsprach ganz und gar nicht seinem Naturell, aber er konnte nicht wirklich dagegen angehen, dass ihn diese Verbindung aufstieß. Sein Vater riss ihn, mit seiner stolzen Erzählung von seinen neuesten kleinen Werken, aus seinen Gedanken, wobei der Rest seiner Familie seinen eigenen kleinen Kommentar dazu abgab und sich dabei köstlich amüsierte. Bei der Erinnerung, wie sein kleiner motorisierter „Wischomat“, durch einen minimalen technischen Fehler, durch die halbe Wohnung, mit einem Mordstempo fegte, dass Clare Schwierigkeiten gehabt hatte, das „kleine schlüpfrige Ding“ wieder einzufangen, brachen allesamt in ein schallerndes Gelächter aus. „Jetzt weißt du auch, woher du das –nicht vorhandene- technische Verständnis hast“, brachte Vicky lachend über ihre Lippen und schaute ihren Bruder mit einem Augenzwinkern an. „Oh ja, du hast uns auch schon einige Nerven und vor allem Geld gekostet“, meldete sich Richard amüsiert zu Wort, als er sich selbst von seinem Lachanfall erholt hatte. „Deine kleinen Experimente oder Ideen, waren manchmal haarsträubend.“

 

„Lebensgefährlich trifft es eher… Ich frag mich manchmal, wie wir es geschafft haben, ihn großzuziehen, ohne dass unser Haus in Flammen stand.“ Schmunzelnd stand Clare auf und warf ihrem Sohn einen liebevollen aber zugleich amüsierten Blick zu, der nur kopfschüttelnd dasaß und ein „So schlimm war ich gar nicht“, vor sich hin murmelte. Er war der Jüngste, dazu noch der einzige Sohn und war von je her derjenige gewesen, über den sich am meisten amüsiert, ihm aber auch am meisten verziehen wurde. Diesen Bonus hatte er schnell raus und sich schonungslos zu nütze gemacht gehabt - oftmals zum Ärgernis seiner Schwestern. Seine Mutter wandte sich zu Richard und bat ihn, sie kurz zu begleiten, bevor sie gemeinsam das Esszimmer verließen, als Lizzy von ihren neuen musikalischen Plänen erzählte. „Weißt du, wer sich bei mir gemeldet hat?“, fragte sie Rob, der gerade dabei war, seine Serviette in seine Einzelteile zu zerlegen. „Ne, woher?“

 

„Carter Burwell“, ließ sie mit einem breiten Lächeln in ihrem Gesicht auf ihn los, was sofort seine volle Aufmerksamkeit auf sie richten ließ. „Er hat mich angefragt, ob ich noch mal Interesse habe, für den New Moon Score, ein paar Vocals einzusingen.“

„Cool, freut mich. Und, hast du zugesagt?“ Rob schmiss seine zerfledderte Servierte auf seinen leeren Teller, als Vicky begann den Tisch abzuräumen und ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, weil sein Platz aussah, als wenn er ein halbes Huhn gerupft hätte. Was ihm jedoch nur ein entschuldigendes Schulterzucken entlockte, während Lizzy antwortete: „Nein, leider kam die Anfrage zu kurzfristig. Ich bin in dem Zeitraum voll eingespannt. Ach, das ärgert mich, aber er wäre für weitere Projekte noch an mir interessiert.“

„Na, dann halt …“ Rob verstummte abrupt und sprang auf, als er seine Eltern, vom Flur aus, zurückkommen sah, die eine riesige Truhe schleppten, um ihnen diese abzunehmen. „Was wollt ihr mit dem Monstrum? Boah, ist die schwer!“

 

„Geht’s?“, fragte Clare besorgt, wobei sein Vater direkt wieder unter die Truhe griff, als sie sahen, wie er unter dem Gewicht zu taumeln begann. „Ja geht. Paps, Finger weg! Ich schaff das schon.“ Richard zog direkt seine Hände zurück, blieb aber in Alarmbereitschaft, während er neben seinem Sohn herging, der die Truhe langsam ins Esszimmer hievte. „Was habt ihr bloß da drin?“, schnaubend und unsanfter als gewollt, ließ er die Kiste direkt vor dem Esstisch auf den Boden fallen, als auch schon seine Mutter neben ihm auftauchte. „Dad und ich haben den Dachboden aufgeräumt und ein paar Schätze gefunden. Kommt mal alle her.“ Mit einem aufgeregten und breiten Grinsen auf ihrem Gesicht, fuchtelte sie mit ihren Armen in der Luft rum, und befahl damit mehr oder weniger ihren Kindern, sich auf ihre Plätze am Tisch zu begeben. Ohne zu diskutieren, setzte sich Rob wieder auf seinen Stuhl, während ihm Böses schwante. Denn wenn seine Mutter mit so einem freudigen Grinsen auf den Lippen alle zusammentrommelte, bedeutete es meist, dass viele Kindheitserinnerungen hervorgekramt wurden - er sollte recht behalten. Als seine Schwestern auch endlich aus der Küche zu ihnen gestoßen waren und Platz genommen hatten, wirbelte ihre Mutter zur Truhe herum und riss diese mit einem Schwung auf, während Richard sich lässig neben ihr niederließ. „Ihr glaubt ja gar nicht, was wir alles da oben gefunden haben“, murmelte sie, als sie bereits mit dem Kopf in der Kiste verschwunden war, bevor sie einen kleinen Karton herauszog und auf den Tisch beförderte. „Ah Gottchen, das ist meiner, mit all meinen Fotos aus der Schulzeit“, stieß Vicky hervor und zog ihn in selben Moment zu sich, um direkt darin zu stöbern. „Ja, genau… aber ich habe da noch was anderes gesehen… wo ist das denn?“ Clare wühlte weiter in den Tiefen der Truhe, während Vicky die ersten Bilder über den halben Tisch verteilte, bis Lizzy plötzlich leise auf quiekte, was Rob kurz zusammenzucken ließ.

 

„Schaut mal, unser klein Robby an der Leine.“ Breit grinsend hielt sie ein leicht vergilbtes Foto, mit einem circa zweijährigen, hellblonden Jungen drauf, hoch, der auf einer kleinen Plattform langlief, während seine Mutter ihn an einem Geschirr festhielt. Augenrollend beugte sich Rob über den halben Tisch, um ebenfalls durch die Fotos zu stöbern, als er frech grinsend ein Lichtbild seiner ältesten Schwester, herausfischte. „Ach, schau mal an … Vickylein mit Schneeketten.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen und das Bild hochgehalten, wo es ihm auch schon aus der Hand gerissen wurde. „Gib das bloß her“, schimpfte Victoria, wobei sie ihr Schmunzeln nur schwerlich unterdrücken konnte. Sie hatte damals ihre Zahnspange gehasst, aber welcher Teenager hatte das nicht? „Sag mal, gibt es nicht auch von unserer Elisabeth, so schöne Fotos?“ Rob sprach ihren Namen extra lang gezogen sowie mit einer hohen Stimme aus, während er weiter durch den Bilderhaufen wühlte und seine Mutter noch mehr Zeugs, auf der Suche nach was auch immer, auf den Tisch beförderte. „Von mir gibt es das sicher nicht, denn an mir ist der Kelch…“

„… nicht vorbeigegangen“, führte ihr Bruder, mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen, ihren Satz zu Ende, wobei er wild wedelnd ein Bild von ihr hochhielt, worauf sie als wohlbeleibtes Baby nur in einer Windel bekleidet und mit zwei kleinen Zöpfen zu sehen war. „Was ein süßer Wonneproppen. Aber ein Lächeln hätte dir auch gestanden, anstatt der Schmollmund.“ Wimpern klimpernd und mit vorgezogener Unterlippe, zog er seine Schwester weiter auf, die mit einem Satz nach oben schoss. „Gib das her … du hast ja gar keine Ahnung“, spie sie ihm fast schon schmollend entgegen, während sie nach dem Foto griff, welches er immer noch wedelnd nach oben hielt. Doch kurz bevor sie es zu fassen bekam, schnellte Rob mit dem Arm zurück, sodass sie beinah mit dem Oberkörper auf die Tischplatte gefallen wäre, wenn sie sich nicht im letzten Moment mit der Hand abgefangen hätte.

 

Laut auflachend ließ Rob sich zurück gegen die Stuhllehne fallen, als sein Blick unvorbereitet aufs andere Ende des Tisches fiel und ihm augenblicklich das Lachen im Halse stecken blieb. Wie mit einem Schlag war seine komplette ausgelassene sowie entspannte Stimmung von ihm gewichen und er spürte, wie sich das beklemmende Gefühl wieder in seinem Körper ausbreitete, als er den kleinen, verstauben Schuhkarton erkannte. Es war genau welcher, den er vor Jahren eigenhändig nach oben auf dem Dachboden befördert hatte.

 

Verdammt, das durfte alles doch nicht mehr wahr sein. In was für einer Horrorshow befand er sich nur?

 

„Hier ist sie ja“, hörte er seine Mutter erleichtert ausrufen, als sie eine große Tüte aus der Truhe zauberte und sich endlich selbst auf einen Stuhl niederließ, während er weiter ungläubig den Karton anstarrte. „Schaut mal, hier sind noch so viele Sachen von euch. Babyzeug, Schühchen…“

 

„Claudia“, rief Lizzy völlig unvorbereitet laut aus und zog eine brünette langhaarige Perücke hervor, als Rob noch immer den zugeschnürten Nikekarton, mit den Augen nervös fixierte, so als wenn er hoffte, diesen mit seiner eigenen Willenskraft in Luft auflösen zu können. Dabei überlegte er krampfhaft, was und wie er es anstellen sollte, damit das verdammte Ding bloß wieder verschwand und nicht noch zum Opfer der Familieninquisition fiel. Unter keinen Umständen wollte er, dass dieser Teil der Vergangenheit weiter in die Gegenwart gerückt wurde, den er so mühsam verschlossen und vergraben gehalten hatte– so wie die vergangenen Jahre auch. Warum, im Gottesnamen, versuchte ihn, seit Tagen alles einzuholen? Er begriff es einfach nicht und es verärgerte ihn maßlos, dass all seine Bemühungen nichts weiter aufkeimen zu lassen, so dermaßen erfolglos waren, dass ihm ein leises Schnaufen entwich. Er konnte nur heilfroh sein, dass der Karton noch komplett ungeachtet geblieben war und er betete inständig, dass es auch weiter so bleiben würde, als er unvermittelt eine Berührung an seinem Kopf spürte, die ihn aus seinen Überlegungen riss. Erschrocken zuckte er zusammen und fuhr mit dem Kopf zur anderen Seite, als der Rest seiner Familie laut zu lachen begann – mal wieder.

 

Hatten sie überhaupt aufgehört habt und was bitte hatte er verpasst?

 

„So hübsch, wie eh und je unsere Claudia“, brachte Victoria nur mühsam unter ihrem Lachanfall hervor, die direkt neben ihm stand und begonnen hatte an seinen Haaren herum zu fuchteln. „Was treibst du da? Lass das!“ Robs Hand fuhr zu seinem Kopf hoch, wobei er plötzlich die langen Haare, die auf seiner Schulter fielen, spürte. Das kleine Biest hatte ihm die Perücke aufgesetzt, worüber sich alle anderen köstlich amüsierten. Normal hätte er den Spaß mitgemacht und ins Lachen mit eingestimmt, auch wenn die Erinnerung an „Claudia“ für ihn nicht zwingend die Besten waren. Doch die Tatsache, dass sich auf dem Esstisch gerade, seine eigene kleine tickende Zeitbombe befand, die ihn schier wahnsinnig machte, ließ ihn all den Spaß nehmen – er war nicht in der Verfassung, sich selbst aufs Korn zu nehmen.  Ruckartig riss er sich den Fiffy vom Kopf und beförderte ihn geradewegs auf die Tischplatte, wobei er sich mühsam ein Lachen heraus zwängte. Schließlich sollte niemand seinen Stimmungswandel bemerken, misstrauisch oder gar auf diese bescheuerte verstaubte Kiste aufmerksam werden. „Tja, Schönheit vergeht nicht“, versuchte er, so locker wie nur möglich zu sagen, während sein Gedankenkarussell weiter nach einer Möglichkeit suchte, wie er unbemerkt das Teil verschwinden lassen konnte. Doch es wollte ihm partout nichts einfallen, was nicht gerade dazu beitrug, dass seine innere Unruhe, die ihn befallen hatte, etwas abebbte und er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ganz im Gegenteil – viel mehr hatte er das Gefühl, je länger das verflixte Teil auf dem Tisch stand, desto ängstlicher wurde er, dass irgendjemand seine „Bombe“ entdecken könnte. Immer wieder ließ er seinen Blick zwischen seiner Familie, die sich noch immer köstlich über ihn amüsierten, und der Box hin und her schweifen. 

 

Konnte diese „Büchse der Pandora“ – Nein, besser „Büchse der Emma“ sich nicht einfach in Luft auflösen? Warum hatte er die nicht einfach vernichtet gehabt? Dann wäre er jetzt erst gar nicht in dieser beschissenen Lage. Verdammt, er könnte sich gerade selbst ohrfeigen.

 

„Oh, der Herr wird ja eine Diva“, kommentierte Lizzy kichernd, seinen kleinen selbstgefälligen Ausspruch, als sie sich über den kleinen Bilderberg auf dem Tisch beugte. „Mum, gibt es nicht noch ein Foto von Rob als Claudia?“

Vicky, die noch immer neben ihrem Bruder stand, beugte sich ebenfalls über die Tischplatte und wühlte zusammen mit ihrer Schwester in den Fotos rum, wobei Rob ein Stück von ihr wegrutschte – näher an seine „Büchse der Emma“ ran.

„Ja, irgendwo muss das sein. Ich meine, ich hab hier noch einen weiteren Karton mit Fotos“, murmelte seine Mutter, als sie zusammen mit Richard den Kopf in der Truhe steckte und ihrem Sohn, damit kurz einen Schreck in seine Glieder versetzte.

 

Hoffentlich meinte sie nicht seine!

 

Doch beide kramten unbeirrt in dem Monstrum von Kiste rum, während Rob weiterhin völlig planlos auf seinem Stuhl saß und die Szenarien seiner Familie kommentarlos beobachtete. Wie kam er denn jetzt bitte hier weg?

„Wisst ihr noch, wie Mum, Rob das erste Mal in Mädchenklamotten, wild geschminkt und unterm Küchentisch, mit Handschellen am Tischbein gekettet, vorgefunden hatte? Ich werde das nie vergessen. Dachte, wir müssten gleich den Notarzt alarmieren, so kreidebleich wurdest du, Mum“, ließ Victoria lachend die Erinnerung bildlich auf sie los, was alle, bis auf Rob, abermals in ein schallerndes Gelächter ausbrechen ließ. Lachend und in Erinnerung schwelgend, suchten sie weiter nach dem einem Bild, was sie von ihm gemacht hatten, als er gerade mal 6 Jahre alt war, und schienen Rob selbst gar nicht mehr wahrzunehmen. Langsam rutschte er immer weiter in die Nähe des Schuhkartons, wobei er immer wieder ein leises Lachen von sich gab, damit bloß nichts auffiel, denn er verfolgte nur ein einziges Ziel – diese Kiste aus den Augen seiner Familie verschwinden zu lassen. Egal wie er es auch anstellen würde, irgendwie würde es ihm schon gelingen. Als er schließlich, im schleichenden Tempo, „die Büchse der Emma“ erreicht hatte, ließen seine Schwestern eine weitere Anekdote von ihm als Claudia los, was alle nur erneut in einen ausgiebigen Lachanfall verfallen ließ. Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang Rob von seinem Stuhl auf, schnappte sich den Karton und nutzte, so seine Chance unbemerkt aus dem Esszimmer zu entkommen. In null Komma nichts war er aus dem Raum geschlichen und stand plötzlich mit der Kiste unterm Arm, wie ein kleiner flüchtiger Dieb, im Flur und wusste nicht, was er damit jetzt anstellen sollte. Verdammt, soweit hatte er noch gar nicht gedacht. Er hatte es zwar geschafft, das Teil aus den Augen seiner Familie zu bekommen, aber nun hielt er diese verdammte „Büchse“ in seinen Händen und stand ratlos in der Diele….

 

Ganz toll gemacht Mr. Pattinson. Vielleicht sollten sie in Zukunft etwas weiter denken, als nur von der Tapete bis zur Wand!

 

Schnaubend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, als ihm bewusst wurde, dass er nicht viel Zeit hatte, bis sie seine Abwesenheit bemerken und ihn womöglich suchen würden. Also bedeutete das, er musste sich schnellstens was einfallen lassen und am besten erst mal aus dem Flur verschwinden – samt Kiste. Eilig lief er die Treppe hoch. Sein erster Impuls war, in sein altes Zimmer zu flüchten, aber, erstens würden sie ihn da sofort finden und er wollte dringend einen Moment für sich haben – den brauchte er, um überhaupt wieder zu klaren Verstand zu kommen. Zweitens, was sollte er da mit der Kiste anstellen? Grübelnd stand Rob einen kurzen Moment auf der obersten Treppenstufe, bis er den Entschluss fasste, weiter rauf zum Dachboden zu laufen. Hier würden sie ihn als Letztes vermuten und er hätte genügend Zeit sich zu überlegen, wie er weiter vorgehen konnte. Vorsichtig öffnete er die Dachbodentür und trat geduckt in den dunklen Raum, während er die Tür hinter sich zuzog, und den Lichtschalter betätigte. Flackernd sprang die Glühbirne an, bis sie den Raum komplett erhellte. Es war staubig und einzelne Spinnweben erstreckten sich über die gesamte Decke, Ecken und über ein paar gelagerte Möbelstücke. Rob trat weiter in den Raum hinein, bis er eine Nische erreichte und sich auf den kleinen Hocker, der unter dem kleinen Dachfenster stand, niederließ. Seine „Büchse der Emma“ stellte er vor sich auf den Boden, bevor er seine Ellbogen auf seine Oberschenkel abstützte und seufzend sein Gesicht in seine Hände vergrub. Augenblicklich überfluteten ihn all die verbotenen Erinnerungen, von dem Tag, wo er begonnen hatte alles von seiner Ex zu verbannen und schließlich in dieser Kiste fest verschlossen hatte. Er spürte nur allzu deutlich, wie seine Mauer begann, nicht mehr in der Lage zu sein, die Wucht der aufkommenden Emotionen standzuhalten, obwohl er krampfhaft versuchte, dagegen anzukämpfen. Rob wollte das alles nicht fühlen - nicht drüber nachdenken, was damals geschehen war, wie er mit sich gehadert hatte und schon gar nicht, wollte er die Bilder vor seinem inneren Auge sehen, die sich schonungslos davor schoben.

 

Verdammt noch mal. Das war Vergangenheit – Vorbei – Vergessen – Nichts von dem, was ihn gerade überflutete, entsprach mehr der Realität. Aber warum ließ es ihn nicht los?

 

Für ihn kam nur eine einzige Erklärung dafür infrage – Reizüberflutung! Da war er sich beinahe sicher, denn wenn er es genauer betrachtete, wurde er, seitdem sein Weg Emmas wieder gekreuzt hatte, ständig mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit konfrontiert. Rob hatte gar keine Chance gehabt, sich dem zu entziehen, geschweige denn Luft zum Atmen zu bekommen. Der heutige Tag war das beste Beispiel dafür, wie sollte ein normaler Mensch da auch in der Lage sein, dass ihn das nicht zu beschäftigen begann? Richtig, das war unmöglich. Und dennoch, ärgerte es ihn maßlos, dass er nicht fähig dazu war, einfach alles von sich abzuschütteln – nichts davon an sich ranzulassen und er begriff nicht, warum es ihm so erging. Schließlich hatte er sich doch geschworen, ihr keinerlei Macht mehr zu verleihen und obwohl er sie nicht mal mehr in sein Leben ließ, saß er hier auf dem Dachboden und betrachtete ratlos diese gottverdammte Kiste. Frustriert rieb er sich mit dem Daumen und Zeigefinger die Augen, während er angestrengt überlegte, was er damit machen sollte. Unter keinen Umständen würde er sie öffnen und reinschauen. Denn er verspürte nicht im Geringsten das Bedürfnis nachzuschauen, ob sich noch alles darin befand, was er damals hineingelegt hatte - er wollte einfach nichts mehr damit zu tun haben. Und trotzdem nahm er den Karton in die Hand, pustete die oberste Staubschicht ab und untersuchte eindringlich, ob eine Beschädigung zu erkennen war. Ob sie von jemanden geöffnet worden war, doch sie schien noch original verschlossen zu sein, so wie er sie vor sechs Jahren nach hier oben verfrachtet hatte. Zu seiner Verwunderung und gleichzeitig zu seinem Ärgernis, verspürte er das Gefühl der Erleichterung, als er seine persönliche „Büchse der Emma“ wieder vor seinen Füßen abstellte.

 

Das war doch grotesk! Was trieb er hier?

 

Eigentlich war er sich sicher, dass er sich dieser Kiste entledigen sollte, schon allein, damit es keine Möglichkeit mehr geben würde, dass er damit jemals wieder konfrontiert werden konnte. Aber allein der Gedanke daran, dass er alles, was er fest verschlossen und verbannt hatte, damit gänzlich verlieren würde, versetzte ihm unerwartet ein Stich in seinem Herzen, was ihn wiederum augenblicklich frustriert aufschnaufen ließ. Warum im Gottesnamen, war er immer noch nicht in der Lage, sich von diesen Dingen zu trennen? Gott, er verstand es nicht und er merkte, wie die Wut, gegen sich selber und wegen seiner Unfähigkeit, seinen Weg an die Oberfläche bahnte – genauso wie Emmas trauriges Gesicht vor ihrem Haus, sich vor sein geistiges Auge schob. Wütend verpasste er dem Karton einen Tritt, sodass dieser ein stückweit über den Boden schlitterte, bis er gegen ein Regalbrett donnerte, als Rob aufsprang und mit voller Wucht mit dem Kopf, gegen einen Dachbalken knallte. „Fuck!“, schrie er schmerzerfüllt auf und rieb sich mit der Hand, die pochende Stelle. Ihm reichte es jetzt… er musste damit abschließen – endgültig! Auch wenn er das verdammte Zeug aus seiner Vergangenheit nicht zerstören konnte, würde er es schaffen, alles zu einem Abschluss zu bringen. Dann verschwand diese blöde „Büchse der Emma“, einfach für immer, an einem Ort, wo sie niemand finden würde.

 

Entschlossen ging er auf den Karton zu, schnappten sich diesen vom Boden und marschierte zum anderen Ende des Dachbodens, bis er vor einem alten großen Regal stand. An dieser Stelle hatte er als Kind eine kleine verklinkerte Nische im stillgelegten Kaminabzug entdeckt gehabt, der sich direkt hinter dem Regal befand. Da würde nie jemand anderes draufkommen, wenn er dort seine Vergangenheit endgültig verbannen würde. Er fragte sich, warum er damals nicht schon drauf gekommen war, denn dann wäre ihm heute einiges erspart geblieben. Vorsichtig zog er das Regal ein Spalt nach vorne, gerade so viel, dass er genügend Platz hatte, um den Schuhkarton in die Nische zu schieben, bevor er es langsam wieder zurück an die Wand rückte. Für einen Moment betrachtete er die Stelle, wo er gerade noch die Öffnung gesehen hatte, doch das Regal verbarg seine „Büchse“ perfekt. Erleichtert, dass er sein kleines Gefühlssturmtief schadenfrei überstanden hatte, ließ er sich mit dem Rücken und geschlossenen Augen gegen das Möbelstück fallen und atmete tief durch.

 

In diesem Moment konnte er noch nicht erahnen, dass weder der heutige Tag, noch die vergangenen Tage, nichts im Vergleich zu dem darstellen sollten, was ihm noch als Sturm der Gefühle bevorstand.

 

Halbwahrheiten

 

Kapitel 13

 

Halbwahrheite

 

 

Charlotte stand in der Damentoilette am Waschbecken und wusch sich gerade die Hände, als Bridget eilig hereingestürmt kam. „Und, was hat er gesagt?“, stieß sie ungeduldig hervor, wobei sie sich mit ihrem Hintern gegen das Waschbecken abgestützt und die Arme vor ihre Brust verschränkt hatte. „Wer?“

„Lotte!“
„Was denn? Ich hab dir gesagt, ich mach das nicht.“ Mit einer schnellen Handbewegung drehte Lotte dem Hahn das Wasser ab und wirbelte zum Handtuchspender rum, sodass sie ihrer Freundin den Rücken zuwandte. „Du kannst froh sein, dass ich überhaupt mit Tom hier bin.“

„Wir hatten doch besprochen, dass du mal ganz leicht nachhakst. Für dich beutetet es doch ein Leichtes“, sagte Bibi mit einem Tonfall, wo ihr Unglauben deutlich herauszuhören war. Schließlich hatten sie den gestrigen Tag damit verbracht, irgendwie Emma aufzubauen, die erst jetzt den ganzen Schmerz der vergangenen Jahre durchlebte, den sie so verdrängt hatte. Nebenbei mussten ihre Freunde selbst noch deren Bekenntnis verarbeiten, denn keiner von ihnen hatte mit dieser Wendung der damaligen Vorkommnisse gerechnet. Selbst Lotte war völlig aus den Wolken gefallen, als sie am späteren Morgen von alldem erfahren hatte und konnte es ebenfalls nicht begreifen, wie ihre Schwester es geschafft hatte, alles vor ihr verborgen zu halten. Keiner der Drei konnte sich Ansatzweise vorstellen, was ihre Freundin gerade durchlitt, obwohl diese immer wieder beteuerte, dass sie mit Timothy ihr neues Glück gefunden hatte, misstraute Bibi ihrem Urteilsvermögen. Sie glaubte nicht, dass Emma derzeit überhaupt in der Lage war, ihre Emotionen zu deuten – geschweige denn irgendwie zu ordnen. Dennoch akzeptierte sie, dass ihre Freundin zwar den Schmerz durchleben musste, um somit eine Chance zu haben, mit Rob abzuschließen zu können - trotzdem ließ sie das Gefühl nicht los, dass Emma dazu nie wirklich im Stande sein würde. Bridget beschäftigte seitdem nur noch die Frage, wie Rob die Trennung erlebt sowie verarbeitet hatte, und wie er aktuell zu Emma und ihrem Aufeinandertreffen stand. Ihr blieb einfach nichts anderes übrig, als es in Erfahrung zu bringen und irgendwie würde sie die Antworten auf ihre Fragen schon bekommen. Tja, und wer könnte es nicht besser wissen, als sein ständiger Schatten und bester Freund – Tom?! Daher hatte sie sich Lotte vorgeknöpft und sie gebeten, bei Robs Freund einfach mal vorzufühlen oder ihr seine Nummer zu geben, aber aus irgendeinem Grund weigerte sie sich.

 

„Warum will das verdammte Ding nicht?“, fluchte Lotte, während sie mit nassen Händen an dem Stück Stoff, welches aus dem Spender ragte, unbeholfen dran rum zupfte. Doch das Teil bewegte sich keinen Millimeter. „Du musst auch da drauf drücken, dann kommt das von allein rausgefahren.“ Bibis Finger betätigte den kleinen grauen Knopf seitlich am Kasten, wobei zeitgleich ein leises Surren ertönte, bevor das Tuch in die Hände von Charlotte glitt, die nur ein erstauntes „Oh“ hervorbrachte. Lässig und abwartend stütze sich Bridget mit der Schulter an der Wand ab, wobei sie beobachtete, wie ihre Freundin sich schweigend die Hände abtrocknete. „Also wirst du ihn noch fragen?“, hakte sie schließlich nach, was ihr endlich Lottes Aufmerksamkeit schenken ließ und diese sie das erste Mal, seitdem sie die Toilette betreten hatte, anschaute. „Nein. Da misch ich mich nicht ein. Das habe ich dir aber heute früh schon gesagt.“ Mit einem entschlossenen Blick schaute sie ihrer Freundin direkt in die Augen, während sie ihre Hände noch einmal an ihren Hosenbeinen abrieb, als das Tuch wieder vom Spender eingezogen wurde. Diese komischen Stofftücher, in den öffentlichen Toiletten, waren einfach fürchterlich, nie nahmen sie die Feuchtigkeit richtig von den Händen auf. „Mensch Lotte, willst du denn gar nicht wissen, wie er die ganze Geschichte erlebt hat?“ Mit einem Ruck stieß sich Bibi von der Wand ab, als ihre Freundin sich wieder umdrehte und sich dem Spiegel zu wandte, um mit den Händen ihre Haare zu richten.

 

„Dann musst du Rob selber fragen.“ Leise aufseufzend schloss Lotte einen Bruchteil für eine Sekunde die Augen, um sich ihre Fassung zu bewahren. Sie hatte Bibi wirklich gern und würde mit ihr Pferde stehlen, aber darum, worum sie sie bat, das konnte und wollte sie nicht machen. Es gab in den letzten Tagen schon viel zu viel Ärger sowie Zerwürfnisse wegen der Vergangenheit und wohin hatte es ihre Schwester geführt? In ein absolutes Gefühlschaos, woran sie selbst nicht ganz unbeteiligt gewesen war – einschließlich Tom. Nein, sie hatte sich vorgenommen, sich komplett daraus zu halten und auch Tom nicht weiter damit reinzuziehen. Lotte würde ihrer Schwester nicht noch mehr, die Vergangenheit in die Gegenwart holen und ihr schmerzhaft vorsetzen. Was sollte es auch bringen, als nur noch mehr Leid und klaffende Wunden? Der Anblick von Emma und das Wissen, dass sie dem allem erst den Anstoß im Kaufhaus gegeben hatte, setzte ihr schon genug zu und sie hatte überhaupt keine Ahnung, warum es ausgerechnet Bridget plötzlich so wichtig war, seine Seite der Geschichte zu erfahren. Gut, wenn sie es unbedingt wissen musste, dann sollte sie irgendwie an Robert rankommen und ihn selbst ausfragen, aber nicht mit ihrer Hilfe. Außerdem wollte sie unter keinen Umständen, dass Tom nachher noch dachte, sie hatte einem Treffen zugestimmt, nur um mehr über seinen Kumpel herauszubekommen. Denn dem war ganz und gar nicht so. Tom gefiel ihr und er gab ihr das Gefühl, als wenn sie sich schon ewig kennen würden, ohne sich je aus den Augen verloren zu haben. Ihr war nicht bewusst, was es war oder was er an sich hatte, dass sie in seiner Nähe so nervös wurde, aber sie genoss jeden einzelnen Moment mit ihm. Es war das völlige Gegenteil von dem, was sie vor ein paar Jahren noch für ihn empfunden hatte. Doch als sie im Kaufhaus vor ihm gestanden und in seine strahlend dunkelblauen Augen geschaut hatte, hatte sie unerwartet ein sanftes Kribbeln in ihrem ganzen Körper gespürt. Sie war von ihrer Reaktion auf ihn, selbst überrascht und teils irritiert gewesen, doch als Tom dann noch auf ihrer Party aufgetaucht war und sie einen wirklich wunderschönen sowie lustigen Abend zusammen verbracht hatten, war das Gefühl nur mehr in ihr gewachsen. Er war immer noch derselbe schlaksige Typ von damals, nur war aus ihm ein attraktiver junger Mann geworden, der bei Weitem seinen spitzfindigen Humor und Schlagfertigkeit nicht verloren hatte. Und als er sie heute, nachdem sie sich stundenlang ein Wortgefecht nach dem anderen in den Nachrichten geliefert hatten, nach einem Date gefragt hatte, hatte sie ohne zu zögern zugesagt. Sie sah ihn eindeutig mit ganz anderen Augen als früher, und es war ihr wichtig geworden, dass er bloß nicht auf den Gedanken kam, dass sie ihn nur ausnutzen wollte. Also nein, sie würde definitiv keine Inquisition durchführen, sondern nur den weiteren Abend mit ihm genießen wollen.

 

„Erklär mir mal, wie ich an den Herrn Pattinson herankommen soll, außer über Tom – sprich dich?“ Bibi, die wieder neben ihr stand, hatte die Arme auf ihren Hüften gestemmt und schaute sie mit einem leicht verärgerten Blick an. „Ihr zwei seid das einzige Verbindungsstück zu den Beiden. Ihr schlagt die Brücke. Wenn wir Emma helfen wollen, und zwar so richtig, dann müssen wir wissen, wie es mit ihrem Ex aussieht. Nur so haben wir eine Chance, die richtige Lösung für sie zu finden. So wird das rein gar nix. Ich glaube einfach nicht daran, dass Emma es schaffen wird, sich Rob aus dem Herz zu schlagen, und was ist, wenn Rob es mit ihr auch nicht geschafft hat? Aber das habe ich dir vorhin schon gesagt. Wir drehen uns im Kreis“, resigniert warf sie ihre Hände in die Luft und drehte sich schnaufend zum Waschbecken, während Lotte sich ihre Handtasche über die Schulter warf, wobei sie versuchte, den Wortschwall ihrer Freundin zu verarbeiten. Unschlüssig rieb sie mit dem Daumen über ihre Oberlippe, während sie überlegte, wie sie Handeln sollte. Die Fragen, die Bridget aufwarf, waren allesamt berechtigt und dennoch hatte sie zu große Angst, das Falsche zutun und das wollte sie unter keinen Umständen. Sie hatte ihrer Schwester mit ihrer Unachtsamkeit schon viel zu sehr verletzt und für noch mehr Gefühlschaos wollte sie nicht verantwortlich sein. Aber was wäre, wenn Bridget recht hatte und ihre Schwester würde nicht über Rob hinwegkommen, weil sie nie gänzlich alles geklärt oder Bridget nicht die Möglichkeit bekommen hatte, alles zu erfahren, was dafür wichtig gewesen wäre, um einen Abschluss zu finden?

 

„Hat Tom dich schon nach Emma gefragt? Was wäre, wenn er für Rob über dich, die Brücke schlagen würde?“, riss Bibi sie mit einem Schlag aus ihren Gedanken, die mit den Armen abgestützt am Waschbecken stand und ihr einen eindringlichen Blick, über den Spiegel, zuwarf.

 

Wie bitte? Nein, das würde Tom nicht machen. Er würde sie nicht ausnutzen, oder?

 

Lotte erwiderte den Blick ihrer Freundin, als sie ihr unsicher antwortete, während sich dabei ihre Gedanken überschlugen. „Nein, weder Rob noch Emma waren Thema. Wir haben unsere Zeit zusammen genossen - für uns und er macht mir nicht den Eindruck, dass ich nur Mittel zum Zweck bin.“ Zumindest hoffte sie das inständig, wobei Bridgets Worte begannen die ersten Unsicherheiten in ihr zu säen. Und das, obwohl er, bei jedem Lächeln, jeder Berührung und jedem Wort das er ihr schenkte, sie das Gegenteil spüren ließ. Ihre Freundin stieß sich vom Becken ab und drehte sich, mit einem besänftigen Lächeln, zu ihr um. „Nein Lotte, so habe ich das nicht gemeint. Du wirst kein Mittel zum Zweck sein. Ganz sicher nicht, das sieht man schon die gesamte Zeit, seitdem ihr hier seid, an den Blicken die er dir zuwirft. Ich wollte dir nur einen kleinen Denkanstoß geben, was, wenn Rob ihn nur drum gebeten hätte. Fändest du das Verwerflich?“ Erleichtert atmete Lotte aus, obwohl sie sich gerade ziemlich dämlich vorkam, weil sie sich überhaupt verunsichern hatte lassen und ihr somit bewusst wurde, wie wichtig ihr Tom bereits in kürzester Zeit geworden war.

 

Oh je, hoffentlich ging das nur gut.

 

„Natürlich fände ich es nicht verwerflich. Ich finde deine Bitte auch nicht unangemessen, aber ich kann das einfach nicht, Bibi. Wenn das schiefgeht und Emma nur mehr im Chaos verfällt, daran will ich nicht wieder schuld sein. Ich hab schon genug verbockt“, sagte sie ehrlich, während sie mit den Fingern am Träger ihrer Tasche nestelte, als ihr ein Kompromiss in den Sinn gekrochen kam. „Okay, dann rede du mit Tom…wenn wir eh einmal hier sind. Aber bitte nicht zu offensichtlich. Und stell klar, dass das auf deinem Mist gewachsen ist. Ich habe keine Lust, dass ich ihn damit verärgere.“ Noch während Lotte sprach, formten sich Bridgets Lippen zu einem breiten Lächeln, wobei sie entschlossen die Schultern raffte und aufgeregt lospreschte: „Natürlich mach ich es nicht mit der Axt im Walde. Ich lass mir da was einfallen. Ein lockeres Gespräch. Ich hätte es aber nie gemacht, wenn du nicht dein Einverständnis gegeben hättest, Lotte. Auch, wenn ich dir gerade ziemlich nervig vorkomme, aber es ist das Richtige. Vertraue mir. Und Emma sowie Rob bekommen davon ja erst mal gar nix mit. Wir sammeln nur Informationen, tauschen uns aus und machen uns ein Bild von der Gesamtsituation. Also alles im grünen Bereich. Ja, so machen wir das!“, freudig, dass sie die Möglichkeit ihren Plan umzusetzen bekam, klatschte Bibi in die Hände und rückte anschließend ihre Schürze zurecht, bevor sie herumwirbelte und eilig Richtung Tür schritt. „Aber jetzt muss ich schnell zu Paul an die Bar. Der denkt sonst noch, ich hätte mich im Klo runtergespült“, lachend verließ sie die Damentoilette und ließ Lotte mit einem irritierten Blick am Waschbecken stehen, die nur ein „Ja, und ich zu Tom“, über die Lippen brachte, bevor auch sie zurück in den Pub ging.

 

 

Zur selben Zeit stand Emma zögernd, ob sie klopfen oder einfach den Schlüssel benutzen sollte, vor Timothys Appartementtür, während sie versuchte, ihr Gefühls- und Gedankenkarussell ein wenig entschleunigt zu bekommen, denn noch immer spürte sie die leisen Nachwehen ihres Zusammenbruchs. Sie war sich nicht im Geringsten sicher, was sie hier gerade veranstaltete und ob das alles so richtig war, wie sie es handhabte, aber sie war ihrem Freund eine Erklärung schuldig. Zudem hatte sie selbst noch einige Fragen, die es zu beantworten galten. Somit war eine Aussprache unausweichlich und nachdem sie ihn Samstagnacht und den ganzen gestrigen Tag von sich weggestoßen hatte, konnte sie es nicht noch weiter herauszögern, ohne damit eine weitere Katastrophe heraufzubeschwören. Ihre Freundinnen hatten gestern schon genug zu tun, ihn „abzuschütteln“ oder zu „vertrösten“, weil sie nicht in der Verfassung war, sich ihm gegenüberzustellen, ohne dass er misstrauisch geworden wäre oder an ihrer Liebe gezweifelt hätte. Den gesamten Nachmittag, nachdem Lotte sich in die Kanzlei und zum anschließenden Date mit Tom verabschiedet hatte – noch so ein Thema was sie beschäftigte - hatte sie mit Ilka gesprochen, wie sie die Aussprache mit Tim angehen könnte. Doch beide waren eher ratlos das Einzige, worüber sich beide sicher und einig waren, war die Tatsache mit offenen Karten zu spielen, ohne ihn damit zu sehr zu verletzen oder ihm einen Grund der Sorge zu geben. Das glich einem absoluten Balanceakt und Emma hatte keinen Schimmer, wie sie das alles bewältigen und überstehen konnte, wo sie selbst ihr Gleichgewicht verloren hatte. Schließlich gab es kein Netz oder doppelten Boden mehr, welches sie auffangen könnte, wenn sie auch diese Beziehung, durch ihre Fehlentscheidungen, verlieren würde - ihre Mauer war gefallen und sie war all ihren Emotionen schutzlos ausgeliefert. Emma betete inständig, dass sie gerade das Richtige tat und Timothy weiterhin zu ihr stand, wie eh und je – ohne an ihnen zu zweifeln. Emma schloss einen Moment die Augen, um tief durchzuatmen und den Mut zu finden, sich der Situation zu stellen. Entschlossen hob sie die Hand, um an die Tür zu klopfen, als diese mit einem Schwung aufgerissen wurde und sie geradewegs in die grünen Augen ihres Freundes blickte. Tim stand mit der Jacke überm Arm gelegt im Türrahmen und starrte sie völlig verwundert an, bevor er sie augenblicklich in seine Arme schloss. „Was machst du denn hier? Ich wollte gerade zu dir. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten“, flüsterte er ihr sanft ins Ohr, während sie an seinen Oberkörper gedrückt stand und nur zögerlich ihre Arme um seinen Körper legte. Irgendwie fühlte es sich in diesem Moment falsch an, wobei sie nicht ausmachen konnte, woran es lag, denn trotz allem, freute sie sich ihn zu sehen und ihm nah sein zu können. Dennoch beschlich sie ein merkwürdig beklemmendes Gefühl, als sie in seinen Armen gefangen war. Wahrscheinlich lag es nur an der gesamten vertrackten Situation und dem Wissen, was ihr gleich noch bevorstand, weswegen sie schließlich zu ihm gefahren war. Vorsichtig löste sie sich aus der Umarmung und wich einen Schritt von ihm zurück, um ihn erneut anschauen zu können, bevor sie ihm, mit einer unsicheren Stimme, antworten konnte. „Wir müssen reden, Tim.“

 

 

„Da bist du ja wieder. Ich hatte schon Sorge, du bist aus dem Toilettenfenster geflüchtet.“ Mit einem schelmischen Grinsen auf seinen Lippen begrüßt Tom Lotte, als sie sich neben ihm auf das Sofa, in der kleinen Ecke im Pub, niederließ und ihre Tasche zu ihren Füßen stellte. „Dafür hätte ich erst ein Loch in die Wand schlagen müssen, mein Lieber“, gab sie mit einem ebenso frechen Grinsen zurück, wobei ihre grau-grünen Augen ein Funkeln versprühten, welches Tom einen Moment den Atem nahm. Lotte verzauberte ihn mit jeder Minute mehr, während er sich fragte, wo ihn das bloß hinführen sollte, denn die kleine Auseinandersetzung mit Rob ließ ihn nicht los. Auch, wenn er Lottes Nähe in jeder einzelnen Sekunde genoss und er sich ihr auch nicht entziehen konnte, plagte ihn dennoch das schlechte Gewissen seinem Freund gegenüber. Schließlich würde es ihm an Robs Stelle nicht anders ergehen, wenn ausgerechnet er, sich in die Schwester seiner Ex verknallen würde, mit der ihm eine schmerzhafte Vergangenheit verband. Aber genau das tat Tom gerade in Schallgeschwindigkeit – er spürte es in jedem klitzekleinen Moment nur intensiver, den er mit Lotte verbrachte, wie sie ihm gehörig den Kopf verdrehte. Er war definitiv nicht mehr in der Lage, sich dagegen zu wehren, obwohl er es auch nicht wirklich versucht hatte – aber der Zeitpunkt, jetzt noch gegen die aufkommenden Gefühle anzukämpfen, war eindeutig verstrichen. „Möchtest du noch was trinken?“, fragte er mit einer fast schon zittrigen Stimme, als er sich langsam aus ihrem atemberaubenden Blick befreien konnte. Am liebsten hätte er sie augenblicklich küssen und ihr damit unmissverständlich zu verstehen geben wollen, wie sehr sie ihn schon verzaubert hatte, doch auf einer unerklärlichen Weise fühlte sich dieser Moment falsch an. Er wäre bei jeder anderen Frau wahrscheinlich einfach seinem instinktiven Verlangen gefolgt, ohne vorher groß darüber nachgedacht zu haben, welche möglichen Konsequenzen sein Handeln haben könnte. Doch bei Charlotte war es was völlig anders, denn sie war schon jetzt nicht mehr, nur irgendeine Frau für ihn und er wollte es unter keinen Umständen mit ihr vermasseln. Also hatte er sich nur mühsam aus ihrem Blick befreit, um wieder einigermaßen zu klaren Verstand zu kommen. Als er ihr, die nächstbeste Frage, die ihm in den Sinn geschossen kam, wie ein blutiger Anfänger, um die Ohren schleuderte.

 

Ganz prima gemacht!

 

„Äh, Danke ich hab noch.“ Mit einem zaghaften Lächeln deutete Lotte auf ihre Cola, die vor ihr auf den kleinen Tisch stand, während sie versuchte, ihr Herz unter Kontrolle zu bringen, dass unter seinem Blick wie wild zu schlagen begonnen hatte. Tom hatte sie schon den halben Nachmittag mit seinen Augen und Gesten völlig aus der Fassung gebracht, wobei sie sich nicht erklären konnte, was im Gegensatz zu früher, so anders an ihm war, weshalb sie so nervös wurde. Sie spürte nur, dass sie sich gleichzeitig locker und leicht in seiner Nähe fühlte und er sie all ihre Sorgen, die sie derzeit plagten, vollkommen vergessen lassen ließ. Tom tat ihr einfach gut und sie sog jeden Augenblick mit ihm auf, auch wenn das schlechte Gewissen im Hintergrund lauerte, welches sie ihrer Schwester gegenüber verspürte. Und obwohl sie sich sicher war, dass es sie definitiv einholen würde, schob sie das beklemmende Gefühl weiter von sich und schenkte Tom ein Lächeln, der mit dem Rücken an der Armlehne des Sofas lehnte. Er hatte das rechte Bein angewinkelt auf die Sitzfläche gezogen und seinen Fuß unter seinem Oberschenkel vergraben, während sein rechter Arm lässig über der Lehne lag, als ihre Blicke erneut aufeinandertrafen. „Wie kommt es, dass du Anwältin werden willst?“ Neugierig wartete er auf ihre Antwort, denn die Frage beschäftigte ihn bereits, seitdem er sie heute Nachmittag von der Kanzlei abgeholt hatte, während Lotte einen Schluck von ihrer Cola trank. „Hmm, so richtig weiß ich das gar nicht“, antwortete sie, als sie das Glas zurück auf den Tisch stellte und sich ebenfalls seitlich auf die Couch setzte, sodass sie ihn direkt anschauen konnte, was ihr Herz nur erneut ins Stolpern brachte. „Es ist mehr oder weniger passiert. Ich möchte eigentlich nur Menschen helfen. Und da ich kein Blut sehen kann, war der Beruf als Ärztin direkt ausgeschieden.“ Lotte kicherte, als sie das linke Bein aufs Sofa zog, genauso wie Tom dasaß, der ihr aufmerksam zuhörte. „Aber da ich schon immer recht Wortgewand war, hatte mich die Justiz schnell interessiert. Wie kann man Menschen nicht besser helfen, als wenn man sie vor Unrecht bewahrt? Es gibt viel zu viel Ungerechtigkeiten auf der Welt.“


„Das stimmt allerdings, auf den Mund bist du ganz sicher nicht gefallen.“ Das schelmische Grinsen, was er ihr zu warf, ließ sie leise Auflachen. „Ja, das haben alle gesagt, als ich ihnen mitgeteilt habe, dass ich Jura studieren will. Aber wie bist du eigentlich zur Schauspielerei gekommen?“ Noch ehe er antworten konnte, wurden sie durch Bibi, die an ihren Tisch trat, aus ihrer Unterhaltung gerissen. Augenblicklich fuhr Lotte mit dem Kopf rum, während ihr Körper schlagartig von einem beklemmenden Gefühl durchflutet wurde, als sie im Gesicht von ihrer Freundin erkannte, dass der Moment gekommen war, wo diese all ihre Fragen beantwortet haben wollte.

 

Hoffentlich ging das bloß gut.

 

 

Die Worte und das unerwartete Auftauchen seiner Freundin ließ Timothys Alarmglocken ganz leise auf schrillen, obwohl er gleichzeitig maßlos erleichtert war, dass sie endlich auf ihn zu kam. Er hatte die gesamte Samstagnacht sowie den Sonntag unruhig und voller Sorge um Emma, was sie bloß so erschüttert haben könnte, in seinem Appartement verbracht. Dabei hatte er unzählige Male versucht, sie zu kontaktieren, doch ihre Freundinnen hatten ihn immer wieder versucht zu beruhigen und ihn um Zeit gebeten ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren, was passiert war. Diese Ungewissheit, die Verfassung von Emma, so wie er sie noch nie erlebt hatte und die Vorkommnisse der letzten Tage, hatten ihn fast in den Wahnsinn getrieben. Immer wieder war er in Gedanken die unterschiedlichsten Theorien durchgegangen, was nur vorgefallen sein könnte, nachdem er sie vorm Haus wieder hineingeholt hatte. Schließlich war sie zu diesem Zeitpunkt noch völlig normal gewesen, oder hatte er dort irgendetwas übersehen, weil er von dem Telefongespräch viel zu aufgebracht gewesen war? Wenn er nur an die Anrufe dachte, verkrampfte sich wieder sein Magen, und das beklemmende Gefühl kehrte augenblicklich in ihm zurück, aber eigentlich durfte es damit gar nicht zusammenhängen, denn er hatte ja… oder lag alles nur mit ihrem Ex-Freund zusammen? Tim hatte ihn kurz gesehen, als er auch draußen auf der Treppe gestanden hatte und dann wortlos an ihm vorbeigerauscht war. Aber, wenn dieser Robert dafür verantwortlich gewesen wäre, dann hätte ihm Emma doch ohne zu zögern davon erzählt und nicht von sich weggestoßen - zumindest hoffte er das. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, ihm kam einfach keine plausible Erklärung für das Verhalten seiner Freundin in den Sinn, welches ihn selbst aus der Bahn warf. Und dass dann ausgerechnet noch seine Cousine und Cousin zu Besuch waren, hatte auch nicht gerade zu einer gelassenen Stimmung beigetragen – ganz im Gegenteil. Er hatte sich irgendetwas aus den Fingern gesogen, um Emmas Abwesenheit zu entschuldigen, ohne dass sie misstrauisch werden würden. Zu seiner Erleichterung hatten sich die Beiden mit seiner Erklärung, dass Emma sich nicht wohlfühlte, vorerst zufriedengegeben und waren auf eigene Entdeckungstour gegangen, doch nachdem er den gesamten Montag keinerlei Lebenszeichen von seiner Freundin bekommen hatte, hatte die Angst sich weiter ihren Weg in ihm gebahnt – was, wenn ihr Zusammenbruch doch mit ihm zusammenhing und sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte? Schlussendlich hatte Tim die Ungewissheit nicht mehr ausgehalten und wollte sie gerade zu Hause aufsuchen, um endlich zu erfahren, was sie so durch den Wind gebracht hatte, als sie unvermittelt vor seiner Tür stand. Aber Emmas Anblick, wie sie blass und bedrückt auf seinen Sessel saß, dabei an ihrem Saum ihres Oberteils nestelte und auf ihn ziemlich durcheinander wirkte, ließ nicht im Geringsten seine Sorgen von ihm abfallen. Viel mehr beunruhigte ihn ihr nervöser Zustand, während seine Angst immer weiter in ihm emporkroch und er ihre Worte, was sie ihm zu sagen hatte, fürchtete. Er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen oder was er machen würde, wenn sie seinetwegen so aus der Bahn geraten war und sie ihm nicht verzeihen könnte.

 

Was wenn…?

 

Er hatte keine Chance seine Gedanken weiter auszuführen, als er sich den Sessel vor Emma niederließ und ihr undefinierbarer Blick auf seinen traf, was ihm prompt einen Kloß im Hals beschwerte.

 

Was ging in ihr vor?

 

„Emma, ich bin fast vor Sorge…“, begann er mit einer unsicheren Stimme, wobei er sich langsam nach vorne beugte und seine Unterarme auf seine Oberschenkel legte, als er seine Finger ineinander verwob, ohne dabei den Blickkontakt zu verlieren. „Bitte sag mir, was passiert ist…“

 

In Emma tobte das reine Gefühlschaos, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und dabei die richtigen Worte zu finden. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie sie anfangen oder wie sie es ihm erklären konnte, ohne dass er die falschen Schlüsse ziehen würde. Allein sein besorgter oder gar ängstlicher Blick brachte sie völlig aus dem Konzept, es schien, als wenn er die letzten beiden Tage nicht geschlafen hätte und fast vor Sorge um sie verrückt geworden wäre. Was hatte sie ihm nur damit angetan? In ihr keimte augenblicklich das schlechte Gewissen, dass sie ihn so von sich weggestoßen hatte, auf, als sie weiter seinem Blickkontakt standhielt, wobei sie innerlich spürte, wie die Kraft für das Gespräch in ihr schwand. Die Angst, auf seine Reaktion von ihrem bevorstehenden Geständnis – wenn es man es so nennen konnte – breitete sich immer mehr in ihr aus und sie hatte das Gefühl keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Unsicher biss sie sich auf ihre Unterlippe, als sie sich aus dem Augenkontakt von ihm löste und auf ihre Finger, die weiterhin am Saum ihrer Bluse nestelten, schaute. „Tim, ich möchte bitte, dass du mir glaubst… Egal, was du gleich von mir erfahren wirst…“ Ihre Stimme brach ab und sie musste sich kurz räuspern, bevor sie langsam weitersprechen konnte. „Ich liebe dich und ich versuche dir, sofern das möglich ist, zu erklären, was genau los war.“ Emma löste den Blick von ihrem Schoß und richtete ihn auf Tim, der sie mit gerunzelter Stirn anschaute, während er ihre Worte zu begreifen schien. Seine Hände hatte er immer noch ineinander gefaltet und auf seinen Beinen liegen, als er schweigend mit dem Kopf nickte. Es wirkte so, als wenn er Angst vor dem hatte, was sie ihm gleich erzählen würde. Emma atmete einmal tief durch, bevor sie den Mut und die richtigen Worte fand, um auch ihm von ihrer schmerzhaften Trennung von Rob zu erzählen.

 

Timothy saß wie erstarrt in seinem Sessel und lauschte angespannt ihren Worten, wobei seine Finger sich immer krampfhafter ineinander verwoben. Die Erkenntnis, dass wirklich ihr Ex-Freund für ihren desolaten Zustand Samstagnacht verantwortlich war, bescherte ihm eine ausdrückliche Wut, während sich gleichzeitig die Erleichterung in ihm einstellte, dass nicht er dafür verantwortlich war und seine Bemühungen erfolgreich waren. Doch je mehr seine Freundin, von ihrer Vergangenheit mit Robert – ihrer Entscheidung zur Trennung- und die darauffolgenden Jahre erzählte, umso mehr verärgerte ihn der Gedanke, dass er sie mit ihm allein gelassen hatte. Denn wenn er dabei gewesen wäre, hätte dieser Robert gar keine Chance gehabt, sie in so ein Chaos zu stürzen, oder? Tim versuchte zu verstehen, weshalb Emma dieses Aufeinandertreffen so in sich zusammenfallen hatte lassen, wenn sie ihn doch liebte, und fragte sich, ob es wirklich nur die unterdrückten Emotionen von der Trennung waren oder ob seine Freundin doch noch Gefühle für ihren Ex hegte? Und warum hatte sie ihn dann so von sich gestoßen?

 

„Emma, warum hast du dich mir nicht anvertraut? Das versteh ich nicht“, hörte sie augenblicklich die Frage von Tim auf sie ein preschen, nachdem sie kaum ihre Erklärung ausgeführt hatte. Sie hatte ihm nur die notwendigsten Details, die er wirklich wissen musste, um sie verstehen zu können, erzählt. Kein Wort vom Beinahe-Kuss oder andere Emotionen, die Rob in diesem Moment in ihr ausgelöst hatte oder gar von ihrer gemeinsamen Zeit mit ihm. Sie blieb aber so nah an der Wahrheit, dass es keiner Lüge bedurfte, damit Tim nicht gleich Rot sehen würde und auch ohne sich selbst dabei anlügen zu müssen. Emma wollte nur, dass er sie annähernd verstehen konnte, ohne dass er an ihrer Liebe zweifeln musste, denn das brauchte er nicht. Sie fühlte, dass sie ihn liebte – ganz gleich was Rob in ihr hervorgerufen hatte. Aber, wenn sie einen Weg finden wollte, um ihre Vergangenheit hinter sich lassen zu können, dann war Timothy genauso ein wichtiger Teil, wie auch ihre Freundinnen. Auch, wenn Emma spürte, dass es nicht ganz fair war, ihm nicht gänzlich alles zu erzählen, entschied sie sich bewusst dafür. Schließlich brachte es nichts, ihn damit zu verletzten, denn es änderte nichts an der Tatsache, dass Rob zu ihrer Vergangenheit gehörte – die sie nur noch nicht verarbeitet hatte, mehr nicht. Davon versuchte sie sich zumindest selbst zu überzeugen, obwohl noch immer ein Chaos in ihr herrschte. „Weil ich selbst von meinen unterdrückten Emotionen so überrollt wurde, dass ich nicht in der Lage war, mich aus diesen zu befreien und irgendjemand anderen an mich ran zu lassen“, brachte sie völlig ehrlich und überzeugt über ihre Lippen, wovon sie selbst ein wenig überrascht war, während sie Tim anschaute, der ihr einen skeptischen Blick zu warf.

 

Wie konnte sie ihn nur weiter erklären, was in ihr vorgegangen war, ohne ihn damit zu verletzen?

 

„Du hast dich aber Bridget und Ilka anvertraut, oder? Während du mich, den du angeblich liebst, von dir weggestoßen hast. Emma, ich versuche zu verstehen, ehrlich, aber es fällt mir gerade schwer. Versetz dich bitte auch mal in meiner Lage. Ich finde dich völlig verstört in deinem Zimmer vor und hatte echt mehr als Sorge, dass dir was Schreckliches widerfahren ist. Dann komm ich, absolut nicht an dich ran und dann herrscht fast zwei Tage absolute Funkstille, wo ich nur von deinen Freundinnen abgewimmelt werde. Und jetzt erfahre ich von dir, dass dein Ex dafür verantwortlich ist, während du mir sagst, dass du mich liebst, aber wegen ihm einen Zusammenbruch hattest. Das muss ich erst mal verdauen.“ Aufgebrachter als beabsichtigt, ließ er seinen Wortschwall auf Emma los, wobei er aufgestanden war und sich mit der Hand die Stirn rieb, während sie ihn nur mit aufgerissen Augen anschauen konnte. Himmel, das lief gerade nicht wirklich gut und er hatte im Grunde recht, mit den Fragen sowie Vorwürfen, die er ihr entgegenbrachte. Doch sie konnte Samstag einfach nicht aus ihrer Haut. „Bitte … Tim, ich habe es nicht böse gemeint oder dich schmälern wollen. Auch Ilka und Bridget habe ich erst viel später davon erzählt, als…“Augenblicklich brach sie erschrocken ihren Satz ab, als ihr klar wurde, was sie eigentlich sagen wollte, und suchte nach einer Möglichkeit ihm plausibel zu erläutern, was sie so Handeln ließ, ohne weiter Rob ins Gespräch zu bringen. „… Bibi und Ilka waren damals einfach da und wussten im Grunde, was passiert war. Da musste ich meine Vergangenheit nicht noch mehr ins Hier uns Jetzt katapultieren, als sie eh schon gewesen war. Und bei dir…“ Emma stand auf und stellte sich direkt vor ihren Freund, der den Blick zum Fenster gerichtet und seine Arme vor seiner Brust verschränkt hatte, als sie zögerlich mit ihrer Hand über seine Wange strich. „… Tim, bei dir hätte ich alles sofort und noch mehr an die Oberfläche holen müssen, wozu ich mich in dem Moment nicht im Stande gesehen habe. Ich brauchte tatsächlich Zeit, um mich wieder zu fangen, um mich allem und, ja auch dir stellen zu können. Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Du bist mir wichtig und ich liebe dich.“

 

„Bist du dir da wirklich sicher?“, fragte er, ohne dabei seinen Blick vom Fenster abzuwenden. „Es war ein grausames Gefühl, von dir so abgewiesen zu werden und vollkommen im Ungewissen zu bleiben. Ich habe mir die wildesten Szenarien ausgemalt, was dir widerfahren sein könnte. Es war grausam und ich weiß nicht, ob man das jemanden antut, den man liebt. Ich dachte, ich wäre dein Anker.“ Tim wich ein Stück von ihr zurück, während er seine Hände in seine Hosentasche stopfte und sich schließlich, mit einem skeptischen Blick, zu ihr umdrehte. Für einen Moment brach eine unangenehme Stille über sie hinein, während Emma seinen misstrauischen Blick nur erwidern konnte. Natürlich hatte er recht, dass sie ihn mit ihrem Handeln verletzt hatte und ihre Erklärung, weshalb sie sich so verhalten hatte, trug sicherlich nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte. Doch ein Teil seiner Äußerung ließ sie aufhorchen, als ihr schlagartig wieder sein merkwürdiges Verhalten, welches er im späteren Verlauf der Feier gezeigt hatte, einfiel.

 

„Was hätte mir denn Schreckliches auf meiner eigenen Party passieren sollen, Tim?“ Ungeachtet seiner Frage gegenüber, ließ sie ihre auf ihn los, wobei sie ihn abwartend musterte, als sie meinte, ihn leicht zusammenzucken zusehen. „Keine Ahnung“, antwortete er nur knapp, während er sich augenblicklich aus ihrem Blick löste und sich abermals mit der Hand über die Stirn rieb. Tim wirkte plötzlich nervös und es machte den Anschein, als wenn er nach einer Erklärung oder den richtigen Worten suchte, als er weiterhin den Augenkontakt zu ihr mied. „Du weißt doch, wie das ist, wenn man vor Ungewissheit die wildesten und grausamsten Theorien aufstellt. Man kann dann einfach nicht mehr klar denken.“

„Hmm.“ Ja, das war wahr, die Angst ließ einem den Verstand nehmen und die Gedanken konnten sich in die grausamsten Szenarien verwandeln, aber dennoch erklärte es noch nicht sein Verhalten auf der Party, bevor all jenes mit ihr passiert war. „Aber eins versteh ich nicht. Du warst später eine ganze Zeit ständig am Telefonieren, warst ziemlich hektisch und dann kommst du fast schon panisch rausgestürmt und zitierst mich rein. Was ist los mit dir, Tim?“ Da war es wieder - das Zucken. Diesmal konnte sie es klar und deutlich sehen, wie er bei ihren Worten zusammenfuhr und ihm für einen Moment die Farbe aus dem Gesicht zu fallen schien, bevor er sich versuchte zu erklären: „Ja … also, es gab Probleme auf der Bank, mit einem Investor und mein Vorgesetzter wollte das direkt geklärt haben.“

 

„Auf einen Samstagabend?“ Der Unglauben in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören, als sie mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen vor ihm stand. „Manches lässt sich leider nicht so einfach verschieben. Mr. Banks bestand ausdrücklich darauf, weil es der größte und wichtigste Investor der Bank ist, und es stand da einiges auf der Kippe … Da wurde ich sehr nervös. Das hätte mich einiges kosten können…“ Irgendetwas lag in seiner Stimme und in seiner Haltung, was trotz seiner Erklärung ihre Skepsis nicht gänzlich von ihr abfallen ließ, doch sie konnte nicht bestimmen, was und woran es lag. Ihr Freund stand ihr, immer noch mit den Händen in den Taschen vergraben, gegenüber und vermied weiterhin jeglichen Blickkontakt zu ihr, während er gleichzeitig sehr nachdenklich auf sie wirkte. Ausgerechnet Tim, ihr Freund, der sonst immer alles im Griff zu haben schien, machte plötzlich den Eindruck, als wenn er die Verunsicherung in Person wäre. Das passte so gar nicht zu ihm. Lag es an ihr, an der Situation in der sie sich beide befanden, oder hatte es doch mit den, für sie, seltsamen Anrufen zu tun? Sie konnte den Gedanken, dass noch irgendetwas in der Luft lag, was ihn augenscheinlich beschäftigte nicht abschütteln und dennoch schob sie, in diesem Moment, alles auf ihren Zusammenbruch, ihr darauffolgendes Verhalten sowie die Erkenntnis, dass ein anderer Mann für ihren Zustand verantwortlich war.

 

Das musste Tim erst einmal verkraften, oder?

 

Unvorbereitet riss ihr Freund sie aus ihren Gedanken und unterbrach, die erneut eingekehrte Stille zwischen ihnen, indem er ihre zweite Frage beantwortete und seinen Blick wieder auf sie richtete. „Ich hab dich nur reingeholt, weil ich nicht wollte, dass du auf irgendwelchen Boulevard-Blättchen abgelichtet wirst.“

 

Bitte was?

 

„Guck nicht so, Babe. Ich hab deinen Ex gegoogelt. Entschuldige, es ließ mir keine Ruhe. Er ist derzeit der Teenieschwarm schlechthin und ein heiß begehrtes Paparazzi-Motiv zusammen mit seiner

Filmpartnerin. Und als ich das herausgefunden hatte, wollte ich einfach nur, dass du dich nicht öffentlich mit ihm zeigst. Ich mag einfach nicht, dass du in irgendeiner Form von der Presse zerrissen wirst. Das ist für keinen von uns beiden gut“, sagte er mit einem ehrlichen Unterton in seiner Stimme, obwohl es nur der halben Wahrheit entsprach, was seine Motivation, sie unbedingt wieder ins Haus zu schaffen, betraf.

 

Emma stand Gedanken versunken und noch immer mit verschränkten Armen vor Tim, während nur langsam seine Worte zu ihrem Bewusstsein durchdrangen. Yellow Press? Paparazzi? Diese Überlegung hatte sie gar nicht in Betracht gezogen, wie auch, schließlich hatte sie sich mit dem derzeitigen Leben von Rob gar nicht beschäftigt. Aber warum auch, das hätte ihr schließlich auch nicht geholfen, ihn zu vergessen – im Gegenteil. Doch das würde auch das plötzliche Verhalten und die Flucht ins Haus von ihm erklären. Merkwürdigerweise verspürte sie bei der Erkenntnis, dass mögliche Paparazzi seinen Abbruch des Kusses hervorgerufen haben konnten und nicht sie selbst als Person, eine Art Befreiung. Wieso war ihr schleierhaft, schließlich sollte das nichts an der Sachlage ändern, oder etwa doch?

 

Die sanfte Berührung von Tims Finger unter ihrem Kinn, ließ Emma leicht zusammenzucken, bevor ihr Blick auf seinen traf. Ihr Freund schaute sie liebevoll aber zugleich auch eindringlich an, wobei sie sich nervös auf die Unterlippe biss, als er leise zu ihr sprach: „Babe, du bist mir das Liebste und Wichtigste, was ich habe. Ich würde alles für dich tun und alles mit dir überstehen, doch du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich muss einfach wissen, wie es bei dir aussieht.“ Für einen Bruchteil einer Sekunde versank Emma in seinen grünen Augen, während sie zum wiederholten Male versuchte, ihre Gedanken sowie Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Ich liebe dich“, war das Einzige, was sie in diesem Moment sicher über die Lippen bringen konnte und obwohl ihre Worte direkt aus ihrem Herzen kamen, verspürte sie in sich, plötzlich und völlig unerwartet, das seltsame Gefühl der Verunsicherung. Ihr Gefühlskarussell drehte weiter seine Runden, wo sie noch immer schwindelig drauf saß, wobei sie entschlossen ihre aufkommenden Zweifel in den Hintergrund schob und nur dem Teil ihres Herzens vertraute, der sie die Liebe zu Tim fühlen ließ. Liebevoll und gleichzeitig abwartend schaute sie ihn an, der sie unvermittelt an der Taille fasste, um sie ein Stück näher an sich heranzuziehen, bevor er sanft seine Stirn gegen ihre legte. „Tu mir bitte einen Gefallen, Babe. Beim nächsten Mal, komm einfach zu mir, wenn dich etwas bedrückt. Ich möchte dein Anker sein … nicht deine Last.“ Langsam nahm er die Stirn von ihrer und wich ein Schritt zurück, um ihr wieder in die Augen schauen zu können. „Ich liebe dich nämlich auch!“, hauchte er ihr entgegen, als er zärtlich mit einem Finger über ihre Wange strich. Ihre Blicke verharrten für einen Moment ineinander, wobei Emma nur stumm mit dem Kopf nicken konnte, bevor die warmen Lippen ihres Freundes sanft ihre in Beschlag nahmen. Tim ließ sie, mit seinem zärtlichen und weniger verlangenden Kuss, all seine Erleichterung, dass ihr Gespräch in keiner Katastrophe geendet war und die Liebe die ihr galt, deutlich spüren. Zögerlich gab er ihren Mund wieder frei, bevor er sie fest in seine Arme schloss und Emma sich in diese fallen ließ. Auch wenn sie noch keinen Schimmer hatte, wie sich ihr Weg gestalten würde, um mit ihrer Vergangenheit endgültig abschließen zu können, verspürte sie in diesem Augenblick eine gewisse Zuversicht mit dem Wissen, Timothy an ihrer Seite zu haben – vielleicht schaffte sie es mit ihm, Rob aus ihrem Herzen zu verbannen.

 


 

Bridgets Erkenntnis

 

Kapitel 14

 

Bridgets Erkenntnis

 

Der Pub war an diesen Abend ruhiger besucht als üblich, sodass Bibi schon eine ganze Weile bei Tom und Lotte am Tisch saß, als sie lachend ihren Kopf in den Nacken fallen ließ. Die Stimmung zwischen ihnen war ausgelassen und sie amüsierten sich prächtig miteinander. Bridget lag es fern, das Date ihrer Freundin zu sprengen. Eigentlich wollte sie nur schnell, aber charmant bei Tom in Erfahrung bringen, was bei seinem Kumpel Sache war. Doch als sie sich erst einmal zu den beiden gesetzt hatte, wurde aus dem anfänglichen kurzen Geplänkel eine ausgelassene, lustige Unterhaltung. Tom war ein witziger, aber auch charmanter Vogel, mit dem man eindeutig jede Menge Spaß haben konnte, und sie verstand sofort, weshalb Lotte Gefallen an ihm gefunden hatte. Er war das Gegenstück von ihrer Freundin und sie war sich sicher, dass die beiden ein wunderbares Paar abgeben würden. Charlotte genoss ebenfalls das Zusammensein und zu ihrer eigenen Verwunderung störte sie es nicht im Geringsten, dass Bridget sich zu ihnen gesellt hatte. Auch wenn im Hintergrund stets das Wissen lauerte, dass ihre Freundin jeden Moment mit ihrer Inquisition bei Tom loslegen könnte.

 

„Nein, nein, nein ...“, brachte Bibi mit einer vor Lachen erstickter Stimme hervor. „Das hast du nicht wirklich gemacht. Gott, jetzt hab´ ich Bilder im Kopf.“

„Doch, du hättest die Augen der anderen sehen sollen. Der Einzige, der sich nicht mehr vor Lachen halten konnte, war Rob“, bestätigte Tom lachend die Bilder in ihren Kopf, wobei sie sofort den Namen von Emmas Ex vernahm und schlagartig an ihr eigentliches Vorhaben erinnert wurde. Lottes Lachen verstummte augenblicklich, als sie alarmiert den Blick auf das Gesicht ihrer Freundin richtete und darin die Entschlossenheit, mit deren Vorhaben loszulegen, erkannte. Die schlummernde Angst, die sie die ganze Zeit im Unterbewusstsein verspürt hatte, kam in Schallgeschwindigkeit wieder in den Vordergrund geschossen und hastig trank sie ein Schluck von ihrer Cola.

 

Hoffentlich geht das nur gut!

 

Tom hingegen bemerkte nichts von deren Stimmungswandel, als er sich noch immer köstlich über seine eigene Erzählung amüsierte. Wobei er sich mit dem Rücken gegen die Armstütze vom Sofa fallen ließ.

„Wie geht es ihm eigentlich?“, fragte Bibi beiläufig, jedoch ohne Umschweife, während sie den Blick auf ihr Glas gerichtet hatte und mit dem Zeigefinger langsam über den Rand strich. „Wem?“ Mit leicht gerunzelter Stirn sowie irritierten Blick folgte er ihrem Finger, der weiterhin über den Glasrand glitt. Wen meinte sie? Er hatte absolut keinen Schimmer, von wem sie sprach. Hatte er irgendetwas verpasst?

 

„Na, Rob. Wer denn sonst?“

 

Oh, wie kam denn Bridget jetzt auf Rob? Es dauerte einen Moment, bis er begriffen hatte, dass er ihn selbst im Anflug der Erzählung ins Gespräch gebracht hatte. Wie sollte er da nur wieder rauskommen? Sein Kumpel hatte ihm schließlich deutlich zu verstehen gegeben, dass er ein absolutes Tabuthema war. „Gut“, war daher nur seine knappe sowie recht kühle Antwort, als er sich dabei aufrecht hinsetzte und ein Stück nach vorn rutschte, um sich sein Pint Bier zu schnappen. Tom hoffte, dass keine weiteren Fragen folgen und Bridget es Gutsein lassen würde. Er wollte auf keinen Fall in die noch unangenehmere Lage kommen, ihnen eine Erklärung geben zu müssen. Schließlich war die gesamte Situation von ihnen vier – Tom, Lotte, Rob und Emma – durch die gemeinsame Vergangenheit schon verzwickt genug. Seine entspannte und ausgelassene Stimmung war mit einem Schlag von ihm gewichen und eine gewisse unterschwellige Anspannung machte sich in ihm breit, während er fieberhaft nach einem geeigneten Themenwechsel suchte. Außerdem hatte er absolut keinen blassen Schimmer, wie er sich richtig verhalten konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, jemanden auf die Füße zu treten oder gar Rob in den Rücken zu fallen. Daher hatte er schon den gesamten Nachmittag versucht, jegliche Themen oder Konfrontationen, die seinen Kumpel oder Lottes Schwester betrafen, zu vermeiden. Und eigentlich war es ihm auch recht gut gelungen, aber ausgerechnet jetzt musste ihm in seinem Redefluss sein Name herausplatzen.

 

So ein Mist!

 

Einen Moment lang brach eine unangenehme Stille über sie herein. Doch gerade als Tom einen großen Schluck Bier seine Kehle hinunterspülte, preschte schon die nächste Frage auf ihn ein, wobei er sich beinah verschluckt hätte. „Was treibt er denn so, wenn er nicht gerade die Mädchenherzen höherschlagen lässt?“ Bibi kicherte und in ihrer Stimme war deutlich der Witz herauszuhören, bis sie an Toms Haltung erkannte, dass ihm die Frage nicht beharrte. „Nein, im Ernst. Ist schon ein ganz schöner Wirbel um seine Person. Kommt er damit gut zurecht?“

 

Langsam stellte Tom sein Glas zurück auf die Tischplatte und überlegte erfolglos, wie er das Gespräch dezent in eine andere Richtung lenken konnte. Ohne dabei unhöflich oder zu offensichtlich sein zu müssen, dass das Thema unangebracht war. Ihm missfiel die gesamte Situation, vor allem weil es alles verkomplizierte. „Ja, er kommt schon klar. Bleibt ihm ja nix anderes übrig,“ murmelte er mehr zu sich, doch kaum hatte er die Worte über seine Lippen gebracht, hätte er sich am liebsten selbst Ohrfeigen können. Warum verdammt noch mal, hatte er es nicht bei einer knappen Antwort belassen? Natürlich hatte er damit nur Bridgets Neugierde weiter geschürt. Er sah es direkt in ihren Augen aufblitzen, als sie sich interessiert mit den Unterarmen auf den Tisch abstützte und sich leicht in seine Richtung vorbeugte. Aus der Nummer, in der er sich selbst hineinmanövriert hatte, kam er wohl so schnell nicht mehr raus. Und der Umstand, dass nun Lotte ebenfalls recht angespannt neben ihm saß und mit gesenktem Blick an ihrer Cola nippte, trug nicht sonderlich zu seinem Wohlbefinden bei. Er spürte deutlich, wie auch ihr die gerade entstandene Situation nicht behagte.

 

„Hmm … Das kann ich mir gut vorstellen. Muss recht anstrengend sein mit so einem Wirbel um seine eigene Person…“, sinnierte Bridget leise vor sich hin, während ihre Gedanken darum kreisten, wie sie weiter vorgehen konnte. Denn auch sie bemerkte nun den Stimmungswandel, der diesmal von Tom ausging. Das Thema „Rob“ schien ihn nicht wirklich zu behagen und sie fragte sich, ob es am Date mit Lotte, dem Zeitpunkt oder doch an Mr. Pattinson selbst lag?! Vielleicht täuschte sie sich, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass die angespannte Lage gerade nicht durch das Thema Robs neues Leben geschuldet war, sondern eher mit der Vergangenheit zusammenhing. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie die Strategie ändern musste, denn eine forsche sowie direkte Art war angesichts der Anspannung, die in der Luft lag, nicht angemessen. Zudem saß ihr Lotte ebenfalls ziemlich nervös gegenüber und hielt ihr Glas Limo festumklammert, worauf sie stur ihr Blick gerichtet hatte. Jetzt war Feingefühl angesagt.

 

Verflixt!

 

Wie konnte sie nur an die benötigten Informationen kommen, ohne dabei zu plump und gefühllos zu wirken? Ganz davon abgesehen, dass sie die beiden nicht noch mehr in ihren inneren Zwiespalt katapultieren wollte. „Mhm …“, entwich ihr leise sowie gedankenverloren, während sie angestrengt die Möglichkeiten abwog, als sie plötzlich Toms Stimme aus ihren Überlegungen riss.

„Also … Na ja, ich möchte nicht über Rob reden.“ Die Worte hatten noch nicht ganz seinen Mund verlassen, als er bereits das Glas wieder an seinen Lippen angesetzt hatte und einen weiteren Schluck von seinem Bier nahm. Dabei spürte er deutlich Bibis Blick auf sich ruhen. Tom war sich überhaupt nicht sicher, ob er den richtigen Weg einschlug, aber er mochte diese angespannte Atmosphäre, die sie umgab, seitdem er seinen Kumpel ins Gespräch gebracht hatte, nicht länger zwischen ihnen liegen haben. Also musste er ganz klar seine Grenzen abstecken, damit sein Date mit Lotte nicht eine ungewollte und unangenehme Wende nahm. Unter keinen Umständen würde er zulassen, dass der Abend in eine Katastrophe endete. Emmas Freundin schaute ihn weiterhin mit einem undefinierbaren Blick an, worin er zwar Verständnis erkannte, aber es blitzte noch irgendetwas anderes darin auf, was er jedoch nicht bestimmen konnte. Noch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, ergriff Bibi erneut das Wort und ließ ihn sein Pint Bier fester auf den Tisch stellen als beabsichtigt.

„Ja, das kann ich auch wirklich nachvollziehen, aber …“, Bibi stockte und ließ dabei einen kurzen Moment ihr Augenmerk auf Lotte fallen, die sie nur mit einem besorgten Blick und dabei weiterhin ihr Glas festumklammert, anschaute. Schließlich wusste sie genau, was nun folgte.


Oh bitte, lass es endlich vorbei sein!

 

„… aber Tom, mir liegt etwas auf dem Herzen, was mit Rob zu tun hat und was mir seit Sonntagnacht keine Ruhe mehr lässt.“ Tom runzelte die Stirn. Was meinte sie? Aber er hatte keine Chance, irgendetwas darauf zu erwidern, geschweige denn darüber nachzudenken, als Bridget ihren Gedanken weiter freien Lauf ließ.

„Als Erstes: Lotte hat hiermit rein gar nichts am Hut. Bitte denke nicht, dass sie dich hier her gelockt oder sich nur deswegen mit dir getroffen hat. Das trifft nicht im Geringsten zu. Es war ehrlich gesagt purer Zufall und ich hätte dich demnächst versucht, auf einen anderen Weg zu kontaktieren. Denn Lottchen hat sich standhaft geweigert, sich mit dir über Rob zu unterhalten oder vielmehr dich wegen ihm etwas zu fragen.“ Bridget beobachtete seine Reaktion ganz genau und lächelte beiläufig ihre Freundin liebevoll an, die es wiederum nur zögerlich erwidern konnte. Denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihr unwohles Gefühl, was sich immer mehr in ihr ausbreitete, in den Hintergrund zu schieben. Während sie dabei versuchte, möglichst jede einzelne Mimik von Tom zu analysieren. Doch dieser saß völlig regungslos vor ihnen und verzog nicht eine Mine, wobei man nur gerade eben an seinem Blick ablesen konnte, wie die Fragen langsam Gestalt in ihm annahmen. „Zweitens: Ist nach Robs Auftauchen auf der Party mit Emma etwas passiert, wo mir keine andere Wahl mehr bleibt, als Dich – Tom - ins Boot zu holen.“

„Wie?“ Zu seinem eigenen Erstaunen war, dass das einzige Wort, was er nach Bibis Wortschwall über seinen Lippen brachte. Sie sprach in absoluten Rätseln, wobei ihre Stimme besorgt klang und nicht neugierig, so wie er es anfangs angenommen hatte. Doch gleichzeitig hatte sie ihm, mit ihrer Erklärung, seine Bedenken, wenn nicht sogar die leise Angst, dass Lotte womöglich mit ihr unter einer Decke stecken könnte, genommen. Augenblicklich spürte er, wie sich sein Herz wieder leicht sowie wohlig wohl in ihrer Nähe fühlte. Das Gefühl und die Erleichterung zauberte ihm im Unterbewusstsein ein kleines Lächeln auf den Lippen, obwohl ihn die letzten Worte über Emma bedenklich stimmten. Was war nur los?

 

„Tom, tut mir leid“, drang unvermittelt Lottes unsichere Stimme zu ihm durch. Er hatte wohl einen Moment zu lang in seinen Gedanken verhangen dagesessen, woraufhin sie die falschen Schlüsse zu schließen schien. „Nein … nein, alles gut“, beschwichtigte er sie sofort mit einem liebevollen Lächeln, als ihn das Funkeln in ihren smaragdgrünen Augen mitten in seine Seele traf.


So schöne Augen!

Bridget saß währenddessen vollkommen ruhig auf ihren Stuhl und bedachte ihn weiterhin mit einem eindringlichen Blick, wobei er darin zwar ihre Entschlossenheit erkannte, die aber mit einer ordentlichen Portion Besorgnis – war es wirklich Besorgnis? – gepaart zu sein schien. Er konnte es nicht genau bestimmen, aber die Tatsache, dass sie ihn so direkt ansprach – wo sie eigentlich völlig Fremde waren – und begonnen hatte über „Privates“ zu sprechen, machte ihn neugierig. Nein, das war nicht das richtige Wort, aber er musste jetzt wissen, was mit Emma los war. Schließlich war sie Lottes Schwester und nicht nur das. Er selbst hatte Emma immer sehr gern gemocht– zumindest früher, bevor ...


„Okay, also …“, hörte er sich plötzlich sagen. Auch wenn ihm sein bester Kumpel das Versprechen abgenommen hatte, würde er es jetzt tatsächlich brechen müssen. Ihm behagte der Umstand nicht im Geringsten, aber wie Bridget gerade schon formuliert hatte, so spürte auch er, dass ihm keine andere Wahl blieb. Obwohl er noch keinen Schimmer hatte, warum eigentlich.
„Was ist mit Emma?“

 

Bibi seufzte erleichtert auf, als sie Toms Stimme vernahm und ihn anscheinend für sich gewonnen hatte. Sie saß noch immer mit den Unterarmen auf der Tischplatte aufliegend vor ihm und massierte kurz mit einer Hand ihren Nacken, während sie überlegte, wie sie fortfahren konnte. Sie musste unbedingt abwägen, was und wie viel sie ihm erzählen konnte, ohne dabei die Freundschaft von Emma zu gefährden. Allerdings war es wichtig, dass er einen Überblick von dem „Gefühlschaos“ in ihr, welches Rob ausgelöst hatte, bekam. Damit Tom überhaupt ein Verständnis für Bibis Anliegen aufbringen konnte, bevor sie schlussendlich auf Rob zu sprechen kommen konnte. Mein Gott war das kompliziert und es glich einem Drahtseilakt, damit sie auch niemanden verärgern würde. Aber da musste sie jetzt durch und das am besten gemeinsam. Also entschied sie sich ihm zwar nicht detailliert den Zusammenbruch von ihrer Freundin zu schildern, aber darzulegen, wie sehr Emma erst jetzt der Schmerz der damaligen Trennung eingeholt – zugelassen – und sich auch ihnen erst jetzt offenbart hatte, was damals vorgefallen war.

 

Lotte folgte ihren Worten genauso stumm wie Tom es tat. Dieser hatte schlicht das Gefühl, wie vom Donner gerührt zu sein, denn er konnte kaum glauben, was er dort von Bridget hörte. Zwanghaft versuchte er, ihre Worte mit der Vergangenheit zusammen zu bringen und gleichzeitig diese zu ordnen. Doch er hatte das Gefühl, dabei kläglich zu versagen. Während er weiter ihrer Erzählung versuchte zu folgen, ließ er beiläufig seinen Arm nach oben schnellen, als er im Augenwinkel den Barmann an ihm vorbeihuschen sah. Stumm und ohne den Blick von Bibi zu nehmen, deutete er auf sein leeres Glas und bestellte so ein weiteres Pint. Das brauchte er jetzt - definitiv!

„Kannst du dir vorstellen, was das Emma für Kraft gekostet haben muss? Ich… Ich versteh das immer noch nicht …“ Bei ihren Worten ließ sich Bibi langsam gegen die Stuhllehne sacken, faltete ihre Hände auf ihren Schoß und schaute hinter Tom und Lotte zum Fenster hinaus, während sie die Erleichterung spürte, endlich den Teil des Gesprächs hinter sich gebracht zu haben. Gegen Ende ihrer Erzählung war ihre Stimme immer leiserer geworden und es hatte teilweise den Anschein gemacht, dass sie mehr zu sich als zu Tom gesprochen hatte. Auf einer gewissen Art hatte sie das auch, denn sie versuchte währenddessen zu begreifen, was Emmas Handlung betraf und was in ihr vorgehen musste. Keiner der beiden hatte sie während ihrer Erklärung unterbrochen. Tom hatte sie nur ausdruckslos angeschaut, wobei ihm ab und an ein kaum wahrnehmbares Schnauben entwichen war.

 

Lotte hingegen hatte die ganze Zeit über nur ihr Augenmerk auf Tom gerichtet gehabt, um auch jede einzelne seiner Reaktionen erkennen zu können. Ihre anfängliche Angst, er könnte über Bridgets „Offensive“ verärgert sein und auch ihr selbst übel nehmen, war gänzlich von ihr abgefallen, nachdem er ihr sein unverkennbares Lächeln geschenkt hatte. Jetzt hoffte sie nur noch, dass sie gemeinsam einen Weg finden würden, um mit Emma sowie Rob umgehen zu können. Die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden selber wieder einen Umgang miteinander finden würden, war schwindend gering. Aber einen Funken Hoffnung gab es immer – oder? Diese ganzen Beweggründe, die ihre Schwester zur damaligen Trennung und ihr daraus resultierte Verhalten getrieben hatten, hatte in der Gegenwart eindeutig schwerwiegendere Konsequenzen, mit denen nicht mehr nur die beiden leben – und mit kämpfen mussten. Und genau das schien ihre Freundin Bridget direkt erkannt zu haben, denn es zog quasi, nachdem ihrer beider Welten wieder aufeinandergetroffen waren, einen Rattenschwanz an Komplikationen hinter sich her – und am meisten litt Emma.

 

Paul kam an den Tisch herangetreten, stellte Tom sein bestelltes Bier vor die Nase und riss damit alle aus ihren Gedanken. Ohne zu zögern, schnappte sich Tom das Pint und trank fast in einem Zug das halbe Glas leer, während Bibi noch ein paar Worte mit ihrem Kollegen wechselte. Mit einer hochgezogenen Augenbraue beobachtete Lotte stumm seine überstürzte Handlung, bevor sie ihn zögerlich ansprach: „Tut mir wirklich leid … Tom. Ich kann mich nur wiederholen. So war das nicht von mir vorgesehen, hätte ich …“

„Lotte, halt! Es ist alles gut“, unterbrach er sie prompt, denn sie sollte und brauchte sich überhaupt keine Vorwürfe zu machen oder sich gar entschuldigen. Tom rutschte ein Stück näher an sie heran, nachdem er schnell sein Glas wieder auf den Tisch befördert hatte, und nahm zaghaft sowie sanft ihre Hand in die Seine. Sie zuckte kurz unter der unerwarteten Berührung zusammen, zog sie aber nicht zurück und blickte ihm direkt in seine Augen.

„Mach dir keinen Kopf, ja? Ich genieße jede Minute mit dir, sehr sogar. Und das deine Freundin mich Überfallen hat …“ Mit seinem unverkennbaren Lächeln und einem Augenzwinkern versuchte er ihre Unsicherheit verfliegen zu lassen. Mit Erfolg! Allerdings begann unter seinem Blick, seinen Berührungen und beim Klang seiner Stimme ihr Herz wie wild gegen ihren Brustkorb zu hämmern.

Oh, Himmel!

 

„... hat mich zwar erst überrumpelt und in einen Gewissenskonflikt gebracht, weil ich ein Versprechen gab, aber ich glaube zu verstehen, wieso sie es tat. Und ehrlich gesagt, glaube ich auch, dass es das Richtige war, auch wenn jetzt erst der wirklich schwierige Weg beginnt.“ Er seufzte, als er den Blick, aber nicht die Hand von ihr nahm und auf die gegenüberliegende Wand starrte.

Woran dachte er nur?

Charlotte saß ebenfalls wie erstarrt neben ihm, während ihre Hand in der seinen gefangen war. Vergebens versuchte sie, seine letzten Worte zu begreifen. Was meinte er damit, dass erst jetzt der schwierige Weg beginnen würde? Was war mit Rob? Wie hatte er das alles erlebt, verkraftet, verarbeitet – hatte er das überhaupt? Und wie hat er das Aufeinandertreffen wahrgenommen? Oh je, erst jetzt begriff sie richtig, was vor ein paar Tagen damit alles losgetreten, was für Wunden aufgerissen wurden und wie ihre Aktion auf der Party sein Übriges dazu beigetragen hatte. Augenblicklich überkam sie wieder das äußerst schlechte Gewissen, was sie seitdem geplagt hatte, und atmete einmal tief durch. Jetzt verstand sie auch, warum Bibi so auf sie eingeredet und auf ein Gespräch mit Tom gedrängt hatte, wobei er noch kein Wort von Robs Vergangenheit verloren hatte. Aber seine Reaktion auf Emmas Beweggründe und ihr darauffolgendes Verhalten, ließ sie nichts Gutes erahnen, was die Seite seines Kumpels betraf. Genauso seine gerade getätigte Aussage, diese unterstrich nur ihr unwohles Gefühl, anstatt es ihr ein wenig zu nehmen.
„Wie meinst du das, es wird jetzt erst richtig schwer … Tom?“, fragte sie ihn mit einer sicheren Stimme, während sie sanft mit dem Daumen über seinen Handrücken strich. Lotte hatte keine Ahnung, woher sie den Mut nahm, aber plötzlich war da irgendwie das Gefühl von Vertrautheit, was sie ihre Zweifel und Unsicherheit vergessen ließ. Augenblicklich trafen ihre Blicke aufeinander und sie spürte, wie ihr Herz für einen Schlag aussetzte. Tom brachte sie völlig aus dem Konzept, aber das Verrückteste daran war, dass sie es liebte und es sichtlich genoss. Sie könnte stundenlang in seine Augen versinken und dabei drohen, den Verstand zu verlieren.

 

„Na ja …“, holte Toms Stimme sie unvermittelt zurück in die Wirklichkeit, als er mit seiner Erzählung begann.
„… Emma hat vollkommen recht. Sie hat Rob das Herz gebrochen. Es war ein Kraftakt in aus seinem Loch zu bekommen. Aber …“, er brach mitten im Satz ab, wandte den Blick von Lotte und richtete diesen auf ihre Freundin, die ihm wieder ihre volle Aufmerksamkeit schenkte. Paul war bereits wieder hinter dem Tresen verschwunden, als Bibi sich vorbeugte und die Unterarme auf den Tisch legte, um ihm interessiert folgen zu können.

„ … aber … ihr dürft mir das jetzt nicht übel nehmen. Ich versuche nur, Emmas Seite und Verhalten mit Robs Sicht und Vergangenheit zusammenzubringen. Aber so wie Emma ihm jegliche Erklärungen verwehrt und ihn aus ihrem Leben, ohne Rücksicht verbannt hat, kann ich es ihm nicht verübeln, dass er so hart auf sie reagiert hat. Wie würdet ihr denn an seiner Stelle reagieren?“ Für einen Moment brach Stille über sie ein, während alle in ihren eigenen Überlegungen vertieft waren, bis schließlich Bibis Stimme sie aus diesen riss.

„Ja!“, war ihre knappe sowie auch verwirrende Antwort. „Tom, anstelle von Rob hätte wohl kaum jemand anders reagiert. Ehrlich gesagt, habe ich dir das nicht nur alles erzählt, um die Sicht oder viel mehr seinen Umgang mit der Trennung und das Aufeinandertreffen zu erfahren, damit wir einen Weg für Emma finden können, sondern auch …“ Bridget faltete ihre Hände zusammen, atmete einmal durch und wandte den Blick auf ihre Freundin, die sie nur verwirrt anschaute.

„Lotte, tu mir bitte einen Gefallen und flipp nicht aus, wenn ich jetzt sage, was mein eigentlicher Grund für das Gespräch ist.“ Mit gerunzelter Stirn und mit zusammengekniffenen Augen schaute Charlotte ihre Freundin drohend an.

 

Was kam denn jetzt?

 

„Also Tom. Ich muss zwar erst mal wirklich wissen, wie Rob damals und heute alles erlebt sowie verarbeitet hat, damit wir für Emma einen Weg finden können, einen Abschluss zu finden… das war der erste Impuls und Sinn von mir…. aber …“, wieder brach sie ihre Erklärung ab, blickte zwischen den beiden, die sie absolut unter Spannung ansahen, hin und her. Wieso fiel ihr es plötzlich so schwer, es auszusprechen? Hinterm Berg hervorzukommen und das, obwohl sie sich so sicher war? So kannte sie sich gar nicht, denn herumdrücken war so gar nicht ihre Art. Schließlich war es legitim und sie wollte nur das Beste für ihre Freundin, aber was, wenn sie sich doch zu sehr aus dem Fenster hinauslehnte. Die Worte von Lotte kamen ihr wieder in den Sinn gekrochen: „Ich werde Emma nicht in ein erneutes Chaos stürzten!“ Würde sie das? Eins war sicher, wenn sie ihre Gedanken sowie Einschätzung in der Sachlage aussprechen würde, dann könnte sie es nicht mehr rückgängig machen. Verdammt! Wo kamen denn plötzlich die Zweifel her?
„Bibi, sagst du jetzt bitte, was hier vorgeht?“ Lotte bedachte sie mit einem noch eindringlicheren Blick als schon zuvor und in ihrer Stimme lag eindeutig eine gewisse Schärfe, während Tom sie weiterhin nur mit einer gerunzelten Stirn anschaute. Ihre Augen flogen noch einen Moment zwischen den beiden hin und her, bevor sie ihr Herz auf die Zunge legte und es endlich aussprach: „Ich bin davon überzeugt, dass Emma Rob nie aus ihrem Herzen verbannt hat…“

„Ja, soweit waren wir schon Bibi, deshalb sitzt du doch hier!“, unterbrach sie seufzend ihre Freundin.
„Emma liebt Rob noch immer!“, ließ sie ungeachtet Lottes Aussage gegenüber die Bombe platzen. „Und, wenn bei Rob nur einen Funken seiner Gefühle für Emma noch übriggeblieben ist, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie wieder zueinander finden!“

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Tag der Veröffentlichung: 26.07.2020

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