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__________§§ 01 §§__________

 

Es gab fünf grundlegend wichtige Dinge im Leben, auf die man nicht verzichten sollte. Erstens - eine vernünftige Matratze. Zweitens - teuren Kaffee. Drittens - guten Sex. Viertens - bequeme Treter und fünftens: einem Richter, der einen mehr hasste, als Hundekacke unter dem Schuh, dabei zusehen zu können, wie er sich innerlich bald einen Knoten in die Hose machte, weil er einem Recht geben musste. Und das obwohl er sich vermutlich lieber die Zunge abgebissen hätte. Bis jetzt waren das vier aus fünf für Octavian - aber es war ja auch erst Mittag.

"Und so komme ich zu dem Urteil, dass das Verfahren gegen Mr. Snyder eingestellt wird. Wegen eines Formfehlers. Wieder einmal."

"Euer Ehren, mit Verlaub ..."

"Verlauben Sie, soviel Sie wollen, Mr. Daniels, aber der Punkt geht an Mr. Sand. Und, falls ich es noch nicht gesagt habe: wieder einmal. Zum dritten Mal, wenn ich richtig mitgezählt habe." Richter Parkins, dürr, zäh, schlecht gelaunt und so alt, dass er vermutlich schon Methusalems Parksünden mit zwei Wochen Jugendarrest und Sozialarbeit bestraft hatte, verzog das faltige Gesicht geringschätzig. Die Nase, die mehr an einen Habichtschnabel denken ließ, gerümpft, als würde er etwas Übles riechen, starrte er in den Raum vor seiner Bank. Um sich wahrscheinlich voller Wehmut an die Zeit zu erinnern, in der Anwälte noch halbwegs respektable Gesellen gewesen waren, denen Wohl und Wehe Justitias am Herzen lag. Was ihn dann noch mal ein paar hundert Jahre älter machte, als Octavian eh schon geschätzt hätte.

Salbungsvoll lächelnd, begegnete er dem tadelnden Blick des Richters und drückte gleichzeitig seinem Klienten die Hand fest auf die Schulter. Nur, um den blöden, kleinen Idioten davon abzuhalten, laut jubelnd aufzuspringen und eine spontane Freudenfeier zu veranstalten, die ihm unter Garantie gleich die nächste Anklage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses eingebracht hätte.

"Alter! Alter du bist der Beste!", keuchte Taylor Snyder, besagter Idiot, in diesem Moment halb besinnungslos vor Glück. Was tatsächlich kein wirklicher Unterschied zu seinem normalen Geisteszustand war. Immerhin hatte Octavian ihn gerade eben zum dritten Mal in einem Jahr vor einer Verurteilung wegen Beleidigung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt bewahrt. Octavian verstärkte seinen Griff und lächelte den Richter noch ein bisschen breiter an. Parkins begegnete seinem Blick ausgesprochen unbeeindruckt. Er hätte kaum deutlicher machen können, dass die Nummer bei ihm nicht zog und für einen Moment wurde Octavians Lächeln ein wenig echter.

Nah. Er mochte den alten Habicht.

Noch mehr aber mochte er es, dabei zuzuschauen, wie sich die Konkurrenz um Kopf und Kragen redete. Was in diesem Fall Collin Daniels war, der schon während ihrer gemeinsamen Uni-Zeit viel zu viel Ellenbogenorientierung an den Tag gelegt hatte und ein Temperament mitbrachte, das seinen Ambitionen immer wieder ein Bein stellte.

"Bei allem Respekt, Euer Ehren ...", fuhr er in diesem Moment fort, als ob er Parkins nicht gehört hätte. Octavian warf einen Blick auf das rot anlaufende Gesicht seines Gegners und verspürte ein angenehm warmes Gefühl im Innern. Ah ja - die tiefe Befriedigung, die ein Sieg über arschkeksige Ex-Kommilitonen mit sich brachte. Vielleicht sollte er Sex von seiner Fünf-Punkte-Liste streichen und mit diesem Punkt ersetzen. Oder ... er machte einfach eine Sechs-Punkte-Liste daraus.

"... es kann nicht angehen, dass man Mr. Synder zum dritten Mal laufen lässt, wegen einer Lappalie, die ..."

"Lappalie?" Parkins Kopf ruckte herum und jetzt wirkte er in der Tat wie ein Raubvogel. Wie einer, der seine Beute ausgemacht hatte und mit ausgestreckten Krallen auf sie niederfuhr. Und für einen winzig, winzig kleinen Moment hatte Octavian fast so etwas wie Mitleid mit Collin. Vielleicht musste er aber auch einfach nur aufstoßen.

"Uh", machte Taylor neben ihm angemessen leise. "Falscher Zug, Mann, völlig falscher Zug." Was bewies, dass selbst sein Überlebensinstinkt besser ausgeprägt war, als Collins.

"Was Sie eine Lappalie nennen", hob Parkins an. "Ist ein neuerlicher Beweis dafür, dass die Praktikanten im Büro der Staatsanwaltschaft jämmerlich überarbeitet sind. Sie haben die gottverdammte Anklage zu spät erhoben!"

"Um zwei Stunden, Euer Ehren!"

"Zwei Stunden, Tage, Wochen, Jahre. Das spielt keine Rolle, wie Sie sehr genau wissen, Mr. Daniels. Hier geht es um das Gesetz und wenn das Gesetz nicht einmal von uns eingehalten wird, warum sollten Bürger wie Mr. Snyder es tun?" Parkins warf Octavian einen Seitenblick zu. Er schnaufte: "Sie wissen, wie Mr. Sand ist, Daniels. Sie wissen, dass er sich durch die Papiere gräbt wie ein Klatschreporter durch Henry Fondas Mülltonne! Um dieses eine Loch zu finden, durch das er sich und seinen Klienten in die Freiheit winden kann. Man nennt ihn nicht umsonst das Wiesel."

Octavian faltete die Hände zusammen, beugte sich ein wenig vor und lächelte in sich hinein. Das hier war der Grund aus, dem er Parkins mochte. Der Grund, aus dem er liebend gerne ein paar Äonen in die Vergangenheit gereist wäre, um den Mann in seiner aktiven Anwaltszeit erleben zu dürfen. Anders als Collin und ein großer Teil der Leute, die die Gerichtssäle Amerikas dieser Tage bevölkerten, wusste Parkins, wie die Dinge liefen. Ein Schnitzer wie der hier wäre Parkins nie unterlaufen. Aber heutzutage machten sie Anwälte wie ihn einfach nicht mehr.

"Und so ... ungünstig ich es auch finden mag", fuhr der alte Mann fort. "Das ist sein Job. Ihr Job ist es, ihm keine Angriffsfläche zu bieten. Und hier und heute hat nur einer von ihnen beiden seinen Job erledigt." Er schüttelte den Kopf und begann mit Nachdruck die Akte zusammen zu räumen. "Der Fall ist geschlossen. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass wir uns bald alle wiedersehen werden."

Was nicht weit hergeholt anmutete, angesichts der Tatsache, dass Taylor einen seltsamen inneren Zwang zu verspüren schien, jedem Menschen in Uniform entweder den nackten Hintern oder den ähnlich nackten Mittelfinger zeigen zu müssen. Aber nun, die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt, nicht wahr?

§§§



Als Octavian aus dem Gerichtsgebäude trat und zum bleigrauen Himmel emporsah, der sich über New York türmte, verbesserte sich seine Laune noch ein Stück weiter. Ein ganzes Stück sogar. Nun, sah beinahe so aus, als würde es heute vielleicht noch schneien. Mit etwas Glück eventuell frieren. Ein Traum. Anderen Leuten hätte die Aussicht auf eisbedeckte Gehwege vermutlich die Stimmung verhagelt, aber nicht ihm. Hey - er war ein siebenundzwanzigjähriger Privatklageanwalt in New York, was in seinem Fall hieß, dass Unfallwetter gutes Wetter war. Unfallwetter war Klagewetter und Klagewetter war Studiengebühren-Rückzahl-Wetter. Er konnte nun mal nicht ausschließlich auf unbelehrbare Evolutionsverlierer wie Taylor hoffen. Alles was er jetzt nur noch entscheiden musste, war, ob er seine Visitenkarten im Warteraum der Notaufnahme des Presbyterians verteilen sollte oder lieber gleich vor dem Eingang des Seniorenheims in der St. Nicholas Avenue.

Vielleicht die Senioren? Wenn Mrs. McCluskie noch lebte, bestand sogar eine ganz gute Chance darauf, dass sie gelangweilt genug war, um wieder einmal ihre Familie, die Heimleitung oder gleich die Stadt New York zu verklagen. Was man ihr nicht verdenken konnte. Vor allem nicht mehr, seit die Heimleitung scharfe Scheren aus den Bastelrunden verbannt hatte, nachdem zwei Teilnehmer im zarten Alter von 81 und 86 Jahren versucht hatten, die Messerszene aus West Side Story nachzustellen. Nur weil sich während einer dieser Bastelrunden herausgestellt hatte, dass sie beide mit Lorna May, dem flotten Feger aus Zimmer 3A ausgingen. Ah junge Liebe. Wobei Octavian die zwei durchaus verstehen konnte - Lorna May war in den Fünfzigern Show Girl in Vegas gewesen und an Tagen, an denen ihre Arthritis es zuließ, legte sie noch immer einen gemeinen Boogie-Woogie auf‘s Parkett. Wäre er nur sechzig Jahre älter gewesen ...

Also ja - das Seniorenheim. Die Leitung konnte ihn zwar auf den Tod nicht ausstehen, aber die Insassen mochten ihn umso mehr. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Octavian half den alten Herrschaften, sich an der Welt zu rächen und sie halfen ihm dabei, einen weiteren Monat nicht in einen Pappkarton umsiedeln oder zu seinen Müttern zurückziehen zu müssen. Und außerdem - vom Geruch mal abgesehen, war es nett im Heim. Warm und trocken und die Insassen behandelten ihn wie die Heimkatze. Fütterten ihn mit Keksen und Milch und erzählten Geschichten, die auch beim fünften Mal nicht langweilig wurden. Natürlich hieß das auch, dass Mrs. Summers ab und an versuchte, ihn an anderen Stellen als hinter den Ohren zu kraulen, aber nun, nichts war perfekt richtig?

Eingelullt vom reibungslosen Ablauf seines Tages und den Dingen im Allgemeinen, beging Octavian den Fehler seines Lebens, als er, als sein Handy plötzlich zu summen begann, nicht etwa ins Taxi stieg und nach Mexiko durchbrannte, sondern tatsächlich abnahm.

"Boss?", hörte er die leicht atemlose Stimme des Jura-Studenten, den er seit zwei Wochen halbtags nicht bezahlte, um so etwas wie seine Empfangsdame zu mimen, am anderen Ende. Sein Name war ... Jimmie? Timmie? Halt ... Kimmie? "Boss, Sie müssen wirklich, wirklich dringend hier herkommen. Echt jetzt!"

"Ich bin gerade ..."

"Nein. Echt! Jetzt!"

Oh nun. Wenn er: Echt! Jetzt! - kommen musste, dann musste er jetzt wohl echt kommen, beschloss Octavian. Ohne zu ahnen, dass er just an einem alles entscheidenden Punkt in seiner Existenz nicht nur falsch abgebogen, sondern eher mit hundertachtzig Sachen die Stunde, durch die Leitplanke seines Lebens gekracht und in den gähnenden Abgrund dahinter gestürzt war.

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Sand & Sohn - nicht, dass es den implizierten Vater überhaupt gegeben hätte, aber was machte das schon, es las sich halt toll auf der Visitenkarte und es war immer noch besser als Sand & Sand oder Sand, Partner & Söhne (zu lang), oder Sand‘s-Klage-Gut-Incooperated, (was zugegeben sicherlich der ehrlichste Name gewesen wäre) ) - Octavians höchst eigene Anwaltskanzlei, war in einem Backstein-Bürogebäude in Myrtle Avenue untergebracht, das sein Haltbarkeitsdatum schon in den Achtzigern des vorletzten Jahrhunderts überschritten hatte. Octavian hatte keine Ahnung, mit wem der Besitzer des baufälligen Kastens schlief, damit ihm die Behörden das Ding nicht unter dem Hintern dicht machten, aber er fragte lieber nicht zu genau nach. Denn so potentiell tödlich ein Aufenthalt in dem Haus auch sein mochte, die Miete war halbwegs erschwinglich. Natürlich noch immer viel zu hoch, aber das hier war New York - hier musste man selbst für einen Schlafsack im Abwasserkanal ein durchschnittliches Jahresgehalt und ein Zehntel seiner unsterblichen Seele als Monatsmiete auf den Tisch legen. Und nun - die Kanzlei war sein Baby - eines von der hässlichen - kann nur eine Mutter lieben - Sorte, aber nun seines eben und verdammt... Octavian schwoll die Brust immer wieder unangemessen, vor Stolz, wenn er an dem Schild mit seinem Namen darauf vorbeilief.

Gut - es mochte nicht nach viel aussehen, aber all das hier hatte er selbst auf die Beine gestellt. Und bezahlte es aus eigener Tasche. Wie viele Typen in der gleichen Altersgruppe konnten das schon von sich behaupten? Liebevoll wischte Octavian ein paar Regentropfen vom Schild, bevor er in das muffige Innere des Hauses trat und, den eh nie funktionierenden Aufzug ignorierend, die zwei Stockwerke bis zu seinem Flur in Angriff nahm. Er war nicht sonderlich besorgt. Gut, Vinnie hatte nicht viel sagen wollen, außer, dass sie offensichtlich einen neuen Klienten hatten, der im Büro auf ihn wartete, aber das war eher das Gegenteil von schlechten Nachrichten. Vielleicht war es jemand, der seine mehr oder weniger gut getarnte Schleichwerbung in einem der Kunstfehlerforen gefunden hatte? Wenn ja hatte sich das letzte Wochenende, das Octavian mit einer Erkältung im Bett hatte verbringen müssen, mit nichts als seinem Handy und dem zu schlecht geschützten W-Lan seines Nachbarn zur Gesellschaft, schon so gut wie bezahlt gemacht.

Guten Mutes stieß er die Tür zum Büro schwungvoll auf und warf dem Jungen, der dahinter bereits auf ihn wartete, seinen Mantel zu.

"Und wieder einen Fall gewonnen!", verkündete er extra laut und unbekümmert, nur damit der Klient auch mitbekam, mit was für einem unglaublich potenten Exemplar der Gattung homo advocatus er es hier zu tun hatte. Und begriff, dass er Octavian ganz, ganz unbedingt engagieren musste. "Ah ich kann dir verraten, Tommy..."

"... Ashton, Boss."

"... es geht doch nichts über den Geruch des Sieges am frühen Morgen." Octavian warf einen schnellen Blick in die Runde, konnte den Klienten aber nicht in dem kleinen Vorraum ausmachen. Die Tür zu seinem Zimmer stand allerdings offen. Eilig strich er sich die Krawatte, das teuerste Kleidungsstück, das er besaß, glatt und wisperte ein lautloses: "Wie sehe ich aus?" - in Richtung seines Praktikumssklaven. Der starrte ihn aus großen Augen an und hob nur einen Daumen. Was genügen musste.

"Äh, Boss", flüsterte der Junge zurück.

Octavian ignorierte ihn, straffte die Schultern, dachte an die Miete für den nächsten Monat und setzte sein öligstes Lächeln auf. Mochte die Macht des Wiesels mit ihm sein!

"Nun, wie ich sehe haben Sie es sich bereits bequem gemacht", begann er lässig und trat durch den Türrahmen. "Ich hoffe, Johnny hat Ihnen einen Kaffee angeboten. Wenn nicht, sagen Sie es nur und wir können ..."

Octavian verschluckte sich an seiner Zunge, als der Mann, der vor seinem Schreibtisch saß, sich zu ihm umwandte. Im Nachhinein wusste er nicht mehr, was ihn stärker aus dem Konzept brachte. Die Tatsache, dass sein Besucher extrem attraktiv war oder die, dass er extrem vampirisch war. Was daran liegen mochte, dass Octavian seine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte, über das Rauschen hinweg, mit dem sein Leben gerade das Klosett des Universums heruntergespült wurde.

"Oh, keine Sorge, Mr. Sand", erwiderte sein Besucher, die Stimme glatt, dunkel und amüsiert. Seine arttypisch bernsteinfarbenen Augen schienen beinahe zu glühen, als er Octavian viel, viel, viel zu interessiert musterte. "Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche."

__________§§ 02 §§__________

 

 

So wie Octavian es sah, hatte er drei Optionen.

Erstens: er konnte durch das geschlossene Fenster zu seiner Linken springen, das grundsätzlich klemmte und das letzte Mal um circa 1956 herum geputzt worden sein musste. In der vagen Hoffnung, dass er den zwei Stockwerke tiefen Fall ohne Splitterbrüche überstand.

Zweitens: er konnte sich den schweren Kristall-Briefbeschwerer schnappen, den er auf dem letzten Gemeindeflohmarkt erworben hatte und als Türstopper nutzte. Ja und dann hoffen, dass sein Besucher freundlicherweise darauf verzichtete, seine, statistisch gesehen vierzig bis siebzig Prozent höhere, Körperkraft einzusetzen, wenn Octavian versuchte, ihm das Ding über den attraktiven Schädel zu ziehen.

Drittens: er konnte so tun, als müsste er sein Herz gerade nicht aus den Socken fischen und darauf hoffen, dass der Vampir dort drüben tatsächlich nur hier war, um ihn mit einer Klage zu beauftragen. Und nicht etwa aus Gründen über die Octavian jetzt lieber nicht nachdenken wollte.

Letztlich waren alle drei Optionen nicht wirklich praktikabel. Denn in Szenario eins und zwei würde das Blut nie wieder aus dem Anzug gehen und in beiden Fällen würde es sein Blut sein und Szenario drei - nun, Octavian war nicht stolz darauf - aber er las die ... Gesellschaftsseiten der Zeitungen. (Böse Zungen nannten es die Klatschkolumnen.) Natürlich nur, wenn er beim Friseur saß oder unter Langeweile litt oder ... nun, der Punkt war, er wusste nur zu gut, wer es sich da in seiner bescheidenen Hütte gemütlich gemacht hatte. Weswegen er auch wusste, dass der gute Mann sich eine Armee an Spitzenanwälten leisten konnte, wenn er es nur wollte.

Verdammt.

Octavians Eingeweide fühlten sich an, als wollten sie seinem Herzen hinterher in die Schuhe rutschen. Trotzdem klebte er sich das geschäftsmäßigste Lächeln auf die Lippen, das er zustande bringen konnte und trat die Flucht nach vorne an.

"Nun, das ist wirklich erfreulich zu hören, Mr. Wood", erwiderte er, als hätte er den Unterton in der Stimme des anderen Mannes nicht sehr genau registriert. Er ging mit ein paar Schritten um seinen Tisch herum und ließ sich dahinter nieder. "Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten, aber nun, das hätte vermieden werden können, wenn Sie einen Termin ausgemacht hätten." Und Octavian damit die Chance gegeben, nach Kanada zu flüchten.

Henry A. Wood, reichster Unternehmer der Ostküste und stellvertretender Vorsitzender des New Yorker Zweiges der nordamerikanischen Voronya-Ratsversammlung, lächelte, als wüsste er ganz genau, was seinem Gegenüber in Wahrheit durch den Kopf ging. Was unmöglich war - im Gegensatz zu dem, was einige Fantasyromanzen behaupteten. Nicht, dass Octavian viele davon las - außer, wenn er beim Arzt saß oder bei seinen Müttern übernachtete oder ... der Punkt jedenfalls war - sie konnten keine Gedanken lesen und Octavian war nie dankbarer dafür gewesen als in diesem Moment.

"Oh nicht doch", erwiderte Wood, richtete die Ärmel seines Anzuges, der mehr gekostet haben musste, als ein fabrikneuer Mittelklassewagen und lächelte unerhört entspannt. "Ich kann nicht behaupten, mich gelangweilt zu haben. Ihr Büro ist ausgesprochen ..."

"Authentisch?"

"Heruntergekommen war das Wort, nach dem ich gesucht habe. Ich muss allerdings zugeben, dass es recht unterhaltsam ist. Dieser gigantische Schwarzschimmel-Fleck dort drüben zum Beispiel? Ich versuche seit zwanzig Minuten zu entscheiden, ob er mich eher an Jackson Pollocks Werke oder Mark Rothkos erinnert."

Octavian warf dem Schimmelfleck hinter sich, der, ganz im Vertrauen, wirklich gigantisch war, einen kurzen Blick zu.

"Ich denke eher an Congo den Schimpansen", erwiderte er mit einem Schulterzucken. "In seiner analen Phase."

"Nun in dem Fall sollten Sie es rahmen lassen und an die Tate Galerie verkaufen, Mr. Sand", gab Wood ungerührt zurück. "So wie ich einige Experten des Modern Tate kenne, gehen Sie als reicher Mann aus dem Geschäft hervor." Octavian konnte nicht verhindern, dass er die Aura gelassen-blasierter Selbstzufriedenheit bewunderte, die Henry Wood umgab. Nun, das kam wohl mit dem Territorium, wenn man sich in so ziemlich jeder Hinsicht am oberen Ende der Nahrungskette eingerichtet hatte.

"Nah. Ich denke, ich behalte ihn", gab er zurück. Zum Teil auf Zeit spielend, zum Teil, um sich von seiner eigenen Nervosität nicht einschüchtern zu lassen. "Er wächst einem irgendwie an Herz und Lunge. Außerdem wüsste ich gar nicht, was ich mit so viel Geld anfangen sollte?"

Wood warf einen leicht skeptischen Blick in die Runde.

"In einen Fußboden investieren, der die Wahrscheinlichkeit senkt, dass man bei jedem unbedachten Schritt Gefahr läuft, die Mieter unter sich kennen zu lernen?"

Octavian schnalzte mit der Zunge.

"Was für ein erstaunlich unabenteuerlicher Satz für den CEO des Jahres, Mr. Wood", kommentierte er lediglich und verschränkte seine Hände ineinander, um sie davon abzuhalten, ihn durch unbedachte Gesten oder Zuckungen zu verraten. Ihm gegenüber hatte Henry Wood noch immer ein leicht besorgniserregendes Lächeln auf dem Gesicht. Und Octavian hatte das schreckliche Gefühl etwas richtig gemacht zu haben. Ugh.

"Oh nun", sagte Wood, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wischte einmal darüber. "Ich denke, es gibt viele Orte, an denen ein Sinn für Abenteuerlust am richtigen Platz ist. Eine termitenzerfressene Kakerlakenaufzuchtstation gehört ganz sicher nicht dazu." Er runzelte die Stirn. "Bei genauerer Betrachtung kenne ich Crackhöhlen, die statisch stabiler und hygienisch unbedenklicher sind."

Es war etwas ärgerlich, aber Octavian konnte seinem kritischen Besucher das harsche Urteil nicht mal übelnehmen. Das Haus war eine Bruchbude. Davon einmal abgesehen war Henry Wood sogar für einen Voronya (sie hassten die Bezeichnung Vampire) ausgesprochen attraktiv. Und Octavian - nun, Octavian gab sich keinerlei Illusionen hin. Er war oberflächlich genug, dass ungewöhnlich anziehende Personen bei ihm selbst mit einem Mord davon kommen konnten. Solange er nicht das Opfer war wohlgemerkt. Wenn er ehrlich war, dann spielte sich hier eine seiner Jugendphantasien ab. Zumindest in Ansätzen. Denn gleichzeitig spielte sich hier auch eines der absoluten Horrorszenarien seiner Jugend ab.

Als Octavian noch ein hormongebeutelter, wenn auch überambitionierter Teenager mit einer verhängnisvollen Schwäche für Noir-Filme gewesen war, hatte er immer darauf gehofft, dass er eines Tages ein eigenes Detektiv- oder Anwaltsbüro besitzen würde. Nur, damit irgendwann einmal eine Femme fatale hineingeschwebt kommen und ihn in ihr gefährliches Netz aus Leidenschaft und Intrige verwickeln konnte. Nicht lange darauf hatte er erkannt, dass besagte Femme fatale auch ruhig männlicher Ausprägung sein durfte. Octavian war nicht sehr wählerisch.

Was in dem Szenario allerdings nicht vorgesehen war, war, dass sein ultimativer feuchter Jugendtraum von einem Voronya verkörpert wurde. Der Spezies, von der Octavian sich immer so fern wie nur möglich gehalten hatte. Aus gutem Grund. Was Henry Woods Anziehungskraft leider keinen Abbruch tat. Die breiten Schultern in edles Zwirn gekleidet, saß er da. Einfach so. Mit seinem Gesicht. Und dem ganzen anderen Rest.

Octavian konnte nicht einmal sagen, was er so attraktiv fand an dem Mann. Sicherlich, seine Züge waren ebenmäßig, die schmale Nase gerade, der Mund sinnlich. Die bernsteinfarbenen Augen, die seiner Spezies zu eigen waren, hatten etwas an sich, das einen endlos starren lassen wollte und das dunkle, volle Haar, lud geradewegs dazu ein, die Hände darin zu vergraben. All das war auch im herkömmlichen Sinne anziehend. An einem Menschen aber hätte es auf leicht generische Weise attraktiv gewirkt. Und Octavian musste wissen, was das hieß - er war auf leicht generisch wirkende Weise attraktiv. Ein all american boy, wie er im Buche stand. Blond, mit braunen Augen, die seine Mitmenschen viel zu schnell dazu brachten, ihm vertrauen zu wollen. In Kombination mit einem Gesicht, in dem nichts aus dem Rahmen fiel. Leute fanden, dass er aussah wie der erwachsen gewordene klassische Kleinstadtjunge aus diversen Serien der grauen TV-Vorzeit. Octavian wettete, dass es niemanden überrascht hätte, wenn plötzlich Lassie oder Flipper neben ihm aufgetaucht wären. Eine Ex-Freundin hatte ihm einmal gesagt, dass er wie Bambi wirkte ... Bambi, der überaus erfolgreich Kaa channelte. Und ja - das war ihre letzte Bemerkung gewesen, bevor sie durch die Tür entschwunden und nie wieder zurückgekommen war. Nun. Man konnte sie nicht alle beeindrucken.

Die Sache war - Octavian wusste, was gemeinhin als attraktiv galt. Aber was an einem Menschen wie ihm durchschnittlich wirkte, wirkte an einem Voronya komplett anders. Ob es an der selbstbewussten Art lag, auf die Wood auftrat, an dem mysteriösen kleinen Lächeln in seinen Mundwinkeln oder dem kühlen Amüsement in seinen Augen ... er war heißer als die Hölle. Er war der Typ Mann, mit dem Octavian ohne zweimal darüber nachzudenken, in die Kiste gehüpft wäre. Wäre er ein Mensch gewesen.

Niemand wusste so genau, warum grundsätzlich alle Voronya so attraktiv waren. Octavian hatte vor ein paar Jahren mal eine Discovery-Doku zu dem Thema gesehen. Die gängige Theorie war, dass es ein Evolutionsding war. Etwas, das sich in grauer Vorzeit entwickelt hatte. In einer Ära, in der die Blutsauger noch um die Lagerfeuer der frühen Menschen geschlichen waren. Immer hungrig, immer auf der Jagd nach dem einen unvorsichtigen Exemplar, das sich zu weit von der Gruppe entfernt hatte. Es musste ihnen geholfen haben, ihre Opfer ins Verderben zu locken. So gesehen waren Voronya quasi so etwas wie das Fauna-Äquivalent zur Venus-Fliegenfalle. Natürlich hatte die menschliche Evolution das nicht auf sich sitzen lassen können, den Fehdehandschuh aufgenommen und mit eigenen Waffen zurückgeschlagen. Was der Grund war, aus dem Octavian - a.) jetzt an diesem Tisch saß und b.) seine Nervosität nur schwer im Griff halten konnte. Da Angriff aber schon immer die beste Verteidigung gewesen war, zuckte er nur mit den Schultern, lächelte nichtssagend und sagte:

"Da ich beim Thema Crackhöhlen nicht mitreden kann, muss ich mich da ganz auf Ihre Expertise verlassen, Mr. Wood." Woods Lächeln wurde ein wenig breiter. Verdammt. "Aber vielleicht kann ich Ihnen auf einem anderen Gebiet weiterhelfen?"

"Oh, da bin ich mir sogar sehr sicher", erwiderte der Voronya auf eine Weise, die seinem Gegenüber nicht im Geringsten gefiel. Er kniff die Augen leicht zusammen und sah auf sein Handy herab. Dann schaute er wieder auf und lächelte noch einmal. Ganz so, als ob er mochte, was er sah. Wenn Woods Lächeln noch ein wenig breiter wurde, würde er anfangen müssen, in der Nase zu bohren und über Mini-Golf zu reden, beschloss Octavian. "Was genau wissen Sie eigentlich über Ihren Vater, Mr. Sand?"

Octavian hatte das Gefühl, dass er sich gleich einen Krampf im Kiefer holen würde, wenn er weiter so falsch grinste. Er wusste schon jetzt, auf was das hier hinauslief und verdammt - er hätte sein Glück doch mit dem Sprung aus dem Fenster versuchen sollen.

"Oh. Nun, das Übliche. Mann trifft Becher, Mann und Becher haben einen Moment intimer Zweisamkeit und ein paar Monate und eine künstliche Befruchtung später, kommt das Ergebnis ihrer stürmischen, aber kurzlebigen Affäre auf die Welt." Octavian machte eine vielsagende Handgeste. Es war kein großes Geheimnis, wie er entstanden war. Aber das war es wohl kaum, auf was Wood hinauswollte. Der Mann zog lediglich eine Augenbraue in die Höhe und fragte:

"Sie haben nie versucht, ihn ausfindig zu machen?"

Nicht ernsthaft jedenfalls. Es hatte eine Phase in Octavians Leben gegeben, in der ihn schon interessiert hatte, wer der Mann war, dem er einen nicht unerheblichen Teil seines Erbgutes verdankte. Aber seine Mütter hatten ihm deutlich gemacht, dass jede Nachforschung gefährlich werden konnte. Dass es Leute auf ihn aufmerksam machen würde, deren Aufmerksamkeit er ganz bestimmt nicht auf sich ziehen wollte. Octavian wurde den Verdacht nicht los, dass genau so eine Person hier gerade vor ihm saß.

"Nicht wirklich", gab er so ungerührt wie möglich zurück. "Ich muss zugeben - mir ist nicht ganz klar, warum wir über meinen Vater sprechen. Wenn Sie hier sind, um mir schonend beizubringen, dass er gestorben ist, kann ich Ihnen versichern, dass Sie mich nicht schonen müssen. Erst recht nicht, wenn er mir eine Million Dollar hinterlassen haben sollte." Octavian legte den Kopf etwas schräg. "Also - ist mein Vater gestorben und hat mir eine Million Dollar hinterlassen?"

Sie wussten beide, dass Wood nicht deswegen hier war. Aber Octavian hatte nicht vor, die ganze Sache hier einfach zu machen. Letzten Endes würde er keine Chance haben, was nicht hieß, dass er nicht so anstrengend wie möglich sein konnte. Sein Kampfname lautete nicht umsonst das Wiesel. Und wer konnte schon sagen, ob er nicht ein Schlupfloch fand, das ihm aus der Falle half, in die er so unbekümmert getappt war.

Wood vollführte eine schwer zu deutende Kopfbewegung.

"Nun - Punkt eins liegt im Bereich des Möglichen. Punkt zwei ist eher unwahrscheinlich."

"Ah zu schade." Octavian warf einen vielsagenden Blick auf seine Uhr. "Nun denn, wenn es keine erfreulicheren Nachrichten gibt, fürchte ich, muss ich mich langsam verabschieden. Ich habe in einer Stunde vor Gericht zu erscheinen." Was natürlich glatt gelogen war.

"Jason Walters", sagte Wood, als hätte Octavian nicht gerade versucht, ihn auf wenig höfliche Weise hinauszuwerfen. Nun vermutlich wurde und bliebt man nicht Vorsitzender eines der weltgrößten Softwarekonzerne, wenn man sich leicht abschütteln ließ. Zu dumm. "Der Name Ihres Vaters lautet Jason Walters."

"Das ist zweifellos unglaublich faszinierend, aber ..."

"Jason Walters war ein Freund der Familie. Bis zu dem Tag, an dem er verschwand."

Es warf vielleicht nicht das beste Licht auf ihn, aber Octavian musste zugeben, dass ihn das Schicksal seines Vaters nicht sonderlich interessierte. Seinen Namen zu kennen, löste sogar noch weniger Emotionen aus, als er geglaubt hatte. Alles was er wollte, war den ärgerlich attraktiven Vampir loszuwerden.

"Nun, hier hat er sich nicht blicken lassen", erklärte er knapp.

"Das habe ich auch nicht erwartet, Mr. Sand", gab Wood zurück. "Wenn dem so wäre, hätten wir davon erfahren. Meine Familie achtet auf ihre Freunde."

Freunde. Ja. Genau. Wenn das mal kein Euphemismus war. Voronya-Clans hatten keine Freunde. Keine menschlichen jedenfalls. Sie hatten Alliierte, Zweckbekanntschaften vielleicht, was sie vor allem aber hatten, waren, nun es gab nicht einen netten Weg es zu sagen, Sklaven. Sie fanden eine Menge schöner Worte dafür. Begleiter, Gefährten oder das neuerdings allseits beliebte: Kompatible. Die richtige Welt gebrauchte ganz andere Begriffe dafür. Wandelnde Blutbeutel zum Beispiel. Oder Junkies, Leibeigene, Schoßmenschen. Oder ganz einfach: arme Schweine.

Noch heute rätselten die Wissenschaftler, wann und wo man es zuerst bemerkt hatte. Die Tatsache, dass die menschliche Evolution einen Weg eingeschlagen hatte, der ihr dabei helfen sollte, die zweibeinigen Raubtiere zu überleben, die stärker waren und schneller. Gnadenlose Killer, die wesentlich langsamer alterten, als ihre Beute und bei Weitem nicht so anfällig waren für Krankheiten, dafür aber nach ihrer Pubertät nicht in der Lage, den dazu benötigten Stoffwechsel alleine aufrecht zu halten. Wie jede überlegene Spezies hatten sie sich genommen, was sie brauchten und dabei die Menschheit dichter an die Ausrottung gebracht, als jeder Supervulkan oder Seuchenausbruch es je vermocht hatte. Die Natur hatte auf zwei Wegen auf den so entstandenen Mangel an Beute reagiert - erstens: sie hatte die Vermehrung der Räuber schwieriger gemacht, indem sie deren Geburtenrate deutlich gesenkt hatte. Oder die der Menschen angehoben - so sicher war man da nicht. Und zweitens ... zweitens hatte sie Menschen wie Octavian hervorgebracht. Zu seiner unendlichen Freude.

Menschen wie er verfügten über ein seltenes Gen, das sie auf Kontakt mit Voronyablut damit reagieren ließ, dass sie einen Teil der positiveren vampirischen Eigenschaften übernahmen. Was vor allem den beschleunigten Heilungsprozess betraf. Menschen wie er, bildeten sehr viel schneller, sehr viel nahrhafteres Blut nach, heilten Wunden mit atemberaubender Geschwindigkeit und passten ihr Altern an das ihrer Herren an. Manche nannten es eine wundervolle, gottgegebene Symbiose, Octavian nannte es verdammt ungünstig für seine Zukunftspläne. Denn wie immer gab es einen Haken an der ganzen Sache. Kompatible wurden körperlich abhängig. Setzte man sie lange genug auf Entzug, starben über siebzig Prozent von ihnen. Und das war noch nicht einmal das größte Problem - das größte Problem war, dass sie das einzige waren, das zwischen einer großen Gruppe überprivilegierter Raubtiere und ihrer Beute stand. Für andere Menschen waren sie das notwendige Opfer, das zum Wohle aller gebracht werden musste, für die Voronya waren sie etwas, das die Natur extra für sie geschaffen hatte. Sprechender, schmackhafter Tofu, quasi. Etwas auf das sie ein Recht hatten, über das man verfügen konnte und musste. Kompatible waren selten genug, dass man sie hütete wie einen Schatz und gleichzeitig nicht ebenbürtig genug, dass man ihnen irgendeine nennenswerte Rolle in der Welt zugestand. Ein ganzer Vogelschwarm im goldenen Käfig.

Octavian versuchte, sein Lächeln beizubehalten. Noch hatte er die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Auch wenn er ahnte, dass sein am besten gehütetes Geheimnis vielleicht nicht mehr ganz so gehütet war.

"Wie nobel", sagte er jetzt. "Falls er jemals auftauchen sollte, stelle ich sicher, dass der gute alte Dad sich bei Ihnen meldet."

"Oh, das wird nicht nötig sein", erwiderte Wood gelassen. "Denn sehen Sie, er hat bereits getan, wofür er auf diese Welt gekommen ist."

"Was da wäre?"

"Er hat einen Kompatiblen gezeugt, Mr. Sand. Sie."

__________§§ 03 §§__________

 

Octavian war froh, dass er saß. Ein Teil in ihm hatte immer damit gerechnet, dass genau das hier passieren konnte. Er hatte sich so gut darauf vorbereitet, wie es eben ging. Zumindest hatte er das geglaubt. Aber tatsächlich hatte er sich auf einen Scheiß vorbereitet, wie er sich eingestehen musste. Für einen Moment starrte er ausdruckslos vor sich hin. Der Moment dehnte sich zu einer kleinen Ewigkeit und Octavian wünschte fast, dass er ihn hätte anhalten können. Dass er sich einfach in der Zeit hätte einfrieren können, um alles, was jetzt auf ihn zukommen würde, zu vermeiden. Er überlegte, ob er leugnen sollte, was nicht mehr zu leugnen war. Aber Wood wäre nicht hier aufgeschlagen, wenn er nicht genügend Beweise gehabt hätte.


Zu dumm - er hatte sein Leben wirklich gemocht.

Er starrte seinen Schreibtisch an. Der einzige Einrichtungsgegenstand, der von seinem Vormieter übrig geblieben war. Niemand hatte das gute Stück gewollt, nur weil besagter Vormieter darauf verstorben war. Gut. Mit einem Brieföffner im Herzen. Aber es wäre trotzdem Verschwendung gewesen ihn zu entsorgen, nur wegen der paar Flecken. Ah nun, vielleicht würde Octavians Nachmieter sich darüber freuen. Einen langen Seufzer ausstoßend, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.

"Na schön, wie sind Sie darauf gekommen?"

Falls Wood von seinem Eingeständnis überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Er zuckte mit den Schultern.

"Nun, es war nicht allzu schwer. Die Walters gehörten schon lange zu meiner Familie."

"Und wenn Sie sagen: gehörten zu Ihrer Familie, meinen Sie gehörten Ihrer Familie."

Wood lächelte ungerührt.

"Nun, ich dachte Sklavenhalter-Lingo wäre etwas zu viel für ein erstes Date, hm?

"Ein echter Gentleman. Als Nächstes legen Sie noch Ihre Jacke über eine Pfütze, damit ich trockenen Fußes darüber schweben kann."

"Ohne Hoffnungen zerstören zu wollen - aber diese Jacke hat fünfzehntausend Dollar gekostet. Ihre Schuhe, Mr. Sand sehen aus, als hätten Sie sie bei Woolworth aus der neunundneunzig Cent Grabbelkiste gefischt."

"Es gibt einfach keine Romantik mehr in der Welt."

Wood antwortete nicht sofort, sondern musterte Octavian einen Augenblick lang mit etwas, das nach Wohlgefallen aussah. Sein Gegenüber konnte nicht verhindern, dass er dem anderen Mann das zweite echte Lächeln des Tages schenkte. Er machte seine Schwäche für attraktive Leute dafür verantwortlich, auch wenn er ahnte, dass es eher etwas sehr Henry Wood - Spezifisches war.

"Ich weiß, dass Sie mir das jetzt noch nicht glauben", erwiderte der Voronya in diesem Moment. "Und ehrlich gesagt habe ich nichts anderes erwartet. Sie wären nicht der, der Sie sind, wenn Sie es glauben würden. Aber die Familien, die uns Kompatible schenken, gehören tatsächlich zu uns. Sie sind kein Besitz. Nicht im Sinne des Wortes, wie Sie ihn verstehen."

Jetzt war es an Octavian, mit den Schultern zu zucken.

"Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, wie ich ihn verstehe, nicht wahr?"

"Vermutlich nicht, aber es würde die Dinge einfacher machen." Bevor Octavian darauf verzichten konnte danach zu fragen, welche Dinge denn genau (er wusste es auch so), fuhr Wood auch schon fort: "Jason ist nicht kompatibel, aber er stammt aus einer Familie, die eine sehr hohe Rate an Kompatiblen hervorgebracht hat. Seine Kontakte zur Außenwelt wurden, nun, entsprechend überprüft."

Was nichts anderes hieß, als dass er für ein Zuchtprogramm bestimmt gewesen war. Man nannte es natürlich anders, aber es war tatsächlich exakt das. Um zu verhindern, dass sich die kostbaren Gene zu sehr ausdünnten und gleichzeitig die Chance zu erhöhen, dass eine größere Anzahl an Kompatiblen gezeugt wurde, verpaarte man, wo es eben ging die Kompatiblen oder ihre nächsten Angehörigen mit denen anderer, entsprechend geeigneter Familien.

"Jason aber hatte schon immer eine rebellische Ader", erklärte Wood mit einem Lächeln, das ein bisschen wehmütig wirkte. "Keiner weiß, wie er auf die Idee kam, aber kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag besorgte er sich einen falschen Ausweis, spendete Sperma im ganzen Land und verschwand."

Oh. Oh wow. Ein Punkt für Dad auf Octavians Liste. Er wusste nur nicht so genau ob auf der Plus- oder der Minusliste.

"Das heißt also ich habe ungezählte biologische Halbgeschwister über ganz Amerika verteilt?"

"Nicht, dass wir wüssten", entgegnete Wood. "Wir haben die meisten Proben gefunden. Allerdings brach zur selben Zeit der Konflikt zwischen den Familien aus und wir waren ... anderweitig beschäftigt."

Und wünschte Octavian nicht, dass sie das noch immer noch gewesen wären? Der Konflikt zwischen den Voronya-Clans Amerikas war wie der zwischen rivalisierenden Mafia-Familien geführt worden. Nur ohne großartige menschliche Kollateralschäden. Die einzigen, die es erwischt hatte, als Aodhán O'Carroll die Macht über die Familien an sich gerissen hatte, waren Voronya und ihre Kompatiblen gewesen. Bis vor zwei Jahren hatte O'Carroll sich oben halten können und auch, wenn er in der Historie der Sieger als der Bösewicht dargestellt war - für Kompatible wie Octavian war der Mann ein echter Segen gewesen. Er hatte die strengen Regel gelockert, an die sie sich halten mussten. Hatte ihnen einen Job außerhalb der Familien zugestanden, sie ein Leben leben lassen. Am Tage seines Todes, hatte Octavian sich einen hinter die Binde gekippt, bis er nicht mehr hatte stehen können und die nächsten Monate damit verbracht, ständig mit einem Ohr auf die Dinge zu lauschen, die um ihn herum geschahen. Immer mit einem Gefühl latenter Furcht im Nacken, dass ihn jemand finden und holen würde.

Tja. Es hatte zwei Jahre gedauert, aber hier saßen sie nun.

"Jetzt da sich die Dinge wieder eingependelt haben", sagte Wood sichtlich zufrieden. "Habe ich damit begonnen, mich um alte Hinterlassenschaften zu kümmern."

"Schmeichler."

"Nicht wahr?" Wood schwieg einen Moment. Dann seufzte er. "Ich muss allerdings zugeben, dass es eine Weile brauchte, bis ich auf Sie gestoßen bin, Mr. Sand. Es ist fast so als wollte jemand nicht, dass wir Sie finden."

"Wie verwerflich."

Wood neigte den Kopf.

"Im Grunde schon. Einen Gefallen hat man Ihnen damit jedenfalls nicht getan. Es wäre sehr viel einfacher für alle Seiten, wenn man Sie bereits von Kindesbeinen an auf Ihre Zukunft vorbereitet hätte."

"Nichts für ungut", unterbrach Octavian ihn kühl. Und gutaussehend hin oder her, sie kamen hier gerade an eine Grenze, die Wood nicht zu überschreiten hatte. "Aber mir hat die Zukunft, auf die man mich vorbereitet hat, deutlich besser gefallen." Wenn sein Schicksal hier und heute eine Bauchlandung hinlegte bitte - aber er würde sich nicht erzählen lassen, wie viel besser sein Leben als wandelnde Blutkonserve, in der Obhut seiner ach so wohlmeinenden Herren werden würde. Es gab Schwachsinn und dann gab es Schwachsinn, fett geschrieben und unterstrichen, und das hier fiel ganz eindeutig in die zweite Kategorie. Der PR-Dreck hier konnte ihm gestohlen bleiben.

Wood hielt seinem Blick für ein paar Herzschläge lang stand. Dann nickte er unmerklich, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden.

"Was mich allerdings wirklich hat stutzig werden lassen, sind Sie selbst", steuerte er den Kurs wieder in ruhigere Gewässer. "Ein junger Mann, der sein Studium als Zweitbester seines Jahrgangs abschließt. Einser Durchschnitt, Dauerplatz auf der Dekansliste. Jemand der ganz offensichtlich hochintelligent ist und ambitioniert genug. Die Kanzleien müssen Schlange gestanden haben. Aber was macht unser Nachwuchsstar? Er verschwindet über Nacht quasi vom Radar. Kein Referendariat in großen, angesehenen Firmen. Kein Einstieg in eine Kanzlei, nicht mal eine fest Anstellung im Büro des Pflichtverteidigers oder der Staatsanwaltschaft."

Oh ja und da war es wieder, das hässliche Ziehen in Octavians Brust. Das Ziehen, das sich immer dann einstellte, wenn er an all die Dinge dachte, die er geopfert hatte, um unauffällig zu bleiben. Einen Augenblick lang wollte er ein uncharakteristisch bitteres Lachen ausstoßen. Sah ganz so aus, als ob das alles umsonst gewesen war.

"Stattdessen gründet er eine lausige, kleine Kanzlei in einem Abbruchhaus und kratzt sozusagen den Boden der juristischen Tonne aus. Hält sich mit Fällen über Wasser, die nicht mal ansatzweise seinen Fähigkeiten entsprechen. Da drängte sich mir doch die Frage nach dem Warum auf."

"Ich bin unkonventionell und ein Freigeist?"

"Dann wären Sie Straßenpantomime geworden, nicht Anwalt."

"Touché."

"Die logische Antwort lautet - er möchte nicht auffallen. Was die neuerliche Frage nach dem Warum aufwirft. Besonders, nachdem eine erste Hintergrundüberprüfung nichts besonders Auffälliges liefert. Ein paar Parksünden, ein paar Stunden Jugend-Sozialarbeit, wegen des Besitzes von Cannabis und keine aus dem Rahmen fallenden sexuellen Vorlieben."

"Sie kennen meine Browserhistorie nicht."

"Oh doch, das tue ich. Wie dem auch sei - nichts davon würde ausreichen, um eine Karriere ernstlich zu gefährden, es sei denn man plant, für die Republikaner zu kandidieren. Aber wo Rauch ist, da ist in der Regel auch Feuer, also bin ich noch ein bisschen weiter zurückgegangen und wissen Sie, was ich gefunden habe?"

Ja. Octavian hatte eine ganz gute Vorstellung.

"Ich habe nicht die geringste Idee."

Der Blick den Wood ihm zuwarf, machte deutlich, wie wenig er das Octavian abnahm.

"Ihren Test, Mr. Sand. Ich fand Ihren Test."

Einen Moment überlegte Octavian, sich dumm zu stellen. Aber das hier war eine zu heikle Angelegenheit. Der Test von dem Wood sprach, wurde an allen Neugeborenen durchgeführt, um festzustellen, ob sie kompatibel waren oder nicht. Octavian wusste, dass sein Test nicht ganz so negativ ausgefallen war, wie auf dem entsprechenden Schein vermerkt.

"So", sagte er deshalb auch nur einsilbig. "Haben Sie das."

"Hm. Und ich fand noch etwas anderes. Nämlich den Namen einer jungen Krankenschwester, die zur Zeit ihrer Geburt in diesem Krankenhaus tätig war. Nalda Ponce de Leon-Morillas. Sie sollten sie auch unter: Mom kennen."

Octavian lächelte frostig.

"Eigentlich kenne ich sie unter Mamá. Mom ist meine Geburtsmutter."

"Meinetwegen", erwiderte Wood mit dem Gehabe eines Mannes, den der Unterschied nicht weniger hätte kümmern können. "Wirklich interessant wurde es, als ich herausfand, dass Miss Ponce de Leon fünf Monate nach ihrer Geburt, Mr. Sand, mit Ihnen und ihrer leiblichen Mutter zusammenzog."

"Was soll ich sagen", entgegnete Octavian und plante zum ersten Mal in seinem Leben ernstlich einen Mord. "Wo die Liebe hinfällt."

Jeder Angehörige der Sand/de Leon-Morillas - Familie kannte die Geschichte. Zumindest fünfundneunzig Prozent davon. Wie Andrea Sand und ihr Mann ein Kind geplant aber keines hatten bekommen können. Wie sie sich zu einer künstlichen Befruchtung entschieden hatten, weil Mr. Sands kleine Schwimmer durch Abwesenheit glänzten. Wie eben jener Mr. Sand sich im vierten Schwangerschaftsmonat abgesetzt und seine Frau in jeder Hinsicht hatte sitzen lassen. Wie eine junge Krankenschwester namens Nalda in ihr Leben getreten war und es auf den Kopf gestellt hatte. Natürlich im Besten aller Sinne. Wie sie sich ineinander verliebt und gemeinsam eine Familie gegründet hatten. Ein wahr gewordener LGBTQ-Pride-Grußkarten-Traum. Es war die Geschichte, die bei jeder Familienfeier wieder und wieder und wieder erzählt wurde. So oft, dass sie sie alle schon mitsprechen konnten. Als ob sie davon komplett wahr werden würde.

Was diese Version der Geschichte ausließ, war die Siebzehnjährige, für die Mr. Sand seine Frau verlassen hatte, die Verzweiflung, die Schwangerschaftskomplikationen, Naldas Flucht aus Kuba, die kaum zwei Jahre her war, die Einsamkeit in der Fremde. Und zur Krönung die Erkenntnis, dass man das Kind, das gerade erst unter den widrigsten Umständen auf die Welt gebracht worden war, bald wieder würde hergeben müssen. Dass man es in eine komplett fremdbestimmte Zukunft entlassen musste, an der man nur mit sehr viel Glück als sporadischer Besucher teilhaben durfte. Was erst recht nicht erzählt wurde, war, dass Nalda - schon immer loyaler und tapferer als gut für sie war - ihre Position genutzt hatte, um Octavians Testergebnis fälschen zu können. Womit sie eines der größten Verbrechen begangen hatte, das man überhaupt begehen konnte.

"Mr. Sand." Wood klang bei Weitem nicht mehr so amüsiert. "Ich denke nicht, dass ich ausgerechnet Ihnen erklären muss, welche Konsequenzen die Unterschlagung eines positiven Testergebnisses haben kann. Wie Sie wissen, kann und wird das als Gefährdung des öffentlichen Friedens gewertet werden. Angesichts der Tatsache, was für beide Spezies auf dem Spiel steht, wenn plötzlich alle Eltern eines kompatiblen Kindes beschließen, selbstsüchtig zu reagieren und ..."

Octavian schnaufte abfällig.

"Etwas arg dramatisch für jemanden, der mein Proto-Ich wieder in den Gefrierschrank verfrachtet hätte, wenn er es rechtzeitig gefunden hätte, finden Sie nicht, Mr. Wood?", fragte er in die Rede seines Gegenübers hinein. Wood hielt inne und für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein kaum wahrnehmbares Lächeln über sein Gesicht. Es war der Moment, in dem Octavian klar wurde, dass der Kerl mit ihm spielte. Wood waren die moralischen Verfehlungen fremder Frauen völlig egal. Er wollte auf etwas ganz Spezielles hinaus und Octavian wusste auch ziemlich genau auf was. Weshalb er beschloss, das Katz- und Mausspiel abzukürzen. "Na schön, Mr. Wood. Was wollen Sie?"

"Oh, ich dachte, das wäre offensichtlich", erwiderte Wood gelassen. "Ich will Sie, Mr. Sand."

 

__________§§ 04 §§__________

 

Ich will Sie, Mr. Sand - Unter anderen Umständen hätte es Octavian in mittlere Ekstase versetzt diese Worte aus dem Munde eines Mannes zu hören, der in regelmäßigen Abständen auf einem der ersten drei Plätze landete, wenn es um die Wahl zum sexiest man alive ging. Da Henry Wood aber nun mal war, wer er war, hätte Octavian ihn auch großmütig gegen Nummer vier oder fünf auf der Liste getauscht, wenn es bedeutet hätte, dafür vom Haken zu kommen. Aber nun - man bekam nicht immer, was man wollte, hm? Eine Weisheit, die Octavian wohl zu seinem Lebensmotto hätte machen können.


Er sah aus dem getönten Fenster des Maybach, der außerhalb des Hauses geparkt gewesen war und auf Wood gewartet hatte. Es brauchte seinen letzten Rest Selbstbeherrschung, sich nicht mit unattraktiv offenem Mund umzusehen. Der Wagen war der absolute feuchte Traum jedes Millionärs in der Mache. Von klassischer Eleganz, bequem und trotzdem effizient eingerichtet. Mit einem Motor, von dem man nicht mal sagen konnte, dass er schnurrte wie ein Kätzchen – einfach, weil das Ding so verdammt leise war, dass man Stecknadeln hätte fallen hören können. Ein rollendes Wunder. Arbeitsplatz und Ort der Entspannung zugleich. Das Leder der Sitze war butterweich unter Octavians Fingern, Ralph Vaughan Williams plätscherte unaufdringlich aus der erstklassigen Stereoanlage und es gab einen Miniaturkühlschrank, der einen mit dem Notwendigsten und dem Nichtnotwendigsten versorgte, während man sich durch den zähen New Yorker Verkehr quälte. Ja, Reichtum konnte auch seine angenehmen Seiten haben. Octavian leugnete es nicht – der Wagen machte ihn ein bisschen scharf.

Wood saß ihm gegenüber, den Rücken zur abgedunkelten Scheibe, die den Fahrer von ihnen trennte und war damit beschäftigt, jemandem namens Veronique Anweisungen via Handy zu geben. Es klang ein wenig, als würde er eine Neuauflage der Invasion in der Schweinebucht planen, aber anscheinend setzte er nur ein Meeting mit der Entwicklungsabteilung seiner Firma an. Um Octavian kümmerte er sich nicht ein Stück. Nun, zumindest erklärte es die Eile, mit der sie das Büro verlassen hatten. Octavian hatte gerade noch genug Zeit gehabt, um sein Notebook und ein paar sensible Akten einpacken zu können und Ronny zu erklären, dass er auf unbestimmte Zeit unbezahlten Urlaub von seinem unbezahlten Job hatte.

Nichtsahnende Anwälte zu entführen, schien ein nicht unbeträchtliches Loch in Mr. Woods Zeitplan zu reißen.

Octavian ließ ihn in Ruhe und sah dabei zu, wie sie Straße um Straße hinter sich ließen. Straßen, die er im vergangenen Jahr fast jeden Tag überquert hatte, um zu seinem Büro und wieder zurück zu kommen. Ein leichter Anflug von Melancholie überkam ihn. Vielleicht fuhr er diesen Weg heute zum letzten Mal. Gut möglich, wenn er keinen Ausweg aus der Situation fand. Er beobachtete Woods Spiegelung in der Fensterscheibe und überlegte, ob es einen Weg gab, den Knaben loszuwerden. Hier waren die Dinge, die er über die Voronya wusste:

Erstens: sie waren von Natur aus nachtaktiv, hatten sich auf den Rhythmus des modernen Menschen allerdings gut genug eingestellt. Nahmen sie zu selten Blut zu sich oder wurden zu alt, wirkte Tageslicht sich negativ auf ihren Gesundheitszustand aus. Tagsüber wurden ihre Augen, die an die Jagd während der Nacht angepasst waren, zu einer ihrer größten Schwachstellen, weshalb sie selbst an bewölkten Tagen meist mit Sonnenbrille unterwegs waren.

Dummerweise wirkte Wood nicht gerade, als hätte er in letzter Zeit auf Blut verzichten müssen und was sein Alter betraf - es war schwer einzuschätzen, musste aber irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahren liegen. Eine Einschätzung, die sich mit den vagen Fakten deckte, die Octavian über seinen neuen Herren im Hinterkopf hatte. Was für einen Voronya allerdings bedeutete, dass er praktisch gerade erst aus der Wiege gekippt war.

Zweitens: es gab zwischen fünf und sieben Millionen von ihnen. So genau wusste das niemand - bis auf die Voronya selbst vielleicht und die neigten selten dazu Wissen mit Außenstehenden zu teilen. Natürlich waren sie mit der Menge deutlich in der Unterzahl und sie gerieten, angesichts der rasanten Vermehrung der Weltbevölkerung, immer weiter ins Hintertreffen. Was zu einem nicht geringen Teil an den ständigen Auseinandersetzungen lag, in die sie sich verstrickten und zum anderen Teil an ihrer arg begrenzten Fortpflanzungsfähigkeit. Nur circa jede achte Schwangerschaft führte zum Erfolg und ein weiblicher Vampir blieb mindestens zehn Jahre nach der Geburt eines Kindes unfruchtbar. Dafür war sie allerdings auch länger fruchtbar, als eine menschliche Frau. Vorausgesetzt sie ernährte sich korrekt.

Ja und auch dieser Fakt war komplett nutzlos für Octavian. Außer er schaffte es, an mehr Infos über einen potentiell schwelenden Konflikt zwischen Wood und einer der anderen Familien zu gelangen. Wenn er genug über die Situation wusste, konnte er vielleicht eine Revolte gegen den Mann anheizen. Der Nachteil war - in der Kultur der Blutsauger gingen die Kompatiblen einer Familie grundsätzlich in den Besitz der Sieger über und ... ja. Regen - Traufe. Also lieber nicht.

Drittens: im Schnitt war ein erwachsener Vampir etwa doppelt so stark wie sein menschliches Pendant. Er war schneller, wendiger und ... ja, okay, nein, das war deprimierend. Von der Seite aus brauchte er gar nicht erst an die Sache heranzugehen, erkannte Octavian. Außer er plante tatsächlich Wood im Schlaf zu meucheln und ganz so weit war er dann doch noch nicht. Gut, wenn er keine artspezifischen Schwachstellen nutzen konnte, dann vielleicht eine individuelle. Also, was wusste er über Henry Adam Wood?

Im Grunde auch nur das, was der Rest der Welt über ihn wusste. Und wenn seine Bandbreite diesen Monat nicht schon aufgebraucht gewesen wäre, dann wäre für Octavian jetzt der perfekte Zeitpunkt gewesen, den Mann zu googeln. Da ihm der Sinn aber gerade nicht danach stand, minutenlang auf sein Handy zu starren, bis sich eine einzige Wikipedia-Seite aufgebaut hatte, versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, was er aus diversen Klatschblättern wusste.

Henry Wood war der letzte Überlebende seiner Familie. Der größte Teil war bereits während der ersten Welle des von Aodhán O'Carroll ausgelösten Konfliktes gestorben. Seine Schwester und seine Mutter hatte es dann während der zweiten Welle vor vier Jahren erwischt. Die Woods waren praktisch so etwas wie alter amerikanischer Adel - quasi mit dem Vampiräquivalent der Mayflower über den großen Teich geschippert gekommen, als der Boden in der Alten Welt für eine Weile ein bisschen zu heiß geworden war, für Voronya. Die in der Regel glaubten, dass die lächerlichen Konflikte der Menschen sie nichts angingen - was die lächerlichen Konflikte etwas anders sahen.

Der Wood-Clan hatte sich an der Ostküste angesiedelt und Mitte der 1840er seinen Hauptwohnsitz von Boston nach New York verlegt. Ursprünglich im Handel mit Luxuswaren tätig, hatte Joseph Wood, Henrys Großvater, 1858 Wood Holdings Credit Union gegründet, eine Bank, die noch heute im Besitz der Familie war und alle weiteren Unternehmungen des Clans erst möglich gemacht hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Vampirdynastien waren die Woods immer wieder mit der Zeit gegangen, anstatt sich einfach nur auf dem angehäuften Kapital auszuruhen.

Henrys Vater, Adam J. Wood, zum Beispiel, hatte noch vor Andrew Carnegie erkannt, wie wichtig Stahl für den Aufstieg Amerikas zur Großmacht werden würde und war 1872, von der Bank seines Vaters gedeckt, groß ins Geschäft miteingestiegen. Sein Bruder Charles hatte ein paar Jahrzehnte später einen ähnlich guten Riecher bewiesen, als er 1901 ein paar verrückte Kerle finanziert hatte, die unten in Texas auf bloßen Verdacht hin, nach Erdöl gruben.

Mochten die Woods schon vorher reich gewesen sein, so wurden sie damals geradezu obszön reich. Ganz, ganz furchtbar reich. Stinkend reich. Kurz: Dagobert Duck Dimensionen von reich.  Und weil das alles noch nicht genug war, hatte die Familie, genauer gesagt Henrys vierzig Jahre älterer Bruder Jonathan, in den frühen Sechzigern sein Herz für die Luftfahrt entdeckt und eine eigene Fluggesellschaft gegründet. Northeastern Airlines, mit Sitz in Boston, war noch heute ein Haushaltsname und hatte bis jetzt Billigkonkurrenz, Rezessionen und einen Absturz im Jahre '82 überlebt. Ebenfalls überlebt hatte sie ihren Gründer, der Anfang der 90er von einer Autobombe ins nächste Leben befördert worden war. Seine und Henrys Mutter hatte, nach dem eher unfriedlichen Dahinscheiden ihres Mannes im selben Jahr, die Geschäfte übernommen, das Stahl- und Ölgeschäft abgestoßen und dafür gesorgt, dass ihre Familie sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzog. Bis Henry in den frühen 2000ern bewies, dass er das Händchen seiner Vorväter geerbt hatte, was Investitionen in lukrative Geschäftszweige betraf und ein IT-Startup gegründet hatte. Er war noch keine fünfundzwanzig gewesen, als er bereits seine ersten eigenen Millionen verdient hatte. Es hieß, er hing in allem drin, was heutzutage einen Namen in der Branche hatte. Hielt gerüchteweise Anteile an Google und Apple und hatte Bill Gates auf der Kurzwahlliste. Er hatte es sogar geschafft, seine Firma während des Konfliktes am Laufen zu halten und wachsen zu lassen. Gegenwärtig war VERGE Intermedia Systems dabei den Android-Markt von hinten aufzurollen. Ja, Henry Woods Karriere war der Stoff aus dem anderer Leute Minderwertigkeitskomplexe bestanden.

Sein Privatleben war da eine ganz andere Sache. Schlicht und ergreifend, weil Wood nicht viel davon preisgab. Er tauchte nur selten auf Partys oder Events auf, zumindest nicht auf denen, zu denen normale Menschen Zugang hatten und es gab offiziell niemanden an seiner Seite. Ab und an ein hübsches Stück Fleisch, in Kleid oder Anzug gezwängt, am Arm, wenn es dann doch mal über einen roten Teppich ging, aber ansonsten - Fehlanzeige. Octavian wusste nicht so ganz, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite hieß das wohl, dass es wenigstens keinen unerfreulichen Zusammenstoß mit einem Mitbewohner geben würde, der dem neuen Haustier mehr oder weniger begeistert gegenüberstand. Auf der anderen Seite hieß das aber auch, dass er mit Wood so gut wie alleine sein würde. Was sicherlich praktisch war, wenn er einen eventuellen Mordplan dann doch mal in die Tat umzusetzen gedachte. Aber für alles andere ziemlich ungünstig.

Octavian musste zugeben, dass er für‘s Erste nicht weiter wusste. Er hatte keine wirkliche Idee, wer sein Quasi-Entführer eigentlich genau war. Und was zum Teufel er mit ihm anfangen wollte. Im Grunde genommen wusste er nicht einmal, ob Wood selbst etwas mit ihm anfangen wollte, oder, ob er an jemand anderen abgegeben werden sollte. Wie ein Knochen, den ein Hund im Garten ausgebuddelt hatte. Nur ... saftiger. All das Gerede über antike Familienbande hatte ihn davon ausgehen lassen, dass Wood plante, an alte Traditionen anzuknüpfen. Ein grober Schnitzer. In Gedanken konnte er Otis Pendergast, seinen nicht-so-wirklich-Freund und Mentor missbilligend mit der Zunge schnalzen hören.

"Annahmen und Vermutungen ... nur zweitklassige Verlierer, die zu blöde dazu sind, ihren Arsch beim Kacken auf der Brille zu parken und sich dann über Spritzer wundern, verlassen sich auf Annahmen und Vermutungen", konnte Octavian ihn fast sagen hören. "Kackst du im Stehen, Tavi mein Junge?"

Ah ja. Otis. Octavian hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr an den alten Säufer gedacht. Und offen gestanden hätte er auch noch eine ganze Weile länger darauf verzichten können. Aber nun, der Punkt war nicht völlig von der Hand zu weisen. Was, wenn Wood ihn tatsächlich nur in einem der Gemeindehäuser abliefern wollte? Gemeindehäuser - ein weiterer praktischer Euphemismus, der übersetzt nichts anderes als Bordell bedeutete. Eines in dem es mehr um Blut als um Sex ging, aber nichtsdestotrotz eine ziemlich unschöne Sache, die sich hinter einem besonders harmlosen Begriff verbarg. Wenn Octavian über seine Zukunft nachgedacht hatte, dann hatten seine Tagträume definitiv nicht beinhaltet, alle paar Tage von einem anderen Blutsauger zur Ader gelassen zu werden. Und anders als in den Para-Romance Schinken, von denen er allerhöchstens zwei oder drei Dutzend gelesen hatte, würde ihm bestimmt kein düster-attraktiver Retter zur Seite eilen, um ihn aus der Not zu erlösen. Und das obwohl er nicht mal wählerisch gewesen wäre, was das Geschlecht besagten düster-attraktiven Retters betraf. Bei der Sache konnte er nicht mal auf Amnesty International hoffen, denn genau genommen ging es den Kompatiblen in den Gemeindehäusern nicht besser oder schlechter, als denen in Privatbesitz.

Auf der anderen Seite ... die Gemeindehäuser waren neutraler Grund. Den Gerüchten nach waren sie die einzigen Voronya-Einrichtungen gewesen, denen es gelungen war, mit kompletter Besetzung unbeschadet durch den Konflikt zu kommen. Noch dazu würde es sicherlich einfacher sein, im Schutz der Masse nach einem Ausweg zu suchen und sich nach Mexiko abzusetzen. Hm. Vielleicht war ein Gemeindehaus doch keine so üble Lösung. Der Pragmatiker in Octavian fand die Idee plötzlich gar nicht mehr so furchtbar.

Bevor er aber dazu kam sich in weiteren wilden Spekulationen zu ergehen, bog der Wagen mit einem Mal ab und schlug eine ihm unbekannte Route ein.

"Uhm", machte Octavian leicht verwirrt. "Das ist nicht der Weg zu meiner Wohnung. Und ja - ich weiß, Sie sind der Ansicht, dass ich meine Garderobe samt und sonders aus der Heilsarmee-Tonne hole, aber ich brauche wenigstens ein paar Unterhosen zum Wechseln. Von meinen Papieren und Yoga-DVDs mal ganz abgesehen."

Wood unterbrach sein Gespräch mit Veronique für einen Moment und schien zum ersten Mal, seit sie eingestiegen waren zu bemerken, dass er jemanden in seinem Auto hatte. Jemanden, der im Stillen sämtliche Mordszenarien durchgegangen war, die ihn ungeschoren würden davonkommen lassen.

"Oh - keine Sorge", meinte er ruhig. "Ich war so frei und habe Ihre Unterhosen bereits von einer Umzugsfirma verpacken und in Richtung meines Lofts schicken lassen."

"Ah, wie ausgesprochen vorausschauend und übergriffig von Ihnen", gab Octavian zurück und überlegte einen Moment, ob er sich des nassen Handtuches schämen sollte, das er heute früh auf dem Badezimmerfußboden hatte liegen lassen. Er kam zu dem Ergebnis, das es ihm nicht gleichgültiger hätte sein können. Problematischer war da schon der Berg Abwasch in seiner Spüle, der nur noch ein paar Tage davon entfernt gewesen war, ein Bewusstsein zu entwickeln. Eine Woche noch höchstens und er hätte ihm beibringen können die Zeitung zu holen. Oh nun.

Wood zuckte ungerührt mit den Schultern und widmete sich einmal mehr seinem Telefonat. Octavian bewunderte sein markantes Profil einen Moment lang, bevor er mit einem innerlichen Seufzen wieder aus dem Fenster sah. Nun - zumindest wusste er jetzt, wohin die Reise ging.

__________§§ 05 §§__________

 

 

Loft - laut Websters Definition Raum direkt unter dem Dach eines Hauses oder Gebäudes, der zur Unterbringung oder Lagerung genutzt wird. Laut Octavians eigener Definition: winzig kleine, wahnsinnig überteuerte Einraumklitsche unter dem Dach. Ohne Klimaanlage oder heißes Wasser, die zur Unterbringung und Lagerung von finanziell komplett über den Tisch gezogenen New Yorkern, und manchmal auch der ein oder anderen Rattenfamilie, genutzt wird.

Als er jetzt in Henry Woods Loft stand (und ja, er setzte dieses Wort mental in Anführungszeichen - aber sowas von), da wurde ihm klar, dass weder seine, noch Websters Definition dem entsprachen, was Wood unter einem Loft verstand. Gut, ihm hätte klar sein müssen, dass das der Fall sein würde, als sie von der 96ten Straße in die Park Avenue eingebogen waren und vor dem Corby-Wood Heights angehalten hatten. Aber Jesus. Und Maria. Und Josef gleich noch dazu ... das hier war unglaublich übertrieben. Nun und ehrlich gesagt sehr viel mehr ein Penthouse als irgendetwas anderes.

Woods Loft erstreckte sich über zwei Etagen. Das gewaltige, offene Wohnzimmer lag unter einem Lichtschacht, der jeden noch so winzigen Sonnenstrahl durch das enorme Oberlicht ins Innere fallen ließ. Vom Wohnzimmer aus führten vier Treppen in jeder Himmelsrichtung eine Galerie hinauf, die einmal rundum verlief. Octavian zählte insgesamt sechs Türen auf drei der vier Seiten dort oben. Eine Küche verbarg sich wohl hinter keiner davon, denn die war hier unten - offen und hochmodern überausgestattet. Zumindest für jemanden wie Octavian, dessen Kochkünste sich bereits im Aufbrühen von Instant-Nudeln erschöpften. Und wenn man schon bei ungesunden Nahrungsmitteln war ... Octavian konnte es kaum erwarten, ein paar Marshmallows im Feuer des Kamins zu rösten, der sich im Wohnzimmerbereich befand. Umgeben von erstaunlich bequem aussehenden Designermöbeln. Ein Flachbildschirm von der Größe Utahs, hing über dem Kamin, war im Moment aber ausgeschaltet.

Auf den ersten Blick schien alles aus hellen Möbeln und dunklen Holzvertäfelungen zu bestehen, mit der gelegentlichen Ausnahme von Edelstahl. Oh und natürlich Glas. Aus dem nämlich war die gesamte Nordfront der Wohnung gemacht. Vom Boden bis zur Decke des zweiten Stockwerkes. Das Panorama war atemberaubend und Octavian hatte seine liebe Mühe, nicht auf seine eigene Zunge zu treten, bei dem Ausblick. Das Corby-Wood Heights, 1928 von Henrys Vater in Auftrag gegeben, war schon alleine aus Altersgründen nicht einmal mehr ansatzweise das höchste Gebäude New Yorks. Aber es war immer noch hoch genug, um über den meisten anderen angrenzenden Bauten aufzuragen wie ein König. Eine Tür, die in die Glasfront eingelassen war, führte auf einen Balkon. Wobei auch Balkon nicht das richtige Wort war - auf einem Balkon züchtete man Tomaten, die nichts wurden und Geranien, die alle anderen Blumenkästen feindlich übernahmen, wenn man fünf Sekunden lang nicht hinsah. Man parkte Gerümpel darauf, das man ganz bestimmt morgen in den Sperrmüll geben würde oder vielleicht auch übermorgen in zwei Jahren. Man fand in der Regel allerdings selten einen überdachten Swimmingpool darauf und große Güte, waren das tatsächlich Bäume? Nun wahrscheinlich - sie passten jedenfalls gut zum englischen Rasen, der sie einrahmte.

Octavian wandte sich wieder um und ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Was ihm wirklich, wirklich die Sprache verschlug, war nicht der offensichtliche und gleichzeitig unaufdringliche, allgegenwärtige Luxus. Auch nicht die Tatsache, dass das gesamte Gebäude ein Stein gewordener Art déco Traum war. Es war der enorme Platz. Die schiere Verschwendung von Raum in einer Stadt, in der jeder Quadratzentimeter durchökonomisiert wurde. Es war ihre bloße Größe, die diese Wohnung regelrecht dekadent machte.

"Tja", kommentierte Octavian schließlich etwas ratlos. "Ich schätze, das hier ist ganz annehmbar. Solange niemand von mir erwartet hier sauber zu machen. Moment ... es erwartet doch keiner von mir, dass ich hier saubermache oder?"

"Ich habe Ihre Wohnung gesehen, Mr. Sand", gab Wood zurück, zog sein Jackett aus (hallo - Schultern), warf es über einen der Hocker am Küchentresen und knöpfte seine Manschetten auf, um sein Hemd bis zu den Ellenbogen hochkrempeln zu können. "Für den Job haben Sie sich hinreichend disqualifiziert."

Octavian riss seinen Blick von den muskulösen Armen des anderen Mannes fort und sah ihn an.

"Na schön und was genau wird mein Job sein?"

Wood lächelte.

"Warum sehen Sie sich nicht erst Ihren Raum an und dann besprechen wir alles Weitere?" Er nickte in Richtung einer der Türen auf der Galerie. Octavian überlegte, ob es viel Sinn ergab, schon hier zu rebellieren, aber letztlich - was machte es, ob er jetzt oder später erfuhr, wie wenig er in Zukunft in Bezug auf sein Leben zu sagen haben würde? Also zuckte er nur mit den Schultern und begann mit dem Aufstieg. Oben angelangt warf er einen Blick zu Wood, der zwei Gläser aus einem seiner Küchenschränke holte und damit zur Couch hinüber wanderte. Er schien Octavian fürs Erste zu ignorieren. Der rollte innerlich mit den Augen, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und blieb auf der Schwelle stehen.

Einen Moment lang war er versucht, einen leisen Pfiff auszustoßen, aber die Genugtuung wollte er Wood nicht geben. Aber wirklich - der Raum setzte das Thema der ganzen Wohnung fort. Subtiler Luxus und Platz. In das Zimmer das Octavian jetzt betrat, hätte sein altes Apartment komplett und doppelt hinein gepasst. Weshalb sich die Kisten, die jemand an der Wand aufgestapelt hatte, auch etwas verloren ausnahmen. Er beäugte sie kritisch und stellte fest, dass vermutlich derselbe jemand Etiketten darauf geklebt hatte, die über den Inhalt Auskunft gaben. Nun, eines musste er Wood lassen. Der Mann war tatsächlich effektiv. Octavian hatte seine Wohnung erst vor knappen sechs Stunden verlassen. Sein ... Gastgeber musste eine ganze Armee von Möbelpackern kommandiert haben. Eine der oberen Kisten öffnend, versuchte Octavian so etwas wie Wut, oder wenigstens Unbehagen zu empfinden, bei dem Gedanken daran, dass ein Rudel völlig Fremder sich durch all seine privaten Sachen gekramt hatte. Seine Bücher, seine Akten, sogar seine verdammten Unterhosen. Aber wenn er ehrlich war, brachte er im Augenblick einfach nicht die dafür nötige Energie auf.

Er spähte in den Karton und zog sein kommentiertes 'Einführung in das Studium des Verfassungsrechts' von A.V. Dicey heraus. Einen der Standard-Jura Schinken schlechthin. Octavian hatte ihn sich in seinem ersten Jahr von dem Geld gekauft, das er sich mit Stadtführungen verdient hatte. Das Buch in der Hand haltend, sah er sich etwas desorientiert im Zimmer um. Okay - seine Möbel würde er wohl nicht wiedersehen, aber nun - so wild war er darauf jetzt auch wieder nicht. Das meiste davon waren vierte Hand Käufe und Spenden von Verwandten gewesen, die froh waren, ihren alten Kram loszuwerden. Und es lag offensichtlich in der Natur der Dinge, dass alle Sachen, die Wood gehörten, besser waren, als seine. Sehr, sehr viel besser, wie er zugeben musste, als er sich auf der Kante des Bettes niederließ, das wohl in absehbarer Zukunft seines sein sollte. Nicht nur, dass das Ding gefühlte fünfhundert Mal größer war als sein eigenes - die Matratze war tatsächlich etwas, auf dem man schlafen konnte ohne, dass Klumpen oder schlecht isolierte Federn einem zu einem Dauerabo beim Chiropraktiker verhalfen. Octavian ließ sich nach hinten fallen und starrte die stuckverzierte Decke an. Den Dicey an sich gedrückt, erlaubte er es sich fünf Sekunden lang, die Panik zu fühlen, die über ihn gekommen war, als er Wood in seinem Büro erblickt hatte. Gestattete sich das klaustrophobische Gefühl, das ihm die Brust zusammenzog und das Atmen schwer machte. Erlaubte sich die Verzweiflung darüber, dass alles, wirklich alles für das er so hart gearbeitet hatte in seinem Leben, innerhalb weniger Minuten zunichtegemacht worden war. Dass er quasi über Nacht zu einer Person geworden war, der man die grundlegendsten Menschenrechte absprechen konnte, nur, weil er mit dem falschen Gen auf die Welt gekommen war.

Octavian ließ den Dicey aus seiner Hand gleiten und rieb sich müde über das Gesicht.

"Scheiße", flüsterte er.

Atmete ein und aus, dachte an nichts mehr. Ein paar kostbare Herzschläge lang.

Dann stopfte er all die Zukunftsangst, all den Ärger und die Hilflosigkeit in dieselbe, randvoll gefüllte Kiste, in der er all seine Probleme verschlossen hielt und warf den mentalen Schlüssel weg. Es half nichts, sich im Elend zu suhlen. Davon wurde es nicht besser und man blockierte sich nur selber. Übersah im schlimmsten Fall vielleicht sogar die eine Möglichkeit, den einen Ausweg. Das Schlupfloch. Und ja - egal wie golden der Käfig hier auch sein mochte - Octavian würde die Schwachstelle finden. Das hier? Die ganze unschöne Situation? Nichts als ein ärgerliches Hindernis auf seinem Weg. Man nannte ihn nicht umsonst das Wiesel, wenn es ein Schlupfloch gab (und es gab immer eines) dann würde er es finden.

Zuerst aber musste er noch eine weitere Sache erledigen und das war etwas, auf das Octavian wirklich alles andere als wild war. Er zog sein Handy aus der Tasche und scrollte, bis er die Nummer fand, die er suchte. Mit einem Seufzen wählte er an.

"Tavi", begrüßte ihn die Stimme seiner kleinen Schwester. "Sind dir jetzt schon die Kadaver ausgegangen, über denen du kreisen kannst? Du meldest dich doch sonst nicht so früh."

"Und erst recht nicht bei dir, denk mal darüber nach", gab Octavian zurück und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er das undamenhafte Schnaufen seiner Schwester hörte. Penthesilea de Leon Sand - Penny für ihre Freunde, für den größten Teil der Menschheit 'oh Gott nicht die schon wieder' - war fünf Jahre jünger als er und in praktisch allen Dingen sein komplettes Gegenteil. Das Einzige was sie gemein hatten, war ihre Entstehungsgeschichte und der Sinn für eine gewisse Art von Humor.

"Ja, clever", kommentierte Penny in diesem Moment. "Aber ehrlich gesagt bin ich im Augenblick beschäftigt und ..."

"Penny, das Bankgebäude an das du dich gekettet hast, wird nicht weglaufen."

"Die letzte Occupy-Demo ist schon eine Weile her, Tavi. Was du auch wissen würdest, wenn du dein Handy ab und an mal zum Nachrichtenlesen verwenden würdest, anstatt blöd-bunte Spielchen zu zocken."

"Hey, Candy Crush ist ein Popkultur Phänomen. In fünfzig Jahren wird jemand meine gesamte Zeitzeugen-Expertise benötigen und du wirst daneben stehen und dir wünschen ..."

"Nie geboren worden zu sein? Das tue ich jetzt schon, witzigerweise immer wenn du mir ein Ohr abkaust. Egal. Ich bin gerade ... anderweitig beschäftigt. Also wenn du nichts Wichtiges hast..."

Anderweitig beschäftigt war in den letzten Jahren grundsätzlich Octavians Stichwort gewesen schon mal eine Verteidigungsstrategie auszutüfteln. Seine Schwester nämlich hatte zivilen Ungehorsam zu einer wahren Kunstform erhoben. Und auch wenn er ihre dämlichen kleinen Freunde ohne größere Probleme in den Knast wandern ließ - Penny war Familie. Und nichts war wichtiger als Familie.

"Nah, nichts ernstlich Dringendes", log er ungeniert. "Ich bräuchte nur Tante Ruths Nummer?"

Tante Ruth - inwiefern sie tatsächlich eine Tante war, konnte Octavian nicht sagen (seine war sie jedenfalls nicht) - war dreiundneunzig und lebte am Rande der Sonora Wüste in Arizona. Sie hielt so etwas wie Schamanenworkshops ab und Octavians Mütter und sie verband irgendeine mystische Mumbo-Jumbo Ouija-Brett Reinkarnationssache, über die er lieber nicht zu genau nachdachte. Auf alle Fälle fuhren die beiden einmal im Jahr zu ihr und waren für drei Wochen nicht für die Außenwelt zu erreichen. Alles was Octavian wollte, war, dass sie noch eine Weile länger nicht zu erreichen sein würden. Am besten, bis sich die Wogen hier in New York geglättet hatten. Das Letzte was er brauchte, war, seine Mütter in der Schusslinie zu haben, falls das hier in die Hose ging.

"Tavi, du weißt, dass sie nicht gestört werden wollen. Wenn du sie um Geld anhauen willst ..."

Was so oft nun auch wieder nicht vorkam, okay?

"Nein, meine Motive sind ehrenhaft." Ein neuerliches Schnaufen und wirklich, wie konnte eine Zweiundzwanzigjährige so skeptisch sein? "Ich muss einfach nur mit ihnen sprechen."

"Sag mir, worum es geht und ich gebe dir die Nummer vielleicht."

"Penny ..."

"Nein, Tavi. Du weißt, dass das praktisch ihr einziger Urlaub im Jahr ist. Das einzige Mal, dass sie sich erholen, und mal nur für sich sein können. Da lass ich dich nicht so einfach zwischen fahren."

Mist. Das war ungünstig. Octavian schielte zur Tür und versuchte gleichzeitig, sich eine plausible Ausrede einfallen zu lassen. Problem? Er war schon immer phänomenal schlecht darin gewesen, seine Familie anzulügen. Sollte er Penny erzählen, dass er tatsächlich Geld brauchte? Nah, dann würde sie die Nummer erst recht nicht rausrücken. Stattdessen würde sie ihm raten, sich einen besseren Job zu suchen. Wie Kanalreiniger zum Beispiel oder Hundekotbeseitiger. Das hatten sie alles schon durch. Sein Job war ein einziges rotes Tuch für seine Schwester. Vor allem, weil er sich beharrlich weigerte, auf die gute Seite der Macht zu wechseln. Aber verdammt - er brauchte die Nummer.

"Ich ... wollte nur fragen, ob ich mir ein paar ihrer Nina Simone Scheiben ausleihen kann. Ich hab da ein Mädchen kennengelernt, das total auf sie abfährt. Und ehrlich gesagt, denke ich, dass es mir doppelte Waagerechten-Punkte einfährt, wenn ich ihr die Gute auch noch auf Vinyl vorführen kann."

"Erstens: Widerlich", kommentierte seine Schwester wie erwartet. "Zweitens: Lüge. Kein Mädchen, das genug Klasse hat, auf Nina Simone zu stehen, würde mit dir ausgehen." Was keine schöne Wahrheit war, aber durchaus zutreffend, wie Octavian zugeben musste. Das war vielleicht nicht seine cleverste Lüge gewesen. Folgerichtig wurde Penny auch plötzlich ernst. "Steckst du in Schwierigkeiten, Tavi?" Octavian seufzte innerlich, jetzt hatte sie Blut gewittert, was hieß, dass sie nicht lockerlassen würde, bis sie hatte, was sie wollte. Das war schon so gewesen, als sie sich noch um Legos gestritten hatten und über die Jahre nicht besser geworden.

"Nun - ich schätze, das kommt drauf an, wie man Schwierigkeiten definiert."

"Tavi - wo bist du gerade?"

Octavian sah sich in seinem Zimmer um und versuchte sich eine Erklärung zusammenzuklauben, die seiner Schwester keinen Herzinfarkt verpassen würde.

"Uhm. Nun sagen wir mal so - es sieht nicht aus wie ein Gefängnis und es riecht auch nicht so. Oh und der Kabelempfang ist sicherlich besser, aber im Grunde ..." Er schwieg einen Moment, setzte an und wusste nicht so recht, wie er fortfahren sollte. "Erinnerst du dich daran, wie wir immer darüber gesprochen haben, dass wir lieber tot wären, als Kompatible? Nun ja - die Aussage würde ich vorerst gerne zurückziehen."

"Tavi? Hast du gekifft?" Penny klang etwas frustriert und verwirrt. Gut, dann war Octavian wenigstens nicht der Einzige. "Du ergibst gerade gar keinen Sinn."

"Ich wünschte", erwiderte Octavian und rieb sich den Nacken. Er hätte jetzt tatsächlich einen schönen Joint gebrauchen können. Ob Wood einen vernünftigen Dealer an der Hand hatte? Typen die reicher waren als der liebe Gott, hatten doch in der Regel einen oder? "Okay - versprich mir nur, dass du nichts Unüberlegtes tun wirst, ja?"

"Das mache ich nie, Tavi!"

"Okay, dann tu eben nichts Überlegtes."

"Tavi, du machst mir Angst."

"Nein ich ... Penny, ich bin ein Kompatibler und seit einer Stunde der neuste Besitz eines Voronyas."

Einen Moment lang war es völlig still am anderen Ende der Leitung. Dann ...

"Fick dich, Tavi, das ist verdammt noch mal nicht witzig!" Octavian rieb sich über die Augen, während seine Schwester ihm ins Ohr fauchte. Er wartete ein paar Herzschläge lang, bevor er, so ruhig wie möglich entgegnete:

"Hörst du mich lachen?"

"Das ist vollkommener Schwachsinn!", kam es aufgebracht durch den Äther. "Du kannst kein Kompatibler sein. Das ergibt gar keinen Sinn! Du bist getestet worden wie alle anderen auch. Und dein Ergebnis war negativ. Ich kenne die Unterlagen. Sie haben es mir erzählt, Tavi, sie haben es uns allen erzählt. Immer und immer wieder. Dass sie dir erst einen Namen gegeben haben, nachdem sie wussten, dass du negativ bist. Wie erleichtert sie waren, dass sie dich behalten konnten, nach all dem Ärger. Tavi wir kennen die Geschichte in- und auswendig."

Octavian wusste nicht so recht, was er sagen sollte, also schwieg er. Vor ein paar Jahren hatten sie überlegt, es Penny zu sagen. In einer ruhigen Minute. Doch irgendwie hatte sich die nie ergeben. Penny war ein wütender Teenager gewesen, verärgert über die Welt und die Ungerechtigkeit, die sie anfüllte und aus dem wütenden Teenager war eine wütende junge Frau geworden. Es hatte sich falsch angefühlt, sie noch wütender zu machen über eine Sache, die sie unmöglich ändern konnte. Sie mit einer zusätzlichen Bürde zu belasten.

"Tavi?", fragte sie jetzt in das Schweigen ihres Bruders hinein. Ihre Stimme klang weicher, leiser. Und plötzlich erinnerte Octavian sich wieder daran wie sie sich mit sechs für zwei Wochen lang jede Nacht in den Schlaf geweint hatte, weil sie befürchtet hatte, dass ihr großer Bruder an seinem elften Geburtstag einen Brief aus Hogwarts bekommen und weggehen würde. Ohne sie. "Tavi, sag mir, dass das nicht wahr ist." Sie sprach das Bitte nicht aus, aber Octavian konnte es auch so hören. Er lächelte verzerrt, obwohl es niemand sehen konnte.

"Reingefallen", sagte er und zwang sich ein hohles Lachen ab. Gott, warum konnte er nicht ein einziges Mal seine Familie vernünftig anlügen. Nur ein einziges Mal. Mehr verlangte er doch gar nicht. "Ich hab dich hochgenommen, Pen-Pen. Nicht sauer sein okay?" Warum er das hier gerade tat, wusste er selber nicht einmal. Penny würde so oder so rausfinden, dass es die Wahrheit war. Aber vielleicht musste Octavian dann nicht dabei sein. Ja, er war ein Feigling, das war nichts Neues. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Dann, denn weshalb sollte das Ganze auch anders laufen, fragte Penny:

"Wo bist du, Tavi?" Und verriet damit, dass sie ihrem Bruder plötzlich glaubte. Octavian hatte noch nie verstanden, wie die Entscheidungsfindungsprozesse seiner Schwester abliefen, aber er wusste, dass ihm der entschlossene Tonfall, der auf einmal in ihrer Stimme lag, Magensausen verpasste. Das war Pennys 'ich werde etwas unternehmen und den Leuten wird es nicht gefallen' - Tonfall und der verhieß praktisch nie Gutes.

"Penny, Licht meines Lebens, Sonne meines Universums - das ist etwas, das ich dir nicht sagen werde."

"Tavi, sag mir einfach, wo du bist. Ich komme und hole dich!"

Und wenn sie sagte 'ich' dann meinte sie, sich und ihr beständig wachsendes Rudel an ihr hörigen Kriegern für die Gerechtigkeit, das sie um sich gescharrt hatte. Das meiste davon Mitstudenten, der Rest Leute, die schon seit dem Vietnamkrieg grundsätzlich dagegen waren und in Penny endlich eine ihnen würdig erscheinende Anführerin gefunden zu haben glaubten. Ja und wenn Octavian eines jetzt nicht brauchte, dann war das ein fackelschwingender Mob vor der Tür.

"Penny", seufzte er. "Hör mir bitte gut zu. Nur dieses eine Mal okay?"

"Ta..."

"Nein! Pen, hier geht es nicht nur um mich, dich oder darum der Gesellschaft was zu beweisen. Penny, mein Test war gefälscht und man muss keine zwei Meter weit denken, um herauszufinden, wer ihn gefälscht hat." Octavian schwieg einen Moment lang, um seine eindringlichen Worte wirken zu lassen. Und Wunder über Wunder seine kleine Schwester hörte ihm tatsächlich zu. "Du weißt, wie hoch die Strafen für so eine Geschichte sind und ehrlich aus so einer Anklage würde nicht mal der liebe Gott persönlich sie rauspauken können."

Penny gab ein merkwürdig erstickt klingendes Geräusch von sich, das ihrem Bruder das Herz zusammenschnürte.

"Du willst dir das also einfach gefallen lassen?", fragte sie schließlich. "Zusehen wie dein ganzes Leben weggeworfen wird und zum Sklaven dieser widerlichen Parasiten werden?" Nun, gemeinsame Sand-Wood Familienessen standen in nächster Zeit wohl eher nicht auf dem Programm, denn so wie Penny gerade klang, hätte sie vermutlich versucht, den guten Henry bei erstbester Gelegenheit mit einem Brötchenmesser zu entgräten. Octavian seufzte einmal mehr.

"Ja? Nein? Ich weiß nicht, Penny. Gib mir einfach ein bisschen Zeit, okay? Ich meine, die ganze Geschichte ist für mich auch ziemlich, ziemlich frisch." Er strich sich mit der Hand durchs Haar, warf noch einen Blick zur Tür und fuhr dann, noch etwas leiser fort: "Lass mich sehen, wie er so drauf ist. Vielleicht kann man mit ihm ja handeln. Irgendwie."

Penny schnaufte verächtlich.

"Mit diesen überprivilegierten Monstren kann man nicht verhandeln, Tavi. Du hast nichts anzubieten, denn sie haben schon alles zusammengeraubt, was sie brauchen. Und jetzt ... jetzt haben sie auch noch dich."

"Ja, vielen Dank für diesen lehr- aber sehr unhilfreichen Ausflug in die bunte Welt der Klassenkampfrhetorik, Pen", hielt Octavian seiner Schwester entgegen. "Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne deine optimistische, aufbauende Art machen würde. Das gestaltet die Situation gleich so viel erträglicher."

"Tavi", hob seine Schwester an. "Ich ... Jesus, es tut mir Leid okay? Hör zu, ich kann die beiden für dich anrufen, wenn du willst. Nur ... tue mir den Gefallen und mach keinen Blödsinn, wie ein Stockholm-Syndrom zu entwickeln oder so. Wer auch immer dieser Kerl ist, er ist nicht dein Freund, verstehst du?"

Octavian verzichtete darauf, seiner Schwester mitzuteilen, dass er nicht ganz so blöde war, wie sie zu glauben schien. Denn erstens hätte sie ihm das eh nicht abgenommen und zweitens - das hier war ihr Äquivalent zu einem Olivenzweig. Besser würde es nicht werden. Noch dazu bot sie ihm an, das Gespräch mit ihren Müttern zu übernehmen, und nun wie Octavian sich bereits eingestanden hatte, war er ein Feigling, wenn es um Familienkram ging. Tatsächlich hätte er sich lieber in einen Käfig voller hungriger Löwen geworfen als noch eine Unterhaltung zu führen, die emotional so aufgeladen war wie diese hier.

"Keine Sorge, Penny. Ich glaube nicht, dass er und ich in der nächsten Zeit Freundschaftsarmbänder tauschen oder Ähnliches. Was Mom und Mamá betrifft ... sag ihnen einfach, dass es mir gut geht. Und versuche sie dazu kriegen, ihren Aufenthalt zu verlängern."

"Ja sicher, Tavi. Als ob die zwei auch nur eine Sekunde länger da unten bleiben, wenn sie hören, was hier los ist. Sie werden im Auto sitzen, bevor das Gespräch vorbei ist."

Octavian brauchte gar nicht mal darüber nachzudenken, ob seine Schwester Recht haben könnte - er sah die Antwort quasi schon bildlich vor sich. Mit einem Stöhnen fuhr er sich über die Augen.

"Okay, dann erzähl ihnen ... ich weiß nicht, dass wir das Haus unter Quarantäne stellen mussten weil ... Moms hausgemachter Käse Milben angezogen hat... Killermilben."

"Tavi - wie zum Teufel kannst du Anwalt sein, wenn das die beste Ausrede ist, die dir einfällt? Mal ganz davon abgesehen du verlangst wirklich von mir, dass ich sie anlüge?"

"Ja, denn du bist darin viel besser als ich."

"Ich lüge die beiden nie an."

Jetzt war es an Octavian, vielsagend in den Hörer zu schnaufen.

"Ah ja. Dann hast du Tyreese Atkins damals also wirklich das ganze Jahr lang Nachhilfe gegeben?"

"Natürlich."

"Ach ja und wo hat die stattgefunden? In Tyreeses Unterhose? Penny - Tys Bruder war in derselben Verbindung wie mein Zimmernachbar im College. Die beiden haben praktisch aneinander geklebt und ich durfte mir ständig Geschichten über die scharfe kleine Maus anhören, die sein Bruder laufen hatte. Und wie Brüderchen schon dafür sorgen würde, dass die Kleine nicht genauso eine Kampflesbe wird wie ihre Mütter." Natürlich hatte Octavian das nicht ungestraft durchgehen lassen können. Tys Bruder fragte sich vermutlich heute noch, wie sein heißgeliebter, unglaublich aufgemotzter Toyota eines Nachts seinen Weg ins Hafenbecken gefunden hatte. So ohne jeglichen Hinweis darauf, wer ihn aus der überwachten Garage gestohlen haben könnte.

"Pft", machte Penny. "Ausgerechnet Ty sollte meine Heterosexualität retten? Ohne einen Finger in seinem Hintern ging bei dem Jungen gar nichts." Und an dieser Stelle begann Octavian sich zu fragen, wie genau sie eigentlich auf dieses Thema gekommen waren und warum er den plötzlichen Drang verspürte Ty zu finden, um ihn vermöbeln zu können. "Egal. Ich versuche mein Schlimmstes, okay?"

Octavian atmete auf.

"Ich schulde dir was, Penny."

"Nein tust du nicht", erwiderte seine Schwester leise. "Pass nur auf dich auf, hörst du, Tavi?"

"Tue ich das nicht immer?"

"Nicht gut genug offensichtlich."

"Darum habe ich unsere Mütter ja dich machen lassen."

Penny lachte kurz und legte nach einem knappen:

"Bis bald, Bruderherz", auf. Octavian saß noch einen Moment lang mit dem Telefon in der Hand da und starrte ins Leere. Gut. Damit war die Sache hoffentlich fürs Erste geklärt. Blieb also noch die andere Sache. Er atmete tief durch, rollte mit den Schultern und ließ die Fingerknöchel knacken.

 

__________§§ 06 §§__________

 

"Alles klar", murmelte er. "Angriff ist die beste Verteidigung und aufgeben was für jämmerliche Verlierer, die besser gleich zu Hause an Mamas Titten hängen geblieben wären." Ein weiterer von Otis' Standardsprüchen und ja, auch wenn Octavian sich manches Mal wünschte, einen Mentor gehabt zu haben, der mehr Yoda und weniger Larry Flint ähnelte – im Grunde hatte der Mann nicht Unrecht. Er gab sich einen Ruck und machte sich daran, sich dem nächsten Hindernis zu stellen.


Besagtes Hindernis hatte es sich inzwischen auf der Couch bequem gemacht, in der Hand ein Glas, dessen Inhalt in einer ähnlichen Farbe schimmerte, wie seine Augen. Und verdammt noch mal - es gab nicht die geringste Chance, dass der Kerl nicht ganz genau wusste, wie gut er aussah. Er schaute zu Octavian auf und zog einen Mundwinkel in die Höhe. Ein träges Lächeln, als ob er die Gedanken, die seinem 'Gast' in diesem Moment durch den Kopf gingen, nur zu gut kannte. Aber hey - es war nicht Octavians Schuld, dass eben diese Gedanken nicht komplett jugendfrei waren. Zumindest war es nicht seine alleinige Schuld.

"Ich nehme an, mit dem Zimmer ist alles in Ordnung?", fragte Wood, während Octavian die Treppe hinunterstieg und zu ihm hinüber schlenderte.

"Oh sicher, wenn ich irgendwann meine eigene Stadt gründen möchte, kriege ich die erforderlichen zwei- bis fünftausend Leute locker unter da oben."

Wood lächelte, beugte sich zum Couchtisch und griff nach dem zweiten Glas, das dort stand, um es Octavian zu reichen. Der nahm es an und fühlte einen leichten Schauer der Erregung, als sich ihre Fingerspitzen berührten. Oy, das war selbst für seine Verhältnisse armselig. Er vergab sich allerdings schnell, denn von der 'Blutsauger und Zerstörer vielversprechender Junganwaltskarrieren' - Sache mal abgesehen war Wood in so ziemlich jeder Hinsicht seine Kragenweite. Attraktiv, selbstsicher, clever und bissig ... also im übertragenen Sinne. Was beklagenswerterweise auch genau die Gründe waren, aus denen er in einer Liga spielte, in der Octavian, unter normalen Umständen, nicht mal auf der Bank sitzen durfte.

"Also", sagte er schließlich, nahm einen kleinen Schluck und zog eine Augenbraue in die Höhe. Er war kein wirklicher Kenner, was Alkohol betraf, aber das Zeug hier war gut. Scotch vermutlich. Single Malt. Unter Garantie teuer. Besser, wenn er nicht zu viel davon trank. Für das Gespräch, das jetzt vor ihm lag, brauchte er vielleicht nicht viel, auf jeden Fall aber einen klaren Kopf.

"Also", echote Wood sichtlich amüsiert und spielte den Ball damit in Octavians Feld zurück. Ah, er war anscheinend jemand, der lieber aus der Defensive heraus agierte.

Kein Ding, Octavian hatte nicht das geringste Problem damit offensiv zu werden. Er stellte das Glas auf dem Couchtisch ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Nicht, dass mir der Reiz des Mysteriösen hier keinen Kick gibt, aber ich würde schon gerne wissen, wie es von hier ab weiter gehen wird."

Wood schwenkte den Inhalt seines Glases und schwieg einen Moment, während er gleichzeitig sein Gegenüber aufmerksam musterte.

"Das kommt ganz darauf an, wie Sie wollen, dass es weitergeht, Mr. Sand."

"Solange ich nicht darauf bestehe, mein altes Leben fortführen zu wollen."

"Solange Sie nicht darauf bestehen, Ihr altes Leben fortführen zu wollen." Wood neigte den Kopf ein wenig zur Seite. "Ich brauche Ihr Blut alle zwei Wochen. Der Rest ist optional."

"Der Rest?"

Wood breitete die Arme auf der Rückenlehne des Sofas aus und zeigte so ziemlich ungeniert, was er zu bieten hatte. Octavian konnte die Muskeln praktisch sehen, auch wenn der Mann ärgerlichweise immer noch ein Hemd trug. Er hatte keine Ahnung, ob alle Voronya von Natur aus so fit waren, oder ob selbst sie hin und wieder ein paar Stunden auf den Geräten verbrachten, die die als Sportstudios getarnten Folterkammern der modernen Welt bestückten. Aber wie auch immer - es war ein netter Anblick. Wood schien derweil mit seiner eigenen Musterung beschäftigt. Er taxierte seinen eher unfreiwilligen Neu-Mitbewohner ohne dabei sonderlich subtil vorzugehen. Ihm musste wohl gefallen, was er sah, denn er zuckte schließlich mit den Schultern und sagte:

"Sex."

Nun. Okay - damit war die Katze wohl aus dem Sack, der Tanz um den heißen Brei deutlich kürzer ausgefallen als erwartet und man hatte auch nicht auf irgendwelche Büsche oder andere Dinge klopfen müssen.

"Ah ja. Sex. Das heißt also, dass mir frei steht, ob ich mit Ihnen schlafen möchte oder nicht?"

"Natürlich." Wood zuckte gleichmütig mit den Schultern. "Aber wenn wir mal ehrlich sind - ich denke wir wissen beide, wie die Entscheidung ausfallen wird." Er klang völlig entspannt und selbstsicher und normalerweise ...  normalerweise, hätte Octavian an dieser Stelle mit dem Finger auf ihn gezeigt und gelacht. Einfach, um widerspenstig zu sein. Aber nun - erstens: der Mann hatte Recht und zweitens: sie würden in Zukunft eine ganze Menge Zeit miteinander verbringen und Octavian wusste nicht, wie lange er der Versuchung würde widerstehen können. Ob er nun jetzt oder in einem halben Jahr wie ein Idiot ohne Impulskontrolle dastand - welchen Unterschied machte das schon? Wenn er gewisse Dinge gleich zugab, würde er sich wenigstens eine unerquickliche Dürreperiode ersparen. Trotzdem konnte er sich eine in die Höhe gezogene Augenbraue und ein nüchternes:

"So, wissen wir das?", nicht verklemmen.

"Ja. Wir wissen", entgegnete Wood, immer noch ausgesprochen selbstsicher. Und mit einem Mal wollte Octavian seiner glatten Fassade einen Riss verpassen. Einen durch den er hindurchsehen konnte, der ihm vielleicht etwas an die Hand gab, das nützlich sein würde. Nun und außerdem ... ja es war eine ganze Weile her, dass er vernünftig flach gelegt worden war. Es schadete wohl kaum, sich ein wenig Appetit zu holen. Er grinste knapp und schlenderte die paar Schritte auf Wood zu, die sie getrennt hatten. Für einen Moment tat er so, als wäre der Vampir ein Baraufriss und nicht jemand, der seine gesamte Zukunft in der Hand hielt. Ohne weiter darüber nachzudenken, was er hier tat, ließ er sich mit gespreizten Beinen auf Woods Schoß nieder und nahm dem anderen Mann das Glas aus der Hand.

Wenn sein Verhalten den Vampir irritierte, dann ließ der es zumindest nicht erkennen. Er legte den Kopf etwas zurück und lächelte Octavian entspannt an. Der nahm einen Schluck aus dem Glas und stieß einen nachdenklichen Laut aus. Wood fühlte sich gut an, unter ihm solide und warm.

"Tja", sagte er schließlich und lehnte sich nach hinten, um das Glas auf dem Couchtisch abzustellen und gleichzeitig seine Gelenkigkeit zu demonstrieren. "Vielleicht könnte eine Probefahrt mir die Entscheidung erleichtern."

Wood griff nach seiner Krawatte und zog ihn daran zu sich.

"Hey", protestierte Octavian schwach. "Vorsicht, das gute Stück war teuer."

Der Vampir lachte zum ersten Mal, seit sie sich kennen gelernt hatten. Was durchaus nett anzusehen war, auch wenn sein Heiterkeitsausbruch Octavians teuerstem Besitz galt.

"Nein, war es nicht. Die Qualität des Materials ist furchtbar und das Muster wirkt, als hätte ein vierjähriger Kindergartenpicasso mit Rot-Grün Störung zu viel Spaß mit den Fingerfarben gehabt."

"Mhm. Herablassend und mit schlechtem Geschmack gesegnet. Sexy."

"Oh nun, ich denke das grässliche Ding hat seine Vorteile", kommentierte Wood und zog Octavian so nah an sich heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. "Außerdem denke ich, dass mit meinem Geschmack soweit alles in Ordnung ist." Sein Blick war vielsagend. So dicht in seiner Nähe konnte man winzige, silberne Sprenkel im Bernstein seiner Augen erkennen. Und verdammt - der Kerl roch fantastisch. Octavian konnte der Versuchung seine Nase im Nacken des Vampirs zu vergraben und tief einzuatmen nur schwer widerstehen. Er fühlte sich plötzlich ein bisschen benommen und mehr angeturnt, als er erwartet hatte. Jesus, er wurde bereits hart. Testweise ließ er die Hüfte kreisen und stellte fest, dass er nicht der einzige war und was er da spürte, war mehr als ... vielversprechend. Ein Hoch auf die genetische Überlegenheit anderer Leute.

"Nun...", murmelte er etwas atemlos und fixierte sich auf Woods Mund, als der Mann ein kaum wahrnehmbares Stöhnen ausstieß. Ah. Ein Schweiger im Bett. "Ich denke, in der Beziehung verschiebe ich mein Urteil auf später, Mr. Wood." Der Atem des Vampirs war warm auf seiner Haut, als Wood erfreulich heiser sagte:

"Henry. Ich denke Henry genügt."

Octavian lächelte äußerst zufrieden mit sich und beugte sich die letzten Millimeter vor, um seine Lippen auf Woods zu pressen. Und ja, Octavian mochte bessere erste Küsse gehabt haben, aber in diesem Moment konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Nicht nachdem Wood seinen Mund öffnete und den Kuss erwiderte. Octavian verlor sich in all der unerwarteten Nähe und Wärme, schmeckte dem Scotch nach, alkoholscharf und rauchig gleichzeitig.

Der Mann unter ihm küsste wie jemand, der genau wusste, was er wollte und wie er es bekam. Entschieden, vielversprechend und ein klein bisschen gemein. Octavian hätte lügen müssen, hätte er behauptet, dass ihn das nicht über die Maßen anmachte. Beinahe unbewusst ließ er seine Hände nach oben wandern, auf der Suche nach einem Stück unbedeckter Haut. Der leise Laut, den Wood ... Henry von sich gab, als Octavian dabei über seine Brust strich, die kleinen, harten Nippel unter dem Stoff des Hemdes berührte, fuhr ihm durch Mark und Bein. Brachte ihn dazu, seinen Schritt fester gegen Henrys zu reiben, nur um mehr Laute wie diesen aus ihm herauszukitzeln. Während seine Finger nach oben wanderten, hatten Henrys ihren Weg nach unten gefunden. Seine kräftigen Hände lagen plötzlich auf Octavians Hintern. Mit derselben bestimmten Art auf die er küsste, übernahm er die Kontrolle über den Rhythmus, mit dem sie sich aneinander rieben wie zwei spitze Teenager auf dem Rücksitz des Familientoyotas.

Octavian konnte nur mit Mühe das Stöhnen unterdrücken, das ihm aus der Kehle wollte, als er den festen Griff fühlte, die Wärme der Finger, die sich durch zwei Lagen Stoff zu brennen schien. Es war schon eine ganze Weile her, dass er in seinen eigenen Hosen gekommen war, aber er begann zu ahnen, dass es nicht mehr lange dauern würde. Was nicht ganz das war, was er geplant hatte.

Um Henry etwas abzulenken, vergrub Octavian seine Hände im vollen Haar des Voronyas und zog seinen Kopf so weit zurück, dass die ganze Länge seiner glatten Kehle frei lag. Octavian verspürte den leicht irritierenden Impuls zu beißen. Henry zu schmecken, ein Zeichen auf seiner Haut zu hinterlassen. Anstatt seinen seltsamen Anwandlungen nachzugeben, beschränkte er sich darauf, die Linie mit der Spitze seiner Zunge nachzuzeichnen. Jetzt konnte Henry ein Keuchen nicht mehr unterdrücken. Octavian grinste triumphierend und küsste sich seinen Weg zurück zu Henrys einladend offenem Mund. Er störte sich nicht sonderlich daran, dass der Vampir unter ihm die Augen geschlossen hielt, seit sie sich das erste Mal geküsst hatten. Vielleicht war das seine Art, vielleicht war Octavian auch jemandes Ersatz. Wer wusste das schon? Ihm war es einerlei - er war nicht das erste Mal der Lückenbüßer und solange er auf seine Kosten kam und sein Partner willig war, schadete es niemandem, nicht wahr? Nicht, dass hier einer von ihnen auf seine Kosten kommen würde, was er beinahe bedauerte, als er Henry, hart und heiß gegen seinen Schritt gepresst fühlte. Er gönnte sich ein paar weitere kostbare Sekunden gedankenloser Lust, stahl sich einen weiteren Kuss. Dann zählte er innerlich bis fünf, um selbst ein bisschen herunter zu kommen, befreite sich aus Henrys Griff und stand auf. Sich der beachtlichen Beule in seiner eigenen Hose wohl bewusst, trat er ein paar Schritt zurück und nahm eines der Gläser vom Couchtisch.

Henry brauchte einen Moment, um zum Geschehen aufzuholen, wie Octavian erfreut feststellen. Als er die Augen endlich öffnete, waren seine Iriden fast schwarz vor Erregung, sein Mund rot und feucht vom Küssen und sein Haar zerzaust. Es war fast genug, dass Octavian wieder auf seinen Schoß geklettert wäre. Aber hier ging es um etwas ... ja. Genau. Octavian wollte etwas beweisen. Einen Punkt. Vermutlich. Irgendwas mit Selbstkontrolle? Was machte es also schon, wenn er sich gerade fühlte, als hätte er sich selbst ins Knie geschossen?

Als Henry sich genug gesammelt hatte, um eine Augenbraue fragend in die Höhe zu ziehen, schenkte Octavian ihm ein Grinsen. Er nahm einen Schluck von seinem Drink.

"Tja", sagte er lediglich. "Zu dumm, dass ich bei Probefahrten nie weiter fahre als einmal um den Block, mhm?"

"War es das, was ich über die Krawatte gesagt habe?", konterte Henry und Jesus, seine Stimme alleine, tief und etwas kratzig, ließ Octavians Unterhose noch ein wenig enger werden. Verdammt, wenn das nicht der neue Soundtrack seiner einsamen Nächte sein würde.

"Ich denke, ich werde dann mal auspacken gehen", verkündete Octavian mit einem strahlenden Lächeln.

"Bei näherer Betrachtung ist sie gar nicht mal so grässlich."

Octavian verkniff sich ein Lachen, wandte sich um und trat den Weg in sein Zimmer an, bevor er noch rückfällig werden konnte.

"Eigentlich ist sie eine echte Augenweide", rief Henry ihm hinterher. "Ein wahres Prachtstück! Verrate mir, aus welchem nordkoreanischen Zwangsarbeiterlager sie stammt und ich bestelle drei Dutzend für dich."

 

Impressum

Texte: CFLage
Bildmaterialien: CFLage
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2016

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