01.
"Uhm … kann ich dir irgendwie helfen?"
Irahas verschluckte sich an seinem eigenen Speichel und starrte den Jungen unter sich an, der just in diesem Moment so ungünstigerweise erwacht war.
"Hrgh", würgte er hervor und fühlte den Drang: Ich kann das erklären, ernsthaft jetzt!- zu stammeln.
Nur, wenn er mal ehrlich war, war das hier nicht wirklich gut zu erklären. Neutral betrachtet konnte man einem Menschen kaum erklären, dass es gar nicht mal so ungewöhnlich war, beim vormitternächtlichen Aufwachen einen fetten Jung-Dämon mit fleckiger Haut und Stummelflügeln auf sich zu finden, der versuchte einem die Seele auszusaugen. Nicht ohne, dass man ziemlich weit ausholen musste zumindest und irgendwie glaubte Irahas nicht, dass der Junge unter ihm an den Details der Geschichte interessiert war. Was schade war, denn der junge Brutling hätte es ihm wirklich gern erklärt. Damit er verstand, dass Irahas nicht einfach so mitten in der Nacht in sein Zimmer gekommen war, um ihn zu belästigen oder so was perverses - immerhin war er kein schmieriger Inkubus. Und dass er jetzt nur hier auf ihm lag, weil seine Seele einfach zu verlockend gewesen war, um sie zu ignorieren. Hell und warm und freundlich, ein bisschen wie die Sonne, von der Irahas schon so viel gehört hatte.
Irgendwie war das wichtig.
"Ähm …", setzte der Dämon hilflos hinzu und konnte fühlen, wie seine unnützen Stummelflügel unkontrollierbar zu wackeln begannen. Ugh er war so widerlich. Warum hatte er nicht doch einfach den merkwürdigen Enddreißiger im Nachbarhaus aufgesucht, dessen Seele zwar so einladend gewesen war, wie ein Kopfsprung in eine Löschkalkgrube, der aber bestimmt nicht wach geworden wäre und Irahas aus wirklich, wirklich großen, dunklen Augen fragend angeschaut hätte. Es wäre ein einfacher Seelenraub gewesen, ein sauberer Job. Aber nein, statt dessen hatte er ja dem hübschen, etwa gleichaltrigen Jungen durch das Zwielicht nach Hause folgen müssen, damit es richtig peinlich werden konnte.
Dem mit der Seele, die so … so nun die eben so … war. Die er so gern mit sich genommen hätte, hinab in den Kokon. Damit er sie immer bei sich haben und sich um sie herumwickeln konnte, während der nächsten Ruhephase.
Oh ganz toll, jetzt begann er auch noch zu schwitzen wie ein Höllenschwein. Was kein Wunder war, denn alle seine drei Herzen schienen auf einmal gemeinsam beschlossen zu haben, ihm aus der Kehle zu hüpfen, so wild schlugen sie.
"Hey … ist alles okay mit dir?", fragte der Junge unter ihm, erstaunlich freundlich, angesichts der Situation. Wenn man noch mal ehrlich war, dann hätte er auf das hier auch ganz anders reagieren können. Was vielleicht allerdings nur ein weiterer Beweis dafür war, dass Irahas so ziemlich der unbedrohlichste Brutling seit geschätzten fünfhundert Generationen war. Und das war gleichzeitig deprimierend und seltsam beruhigend. Denn obwohl ein genetisch tief verwurzelter Teil in Irahas schon ganz gerne ein wenig Furcht, oder vielmehr ehrfürchtige Bewunderung, in dem anderen Jungen geweckt hätte, wollte ihn ein weitaus größerer Teil eigentlich nicht verschrecken.
Was er allerdings sonst von ihm wollte, war dem jungen Dämon selbst nicht ganz klar.
"Ja ich … ähm", brachte er schließlich die für seine Zunge ungewohnten Laute hervor. "… ich wollte dich nicht wecken. Entschuldige."
"Okay."
Der Junge unter Irahas wartete offensichtlich auf eine Erklärung, die er vermutlich schon irgendwie verdient hatte. Auch wenn der Dämon nicht die geringste Idee hatte, wie er das anstellen sollte, ohne ein paar elementare Grundregeln des Spiels zu verletzen. Regeln, die Sabatea, die Brutmutter, jedem von ihnen vor ihrem Abflug aus dem Nest eingeschärft hatte.
Irahas rappelte sich ein wenig auf und gab dem anderen Jungen etwas Raum zum Atmen. Der setzte sich seinerseits auf und tastete nach der Nachttischlampe. Auf seinen Knien hockend, hielt der Dämon am Fußende des Bettes den Atem an. Noch hatte er Gelegenheit, dem Jungen die Kehle heraus zu reißen, sich seiner Seele mit Gewalt zu bemächtigen und sich in die Nacht zu flüchten. Aber eigentlich … eigentlich hatte er auf nichts davon wirklich Lust.
Was vermutlich Teil seines Problems war.
Irahas stieß ein leises Zischen aus, als das Licht der Lampe seine Augen traf. Er fühlte sich seltsam, so aus den Schatten gezerrt, in denen er zu Hause war. Irgendwie nackt und angreifbar. Ein Gefühl, das ihm nicht im geringsten behagte. Unsicher, jetzt doch fast zur Flucht bereit, warf er dem Jungen, der ihn immer noch erstaunlich ruhig musterte, einen Seitenblick zu.
Der Dämon wusste, was sein Gegenüber sah und er schämte sich ein bisschen. Auf der Suche nach der erstbesten geeigneten Seele, war er an einem Schaufenster vorbei gekommen und hatte seine eigene Reflektion gesehen. Und was er da gesehen hatte, hatte ihm nicht ein bisschen gefallen. Seine Brut-Brüder waren allesamt eindrucksvoll, auf die eine oder andere Art. Bei manchen schien die Bestie mehr durch als bei anderen, aber sie alle waren bereits jetzt auf dem Weg zu etwas Besonderem, auch wenn nur einer von ihnen das Ziel letztlich erreichen würde. Irahas aber war nichts als ein plumper Haufen, weichen, purpur-fleckigen Fleisches mit zu welligem Haar, wässrig blauen Augen, einem zu geratenen Schwanz und Fledermausflügelchen. Kurz, er sah aus wie eine groteske Putten-Imitation. Als hätte sich irgendein Höllen-Karikaturist einen lahmen, blasphemischen Scherz erlaubt.
Der Junge dagegen war… der Junge war … wie seine Seele eben. Vielleicht etwas zu klein für sein Alter, aber nun… hübsch irgendwie. Mit strubbeligem Haar, großen Augen und einer kleinen Nase, die Irahas aus irgendwelchen Gründen unbedingt antippen wollte.
Er hatte die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, während er den nervösen Dämon aufmerksam betrachtete. Schließlich, nach einer ganzen Weile kratzte er seine Wange und meinte andächtig:
"Wow. Abgefahren."
***
Es war still in der kleinen Küche. Einzig das Ticken einer uralten Großvateruhr, das aus dem Flur zu ihnen herüber drang, störte die absolute Ruhe, die in dem Haus herrschte.
Irahas nippte an seiner Cola, die so ziemlich das aller-, allerbeste Zeug auf der ganze Erde sein musste, fast noch besser als der Schokoladenkeks, den Ryan vorhin mit ihm geteilt hatte, und musterte den Jungen, der ihm am Tisch gegenübersaß.
Inzwischen wusste er schon eine ganze Menge, über ihn. Mehr als seinen Namen, jedenfalls.
Ryan war dreizehneinhalb, lebte mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder hier, von denen erstere allerdings derzeit in Philadelphia weilten, um einen Umzug zu organisieren. Ryans Bruder, dessen zweiter Name: dasblödeArschloch, zu lauten schien, weilte unterdessen bei einer seiner zahllosen Freundinnen, anstatt, wie versprochen, hier seinen kleinen Bruder zu hüten, der damit aber ziemlich einverstanden zu sein schien.
Ryan mochte Cola, Chips – die auf Irahas Rangliste gleich nach Cola und Schokoladenkeksen kamen, Horrorfilme und das was er: richtig gute Musik, nannte. Irahas, der nicht mal so tat, als würde er nicht an den Lippen des anderen Jungen hängen, wusste inzwischen sogar, was Ryan darunter verstand. Auch wenn ihm Namen wie: Beatles, Rolling Stones, Lynyrd Skynyrd, Nirvana, Filter und Metallica nicht viel sagten. Er wusste auch nicht, warum er hatte versprechen müssen, niemandem zu erzählen, dass Ryan jemanden namens Justin Bieber, für gar nicht mal so schrecklich hielt, aber hey – wenn interessierte das im Grunde schon?
"Okay", sagte Ryan in diesem Moment und trank einen Schluck von seiner eigenen Cola. "Dann lass mich das mal zusammenfassen. Du bist also gerade aus einem siebenjährigen Schlaf aufgewacht, hast nur diese eine Nacht Zeit, um hier auf der Erde nach Seelen zu suchen, dann musst du wieder in die Hölle und da schläfst du dann noch mal sieben Jahre. Und wenn du dann aufwachst, musst du alle deine Brüder fressen, bevor sie dich fressen können, um ein Höllenfürst zu werden. Richtig?"
Irahas nickte beflissentlich. Gut – er hatte also so ziemlich jede Verschwiegenheitsklausel gebrochen, die es so gab in ihren Kreisen. Aber tja … es war ja niemand hier, der das mitbekommen hätte, richtig? Und Ryan hatte im Gegenzug für Irahas Verschwiegenheit ebenfalls Stillschweigen gelobt.
"Mann", kommentierte Ryan und kniff die Augen zusammen. "Kannst du es gut haben."
Irahas runzelte die Stirn. Der Gedanke war ihm so noch nicht gekommen.
"Findest du?"
"Mann, du darfst deine Brüder fressen", erwiderte Ryan hörbar neidisch. "Ich darf meinen nicht mal überfahren."
"Wenn du willst, kann ich ihn für dich fressen", bot Irahas etwas zu eilig vielleicht an. "Das wäre echt kein Problem." Gar keines, überhaupt keines. Immerhin war Irahas ein Dämon und schon irgendwie auf sowas spezialisiert, okay? Und wenn er Ryan damit einen Gefallen tun konnte, schadete das doch niemandem.
"Das wäre schon cool", meinte Ryan verträumt und seufzte dann: "Aber ich glaub meine Mom würde ihn vermissen. Ich hab zwar keine Ahnung warum, immerhin müsste sie dann seine Socken nicht mehr anfassen, aber okay… nein, ich denke nicht. Aber danke, Mann."
Irahas lächelte.
"Jederzeit."
Es wurde wieder ruhig.
Ryan kaute nachdenklich auf ein paar Chips herum, während Irahas sich die Zeit damit vertrieb, dieses Wunder namens Cola zu studieren. Es war wirklich unglaublich, wie es kribbelte, wenn er sie von Mund, über Nase, bis in sein hinteres Hirn hochsteigen ließ. Das war so … cool! Die mit Abstand beste Nacht seines Lebens … von dem er bis jetzt zwar nur zwei Tage wach verbracht hatte. Aber immerhin war das hier um Längen besser, als damals, als er sieben gewesen war und die Nacht damit verbracht hatte, seinen Brüdern aus dem Weg zu bleiben, während sie unten im Nest die Hackordnung klar gemacht hatten.
"Also hast du nur …", Ryan warf einen Blick auf die LED-Anzeige der Mikrowelle. "Acht Stunden, bevor du wieder runter musst?"
Irahas sah nun seinerseits zur Uhr und verzog das Gesicht. Er wollte jetzt noch nicht darüber nachdenken, dass er bei Sonnenaufgang die Erde wieder verlassen musste. Viel lieber wollte er hier sitzen, Cola trinken, Kekse essen und Ryan anschauen.
"Mhm."
Ryan legte einen angebissen Chip auf den Tisch und meinte entschieden:
"Ich denke du solltest was machen mit der Zeit. Was anderes als Seelen fressen. Ich meine, das ist sicher cool und so, aber du hast sieben Jahre geschlafen und wirst bald wieder sieben Jahre schlafen … hast du keinen Bock auf was anderes?"
Irahas blinzelte.
"Ich weiß nicht", erwiderte er langsam. Die Idee war tatsächlich komplett neu für ihn. Brutlinge kamen immerhin zu nichts anderem auf die Erde. Wenn sie dann erst einmal ausgewachsene Dämonen waren und über ihre eigenen Lakaien und Höllenkreise verfügten, dann war das eine andere Sache. Dann galt es immerhin die Welt zu unterjochen und den alten Kampf fortzuführen.
Apokalypse und so.
"Was sollte ich denn machen?"
Ryan zuckte ratlos mit den Schultern.
"Weiß ich auch nicht. Was macht ihr so wenn ihr Spaß haben wollt?"
Schnell ging Irahas in Gedanken alle möglichen Antworten durch. Aber sein gesunder Dämonenverstand riet ihm davon ab, die meisten laut auszusprechen. Ryan war ziemlich aufgeschlossen für einen Menschen, aber es stand zu bezweifeln, dass er für Mord und Totschlag als Mittel der Freizeitgestaltung viel Verständnis aufbringen würde. Noch was, das mit dem Kerl im Nachbarhaus vermutlich anders gewesen wäre. Weil er aber irgendetwas erwidern musste, wählte Irahas schließlich die unverfänglichste Option.
"Wir treiben's miteinander."
Ryan griff nach seinem Kartoffelchip und schob ihn sich in den Mund.
"Klingt … öde", kommentierte er kauend und Irahas, der im Moment noch eher vage Vorstellungen zu dem Thema hatte, zuckte einmal mehr mit den Schultern.
"Wir sind Dämonen", sagte er und starrte auf seine Cola. "Entweder kämpfen wir auf irgendeine Art oder wir … naja treiben's halt."
Ihm gegenüber dachte Ryan einen Moment lang nach. Unbewusst spielte er mit dem kleinen Metallding, das er an einem schmalen Lederband um den Hals trug. Irahas beobachtete fasziniert das Licht der Deckenlampe, das sich auf der matt glänzende Oberfläche des Dreiecks brach. Ihm gefiel das Schimmern.
"Mhm", machte der andere Junge schließlich. "Mein Kumpel Randy … also seine Schwester ist sechzehn und Randy erzählt, sie lässt einen Sachen machen, wenn man ihr zwanzig Dollar gibt." Irahas konnte das Blut riechen, das Ryan plötzlich in die Wangen stieg. Irgendwie schien der Körper des Menschenjungen sich zu erhitzen und mit einem mal nahm der Dämon seine Sonnenseele wieder so deutlich wahr, wie vorhin auf der Straße. Schnell trank er einen großen Schluck Cola und ließ sie durch die Nase in sein Hirn schießen, bevor er etwas total Dummes tat. Wie zum Beispiel über den Tisch zu springen und seinem neuen … Freund die hübsche, warme Seele aus dem Leib zu reißen.
Oder was … was anderes Dummes halt.
Ryan bemerkte Irahas arttypische Anwandlungen offensichtlich nicht.
"Also … also wenn du willst, kann ich Randy anrufen und ihn fragen, ob seine Schwester dich mal anfassen lassen würde. Ihre Brüste und so."
Die Vorstellung entlockte Irahas nur ein abermaliges, wenig enthusiastisches Schulterzucken.
"Ich weiß nicht", entgegnete er lahm, dankbar dafür, dass er seine Impulse wieder unter Kontrolle bekam. "Lieber nicht."
Ryan nahm diese neue Information gleichmütig zur Kenntnis.
"Okay."
"Aber danke."
"Jederzeit."
Ryan grinste und Irahas mochte die Art, auf die es kleine Falten in seine Wangen grub. Der Menschenjunge gab sich noch nicht geschlagen und fuhr, nach einer kurzen Pause fort:
"Ich würd dich ja an meinen Rechner lassen, aber das Ding ist so kacklangsam, dass du keinen Shooter spielen kannst, ohne schon auf Level eins fünfzig Millionen mal den Löffel abzugeben." Er schob die Unterlippe ein wenig vor. "Ich glaub meine Eltern kaufen mir mit Absicht keinen neuen. Die wollen, dass ich pädagogisch wertvolle Sachen mache. Tut mir echt Leid, Mann."
Irahas hatte keine Ahnung, von was Ryan da eigentlich redete. Aber das war schon in Ordnung, solange Ryan überhaupt redete.
"Wir … könnten Musik hören oder einen Film sehen oder …" Ryans Blick blieb an einem bunten Zettel kleben, der mit einem apfelförmigen Magneten an die Kühlschranktür geheftet war. Seine Miene hellte sich auf. "Hey, ich weiß was wir machen!", verkündete er. "Heute ist Samstag. Der Rummel unten am alten Pier ist am Wochenende immer bis drei Uhr morgens auf. Ich meine das ist jetzt nicht so der Hit, aber immer noch besser als hier drin zu hocken und darauf zu warten, dass die Zeit abläuft oder?"
Er nickte, als wolle er sich selbst zustimmen und Irahas brachte es über keines seiner Herzen, ihm zu sagen, dass er die Idee, mit ihm hier zu hocken eigentlich sehr viel reizvoller fand.
"Ich weiß nicht", warf er nur zögerlich ein. "Dann würden mich bestimmt Leute sehen und naja … ich denke schon, dass die sich wundern würden." Er machte eine vage Geste in Richtung seines Gesichts, in dem sich ein purpurfarbener Fleck an den nächsten reihte.
Ryan gab ein nachdenkliches Brummen von sich.
"Meine Mom hat noch eine Menge von ihrem Make-Up Kram oben. Ich denke wir finden schon irgendwas, was wir da drüber schmieren können."
Irahas Dämonenstolz rebellierte angesichts der Idee. Kein echter Dämon hatte es nötig sich auf diese Art vor Sterblichen zu verbergen, okay?
Anderseits … nun, andererseits war er ja noch kein richtiger Dämon, oder? Im Moment war er noch ein Brutling und mal ehrlich, vermutlich war er der erste, der dem großen Fressen in sieben Jahren zum Opfer fallen würde. Und so ein bisschen gefiel ihm die Idee mit Ryan auf diesen Rummel zu gehen doch schon. Wenigstens würde er auf die Art ein paar Erinnerungen mit in den Schlaf und später mit in den Tod nehmen.
"Wir können's ja mal versuchen."
02.
"Deine Eltern schlafen hier? Zusammen?"
Irahas sah sich verwundert in dem Schlafzimmer um, das sicherlich gemütlich gewirkt hätte, wenn nicht überall Kisten herum gestanden hätten. Sein Blick fiel auf das breite Bett in der Mitte des Raumes. Menschen waren echt seltsam.
"Warum sollten sie nicht?", hielt Ryan, der angefangen hatte, sich durch den Inhalt der Kisten zu wühlen, dagegen. "Sie kommen ganz gut miteinander klar." Er hielt kurz inne und sah zum Bett, bevor er hinzufügte: "Glaub ich jedenfalls." Dann begann er wieder zu kramen. "Tun deine das nicht? Im selben Bett schlafen, meine ich."
Irahas runzelte die Stirn.
"Mein Vater ist tot", erwiderte er und schlurfte, sich neugierig nach allen Seiten umsehend, durch das Zimmer.
"Oh", machte Ryan und sah ihn betroffen an. Seine Seele, das verführerische, kleine Ding füllte das ganze Zimmer auf einmal mit wohliger Wärme. "Oh, das tut mir Leid, Mann."
Irahas krallte sich am Bettpfosten fest, um sich von einem Hechtsprung auf den anderen Jungen abzuhalten und hatte Mühe zu verstehen, was Ryan eigentlich so aufgewühlt hatte. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass der Mensch nicht ganz verstand, was Irahas hatte sagen wollen. Doch anstatt den Irrtum aufzuklären, meinte der Dämon nur:
"Muss es nicht. Ich hab ihn nie kennen gelernt."
Was durchaus der Wahrheit entsprach, immerhin hatte sein Vater sterben müssen, damit Irahas und seine Brüder überhaupt erst hatten entstehen können. Aber irgendwie hatte der junge Brutling jetzt keine große Lust, Ryan zu erklären, dass seine Mutter Golgonta, die Gefräßige war und im Grunde nicht mehr als ein gewaltiges, dämonisches Wurmweibchen, dem alle fünfhundert Jahre einmal ein hochdekorierter Dämonenkrieger geopfert wurde, von dem Golgonta alles bis auf den Samen verdaute, mit dem sie schließlich ihre Eier befruchtete. Eier, die ihr Sabatea, die Brutmutter, schon kurz nach dem Legen entwenden musste, damit sie sie nicht gleich wieder auffraß.
Ja.
Selbst wenn er nach Höllenverständnis damit eher gutbürgerlichen Verhältnissen entstammte - die Geschichte hob Irahas sich lieber für ein andermal auf.
Ryans Seele schien sich inzwischen wieder ein wenig beruhigt zu haben.
"Ich glaub das stinkt sogar noch übler", sagte er schließlich. "Ich meine, mein Dad kann einem manchmal tierisch auf den Sack gehen, aber im Prinzip ist er ganz in Ordnung. Er war mal Musiker weißt du? Hat mir das Spielen beigebracht – wenn ich ihn nie kennen gelernt hätte… ich glaub das wäre Scheiße."
Irahas ließ sich auf das Bett fallen.
"Ich denke, ich bin ganz froh, dass ich meinen nicht kennenlernen kann", erwiderte er ehrlich. "Ich glaub nicht, dass er mich sonderlich gemocht hätte." Was daran lag, dass die meisten Dämonen in seinen Kreisen von Natur aus nicht mehr als potentielle Rivalen in ihrem Nachwuchs sahen und trotzdem die unter ihnen bevorzugten, die ihnen eines Tages ungerührt das Messer zwischen die Rippen jagen würden. Dort wo Irahas herkam, mochte niemand Schwächlinge und so ein bisschen hatte der junge Dämon das unbestimmte Gefühl, dass er, wenn er unter dem Wort im Lexikon nachschlug, ein Bild von sich finden würde.
"Schwachsinn", schnaufte Ryan voll seliger menschlicher Unwissenheit. "Ich wette er hätte dich gemocht." Er lächelte aufmunternd und Irahas ließ ihm seine Illusion. Immerhin war es eine schöne.
"Hah, ich hab's gefunden!", wechselte der Menschenjunge unverhofft das Thema und zerrte etwas aus einer der Kisten. Einen kleinen Kasten an sich drückend, sprang er neben Irahas aufs Bett und machte es sich im Schneidersitz bequem. "Jackpott!", erklärte er und hielt eine Tube in die Höhe. Foundation stand darauf zu lesen. "Ich glaub, das ist das was wir brauchen, ich hab sie früher immer beobachtet. Das Zeug schmiert sie sich als erstes ins Gesicht."
Enthusiastisch drückte er eine überaus großzügige Menge auf einen kleinen Schwamm und klatschte ihn Irahas ins Gesicht, der sich ein Knurren verkneifen musste. Foundation fühlte sich unangenehm und irgendwie falsch an. Es lag schwer auf seiner Haut und verklebte ihm die Poren. Bäh. Aber Ryan schien überzeugt von der Sache, so eifrig, wie er zu Werke ging, also saß Irahas so still wie möglich und schielte über seine Nasenspitze zu Ryan.
Der war so in seinem Tun gefangen, dass er die Musterung gar nicht bemerkte.
Aus der Nähe und bei Licht betrachtet, fiel Irahas auf, dass die Augen des anderen Jungen beinahe dieselbe Farbe hatten, wie der Schokoladenkeks, den er vorhin gegessen hatte. Das, so beschloss er still für sich, würde von jetzt an seine Lieblingsfarbe sein, immerhin mochte er beides. Schokoladenkekse und Ryans Augen. Auch wenn er ziemlich sicher war, dass ersteres besser schmeckte.
"Eigentlich glaub ich nicht, dass wir das wirklich machen müssten", erklärte Ryan derweil geistesabwesend. "Du siehst im Grunde nicht schlimmer aus als Paul. Der ist in meiner Klasse, weißt du? Ist mal sitzen geblieben und ist'n wirklich übler Fall von Streuselkuchen. Die meisten nennen ihn Pickelfresse, aber er ist wirklich in Ordnung – spielt 'nen gemeinen Bass und er schreibt seine eigenen Songs. Hammerlyrics, sage ich dir."
Aha.
Irahas kniff die Augen etwas zusammen. Er war wieder mal nicht ganz sicher, über was genau Ryan da gerade sprach, aber er wusste, dass ihm dieses Mal nicht gefiel, wie Ryan darüber sprach. Wer auch immer Paul war … Irahas konnte ihn nicht ausstehen. Ganz sicher verdiente er die Bewunderung nicht, die in Ryans Stimme mitschwang, wenn er über ihn sprach. Denn ganz sicher konnte Paul keine Feuerbälle aus dem Nichts erscheinen lassen, fliegen oder Gift spucken.
Gut. Irahas konnte das auch noch nicht. Aber der Unterschied bestand im Wörtchen noch. Paul und sein Bass würden all das nie können. Irahas schon. Vorausgesetzt, er lebte lange genug.
"Okay … ich glaub das reicht", erklärte Ryan sichtlich mit seinem Werk zufrieden und wischte seine verschmierte Hand unbekümmert an der Bettdecke ab. Stolz hielt er Irahas einen kleinen Spiegel vor die Nase, damit der sich darin bewundern konnte.
Skeptisch musterte der junge Dämon sein eigenen Spiegelbild und er musste zugegen – so widerlich sich die fremdartige Substanz auf seiner Haut auch anfühlte, sie tat ihren Job. Jetzt war er nicht mehr fleckig. Nur noch ein gewöhnlicher, fetter Junge mit einer schlechten Frisur und langweiligen Augen.
Okay … vielleicht vermisste er seine Flecken doch ein ganz kleines Bisschen.
"Jetzt müssen wir dir nur noch andere Klamotten besorgen", befand Ryan und war schon aufgesprungen und aus dem Zimmer geeilt. "Mein Bruder ist etwas größer als du!", rief er aus einem der angrenzenden Räume. "Ich denke schon, dass dir sein Kram passen könnte. Mit ein bisschen Glück hat der blöde Sack noch ein paar Klamotten rumliegen die gewaschen sind … weil in was ungewaschenem von ihm kann ich dich nicht rumlaufen lassen. Er stinkt wie 'n Büffel, weißt du? Ich wette sein Schweiß kann Beton durchätzen oder so was."
Hm. Klang als ob Ryans Bruder sich hervorragend mit Irahas Brüdern verstanden hätte.
Betreten sah er auf seinen einfachen Lendenschurz hinab und bereute einmal mehr, sich auf Ryans Idee eingelassen zu haben. Es gab einen Grund aus dem die meisten seiner Art, so sie denn nicht gerade in den Krieg zogen (und manche auch dann), so nackt als möglich durch die Gegend liefen.
Wie Foundation, nämlich fühlte sich auch Stoff, mochte er noch so fein gewoben sein, seltsam grob und unangenehm auf ihrer Haut an. Im Gegensatz zu den Menschen spürten sie dafür Kälte oder Hitze bei Weitem nicht so intensiv, es bestand also kaum eine Notwendigkeit, sich zu verhüllen.
"Hier!", rief Ryan, der wieder ins Zimmer gesprungen kam und einen Berg Wäsche auf das Bett warf. "Ich denke da sollte noch was bei sein was passt." Neben die Shirts und Hosen warf er ein paar Geldscheine. "Mein Bruder gibt einen aus", erklärte er breit grinsend.
"Bekommst du keinen Ärger, mit ihm?", fragte Irahas besorgt.
"Was soll er machen?", erwiderte Ryan unbekümmert und ließ sich neben dem Dämon aufs Bett fallen. "Mich fressen?"
Irgendwie fand Irahas das nicht sonderlich witzig. Sein Gesichtsausdruck musste ihn wohl verraten, denn der Menschenjunge rollte mit den Augen.
"Ist schon okay, er wird mir nichts zu Schlimmes tun. Die Kohle hat er vom Dope verticken, er weiß, dass ich ihn an Mom verpfeife, wenn er mich ernstlich beschädigt. Komm schon zieh dich an!"
Irahas griff nach einer Hose, deren grober blauer Stoff sich unangenehm fest in seinen Fingern anfühlte.
"Ryan?", fragte er und ließ die Hände wieder sinken. "Warum tust du das alles für mich?"
Der andere Junge, der gerade dabei war in seine eigene Hose zu steigen, hielt in der Bewegung inne und runzelte die Stirn.
"Ich weiß nicht", antwortete er und zuckte mit den Schultern. "Das hier ist irgendwie cool, weißt du? Ich meine … Mann wie oft trifft man schon einen echten Dämon?" Öfter als man glauben mochte, wie Irahas wusste, der allerdings Ryans Begeisterung nicht dämpfen wollte und deshalb schwieg. "Und außerdem ist es Scheiße, dass du alles verpasst, weil du dauernd schlafen musst. Das ist, ich weiß nicht … unfair."
Er knöpfte seine Hose zu und griff nach einem T-Shirt.
Irahas beobachtete ihn einen Moment lang stumm. Damals, vor sieben Jahren als die anderen damit beschäftigt gewesen waren, schon einmal für das zu üben, was sie nach ihrem dritten Erwachen erwartete, hatte Sabatea ihm Geschichten erzählt. Über Dämonen. Und Menschen. Darüber wie schwach sie waren, lächerliche, zerbrechliche Geschöpfe, die in ihrer reizlosen Unbeholfenheit selbst dem schwächsten Dämon so jämmerlich unterlegen waren, dass sie zu nichts anderem taugten als den Pfand in dem ewig währenden Spiel zwischen Licht und Dunkelheit zu geben.
Doch wenn er jetzt Ryan ansah, war Irahas nicht so sicher, wie viel davon den Tatsachen entsprach. Irgendwie fühlte er sich dem anderen Jungen, egal wie schmal und zierlich er wirkte, nicht im geringsten überlegen.
Vielleicht kam das noch… irgendwann später?
Nicht besonders überzeugt zwängte Irahas sich in die Hose, die ihm am weitesten erschien. Trotzdem bekam er sie nicht zu, er war schlicht und ergreifend einfach zu massig.
"Lass sie halt offen", riet Ryan entspannt und warf ihm ein T-Shirt zu. "Das hier ist weit genug, dass du es drüber hängen lassen kannst." Damit schien die Sache für ihn erledigt. Ja. Er hatte ja auch keine Flügel, die sich trotz ihrer beschämenden Winzigkeit, zu einem echten Problem entwickelten.
"Warte ich helf dir", bot Ryan an, als er sah, wie der Dämon sich damit mühte das T-Shirt über seine Stummelflügel zu zerren. Irahas, der eigentlich nicht wollte, dass der andere Junge, diese Peinlichkeit aus der Nähe sah, war schon drauf und dran abzulehnen. Ryan jedoch war schneller. "Weißt du … die sind echt cool", erklärte er und Irahas konnte eindeutig Neid aus seiner Stimme hören.
"Sie sind total unnütz", hielt er ungläubig dagegen. "Viel zu klein."
"Wachsen sie noch?"
Oh bei allen Höllenkreisen – das hoffte Irahas doch stark, ansonsten brauchte er in sieben Jahren gar nicht erst aufstehen. Ein Dämon ohne prächtige Schwingen war kein richtiger Dämon.
"Sicher", erwiderte er, um Ryan nichts von seinen eigenen Zweifeln spüren zu lassen. Ihm gefiel viel zu sehr, dass seine Flügel den anderen Jungen trotz ihrer Mickrigkeit beeindruckten. Was Ryan wohl erst sagen würde, wenn er sie in sieben Jahren sehen würde? Wenn sie und ihr Besitzer groß, stattlich und furchteinflößend kurzum, so richtig dämonisch sein würden.
"Kann ich sie mal anfassen?"
"Huh?"
"Deine Flügel? Ich bin auch vorsichtig."
Oh … nun … also. Irahas war sicher, dass er nicht so aufgeregt hätte sein sollen, nur weil ein Mensch seine Flügel berühren wollte, aber seine Herzen schlugen plötzlich wie wild. Er sah kurz über seine Schulter zu Ryan, der fasziniert auf die kleinen, ledrigen Schwingen starrte.
Er sah so … so … nun eben so aus. Irahas warf einen Blick auf seine langen, dunklen Wimpern und hörte sich selbst sagen:
"Ja. Klar. Mach ruhig."
In seinen Ohren rauschte es, als er wieder nach vorne sah. Es war lächerlich, dass ihn die Idee, Ryan würde seine Flügel berühren, beinahe in Panik versetzte. Er war immerhin ein Dämon. Na gut, er war fast ein Dämon. Was sollte ihm ein Mensch, noch dazu ein so winziger wie Ryan schon tun?
Dass der andere Junge ihm durchaus etwas tun konnte, wurde Irahas schlagartig klar, als Ryan ernst machte und mit dem Zeigefinger den äußeren Rand des rechten Flügels entlang fuhr.
"Wahnsinn, Mann", kommentierte er. "Die sind ganz warm."
Irahas hörte ihn kaum, denn … oh … oh das fühlte sich … gut an. Wirklich, wirklich gut. Es war ein bisschen, als würde von jeder Stelle die Ryan berührte, ein kleiner Stromschlag durch jedes einzelne Glied seiner Schwinge fahren, bis hinunter zu seinem Steißbein und … oh, jener Stelle zwischen seinen Beinen über die Irahas bis jetzt noch nicht sonderlich viel nachgedacht hatte. Ihm wurde irgendwie ganz warm und etwas schwindelig. Seine Beine fühlten sich plötzlich an, als hätte jemand sie mit flüssigem Wachs gefüllt.
"Die sind viel weicher, als sie aussehen."
Ryan ließ seinen Finger bis zu der Verbindungsstelle gleiten, an der die Flügel aus dem Rücken wuchsen.
"Tut das nicht weh?"
Vorsichtig berührte er den Hautring, der die Verbindung schützte.
Irahas stieß ein tiefes gutturales Knurren aus und ging in die Knie.
"Huh … tut mir Leid, Mann!", rief Ryan und zog erschrocken seine Hand zurück. "Ich wollte dir nicht wehtun!"
Irahas der so dicht vor … vor irgendwas wirklich, wirklich Großartigem gestanden hatte, schüttelte heftig keuchend den Kopf und wollte herumfahren, um Ryan dazu zu zwingen, seine Hand gefälligst wieder dahin zu packen, wo sie bis eben wundervolle Dinge getan hatte. Doch seine Beine verrieten ihn schändlicherweise und als er mit glühenden Augen zu dem Menschenjungen starrte, wirkte der so verunsichert, dass Irahas wieder etwas zu Sinnen kam.
"Kein … kein Problem", würgte er halb erstickt hervor. "Mir geht’s … gut."
Auch wenn es vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hätte, bis es ihm noch etwas besser gegangen wäre. Er rang sich ein schwaches Lächeln ab, das Ryan galt, der eingeschüchtert ein paar Meter von ihm entfernt stand und die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte, als befürchte er, sie könnten wieder schlimme Dinge anrichten. Irahas musterte ihn an und hatte eine vage Ahnung von … etwas. Etwas, das mit dem zu tun hatte, was gerade geschehen war. Das vielleicht erklären konnte, warum ausgewachsene Dämonen so viel Zeit mit bestimmten Dingen verbrachten.
Ryan schien seinen Blick falsch zu deuten.
"Bist du … sicher?", fragte er mit gerunzelter Stirn.
Irahas lächelte beruhigend und versuchte etwas von dem gewinnenden Charme hinein zu legen, der seiner Spezies der Legende nach Sterblichen gegenüber schon so oft zum Vorteil gereicht hatte.
"Ziemlich sicher. Du … uhm du kannst sie ruhig noch mal anfassen… wenn du willst."
Er würde auch ganz, ganz still halten.
"Ach, schon okay", lehnte Ryan, sehr zu Irahas Leidwesen, mit einem Schulterzucken ab. Wenigstens schien er sich wieder etwas zu entspannen. Er trat lächelnd näher, half dem Dämon auf die Füße und zog ihm das T-Shirt herunter, bevor er ihm eine zu große Jacke reichte. "Wir müssen eh los, wenn wir noch was erleben wollen."
Was Irahas irgendwie wirklich schade fand.
03.
Damals, vor sieben Jahren hatte Sabatea noch etwas anderes über Menschen gesagt. Dass sie quasi blind waren wie ein Maulwurf um Mitternacht, wenn es um Magie ging. Dass sie so ziemlich die unempfänglichsten Kreaturen unter Sonne und Mond waren. Und zumindest in diesem Punkt kam Irahas nicht umhin, ihr zuzustimmen, denn Ryan schien nicht mitzubekommen, dass diese Nacht angefüllt war mit geradezu unglaublicher Energie.
Munter plaudernd führte er Irahas durch die dunklen Straßen der kleinen Stadt ohne auch nur einen der merkwürdig geformten Schatten zu bemerken, die ihnen hin und wieder ein Stück weit folgten, bis Irahas ihnen einen giftigen Blick zuwarf und mit einem fast unhörbaren Knurren zu verstehen gab, dass dieser Mensch hier nicht auf der Speisekarte stand. Er schien auch die lockenden Gesänge der Kreaturen der Tiefe nicht zu hören, die den Nachtwind erfüllten, der vom nahen Meer herüberwehte, die unterschwellige Macht nicht zu spüren, die heute Nacht zum Greifen nah zu sein schien.
Irahas blieb dicht an seiner Seite, lauschte seinem Geplapper über Musik, seine Schulkameraden, Musik, Basketball, Musik, Musik, Musik, Filme und Musikfilme und fragte sich ernstlich, wie es kam, dass die Menschheit überhaupt noch existierte.
Auf dem nicht allzu langen Weg zum Rummelplatz, entkam Ryan gut und gerne zwanzig potentiell tödlichen Situationen und dabei rechnete Irahas seine unaufmerksame Art, die Straße zu überqueren, ohne nach links und rechts zu schauen, noch nicht einmal mit ein. Der Gedanke daran, wie der andere Junge die nächsten sieben Jahre ohne ihn überleben sollte, bereitete ihm ernstliche Sorgen.
Der Rummel selbst, eine grellbunte, hell erleuchtete Insel in der Nacht, schien nur auf den ersten Blick sicherer. Die Kreaturen, die hier auf die Pirsch gingen waren einfach nur besser getarnt. Wie zum Beispiel der Rattenfänger, der bereits am Eingang in der Maske eines Ballonverkäufers lauerte und Ryan mit hellen, glitzernden Augen begehrlich musterte. Irahas versperrte dem hageren, groß gewachsenen Dämon die Sicht und bleckte die Zähne in seine Richtung.
Ihm war klar, dass er, wenn es hart auf hart kam, nicht mal gegen einen so niederen Dämon wie einen Rattenfänger ankommen würde, aber glücklicherweise hielten sich gerade diese meist an die Spielregel, die da lautete, sich nie an der Beute eines anderen zu vergreifen. Schon allein aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Niemand wagte sich an Sabateas Brut, weil jeder wusste, was sie mit denen anstellte, die es dennoch taten. Und da man nie sagen konnte, wer von ihren Schützlingen als Sieger aus dem großen Fressen hervorgehen würde, sah man sich vor, ihnen das Frischfleisch unter der Nase wegzuschnappen. Nachher hatte man sich einen Fürsten in spe zum Feind gemacht.
Höllenfürsten auf der anderen Seite waren für eine Menge Dinge bekannt. Gedächtnisschwäche oder ein verzeihendes Naturell gehörten nicht dazu.
Weswegen es also genügte, dass Irahas an Ryan dranblieb und heftige: Meins! – Schwingungen aussendete, während der wie ein Derwisch zwischen den Ständen umherwirbelte. Weder der Ghoul, der als bärtige Frau getarnt Karten für das venezianische Karussell verkaufte, noch der Wechselbalg, der in diesem Moment eine junge Frau in das Spiegellabyrinth lockte, oder das Erg-Vampirweibchen, das auf der Suche nach Nahrung hungrig durch die Menge streifte, stellten seinen Anspruch in Frage. Und warum sollten sie auch? Jeder wusste, dass Sabateas Brut Ausgang hatte und es Seelennacht war. Und leuchtete die Seele des Jungen in seiner Gesellschaft nicht ganz besonders verheißungsvoll? Natürlich würde sich kein Brutling so einen Fang entgehen lassen und ganz sicher würde er ihn sich nicht streitig machen lassen. Und was, wenn es aussah, als wären sie Freunde? Jeder Dämon spielte gerne. Vor allem mit Menschen.
Ja. Sie dachten unter Garantie, dass sie wussten was hier ablief. Und das wo Irahas selbst nicht mal so genau wusste, was hier ablief.
Doch er entspannte sich von Minute zu Minute mehr, während Ryan versuchte, ihm einen Preis zu schießen und gnadenlos versagte. Eine Schmach, die er offensichtlich nur mit etwas bekämpfen konnte, das sich Zuckerwatte nannte und so unglaublich köstlich war, dass Irahas großmütig beschloss die Menschheit nur zu versklaven und nicht auszurotten, wenn er es wider Erwarten tatsächlich bis zum Höllenfürsten brachte.
"Na was sagst du?", rief Ryan aufgedreht über den Lärm der Fahrtgeschäfte und diversen Popsongs hinweg, die von allen Seiten auf sie einplärrten. "Das ist das Leben oder?" Er reichte seinem Freund einmal mehr den Zuckerwattestab und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab. Seine Augen glänzten und er lächelte so breit, dass es wirkte als würden seine Mundwinkel gleich am Hinterkopf zusammentreffen. Er strahlte mit seiner Seele um die Wette und für einen Moment wollte sein dämonisches Gegenüber einfach kurzen Prozess machen, sich Seele plus Verpackung unter den Arm klemmen und beides mit hinunter nehmen in seinen Kokon.
Was vermutlich weder Sabatea noch die anderen wirklich gut gefunden hätten.
Ryan wahrscheinlich auch nicht.
Leise seufzend riss Irahas ein Stück flauschig-klebriger Zuckerwatte vom Stab und gab ihn wieder an Ryan zurück. Der nagte eifrig die Reste ab und warf das leere Holzstäbchen in einen überfüllten Papierkorb, in dem es verdächtig raschelte. Irahas konnte den Gestank des Schnappers, der darin auf die unvorsichtige Hand eines ahnungslosen Müllmannes oder Wertstoffsammlers wartete, ganz genau riechen. Er wartete, bis Ryan kurz in die andere Richtung sah und trat kräftig dagegen. Das bösartige Zischeln das daraufhin aus dem Innern kam, bestätigte seine Nase.
"Du hast doch Spaß oder?", fragte Ryan ein paar Sekunden später und warf Irahas einen prüfenden Blick zu. Der Brutling nickte eifrig.
"Ja", erwiderte er. "Ich denke … schon."
Und das war nicht mal gelogen, auch wenn Irahas 'Spaß' von anderen Dingen herrührte als Ryan glauben mochte. Die Fahrtgeschäfte, die Buden, selbst die meisten Köstlichkeiten ließen den Dämon eher kalt. Ja, sicher, es waren nette, flitterige Dinge. Unterhaltsame Ablenkungen, mehr aber auch nicht. Das was Irahas wirklich nun, Spaß machte, war Ryan vor seinen Artgenossen zu beschützen.
So seltsam das auch klang, aber dem Dämon gefiel es, wie die anderen Bestien und Biester einen Bogen um Ryan machten, sobald sie sahen, wer ihn begleitete. Und das obwohl der Menschenjunge so ziemlich das perfekte Opfer war. Wehr- und ahnungslos, unschuldig und so … so … nun so eben. Aber ein Blick, ein Knurren, manchmal sogar nur eine bedeutungsvoll hochgezogene Augenbraue und sie kuschten.
Zum ersten Mal verstand Irahas wirklich, warum Macht so anziehend wirkte auf seinesgleichen. Warum es wichtig war, sie zu haben. Macht zu besitzen war eine tolle Sache, selbst wenn sie im Moment nur geborgt war. Eine Sache die Dinge einfach machte, mit der man schützen konnte, was einem wichtig war, selbst wenn es etwas eigentlich unmögliches sein mochte. Und er war Dämon genug zuzugeben, dass es ihm gefiel, wenn andere ihr Haupt vor ihm beugten, seinen Anweisungen nachkamen, ohne dass er sie überhaupt aussprechen musste. Dass sie die Finger von dem ließen was ihm gehörte.
"Das ist spitze, ich hab's dir doch gesagt!", triumphierte Ryan neben ihm im Zuckerrausch. "Uh … weißt du was wir als Nächstes machen sollten?" Er hielt an und bekam große Augen. "Achterbahn! Mann, ich wette so was habt ihr bei euch unten garantiert nicht."
Das war vermutlich korrekt. Dafür hatten sie ganz andere Dinge, dachte Irahas bei sich. Dinge die Ryan besser niemals zu sehen bekam.
"Okay?", stimmte er zu und ließ sich von dem anderen Jungen in Richtung des riesigen Holzgerüstes zerren, das sich hell erleuchtet vor dem dunklen Horizont abzeichnete.
"Ist sie nicht wunderschön?", hauchte Ryan ehrfürchtig, als sie sich der Hauptattraktion des Rummels bis auf wenige Meter genähert hatte.
"Uh hu", machte Irahas, der allerdings nicht die Achterbahn anstarrte, dümmlich.
Wenn er ehrlich war, interessierte ihn das Ding nicht sonderlich, aber er sah, wie dicht sich ein paar der Menschen in den winzigen Wägelchen zusammenkauerten. Die Arme umeinander gelegt, während sie kreischten, dass es eine wahre Freude war. Das interessierte ihn schon eher. Er verstand nicht ganz, warum eine Fahrt auf dem Teil den Menschen Angst machte, aber er hatte eine gewisse Vorstellung davon, wie die Sache ablaufen konnte, wenn er mit Ryan fahren würde. Der trotz allem nun mal nur ein Mensch war und sicherlich Angst bekommen würde. Ganz anders als Irahas, der dann seinen Arm total furchtlos um ihn legen und ihn beruhigen würde. Und sicherlich würde es Ryan beeindrucken, wie wenig Angst so ein Dämon hatte, im Vergleicht zu oh - Paul zum Beispiel. Und vielleicht würde er dann ja doch noch mal Irahas Flügel berühren wollen.
In welchem Zusammenhang letzteres mit dem Rest stand, war selbst dem jungen Brutling etwas schleierhaft, aber es war eine wirklich schöne Vorstellung.
"Komm schon, das wird toll!", versprach Ryan in diesem Moment begeistert und zog seinen dämonischen Freund einmal mehr am Jackenärmel hinter sich her. Irahas folgte ihm nur zu gerne, mehr als bereit dazu, sein Fantasieszenario Wirklichkeit werden zu lassen. "Ich verspreche dir auch, dass ich versuche nicht zu kotzen, wenn wir wieder aussteigen."
"Alles klar", erwiderte Irahas ohne dem anderen Jungen wirklich zuzuhören.
Sie sollten es allerdings nicht bis in einen der Wagen schaffen, denn plötzlich ertönte irgendwo hinter ihnen eine unangenehm schnarrende Stimme:
"Oy, Rylliput – kannst du nicht lesen? Da steht, dass du mindestens eins dreißig sein musst, um mitfahren zu dürfen." Dreistimmiges Gelächter begleitete den Ausruf.
Neben Irahas blieb Ryan wie angewurzelt stehen. Einen Moment lang schien er ein wenig in sich zusammenzusacken. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und wurde durch eines ersetzt, das sich fürchterlich falsch anfühlte. Er straffte seine Gestalt und wandte sich mit einem trockenen:
"Hey, Cole was ist los, Alter? Haben die Wärter wieder vergessen die Käfige abzuschließen?", zu den vier Jungs um, die auf einem der Picknicktische vor einer versifften Hotdog-Bude saßen, die vermutlich nicht mal in der Hölle durch eine Hygiene-Inspektion gekommen wäre. Irahas musterte das Quartett und fragte sich augenblicklich, ob Sabatea im Moment wohl noch eine andere Brut betreute. Denn auch wenn die vier da vorne eindeutig menschlich waren, so hatten sie doch etwas an sich, dass den jungen Dämon automatisch an seine Brüder denken ließ.
Ihre Wortführer war ein Junge der etwas älter als Ryan sein musste und fast doppelt so groß und schwer. Er trug Bürstenhaarschnitt und einen Gesichtsausdruck, der tiefsitzende Langeweile verriet. Eine Langeweile, die ihn gefährlich machte. Viel gefährlicher als den Rest des Rudels, der ihn umgab.
"Witzig, Alter", rief er zurück und spielte mit einem Plastikmesser in seinen Händen. "Hollywood hat angerufen, Jim Carry ist krank, du sollst für ihn einspringen." Sein Blick fiel auf Irahas. So etwas wie schwaches Interesse glomm in seinen Augen auf. Die Art von Interesse, die einen Jäger erfasst, der ein Beutetier erspäht zu haben glaubt. "Wer's 'n der Pudding? Dein neuer Liebhaber?"
Wie auf Kommando brachen seine Speichellecker in lautes Johlen aus. Cole schien es nicht mal zu bemerken. Er wirkte gelangweilt wie zuvor. Irahas dagegen bemerkte es und ein seltsames Gefühl – ein Mix aus Scham und Wut stieg in ihm auf. Widerliche kleine, sterbliche Scheißer! Wie konnten sie es wagen über ihn zu lachen? Ihn vor Ryan lächerlich zu machen? Na und, dann war er halt … massiger. Das konnte sich alles noch verwachsen. Was man von ihrer jämmerlichen Unwichtigkeit nicht behaupten konnte.
"Hm … nein. Das ist Ira, mein Cousin", erwiderte Ryan unterdessen gezwungen locker. "Aber ich verstehe, dass du die beiden Sachen miteinander verwechselst, Alter. Ist in deiner Familie ja so üblich."
Coles Blick wurde tückisch. Er legte das Messer beiseite und verschränkte die Hände ineinander, während seine Freunde ihn erwartungsvoll ansahen.
"Hör mal zu, du Pinscher", sagte er ohne jede Emotion in der Stimme. "Der einzige Grund, aus dem ich dir noch nicht deine dumme Fresse eingetreten hab, ist dein Bruder. Aber ihr seid nicht mehr lange hier und er gibt seine Geschäfte schon an andere ab. Also hab ich keinen Grund mehr, mir dein saudämliches Gelaber gefallen zu lassen, du blöder, kleiner Wichser. Halt besser den Ball flach oder ich verpass dir zum Abschied ein gebrochenes Rückgrat."
Irahas hatte ernstliche Mühe noch etwas durch den blutroten Schleier hindurch zu sehen, der sich bei jedem Wort des Jungen auf dem Tisch stärker vor seine Augen gelegt hatte. So, der Typ glaubte also, er könnte Ryan verletzen ja? Mal sehen wie er das noch anstellen wollte, nachdem Irahas ihm seine verschissene Kehle aus seinem verschissenen Hals gerissen und sie mit seinen verschissenen Gedärmen vollgestopft hatte.
"Whoa – Ira, alles klar, Mann, kein Grund sich aufzuregen. Cole labert immer so 'n Scheiß!", drang von irgendwoher Ryans Stimme an sein Ohr. "Der kann gar nicht anders. Ist genetisch vorprogrammiert. Passiert schon mal, wenn Primaten und Esel sich miteinander paaren. Lass uns einfach gehen, okay?"
Irahas stieß ein dumpfes, unwilliges Knurren aus und versuchte Ryan abzuschütteln, der ihm den Weg zu den Vieren auf dem Tisch versperrte. Alles was er erreichte, war, dem anderen Jungen einen heftigen Stoß zu versetzen, der ihn zu Boden beförderte. Einzig Ryans überraschter Ausruf, als er hart auf seinem Hinterteil landete, hielt Irahas jetzt noch davon ab, sich auf Cole zu stürzen und herauszufinden, ob vielleicht nicht doch schon ein paar seiner Dämonenkräfte aktiv waren.
"Scheiße, das hat weh getan!", beschwerte Ryan sich verblüfft und schaffte es damit irgendwie, zu Irahas durchzudringen, der ihm einen kurzen Seitenblick zuwarf und endlich inne hielt, als er den anderen Jungen dort sitzen sah, winzig und harmlos und unglücklich. Oh, fantastisch – ja ganz genau so beschützte man einen zerbrechlichen Menschen. Indem man ihn durch die Gegend schleuderte wie eine Puppe. Wozu brauchte Ryan noch jemanden wie Cole, wenn es auch ihn, Irahas, gab?
Für einen Moment vergaß der Dämon die Rüpel auf dem Tisch und sah zerknirscht auf den Jungen am Boden hinab.
"Tut … tut mir Leid", flüsterte er, unangenehm berührt. "Das wollte ich nicht. Bist du in Ordnung?"
"Ja, ja", winkte Ryan ab und lächelte, nur um kurz darauf zu beweisen, dass er vorhin wirklich nichts verstanden hatte. "Damit sind wir dann quitt huh?" Er ergriff die Hand, die Irahas ihm anbot und ließ sich auf die Beine ziehen.
"Nein, wie niedlich", schnarrte Cole, der noch immer vollkommen ungerührt auf dem Tisch saß. Seine drei Freunde hatten sich ein wenig zurück gezogen. Sie starrten Irahas mit großen Augen an. Offensichtlich funktionierte ihr Überlebensinstinkt deutlich besser als der ihres Kumpels, der jetzt gelangweilt fortfuhr. "Ich hoffe, wenn die Zeit die gekommen ist, einen Trauzeugen zu wählen, denkt ihr an mich."
Ryan zog es vor, ihn zu ignorieren.
"Komm schon, lass uns abhauen", sagte er stattdessen an Irahas gewandt.
Der warf noch einen letzten Blick auf Cole, bevor er sich davon ziehen ließ und prägte sich dessen Gesicht ganz genau ein. Oh ja. Wenn die Zeit gekommen war, würde er sich an Cole erinnern.
Oh ja. Ganz bestimmt.
04.
"Tut mir Leid, dass die Pissnelken uns die Party verdorben haben", sagte Ryan ein gute Viertelstunde später, als sie nebeneinander den Strand entlang, zurück in Richtung seines Hauses trabten. "Die Achterbahn wäre total super geworden."
Irahas, der es hier, unter dem Licht des Vollmondes, umgeben von Dunkelheit, dem leicht moderigen Geruch nach Meer und einer Ahnung von Einsamkeit, eigentlich viel besser fand, vollführte eine kurze, unbestimmte Geste und erwiderte:
"Ach, ist schon in Ordnung." Lächelnd sah er zum Mond auf. "Wir hätten aber natürlich auch bleiben können. Mit den Vieren wäre ich schon fertig geworden." So viel wollte er nur festgehalten haben.
"Weiß ich", gab der Menschenjunge neben ihm zurück und Irahas stellte zufrieden fest, dass er überzeugt klang. "Du bist ganz grrr und so geworden. Aber ich hätte echt nicht gewusst, wie ich das hätte erklären sollen, wenn du sie plötzlich mit Feuerbällen oder sowas gegrillt hättest."
Irahas Lächeln wuchs noch etwas weiter in die Breite.
"Feuerbälle kann ich noch nicht", gab er ehrlich zu. "Naja jedenfalls noch keine richtigen."
Ryan bliebt stehen und sah sich nach allen Seiten um.
"Zeigst du's mir?", bat er schließlich. "Die Feuerbälle meine ich."
Irahas blinzelte verlegen. Eigentlich wollte er ablehnen, weil es im Grunde genommen nur peinlich war. Seine Brüder bekamen schon die richtig guten hin. Schleuderten Feuerbälle wie die Profis. Bei ihm dagegen passierten … merkwürdige Sachen.
"Ich …", begann er zögerlich. Aber Ryan sah ihn so erwartungsvoll an und war so … na so eben und der dreieckige Anhänger um seinen Hals glitzerte im Mondlicht und Irahas wollte seine Hand darum schließen und Ryan daran zu sich ziehen und … irgendwas machen. "Na gut okay … aber es ist wirklich nichts Tolles, weißt du? Ich glaub ich muss da noch ein bisschen üben."
"Besser als die Feuerbälle die ich machen kann, wird es auf jeden Fall sein", entgegnete Ryan grinsend und stieß ihn spielerisch mit dem Ellenbogen an.
Irahas kratzte sich hinter dem Ohr, lächelte schief und sah dann mit einem leisen Seufzen auf seine rechte Hand hinab. Es brauchte nicht viel, um die wenige Energie zu konzentrieren, die er durch seinen Körper pulsen spürte. Um seine Fingerspitzen tanzten bereits erste kleine Funken.
"Wow … cool", staunte Ryan angemessen beeindruckt, als sich die Funken in der Mitte der Handfläche trafen, die Irahas ihm entgegenhielt. Ermutigt von seiner Reaktion, blieb Irahas am Ball. Vielleicht klappte es dieses Mal. Oh … das wäre super – wenn er Ryan ein richtiges Inferno zeigen könnte, das würde ihn ganz bestimmt richtig beeindrucken und ihm beweisen, wie stark und dämonisch Irahas war. Und vielleicht würde er dann seine Flügel noch mal anfassen wollen.
Der Gedanke lenkte den jungen Brutling so sehr ab, dass das Feuer in seiner Hand, die Chance nutzte, ein Eigenleben zu entwickeln. Enttäuscht beobachtete Irahas, wie es sich wieder einmal zu etwas formte, das nicht mal ansatzweise was mit einem Ball zu tun hatte. Erneut seufzend, betrachtete er die Libelle aus Feuer, die mit langen orangeglühenden Flügeln auf seinem Handteller saß und munter vor sich hin loderte.
"Alter … das ist so abgefahren!", lachte Ryan begeistert, als Irahas das kleine Ding mit einem unwilligen Knurren in die Luft beförderte und es davon schwirren ließ. Der Menschenjunge lief der Feuerlibelle ein Stück weit ins Meer hinterher und hüpfte, in dem fruchtlosen Versuch, sie einzufangen, immer wieder empor. Irahas warf dem Wasser einen besorgten Blick zu. Doch er konnte keine Nixen in der Nähe riechen, also war das wohl in Ordnung.
"Mann, du bist so cool!", verkündete Ryan, als er wieder aus dem Wasser gewatet kam im Brustton der Überzeugung. "Wenn ich so was könnte, hätte ich Cole schon lange das blöde Maul gestopft."
"Warum?", fragte Irahas, der sich in den Sand hatte plumpsen lassen, enttäuscht. "Hat er Angst vor Insekten?"
Ryan verdrehte die Augen und ließ sich neben Irahas fallen.
"Du hast echt Ansprüche, was?", fragte er und sah der Libelle nach, die inzwischen nicht mehr war als ein winziger glühender Punkt am Firmament. Der junge Brutling neben ihm zuckte mit den Schultern:
"Ich will nur das können, was alle anderen auch können", erwiderte er leise.
"Aber du kannst was viel Besseres", verkündete Ryan überzeugt. "Ich meine überleg mal. Wenn du jetzt schon so 'nen Kram machen kannst, kannst du in sieben Jahren vielleicht Drachen oder so was aus deinen Händen schießen lassen." Er klang etwas atemlos vor Begeisterung. Seine Seele schillerte und schimmerte aufgeregt. Menschen, so befand Irahas, waren tatsächlich ein bisschen merkwürdig.
"Was hätte ich denn davon?", fragte er perplex. "Wie soll ich denn mit Drachen richtig auf meine Brüder zielen?"
Darüber schien Ryan noch nicht wirklich nachgedacht zu haben. Er zog eine Schulter hoch und umschlang seine Knie.
"Weiß ich nicht", gab er offen zu. "Aber es wäre richtig fett, Mann."
Irahas grub seine Finger in den Sand und zerquetschte geistesabwesend die Schattennatter, die gerade dabei gewesen war, sich von dort aus an Ryan heranzupirschen, um anschließend über sein Ohr in sein Gehirn gleiten und es von innen heraus auffressen zu können.
Drachen hm?
Die Idee mochte sich absurd anhören, aber irgendwie klang es schon … nett. Nach etwas mit Stil, nach einem Markenzeichen. Vielleicht konnte er sich einen coolen Kampfnamen zulegen. Irahas Drachenhand oder so was. Kampfnamen waren ziemlich wichtig, da wo er herkam.
"Wenigstens weißt du, dass du solche Sachen irgendwann mal können wirst", fuhr Ryan derweil fort. "Ich werds vermutlich nie ins Basketballteam schaffen." Er klang ein bisschen frustriert, auch wenn Irahas nicht ganz begriff wieso. Wenn er das richtig verstanden hatte, ging es bei Basketball nur darum, einen Ball in einen Korb zu werfen. Das klang nicht sehr lebensbedrohlich. "Meine Mom, sagt immer, dass ich Geduld haben soll und dass ich gerade erst in die Entwicklung komme … aber ehrlich, bis auf dass ich jetzt nur noch beschissen singen kann, hat sich da noch nichts getan. Und ich muss es wissen, ich messe jeden Tag nach." Er blies die Backen auf und atmete heftig aus. "Ja und selbst wenn. Mehr als fünfzehn Zentimeter sind laut meinem Arzt nicht drin. Das heißt ich werde irgendwann mal stolze eins fünfundsechzig sein. Wohoo."
Irahas fand insgeheim, dass das ganz wundervolle Neuigkeiten waren, besaß aber genug Takt, das für sich zu behalten.
"Und jetzt ziehen wir auch noch nach Philly. Ins Land der Riesen", fuhr Ryan derweil in seiner etwas unerwarteten Tirade fort. "Ich wette ich werde so oft in den Müllcontainern hinter der neuen Schule landen, dass ich daraus irgendwann mal eine olympische Disziplin machen kann."
Irahas runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um empört zu fragen, wer so dumm sein und es wagen würde, Ryan in einen Müllcontainer zu stecken. Denn noch hatte er ein paar Stunden Zeit und konnte es bestimmt nach Philly, wo auch immer das sein mochte, schaffen, um ein paar von diesen Selbstmordkandidaten dazu zu bringen, ihre zukünftigen, schändlichen Pläne in Bezug auf Ryan noch mal gründlich zu überdenken.
Doch der Menschenjunge war schon wieder weiter im Text.
"Naja … wenigstens sind die meisten Gitarristen auch nicht gerade riesig", versuchte er die positive Seite der Dinge zu sehen. "Prince zum Beispiel … und der hatte mal riesigen Erfolg. Frusciante und Richards sind auch nicht grade Goliaths, P.J. Harvey ist winzig … naja gut, die ist auch ein Mädchen. Aber die Youngs – klein. Genau wie Johnny Marr. Slash … naja okay, der nicht, aber wenn du mich fragst messen sie seine Haare mit und Dave Navarro ist auch nur etwas über eins siebzig. Sagt zumindest mein Dad. Und der muss es wissen. Ist in den 90ern mal mit ihm getourt. Hier, den Pick hatte er noch von damals."
Stolz hielt Ryan das glänzende Metallstückchen in die Höhe.
"Mein Dad hatte mal 'ne eigene Band, weißt du. Grunge, wie Kurt und Layne und so. Sie waren echt gut, haben's aber nie weiter als bis zur Vorband gebracht und als mein Bruder kam, da hat er sich was Solides gesucht. Jetzt ist er Immobilienmakler. Lahm oder? Das wird mir nicht passieren, soviel kann ich dir versprechen. Warte mal…"
Ryan begann in seiner Jackentasche zu wühlen und zog ein kleines, weißes Ding hervor. Irahas wusste inzwischen, dass das ein I-Pod und so etwas wie Ryans heiligster Besitz war.
"Hier, das ist mein Dad", er schob dem Dämon einen schwarzen Knopf ins Ohr und verhalf sich selbst zu dem zweiten, bevor er die Musik spielen ließ.
Irahas tat ihm den Gefallen wirklich hinzuhören. Natürlich wusste er was Musik war – wenn man die Menschenwelt besuchte, kam man kaum daran vorbei. Bis jetzt hatte er nur noch nicht begriffen, was die Menschen so sehr daran faszinierte. Er erlebte auch jetzt kein Wunder, aber so dicht an Ryan gedrückt, veränderte sich seine Sicht auf die Dinge schon ein wenig.
Der Sänger in seinem Ohr, Ryans Vater, hatte eine angenehme Stimme. Tief und warm, nur der ganze Zorn und die Enttäuschung, die in den Worten lagen, die er sang, schienen nicht so recht zu passen und Irahas ahnte, dass es die Worte eines anderen waren, die Ryans Vater da sang. Der Zorn und die Enttäuschung eines anderen, Emotionen, zu denen er offensichtlich keine echte Beziehung hatte. Weshalb dem Ganzen etwas zu fehlen schien. Der Rhythmus aber war nicht schlecht, Irahas konnte die ganz eigene Macht spüren, die ihm innewohnte. Etwas, das Kontrolle über einen zu erlangen versuchte, ohne allerdings einen Hintergedanken zu haben. Komplett neutral und nur da, um sich selbst zu genügen. Und als Irahas zu Ryan sah, der die Augen geschlossen hatte und völlig gefangengenommen mit den Fingern Akkorde auf einer unsichtbaren Gitarre zu spielen schien, da fragte er sich, ob Sabatea nicht falsch lag, ob sie nicht alle falsch lagen. Vielleicht waren Menschen gar nicht blind für Magie. Vielleicht war es nur einfach eine andere Art von Magie für die sie empfänglich waren.
***
Irahas hätte noch bis zum Sonnenaufgang am Meer sitzen und zusammen mit Ryan Musik hören können, doch der Akku des I-Pods ließ sie bald schmählich im Stich. Was seinen Besitzer nicht sonderlich zu stören schien, denn er hatte bereits eine neue Idee.
"Ich hab nachgedacht!", verkündete er, während er die nutzlos gewordene Musikdose wieder in seine Tasche stopfte. "Weißt du, das ist alles ganz cool und so. Aber ich glaub wir haben die Sache falsch angefangen. Vielleicht sollten wir deine letzten Stunden hier für was anderes nutzen."
Irahas warf einen bedauernden Blick auf das Meer und stemmte sich in die Höhe, um Ryan zu folgen, der bereits wieder von neuer Energie erfüllt schien.
"Okay. Und für was sollen wir sie nutzen?"
Ryan klatschte in die Hände und erklärte:
"Wir sollten dich trainieren!"
"Trainieren?"
"Ja. Wie in Rocky, Mann. Wir machen dich für den großen Kampf fit!" Ryan wirkte Feuer und Flamme für seine neue Idee. Und wie bis jetzt jedes Mal in dieser Nacht, hatte Irahas irgendwie nicht die Kraft und nicht mal wirklich die Lust, dem anderen Jungen zu widersprechen. Es war ein bisschen lächerlich, doch wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er glauben können, dass Ryan eine Art Zauber auf ihn gewirkt hatte. "Dann kannst du den Boden mit deinen Brüdern wischen. Und danach kommst du zu einem meiner Konzerte."
Irahas wusste, dass das nichts als eine schöne Illusion war, aber Ryan hatte etwas an sich, dass einen dazu brachte, alles glauben zu wollen, was er einem erzählte. Also trottete der junge Brutling seinem menschlichen Freund einfach nur hinterher und achtete darauf, dass ihnen keines der Monstren die durch die Nacht krochen, sprangen und glitten, zu nahe kam, bis sie endlich wieder das Haus erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Ryan ließ seine Jacke fallen, wo er stand.
"Hol schon mal die Chips und die Cola. Ich bin gleich wieder da."
Irahas sah ihm nach, als er die Treppe hinaufstürmte. Dann beugte er sich hinunter, hob Ryans Jacke auf und hängte sie ordentlich an den Haken, bevor er sich daran machte, in der Küche die Dinge zusammen zu suchen, die Ryan in Auftrag gegeben hatte. Er gab sein Bestes, die Uhr an der Mikrowelle zu ignorieren, die ihm in grellen Zahlen verkündete, dass er jetzt nur noch fünf Stunden hatte, bevor die Sonne auf- und er hinuntergehen würde. Ohne Ryan, seine Seele oder seine wilden Ideen.
"Fürchte nichts, ich hab die Antwort auf all unsere Fragen!", rief der andere Junge, als er in diesem Moment wieder in die Küche gestürzt kam. Feierlich präsentierte er Irahas zwei silberne Scheiben. DVDs wie der junge Brutling heute Nacht gelernt hatte. Ong-Bak, stand auf der einen zu lesen, Fight Club auf der anderen.
"Meine Mom weiß nicht, dass ich die habe", erklärte Ryan mit glänzenden Augen. "Ist auch besser so, sonst hätt ich sie nicht mehr lange. Sie ist voll auf dem: Gewalt ist schlecht für deine Entwicklung – Trip, weißt du?"
Irahas dachte kurz an seine eigene Mutter und fragte sich, wie Golgonta wohl zu diesem Thema stand.
"Und wie sollen die mir helfen?", erkundigte der Dämon sich arglos und erntete einen ungläubigen Blick.
"Mann, das sind die besten Kampffilme aller Zeiten!", versicherte Ryan. "Die Typen haben ein paar Tricks drauf, mit denen du deine Brüder aus den Socken haust. Alles klar?"
Irahas unterdrückte ein Seufzen und erwiderte.
"Alles klar."
"Spitze, komm schon, lass uns das überteuerte Ding im Wohnzimmer entweihen", forderte Ryan ihn auf und griff sich die DVDs vom Tisch, bevor er die Küche verließ. Irahas nahm einen großen Schluck Cola, ließ sie sein Hinterhirn kitzeln und folgte dem Menschenjungen mit einer unguten Ahnung in der Magengrube, die sich schon nach einer halben Stunde bestätigen sollte, denn eines stand mal fest – diese ganzen Gerüchte darüber, dass die besten Folterknechte in der Hölle diejenigen mit menschlichen Wurzeln waren … ja, ja doch, da mochte durchaus was dran sein.
Es floss Blut, Knochen brachen mit unglaublich lauten Geräuschen, Dinge spritzten nach allen Seiten, Leute starben wie die Fliegen und trotzdem hatte Irahas noch nicht die geringste Ahnung, um was es in diesem Film eigentlich ging und wie genau ihm das alles nun bei seinem Problem helfen sollte. Aber zumindest schien Ryan sich zu amüsieren und das war ja auch schon mal was. Irahas hätte sich durchaus auch damit zufrieden geben können - immerhin hatte er Chips und Cola - wenn der andere Junge den Film nicht plötzlich mittendrin angehalten hätte, um von der Couch aufzuspringen.
"Okay", sagte der energisch und deutete auf den eingefrorenen Bildschirm, auf dem gerade ein ziemlich lauter und ziemlich unsinniger Kampf stattgefunden hatte. "Und jetzt üben wir das Ganze mal."
"Üben?", echote Irahas lahm und schob sich einen Kartoffelchip in den Mund, um zu zeigen, dass er gerade leider beschäftigt war.
"Klar", kam es von seinem Gegenüber. "Dafür machen wir das Ganze schließlich. Komm schon steh auf!"
Konditioniert wie er bereits war, kam Irahas der Aufforderung zwar grummelnd nach, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er ihr nachkam.
"Und jetzt?"
"Jetzt greif ich dich an und du versuchst, mich abzuwehren", präzisierte Ryan seine Idee, bevor er noch beschwichtigend hinzufügte: "Keine Sorge, ich schlag nicht richtig zu."
Irahas warf ihm einen kurzen, skeptischen Blick zu, verzichtete aber darauf, den anderen Jungen darüber aufzuklären, wie wenig Schaden er tatsächlich anzurichten im Stande gewesen wäre. Das wäre gemein gewesen und Irahas mochte Ryan. Auch Menschenjungen hatten ihren Stolz. Also nickte er nur und hob die Hände, als ob er sich verteidigen wollte.
Ryan zögerte nicht lange, er schob den Couchtisch beiseite, stieß einen seltsam dünnen Schrei aus und sprang mit ausgestrecktem Arm auf den Dämon zu, als wolle er ihn schlagen. Seine Seele leuchtete irgendwie orange und Irahas reagierte beinahe instinktiv, als er den Arm des Jungen packte, ihn um die eigene Achse wirbelte und dann so an sich zog, dass er mit dem Rücken an Irahas Brust landete. Das ganze dauerte keine zwei Sekunden und ließ einen ziemlich verblüfften Ryan zurück, der ein beeindrucktes Schnaufen produzierte:
"Hey, nicht schlecht, Mann", kommentierte er, in Irahas Griff hängend. "Du bist … echt schnell. Und jetzt musst du mich über deine Schulter nach hinten werfen. Keine Sorge, da steht die Couch, ich brech mir schon nichts. Hey … Ira?"
"Hm?"
Irahas bekam einmal mehr in dieser Nacht nicht so wirklich viel von dem mit, was Ryan zu ihm sagte. Er war zu sehr damit beschäftigt darüber nachzudenken, wie nett es sich anfühlte, den anderen Jungen so zu halten. So dicht, dass er jeden Tropfen Blut durch seine Venen rauschen hören konnte und den Schlag des Herzens unter der Hand fühlte, die auf Ryans Brust lag. Das hier, ja, das hier war schön … nicht auf dieselbe Art, auf die die Sache mit seinen Flügeln schön gewesen war, aber irgendwie fast genauso gut.
"Deine Schulter … du sollst mich drüber werfen."
Der Dämon verzog das Gesicht.
"Warum?", fragte er irritiert.
"Uhm … weil wir hier kämpfen üben?", antwortete Ryan mit einem Tonfall in der Stimme als würde er mit einem etwas minderbemittelten Fünfjährigen sprechen. Hinter ihm schüttelte Irahas den Kopf und gab ihn, wenn auch widerwillig, frei.
"Lieber nicht."
"Ach komm schon", protestierte der Menschenjunge. "Ich bin nicht aus Porzellan. Mein Bruder macht das ständig mit mir." Was Grund genug war, dass Ryans Bruder gleich nach Irahas Brüdern würde sterben müssen. Ryan baute sich breitbeinig vor dem Dämon auf. "Okay, dann machen wir das halt andersrum. Du greifst mich an und ich wehre dich ab."
Sofort stand Irahas das Bild vom Rummel vor Augen, ihm kam wieder in den Sinn, wie klein und verletzlich Ryan gewirkt hatte.
"Nein!"
Ryan, der dieses Wort heute Nacht noch nicht ein einziges Mal in Zusammenhang mit einer seiner Ideen gehört hatte, zwinkerte überrascht.
"Was? Mann, Ira komm schon, ich hab dir doch gesagt, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, ich kann echt was ab, komm schon ich …"
"Ich habe nein gesagt, Ryan!", fuhr der Dämon ihm ruhig, aber entschieden in die Tirade. "Ich werde dich nicht angreifen und ich habe auch keine Lust mehr, kämpfen zu üben." Er hatte nicht die geringste Ahnung, woher dieser Tonfall kam, aber er schien erstaunlicherweise zu wirken, denn Ryan ließ die Hände sinken und sah ihn geknickt an. Ein bisschen wirkte er wie ein getretenes Hundebaby und irgendwie bereute Irahas es schon fast, ihm seinen Wunsch verweigert zu haben aber wirklich … es war genug. Trotzdem versuchte er dem anderen Jungen zu erklären, was in ihm vorging.
"Hör mal, ich weiß, dass du mir nur helfen willst und das ist echt … cool von dir und so. Aber nichts was wir hier tun, wird das Ergebnis wirklich beeinflussen. In sieben Jahren werde ich jemand ganz anderes sein. Etwas ganz anderes. Und vielleicht werde ich überleben, vielleicht auch nicht, aber daran will ich heute Nacht eigentlich nicht denken. Ich würde lieber was ganz anderes machen, verstehst du?"
Ryan hatte die Hände wieder in die Taschen geschoben und sah unsicher aus.
"Okay", antwortete er gedehnt und zog die Nase hoch. "Ich glaub ich verstehe, was du meinst." Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. "Ja, okay, also was willst du machen?"
Uh … ja. Das war eine gute Frage, nicht wahr?
Das was Irahas wirklich gerne gemacht hätte, stand vermutlich nicht zur Debatte. Denn Ryan hätte sich sicherlich so seine Gedanken darüber gemacht, wenn Irahas ihn darum gebeten hätte, drei Stunden lang seine Flügel zu berühren. Ein wenig ratlos sah der Dämon sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf eine weitere DVD, die auf dem verschobenen Couchtisch lag. Das Cover sah um einiges einladender aus, als die der Filme, die Ryan ihm angeschleppt hatte.
"Naja", erwiderte er. "Eigentlich ist das mit dem Filme schauen schon ganz okay. Aber ich würde lieber … den da sehen."
Der Ausdruck absoluten Horrors, der auf Ryans Gesicht erschien, war bemerkenswert.
"Ehrlich jetzt?", fragte er sichtlich deprimiert. "Titanic?"
Irahas lächelte.
05.
Es ist ein weithin bekannter Fakt, dass Dämonen auf Kitsch stehen. Zumindest solange es wirklich epischer Kitsch ist. So war es also nur natürlich, dass Jacks frostiger Tod im Eismeer Irahas völlig in seinen Bann zog. Dafür konnte er nicht mal was – es lag ihm quasi in den Genen. Anders als Ryan, den es schon innerhalb der ersten halben Stunde hinweggerafft hatte, hatte Irahas jede einzelne Minute des Films gierig wie ein Schwamm in sich aufgesogen.
Und jetzt saß er also hier. Ganz still, um Ryan nicht zu stören, der gegen seine Schulter gelehnt schlief und beneidete Jack aufs Heftigste. Diesen glücklichen Bastard. Denn was konnte es Besseres geben, als sein Leben quasi für das Leben des Geliebten zu opfern? Das war das ultimative Mittel, das Herz eines anderen in verbrannte Erde zu verwandeln. Die größte aller Schlachten. Denn eines stand mal fest – egal wer nach Jack kam, keiner, wirklich keiner, würde sich in Roses Augen mit ihm messen können. Jack hatte die Schlacht aller Schlachten für sich entschieden.
Der Glückspilz.
Leise seufzend sah Irahas auf Ryan hinab, der sich langsam zu regen begann. Mann, das wäre was gewesen – sein Leben für Ryan zu opfern. Irahas hätte das sofort und ohne zu zögern getan. Auf der Stelle. Dämonen taten sowas nun mal. Anders als die meisten Menschen. Paul zumindest hätte das ganz sicher nicht für Ryan getan.
Die Vorstellung allein brachte alle drei Herzen des jungen Brutlings auf einmal zum Klopfen.
"Isser endlich tot?", nuschelte Ryan von seiner Stelle an Irahas Arm und kämpfte sich verschlafen in die Höhe.
"Uh huh", machte der Dämon neben ihm und lächelte glücklich.
"Gott sei Dank!", entkam es Ryan pietätlos. Er ließ den Kopf zurückfallen und starrte die Decke an, bevor er sich etwas zur Seite drehte und auf die Uhr sah. "Eine Stunde noch", informierte er Irahas bemüht gelassen. "Was willst du jetzt noch machen?"
Da, den Film noch einmal zu schauen nicht mehr in den Zeitrahmen gepasst hätte, stand Irahas mal wieder ohne eine Option da.
"Ich weiß nicht", gestand er seinen Mangel an Ideen ein.
Ryan gab ein leises, unbestimmtes Brummen von sich. Nach einer kleinen Weile meinte er schließlich:
"Ich könnte immer noch Randys Schwester für dich anrufen."
Ja. Ganz sicher nicht.
"Muss nicht sein."
"Okay."
Ein paar kostbare Minuten verstrichen, bevor Irahas endlich eine Idee kam.
"Ich … ich würde dich gern spielen hören", gab er zu und sah Ryan an, der etwas verdutzt aus der Wäsche schaute. Das schien etwas zu sein, mit dem er nicht gerechnet hatte. Und zum ersten Mal in dieser Nacht, schien er wirklich unsicher über etwas, das ihn selbst betraf. Doch er protestierte nicht, sondern zuckte nur knapp mit den Schultern.
"Okay."
Damit stemmte er sich von der Couch hoch und half dann Irahas auf die Beine, so dass der ihm hinauf in das Zimmer folgen konnte, in dem heute Nacht alles seinen Anfang genommen hatte. Der Dämon hatte ein merkwürdiges Gefühl von sich-schließendem-Kreis, als er wieder über die Schwelle trat.
"Ich muss dich aber warnen", sagte Ryan, als er etwas umständlich nach der zu groß wirkenden Akustik-Gitarre kramte, die neben seinem Bett an die Wand gelehnt stand. "Seit ein paar Monaten macht meine Stimme überhaupt nicht mehr, was ich will. Ich hör mich ziemlich Scheiße an."
Irahas lächelte und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem ungemachten Bett des anderen Jungen nieder.
"Ich denk ich werd's überleben", versprach er.
Ryan schnaufte und setzte sich ihm gegenüber ans Kopfende seines Bettes. Die Gitarre auf dem Schoß warf er dem Dämon einen schnellen Blick zu, bevor er verlegen den Kopf senkte.
"Na schön, aber denk nicht mal dran, dich nachher zu beschweren."
Mit diesen Worten ließ er seine Finger prüfend über die Seiten gleiten, drehte und zupfte an Dingen herum und veranstaltete insgesamt ein ziemliches Spektakel, bevor er endlich die ersten Noten einer Melodie spielte. Etwas langsames, das fast ein wenig traurig klang. Passend zu den Worten, die er erst leise, dann etwas kräftiger sang.
"Hey Jude don't make it bad..."
***
Ryan sollte Recht behalten. Seine Stimme machte tatsächlich nicht, was er von ihr wollte. Mal hüpfte sie ihm weg, mal brach sie und dann wieder klang sie viel heller als gewöhnlich. Aber das machte nichts, denn unter all den schiefen Tönen, konnte Irahas die Stimme hören, die irgendwann mal da sein würde. Die, die Ryan von seinem bewunderten Vater hatte. Warm, weich und dunkel. Eine gefällige Stimme, die mit den richtigen Worten, Worten, die ihm gehörten, in den Bann ziehen und verzaubern würde. Eine Stimme, die Irahas unbedingt hören wollte, wenn sie erst einmal da war.
Ryan sang Lied um Lied, während Irahas abwechselnd seine Finger, die geschickt und so sicher über die Seiten glitten, als wären sie nur für diesen Zweck geschaffen worden, und sein Gesicht betrachtete, das offen, vertrauensvoll und entspannt wirkte. Er schien nicht einmal zu merken, dass er lächelte, wenn er ein fröhliches Lied sang und eine ernste Miene zog, wenn auch das Lied ernst war.
Ryan schien so viele Dinge zu fühlen, und seine Seele, das wundervolle, kleine Ding, das Irahas erst zu ihm gelockt hatte, wie das Feuer die Motte, loderte so kräftig und hell, dass sie wie ein Fanal in der Nacht wirkte.
Der Dämon war so fasziniert von dem, was Ryan hier für ihn tat, dass es ihm vorkam, als wären gerade einmal fünf Minuten vergangen, als er ein seltsames Ziehen hinter seiner Stirn spürte. Sein Blick fiel auf den Pick, an dem Band um Ryans Hals und er hätte alles dafür gegeben, wenn er dort nicht den sich widerspiegelnden, zartrosa Schein gesehen hätte, der den Sonnenaufgang ankündigte.
Müde schaute er aus dem Fenster und sah, wie das Dunkel der Nacht langsam, ganz langsam im Licht des neuen Tages zerfaserte.
"Ryan", sagte er gelassener als er sich fühlte. "Ryan, ich muss bald gehen."
Der andere Junge unterbrach sein Spiel und öffnete die Augen, um stumm aus dem Fenster zu blicken.
"Wirklich?", fragte er schließlich mit vom Singen heiserer Stimme. "Ich meine … warum bleibst du nicht einfach hier? Ich find schon 'ne Erklärung. Meine Eltern haben eh ein schlechtes Gewissen, weil sie mich nach Philly verschleppen, ich krieg dich schon irgendwie unter."
Irahas lächelte traurig.
"So funktioniert das nicht, Ryan. Das ist nichts, was ich mir aussuchen kann."
Sein Gegenüber starrte auf seine Gitarre hinab.
"Das ist nicht fair, Mann", murmelte er schließlich. Er sah kurz zur Seite und dann wieder zu dem Dämon am Fußende des Bettes. "Tut mir Leid, dass ich dir die Nacht versaut habe", entschuldigte er sich kleinlaut.
Irahas runzelte die Stirn.
"Du hast mir die Nacht nicht versaut", widersprach er ehrlich. "Das hier war das Beste, das mir je passiert ist."
"Dir ist ja noch gar nicht viel passiert."
"Heute Nacht schon."
Die beiden Jungen auf dem Bett lächelten sich für einen kurzen Moment an, während sich draußen vor dem Fenster die Sonne daran machte, die Nacht endgültig zu besiegen.
"Ich weiß, du willst das nicht hören", begann Ryan und hob die Hand. "Aber ich hab nachgedacht, weißt du und ich denke, du solltest eine ganz andere Taktik fahren, als zu kämpfen…"
"Ryan…"
"Nein, Mann, ehrlich. Du solltest einfach warten, bis sie sich alle gegenseitig gefressen haben. Und dann, bamm … dann schnappst du dir den, der übrig geblieben bist, dann bist du noch fit und er …"
"Ryan ich …"
"Komm schon, Ira! Du musst das Ding einfach gewinnen, okay? Versprich es mir! Hier…" Ryan nahm seine Kette ab und hielt sie dem Brutling hin. "… hier ich geb dir auch meinen Pick, der bringt dir Glück."
Verwirrt sah Irahas von dem Lederband in Ryans Hand zum Gesicht des Jungen. Niemals in dieser Nacht hatte Ryan ihn so eindringlich, ja fast verzweifelt angesehen.
"Das kann ich nicht…"
"Bitte, Mann. Versprich es mir!"
Ryan wusste nicht, was er da verlangte. Ein Dämon gab nicht so einfach ein Versprechen, denn wenn er eines gab, dann band er sich auch daran. Dann musste er alles daransetzen, es zu erfüllen, koste es, was es wolle. Und Irahas wusste nicht, ob er auch nur ansatzweise stark genug dafür war. Wenn er versagte würde er nicht nur sterben – er würde ehrlos sterben, weil er ein Versprechen gebrochen hatte.
Aber Ryan war so … so … so eben, also erwiderte Irahas so überzeugend er konnte:
"Okay. Okay, ich verspreche es dir. Ich werde gewinnen!"
Ihm gegenüber atmete Ryan zittrig auf.
"Gut. Das ist gut, Mann." Er beugte sich etwas vor und legte Irahas das Lederband um. "Du kannst es mir zurückbringen, wenn du den Fußboden mit ihnen allen gewischt hast." Er lächelte zuversichtlich. "Und dann musst du mir alles erzählen, jedes blutige Detail okay?"
Irahas fühlte den Ruf der Dunkelheit immer stärker an sich zerren. Doch noch gelang es ihm, ihn zu ignorieren. Ryan war jetzt dicht, so dicht wie noch nie zuvor in dieser Nacht und plötzlich wusste Irahas, ohne jeden Zweifel, was er mit seinem letzten Moment hier anfangen wollte.
"Ryan?", fragte er leise. "Ryan kann ich … kann ich dich…"
Ihm gegenüber leckte Ryan sich nervös über die Lippen, er blinzelte und erwiderte, kaum hörbar:
"Ja. Klar. Mach ruhig."
Sein eines, einsames Herz, klopfte so laut, dass es fast das Schlagen des Trios in Irahas Brust übertönte, der nicht eine Sekunde länger zu verschwenden hatte. Er beugte sich vor, schloss die Augen und presste seine Lippen vorsichtig gegen Ryans. Sein letzter bewusster Gedanke in dieser Welt war, dass Ryans Lippen waren, wie seine Stimme sein würde. Warm und weich, etwas wundervolles, das einen verzaubern und gefangen nehmen konnte. Etwas das ihm gehören musste. Ihm gehören würde.
Eines Tages.
***
"Du bist spät, kleiner Prinz."
Irahas wollte die Augen nicht öffnen. Wollte das ewigwährende, schlammige Zwielicht nicht sehen, das die gewaltige Bruthöhle von einer Wand bis zur anderen füllte. Er wollte die Kokons nicht sehen, von denen einer ihn während der nächsten sieben Jahren gefangen halten würde. Er wollte nicht einmal Sabatea sehen, die Brutmutter, deren gespaltene Zungenspitze ihm jetzt über das Gesicht fuhr.
"Du schmeckst nach Mensch", bemerkte sie gelassen. "Und doch trägst du keine Seele bei dir. Ich frage mich, was dir dort oben widerfahren ist."
Irahas öffnete endlich die Augen und betrachtete die gewaltige, schuppige Schnauze, die direkt vor ihm schwebte. Müde lehnte er seine Wange dagegen.
"Ich denke, du weißt, was mir widerfahren ist", antwortete er lakonisch.
Sabatea wickelte ihren enormen Schwanz um seinen Körper und begann damit, in Richtung der Kokons zu gleiten.
"Nun, du bist nicht der erste, dem es widerfahren ist und du wirst nicht der Letzte sein", entgegnete sie mit der Besonnenheit eines Wesens, dass Generationen, ja ganze Geschlechter hatten kommen und vergehen sehen. "Sorge dich nicht. Um seine Herzen angemessen schützen zu können, muss man erst einmal wissen, wo sie sitzen."
Irahas Glieder fühlten sich bleischwer an. Nur mühsam gelang es ihm noch bei Bewusstsein zu bleiben. Er legte eine Hand um Ryans Talisman und lächelte.
"Aber so ist das nicht", widersprach er. "Ich denke nicht, dass ich meine werde schützen müssen."
"Ist das so?"
"Oh ja. Er ist gut, weißt du. Und loyal und so … so …"
"So eben?"
"Genau." Irahas Augenlider wurden schwer und schwerer. "Eines Tages, Sabatea, eines Tages werde ich herrschen. Nicht nur über meinen Höllenkreis, sondern über alle und noch dazu die Erde. Und Ryan wird an meiner Seite sitzen und für mich singen. Nur für mich und er wird meine Flügel berühren und ich werde ihn küssen, so oft ich kann." Der junge Brutling gähnte herzhaft. Er bekam kaum noch mit, wie seine Brutmutter ihn behutsam und mit der Übung von Äonen in seinen Kokon gleiten ließ. "Tut mir Leid", nuschelte er ihr noch zu, bevor sie ihn verschließen konnte. "Tut mir Leid, dass ich keine Seele mitgebracht habe."
Sabateas Zunge berührte seine Wange einmal mehr.
"Auch darum sorge dich nicht, Irahas", zischelte die Brutmutter beruhigend. "Sie sind nicht mehr als Trophäen, wenn sie erst einmal ihren Menschen entrissen wurde. Tand, billige Souvenirs. Du, kleiner Prinz, bist mit etwas viel Wertvollerem zurückgekommen." Sie verschloss den Kokon und glitt davon, um sich in er Mitte der Höhle auf einem Stein zusammenzurollen und mit der Wacht zu beginnen.
"Einem Ziel."
Texte: C.F. Lage (camouflage)
Bildmaterialien: C.F. Lage (camouflage)
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2016
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