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Prolog

 

 

PROLOG

 

 

 

 

Milan hatte mich heulend auf dem Boden liegen sehen. Halbnackt, vollgepinkelt und aufs Tiefste gedemütigt. Ich wollte nur noch sterben. Dann wäre dieser furchtbar flammende Schmerz in mir vorbei. Wenn ich in mich hineinhörte, war da eine sehr laute Stimme, die versuchte, mir diesen Ausweg schmackhaft zu machen. Die Welt war dunkel und böse. Die Stimme behauptete, ich wäre dieser Dunkelheit nicht gewachsen. Sie stellte mir eine Möglichkeit zu entkommen bereit. Wie gerne würde ich es tun. Wem würde ich schon fehlen? Die Erkenntnis sackte durch meine vernebelten Gedanken: meiner Mutter. Auch Milan würde mich vermissen. Sofort war da wieder diese fiese Stimme, die mir versicherte, dass beide irgendwann über meinen Tod hinwegkommen und sich sogar eingestehen würden, dass es besser wäre, wenn ich nicht mehr da war.

»Ob es wehtut?«, entwich es mir, ehe ich die Worte aufhalten konnte. Mist! Ich hatte sie nicht laut aussprechen wollen.

»Ob was wehtut?«, hakte Milan argwöhnisch nach.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie angespannt er plötzlich wirkte. Sein Rücken war gerade, sein Blick unruhig und die Schultern straff.

»Sterben.« Ich hatte es begonnen, dann konnte ich es auch beenden.

»Was für einen Scheiß redest du da?«

 

 

 

 

 

Kapitel 1

KAPITEL 01

 

 

 

 

Diesen Sommer würde mein Leben richtig beginnen. Gerade einundzwanzig geworden und den Realschulabschluss in der Tasche, wollte ich die Ferien genießen. Noch früh genug müsste ich zusammen mit meinem besten Freund Milan Broschüren durchforsten, um die richtige Schule für uns zu finden, damit wir unsere Fachhochschulreife und danach Abi nachholen würden. Ich mauserte mich zu einem fleißigen Büffler, meisterte meine Klausuren und drohte am Hausaufgabenberg zu ersticken. Muffige, überheizte Klassenräume gehörten genauso zu meinem Alltag, wie die andauernden Geldsorgen meiner alleinerziehenden Mutter und die immer weiter steigenden Kosten für den Lebensunterhalt. Nun stand noch ein Abend zwischen mir und der sommerlichen Freiheit: der Abend des Abschlussballs, auf den weder Milan noch ich große Lust hatten. Dennoch würden wir uns auf meinen Wunsch hin dort blicken lassen. Dass ich ein Interesse daran hatte, lag an meiner Klassenkameradin Lena, der ich nun schon seit fast einem Jahr hinterherschmachtete. Jeder, auch sie selbst, wusste um meinen Crush auf sie, und manchmal kam es mir vor, als würde Lena diese Aufmerksamkeit genießen und sich an meinen sehnsüchtigen Blicken ergötzen. Das nahm ich ihr nicht übel, im Gegenteil. Wir fingen sogar an, ein Spiel daraus zu machen, dessen Regeln wir beide erst erforschen mussten. Obwohl sie mein Interesse zu erwidern schien, konnte ich es nicht über mich bringen, den ersten Schritt zu machen. Ich war einfach zu schüchtern. Sogar Milan ließ sich nicht davon abhalten, mir genau das unter die Nase zu reiben.

»Komm schon! Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass sie dich mag!« Mein bester Freund schlug mir gespielt gegen die Schulter und lachte danach schamlos über meine Befangenheit Lena gegenüber. Vielleicht war es nicht zu übersehen, dennoch traute ich mich nicht und Lena scheinbar ebenfalls nicht. Falls sie mich überhaupt mochte. Es war zum Verrücktwerden. Darum hatte ich mir früh vorgenommen zum Abschlussball zu gehen, obwohl ich gesellschaftliche Anlässe nicht leiden konnte. Bevor das Schuljahr vorbeiging, wollte ich einmal ihre Hand halten und mit ihr tanzen. Ich blieb trotz dieses Wunsches feige und lud sie nicht ein. Ich hoffe einfach, sie mal für einen kurzen Moment allein auf dem Ball zu erwischen.

Wie die meisten jungen Frauen in dem Alter war sie ständig umringt von einer Schar Freundinnen. Dennoch hoffte ich auf meine Chance. Milan stand mir bei, auch wenn er nicht müde wurde, mir zu sagen, dass er sich eher einen Abend an seiner Konsole vorstellen konnte, als sich in einen Smoking zu quetschen.

Dennoch tat er es. Für mich.

Wahrscheinlich fragt ihr euch, wer ich bin. Lucien. Ich bin Anfang zwanzig und stamme aus einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands. Es ist so klein, dass es kaum jemand kennt, doch für mich ist es die ganze Welt.

Milan war mein bester Freund, und zusammen gingen wir durch dick und dünn – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir lebten in unserer eigenen Welt, und dass wir beide es mit Anfang zwanzig zum Realschulabschluss geschafft hatten, war einer Menge Arbeit und einem Lebenswandel zu verdanken.

Uns beiden war bewusst, dass man einen Realschulabschluss in der Regel viel früher machte und in unserem Alter normalerweise dabei war, eine Ausbildung zu beenden. Milan und ich, obwohl die besten Freunde seit Kindestagen, taten uns nicht immer gut. Wir hatten lange einen Durchhänger. Wir wollten cool sein, keine Streber. Daher waren wir schon früh im Begriff gewesen, unser Potenzial zu verschenken. Tägliche Auseinandersetzungen mit unseren Eltern und Lehrern waren die Folge. Lästige Angelegenheit. Irgendwann, als wir unseren eher schlechten Hauptschulabschluss in den Händen hielten - durchtränkt von Faulheit und Tadel -, wurde uns bewusst, dass wir so nicht mehr weitermachen konnten.

Gemeinsam bewarben wir uns für Ausbildungen, später für Schulplätze. Selbst mit einem außerordentlich guten Hauptschulabschluss war es beinahe unmöglich, eine Lehrstelle zu finden. Mit unserem Ich-war-viele-Jahre-stinkend-faul-Abschluss war da nichts zu machen.

Also beschlossen wir, den Realschulabschluss an einer Berufsfachschule für Wirtschaft nachzuholen. Nach zwei Jahren und wiederholtem Ausharren auf der Reservebank in Form der Warteliste, war es endlich soweit. Die wenig ruhmreichen Zeiten eines Faulenzers, der das Leben und sich selbst nicht für wichtig nahm, waren vorbei. Denn jetzt strebte ich, zusammen mit Milan, nach dem Sommer die Fachhochschulreife, danach das Abitur und im Anschluss eventuell sogar ein Studium an.

Wider Erwarten fielen uns die zwei Jahre auf der Berufsfachschule mit Fleiß und einer neu entdeckten Konsequenz leicht. Einzig die Suche nach einem vierwöchigen Praktikumsplatz, durch den ich die Möglichkeit bekam, mein durch die Schule angeeignetes Wissen praxisnah anzuwenden, hatte mir einige graue Haare beschert. Wenn man, wie ich, in einer kleinen Ortschaft lebte und zwar über einen Führerschein aber keinen fahrbaren Untersatz verfügte, waren die Gelegenheiten der beruflichen Selbstfindung sehr begrenzt. Letztlich war es Milans Vater, der mir den Hals rettete. In seiner Anwaltskanzlei durfte ich als Gehilfe, Kaffeespezialist und Kopiererfachkraft mein Wissen in die Praxis umsetzen.

Milan war mein längster und bester Freund. Wir hatten uns noch vor dem Kindergarten mit ungefähr drei Jahren kennengelernt und waren seitdem so gut wie jeden Tag zusammen. Er kannte meine düsteren Momente, meine strahlende Freude und die pure Verzweiflung, wenn allem Anschein nach die Welt mich hasste. Ich kannte ihn ebenso gut. Meine Mutter meinte oft, wir könnten auch Brüder sein, und zumindest im Geiste waren wir das definitiv.

Heute Abend sollte der von der Schule organisierte Abschlussball stattfinden. Der Plan war, mit meiner Mutter gemeinsam zu frühstücken und uns ihren Weltklasse-Kaffee servieren zu lassen. Wie es für meine Mutter typisch war, stand sie extra früh auf, um alles zu besorgen, was wir gerne aßen. Neben den frischen Brötchen, würde sie noch Gemüse als Topping mitbringen.

Während sie unterwegs war, machten wir uns nützlich. Wie das eingespielte Team, das wir waren, räumten wir gemeinsam auf und deckten nebenbei den Frühstückstisch.

Als meine Mutter kurze Zeit später die Küche betrat, zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen, und sie kochte Kaffee.

Schließlich erfüllte ein himmlischer Duft die Küche, und ich schnitt die frische Gurke und die Paprika zurecht, während Milan noch ein paar fehlende Dinge aus dem Kühlschrank holte und meiner Mutter helfend zur Hand ging.

Es war gemütlich. Wir sinnierten darüber, was den Abend passieren konnte und vielleicht auch würde.

»Wirst du heute mit ihr tanzen?« Meine Mutter ließ mich kaum aus den Augen, als sie an ihrem Kaffee nippte, und ich fühlte mein Gesicht brennen.

»Mama«, murmelte ich peinlich berührt.

»Wat denn, mien Jung? Is‘ doch `ne normale Frage.«

Ich rümpfte die Nase, nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck und genoss das Aroma in meinem Mund. Ich schindete Zeit, und beide wussten das, was sie dazu brachte, mich mit ihrem forschenden Blick festzunageln. Nach einem Seufzen ergab ich mich. »Ich werde sie fragen.«

»Na siehste. War doch gar nich so schwer?«, strahlte mir meine Mutter entgegen. »Bringste sie dann auch bald mit na Huus?«

»Ich weiß doch nicht einmal, ob sie wirklich mit mir tanzen möchte, geschweige denn, danach mit mir Zeit verbringt.«

Ich hörte Milan seufzen, den ich anschließend mit einem skeptischen Blick betrachtete, worauf er mit den Augen rollte. »Du unterschätzt ihr Interesse mal wieder sehr, Bro.«

»Jo, zumindest wat ihr mi allet über de Dern vertellt habt.«

Ich seufzte und sah in das zärtlich dreinblickende Gesicht meiner Mutter. Manchmal wünschte ich, ich hätte dieses Vertrauen in mich, welches sie besaß.

Erneut griff ich zu meiner heißgeliebten Tasse, die mit einem Foto von Milan, meiner Mutter und mir bedruckt war. Das Bild war letztes Jahr zu meinem Geburtstag entstanden und bedeutete mir viel, da wir alle drei lachten und fröhlich aussahen.

»Wann wollte Janine kommen?«, hakte meine Mutter nach.

Milan blickte über seine Tasse hinweg, die er angesetzt hatte, um einen Schluck daraus zu nehmen.

Ich wich den Blicken am Tisch aus, war aber zu nervös, um das Thema „Lena“ weiter zu vertiefen. »Gegen fünfzehn Uhr.«

»Also habt ihr noch eine halbe Ewigkeit.« Meine Mutter lächelte.

Der Rest des Frühstücks verlief sich in Nichtigkeiten. Milan erzählte von der gestrigen Zeugnisvergabe, als er gestolpert war und sich vor der Klasse aufs Gesicht gelegt hatte. Alle waren in lautes Gelächter ausgebrochen, und auch meine Mutter musste lachen. Normalerweise fand der Abschlussball am selben Tag statt. Dieses Jahr hatten sich die Absolventen dafür ausgesprochen, die Veranstaltung um einen Abend zu verschieben. So konnten sie sie mehr genießen, wenn sie den Morgen ausschlafen konnten. Niemand hatte dagegen gestimmt. Die Realität sah mit Sicherheit so aus, dass die meisten aus unserem Jahrgang die Nacht durchmachten und schließlich völlig verkatert zum Ball kamen. Vielleicht wurde zwischendurch höchstens ein Nickerchen gehalten. Milan und ich hatten den gestrigen Abend mit einigen Runden Counter Strike am Rechner verbracht und uns bis tief in die Nacht gegenseitig gekillt. Das war unsere Art, die sechswöchige Freiheit zu feiern.

»Ich wäre gerne dabei gewesen«, meinte meine Mutter, während sie sich die Augen mit einer Serviette trocknete. Leider hatte sie am gestrigen Vormittag der Zeugnisvergabe die Frühschicht im Heim innegehabt. Sie war Altenpflegerin und als Springer eingestellt. Immer wenn Not am Mann oder an der Frau war, musste sie ran. Daher waren Planungen nur kurzfristig möglich und ein mobiles Transportmittel für sie außerordentlich wichtig. Sie hatte zwei Jobs. Während sie im Altenheim arbeitete, putzte sie an drei Abenden die Woche zu flexiblen Zeiten die Räume einer hiesigen Arztpraxis. Das Geld war knapp, aber wir kamen über die Runden, auch wenn wir uns keine großen Anschaffungen leisten konnten. Darum wollte ich endlich etwas aus meinem Leben machen und meine Mutter später finanziell unterstützen.

Der Tag verrann schneller als erwartet, und bald standen Milan und ich in Smoking und Turnschuhen im Wohnzimmer, und meine Mutter knipste begeistert Fotos aus jedem erdenklichen Winkel. Mir stand so ein Aufzug nicht. Obwohl die Stoffe gut und bequem saßen, fühlte ich mich eingesperrt. So zupfte ich an der Jacke und Hose herum und machte sicherlich ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Denn genauso fühlte ich mich.

»Guck nicht so griesgrämig. Du siehst bezaubernd aus.« Meine Mutter seufzte, und hatte vor Rührung Tränen in den Augen. »Mien Jung wird erwachsen.«

»Mama, ich bin einundzwanzig«, grummelte ich.

»Na und? Für mich wirst du immer mein kleiner Junge bleiben.«

»Wenn du mir jetzt noch in die Wange kneifst, bin ich weg.«

»Führe mich nicht in Versuchung.«

Mein Blick musste Bände gesprochen haben, denn Milan und meine Mutter brachen in schallendes Gelächter aus.

»Haha, nicht witzig«, maulte ich.

»Ein bisschen schon«, entgegnete Milan und stieß mir in die Seite, was mir dann doch ein Lachen entlockte.

»Janine sollte jeden Moment kommen, daher geht schon mal raus.«

»Danke, Mama.« Schnellen Schrittes ging ich zu ihr und küsste sie auf die Wange. »Ich hab dich lieb.«

 

»Ich finde, wir sollten noch ein wenig Bier mitnehmen.«

Janine grinste mich an. Sie war meine beste Freundin, gerade mal achtzehn Jahre alt und ein überaus hübsches, etwas dickliches Mädchen, mit vielen Sommersprossen, einer kleinen Stupsnase samt Nerdbrille, die ständig rutschte, braunen Rehaugen und schwarz gefärbten Haaren, die ihren Schneewittchenlook noch mehr betonten. Ich hatte sie am Tag unserer Einschulung im Wirtschaftszweig kennen und sofort lieben gelernt. Der anfängliche Eindruck war ungezwungen und locker gewesen. Sie hatte sich am ersten Tage ungefragt neben Milan und mich an den Vierergruppentisch gesetzt und war seitdem nicht mehr von unserer Seite gewichen.

Sie war ein Nerd und liebte Herr der Ringe und Harry Potter über alles. Ihre erste Frage, als wir uns vorstellten, war nach meinem Hogwarts-Haus. Damit war alles entschieden. Sie war Slytherin und ich eine Mischung aus Hufflepuff und Ravenclaw. Milan gehörte nach Gryffindor, was Janine nur mit einem Rümpfen der Nase kommentierte. Als würden ihre Häuser auf sie abfärben, hatten beide sich von der ersten Minute an ständig in den Haaren. Sie führten eine Art Hassfreundschaft - nur um dann doch, wenn die Situation es erforderte, wie Pech und Schwefel zusammenzuhalten.

»Das ist keine Hollywood-Teenie-Komödie, außerdem sind nicht alle volljährig«, warf Milan ein und zeigte seine weißen Zähne mit einem Haifischgrinsen.

Auf die Berufsfachschule gingen Schüler verschiedenster Altersstufen. Je höher der Abschluss eines Bildungszweiges, desto älter die Mitschüler. In unserer Klasse waren sogar einige wenige Schüler, die erst noch die Volljährigkeit erreichen mussten. Daher war der Ausschank von Alkohol auf dem Ball strikt verboten.

Milan wurde nicht müde zu betonen, dass er keine große Lust auf den Ball hatte. Viel lieber würde er sich heute wieder mit einem Headset an seinen Rechner setzen und die Revanche einfordern, die ich ihm von gestern noch schuldig war. Ich hatte zwar ein Ziel an diesem Abend, Milan dagegen nicht. Er war wie Janine ohne Verabredung unterwegs, was nicht daran lag, dass er von niemandem eingeladen worden wäre. Er machte alles nur mit, um mir eine Unterstützung zu sein, und das rechnete ich ihm hoch an. Dafür seien Freunde da, meinte er noch, bevor wir in das Auto meiner Mutter stiegen. Vielleicht stimmte das, aber das bedeutete nicht, dass ich ihm gegenüber keine Dankbarkeit empfinden sollte.

Janine hatte sich freudig bereit erklärt, die erste Fahrt zu übernehmen. Ich wäre für die Rückfahrt verantwortlich, da ich in der Regel keinen Alkohol zu mir nahm. Janine selbst konnte keinen gesellschaftlichen Anlass ablehnen und kam aus Spaß am Feiern mit.

Sie schürzte auf Milans Einwand hin die Lippen, und mir fiel es schwer, mich vom Beifahrerplatz aus auf die Straße zu konzentrieren. »Milan, du bist so eine Spaßbremse!«

»Warum? Weil ich es unnötig finde, Alkohol auf eine Party zu schmuggeln, die von der Schule ausgerichtet wird, auf der Minderjährige sein und sicherlich auch einige Lehrkräfte aufwarten werden, die ich dann nach dem Sommer in der Fachhochschule weiterhin ertragen muss?«

»Genau darum mag niemand Gryffindor«, zischelte sie und schaute in den Rückspiegel.

»Bullshit! Man muss nun mal tun, was nötig ist. Darum haben Hermine, Ron und Harry, die alle drei unfassbar coole Gryffindors sind, die Welt vor Voldemort gerettet.«

Während ich mir ein Lachen verkneifen musste, warf Janine Milan erneut einen giftigen Blick vom Fahrersitz aus zu, den er durch den Rückspiegel genießen durfte. Ich grinste vor mich hin. Solange sie mich nicht so ansah, fand ich das alles außerordentlich witzig.

»Findest du das nicht etwas sehr melodramatisch, die Rettung der Welt mit dem Ausschenken von Alkohol zu vergleichen?« Janines Tonlage allein ließ Milan deutlich hörbar seufzen.

»Nein, überhaupt nicht.« Um seine Worte noch zusätzlich zu unterstützen, schüttelte Milan den Kopf.

»War ja klar«, meinte sie murmelnd, und ich lachte leise, während sie Milan weiterhin böse Blicke zuwarf.

Mein bester Freund blieb unbeeindruckt von Janines Versuch, ihn in Grund und Boden zu starren. Milan war sehr bodenständig und sein Verstand auf Vernunft ausgelegt. Allem, was ihm unlogisch erschien, ging er aus dem Weg. Seine forschenden hellbraunen, fast bernsteinfarbenen Augen huschten neugierig in der Welt umher, und seine dunklen, an den Seiten kurz geschnittenen Haare ließen die Mädchen schwach werden. Während ich eher als übergewichtig einzuordnen war, galt Milan als schlaksig. Er war sehr groß, was ihn langgezogen wirken ließ. Den Eindruck unterstrich er noch mit seinen ausgebeulten Hoodies, bedruckt mit witzigen Sprüchen. Trotzdem war sein eher sehniger Körper muskulöser, als es auf dem ersten Blick den Anschein hatte. Er hatte nur zwei äußerliche Makel, und das waren seine leicht schiefe Nase und eine feine, verblasste Narbe auf der Wange.

Als Kinder waren wir auf dem Spielplatz zu übermütig gewesen. Während wir gewetteifert hatten, wer denn am höchsten schaukeln und am weitesten abspringen konnte, hatte Milan das Gleichgewicht verloren, war mit dem Gesicht voraus im Sand gelandet, hatte einen Stein getroffen und sich im Alter von fast sechs Jahren die Nase gebrochen. Nun litt er an einer schiefen Scheidewand, was ihn mitunter nasal klingen ließ, und an einer etwas aus der gradlinigen Form geratenen Nase. Das tat seiner Beliebtheit allerdings keinen Abbruch, sondern ließ ihn noch interessanter auf andere wirken. Die Mädchen buhlten um seine Aufmerksamkeit, und die Jungs verstanden sich prächtig mit ihm, da Milan sich gut anpassen konnte. Seine Kunst war es, genauso viel von sich preiszugeben, um bei anderen Interesse zu wecken, aber niemals zu viel zu verraten, damit ihn niemand einnehmen konnte. Nicht einmal ich wusste um alle seine tiefen Geheimnisse, auch wenn ich der Meinung war, ihn wirklich gut zu kennen.

»Ich finde dennoch, dass allen etwas Alkohol nicht schaden würde. Vielleicht nehmen dann auch die Lehrer ihren Stock aus’m Arsch.« Janine lenkte ihren Blick auf die Straße.

Wir lebten in Brunsbüttel, einem kleinen Küstenstädtchen im Norden Deutschlands. Irgendwo im Nirgendwo im Kreis Dithmarschen, ungefähr knapp einhundert Kilometer von Hamburg, dem Tor zur Welt, entfernt. Unsere Schule befand sich in der nächsten größeren Ortschaft, landeinwärts. Auch wenn diese Stadt fast doppelt so groß war wie unsere Heimat, hatten beide Städte eines gemeinsam: Sie starben einen langsamen Tod. Das war nicht ungewöhnlich. Die meisten kleinen Dörfer zogen wegen der Verlockungen der Großstädte den Kürzeren und verpassten den Anschluss. So war alles in einem ewigen Wandel.

Milan lachte leise. »Ich habe auch nicht gesagt, dass es ihnen schaden würde, und mit dem Stock im Arsch gebe ich dir sogar recht. Ich sagte nur, dass es nicht schlau wäre, den wenigen Minderjährigen Alkohol unter der Nase von Lehrern auszuschenken.«

Wieder seufzte Janine. »Du bist so ein Spießer.«

»Dennoch habe ich recht.«

»Ja, ja«, murrte sie erneut, lehnte sich zurück und legte beide Hände aufs Lenkrad. »Und wie soll der Abend nun ablaufen?«

»So wie alle gesellschaftlichen Anlässe, an denen wir die letzten zwei Jahre teilgenommen haben«, gab ich zurück.

Sie nickte. »Also uns da blicken lassen, jedem, den wir kennen, zuwinken, dann uns in eine Ecke setzen, während wir über die neuste Folge ‚The Walking Dead‘ fachsimpeln -«

»Was wir auch zu Hause hätten machen können«, warf Milan ein.

»Um dann irgendwann vor Langeweile wieder nach Hause zu fahren?« Janine ließ sich von Milan nicht beirren.

»Aus eurem Mund klingt das sehr negativ.«

»Ach, was du nicht sagst«, meinte sie ironisch und streckte mir verspielt die Zunge raus, woraufhin ich mit den Augen rollte.

»Außerdem wird es kaum ‚The Walking Dead‘ sein, worüber das diskutieren.« Meinen gönnerhaften Ausdruck in der Stimme konnte ich kaum verbergen.

»Ach, und warum?«

»Weil wir die ganzen Episoden schon längst analysiert haben. Wir befinden uns im Sommerloch, liebe Nine.«

»Erstens lenkst du ab, und zweitens war das nur ein Beispiel«, konterte sie. Sie hatte ja Recht und ich verstand ihren Einwand, auch wenn ich ihn etwas ins Lächerliche gezogen hatte. Keiner von uns war eine Partymaus, auch wenn Janine es genoss, ab und an im Mittelpunkt zu stehen und Spaß zu haben. Es gab so gesehen keinen Grund, bei diesem Abschlussfest aufzutauchen. Wir hätten uns auch einen gemütlichen Filmabend mit Snacks und Netflix machen können. Sie taten es für mich. Für meine Chance, den besten Abend meines bisherigen Lebens zu haben.

Vielleicht wurde der Abend interessant, wenn sich die Abschlussklassen der verschiedenen Bildungszweige in der vor Schweiß und Käsefüßen stinkenden, schuleigenen Sporthalle trafen, damit sie Fahrgemeinschaften mit Menschen bilden konnten, die sich wenn überhaupt flüchtig kannten, um dann ins sogenannte Colousseum in Wilster zu fahren. In dem ich noch nie gewesen war und von dem ich nur wusste, dass dort am Wochenende gerne Partys veranstaltet wurden. Wenn ich an ein Colosseum dachte, dann kam mir das in Rom in den Sinn. Mit altrömischen Gladiatorenkämpfen würde der Abschlussball hoffentlich nicht viel gemeinsam haben. Man hätte sich auch dort treffen können, anstatt diesen Umweg zu nehmen, denn die kleine Stadt befand sich genau auf dem Weg, wenn man über die Landstraße fuhr. Aber irgendjemand aus den anderen Zweigen hielt es für eine tolle organisatorische Idee, diese Fahrgemeinschaften zu bilden, damit niemand ausgegrenzt wurde, der kein Auto oder noch keinen Führerschein besaß.

»Also, Lucien?« Janine sah zu mir.

Ich brummte.

»Wirst du heute Nägeln mit Köpfen machen?« Wissend zuckten ihre Augenbrauen, während sie mich mit einem schelmischen Grinsen betrachtete.

»Vielleicht«, wich ich aus. Wenn ich jetzt ein Versprechen abgab, würden mich beide nicht in Ruhe lassen, ehe ich es auch umsetzte.

»Vielleicht?« Janine schnaubte. »Ich dachte, dafür machen wir das alles?«

»Als ob wir dich hätten überreden müssen, zu dem Ball zu gehen.« Ich wurde wieder miesepetrig.

»Darum geht es nicht. Ich komme gerne mit, um dir den Rücken zu stärken. Damit du dir mal was zutraust.«

»Vielleicht übernimmt ja Lena das Ruder«, warf Milan ein.

»Ich glaube so langsam, das wäre auch das Beste«, murmelte sie.

Ich schnaubte und tat auf pikiert. »Als ob jemand so Gutaussehendes wie Lena auf mich warten würde.«

Beide gingen auf diese Äußerung nicht ein, sondern taten erfolgreich so, als hätte ich nichts gesagt. Meine Ausbrüche von Unsicherheit ignorierten sie meistens, außer dann, wenn sie merkten, wie schlecht es mir ging.

»Sie wird dich heute Nacht mit Haut und Haaren verschlingen. Wenn sie dich erstmal in diesem Smoking zu sehen bekommt …« Janine ließ den Satz offen und ich schnaubte.

»Als ob …«, meinte ich als schwaches Gegenargument und bemerkte flüchtig zwei äußerst zufrieden dreinschauenden besten Freunden. »Ich hasse euch«, merkte ich an, konnte mir ein leichtes Lächeln aber nicht verkneifen, und beide lachten.

Lena war in meinen Augen wundervoll und das schönste Mädchen, welches ich je begegnen durfte. Das war wohl bei jedem so, der ein romantisches Interesse an einem anderen Menschen hatte. Man erkannte die Perfektion der Schöpfung in dieser Person, die man bei sich selbst nie wahrnahm.

Sie war etwas kleiner als ich, hatte blonde Haare, die an einen Engel erinnerten. Ihre Augen waren strahlend blau, und ihr Gesicht zierte eine süße Stupsnase. Ihre porzellanweiße Haut, der sinnlich geschwungene Mund, der zum Küssen einlud, und ihre feinen Hände waren für mich ein Ausdruck von Sinnlichkeit, in dem ich mich verlieren konnte. Das alles waren ihre körperlichen Vorzüge. Doch was mir weiche Knie bescherte, waren ihre angenehm ruhige, aber melodische Stimme und ihre Intelligenz. Einzig Milan hatte mich von meinem Plan abhalten können, eine Online-Petition zu starten, dass Lena sämtliche Hörbücher neu einsprechen sollte, die es auf dem Markt gab und deren Geschichten mich interessierten. Denn ich konnte ihr Stunde um Stunde zuhören, wenn sie mir etwas erzählte. Ihr Wissen über Naturwissenschaften, Geschichte und Literatur bescherte mir eine Gänsehaut.

Noch waren wir keine engen Freunde, eher Kollegen, die gemeinsam in eine Klasse gingen und manchmal vor dem Unterrichtsraum, wenn wir auf den Lehrer warteten, die Zeit mit Gesprächen totschlugen. Oftmals beließen wir es bei einem oberflächlichen Geplänkel, redeten über das Wetter oder tauschten unsere Ansichten über den banalen Schulstoff aus, der uns im weiteren Leben ohnehin nichts bringen würde. Wenn sie lachte, klang es wie helle Glockenschläge einer uralten Turmuhr, die einem durch Mark und Bein gingen und ein Gefühl von nach Hause kommen bescherten.

Da ich sehr schüchtern und unsicher war, hatte ich mich die ganzen Monate nicht getraut, den ersten Schritt zu tun und Lena schien das nichts auszumachen, was mir nicht gerade half, über meinen Schatten zu springen.

»Wie willst du das heute Abend angehen?« Nach einer Weile des Schweigens ergriff Janine das Wort. Ich war so in Gedanken, dass es mir gar nicht aufgefallen war, dass zuvor niemand mehr ein gesprochen hatte.

»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zurück.

»Einfach auffordern.« Milans Ratschlag war das Ergebnis einer für ihn logischen Schlussfolgerung.

»Wäre es nicht merkwürdig, wenn ich eines der beliebtesten Mädchen in der Klasse zum Tanz auffordern würde?«

»Sollte es jemanden stören, sind immer noch wir da und geben dir Deckung.« Milan strahlte eine fast ansteckende Selbstsicherheit aus.

Ich nickte und spürte, dass mir langsam die Argumente ausgingen, die gegen den Tanz sprachen.

Janine hielt an der letzten Ampel, die uns von der Schule trennte. Noch nie war mir eine halbstündige Autofahrt so kurz vorgekommen. Nun verschwor sich auch noch mein Zeitgefühl gegen mich.

»Ihr seid die Besten.«

»Wissen wir.« Milan grinste und zwinkerte mir vom Rücksitz aus zu.

 

Unsere Klasse traf sich vor dem Colosseum. Wir redeten und warteten, lachten und tauschten uns aus, bis sich alle einfanden. Eigentlich stand ich eher Abseits und sah dabei zu, wie sich Milan und Janine mit den anderen unterhielten, sich auf die Schulter klopften und kurz umrissen, was sie in den Sommerferien unternehmen würden. Dieses Smalltalk-Geplänkel war nichts für mich. Es interessierte mich einfach nicht, was die anderen planten, wie es ihnen ging und ob sie Lust auf diesen Abschlussball hatten. Es dauerte nicht lange und meine beiden Freunde kamen zu mir. Auf Milans Gesicht erkannte ich das für ihn typische feixende Grinsen.

»Warum grinst du so?«, fragte ich ihn argwöhnisch.

»Lena ist auf dem Ball.« Mit einem Augenbrauenzucken grinste mein bester Freund, den ich gerade nicht ausstehen konnte.

»Na und?« Ich tat, als würde mich das alles nichts angehen, dabei schlug mir mein Herz bis zum Hals.

»Ach, ich dachte nur, du würdest das wissen wollen.«

Ich schnaubte als Antwort und Milans Grinsen zog sich nun von einem Ohr zum nächsten.

Schließlich betraten wir die Feier und waren beeindruckt. Zugegeben, die Dekoration hätte wirklich aus den von Janine so geliebten amerikanischen Teeniefilmen stammen können. Luftballons in Blau und Lila hingen von der Decke, in der Mitte zeigte sich eine übergroße Discokugel, und das gedämpfte, leicht bläuliche Licht schaffte eine besondere Atmosphäre. Es war, als befände ich mich wie in einer anderen Welt. Luftschlangen, Girlanden und Konfetti rundeten das Bild ab. Obwohl alles auf den ersten Blick kitschig amerikanisch wirkte und überladen war, fühlte ich mich nach kürzester Zeit sehr wohl.

Zu der Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, würde sich gut tanzen lassen, und der Bass ging einem durch den ganzen Körper. Einzig die leicht stickige Luft würde mir sicherlich Probleme bereiten.

»Ich hole mir etwas zu trinken. Wollt ihr auch was?« Milan sah uns beide fragend an und ich nickte. Warum nicht?

»Eine Cola!«

»Für mich auch«, gab Janine von sich, und ich konnte beobachten, wie sie die Mitschüler mit ihren Blicken nacheinander abcheckte.

Ich spürte regelrecht, dass sie sich ins Getümmel werfen wollte. »Du brauchst nicht den ganzen Abend bei mir zu bleiben. Amüsier dich ruhig.«

»Nicht solange du deinen Plan nicht umgesetzt hast.«

»Nine, komm schon! Das ist nicht dein Ernst. Ich brauche keinen Babysitter.«

»Schnack nich! Ich bin nicht dein Babysitter«, meinte sie leicht entrüstet.

»Dann benimm dich nicht wie einer und hab Spaß.« Mit einer verscheuchenden Geste wollte ich sie dazu bringen, sich von mir zu lösen. Nur weil sie mir den Rücken stärken wollte, brauchte sie nicht auf ihren Spaß zu verzichten.

Sie zeigte deutlich ihren Widerwillen, doch die Entschlossenheit in meinem Blick musste sie umgestimmt haben.

Schließlich nickte sie, klopfte mir auf die Schulter und verschwand vorerst in der Menge. Unsere Wege würden sich wieder kreuzen. So groß war die Feier nun auch wieder nicht.

Nach einigen Momenten tat ich es ihr nach und ging Milan entgegen, der drei kleine Flaschen Cola durch die Mitschüler balancierte, von denen ich ihm eine abnahm. Sie war gekühlt, das kondensierte Wasser hatte das Glas der Flasche von außen benetzt, und ich bekam an den Unterarmen eine Gänsehaut.

»Wo ist Janine?«

»Ich habe sie zu ihrem Vergnügen gezwungen.«

Milan lachte, nickte und sah sich mit mir um. Nicht weit entfernt standen drei Mädchen, von denen ich wusste, dass sie den Abschluss im sozialpädagogischen Zweig gemacht hatten. Ihre Aufmerksamkeit lag einzig auf Milan, was mich lächeln ließ. Ihm schien das nicht aufzufallen, denn er ließ den Blick weiter schweifen.

»Du wirst beobachtet.« Ich nickte in die Richtung und er folgte meinem Blick.

Freundlich lächelte er den Mädchen zu, um sich dann wieder mir zu widmen. »Ich habe kein Interesse.«

»Ich habe es schon zu Janine gesagt, habt doch Spaß.«

»Habe ich, Lucien. Ich hab keine Lust auf einen oder mehrere Flirts. Da wird eh nichts draus.«

Ich seufzte, bedrängte meinen besten Freund aber nicht weiter. Letztlich war es seine Entscheidung, und da hatte ich ihm nicht reinzureden.

»Hey, schön, dass du gekommen bist.«

Ich verschluckte mich beinahe an meiner Cola, als ich diese weiche Stimme an meinem Ohr vernahm. Sofort fing mein Herz an zu pochen, meine Hände schwitzten, und über meinen Rücken zog sich eine angenehme Gänsehaut, die mich dennoch frösteln ließ. Obwohl – oder gerade weil - mir klar war, wen ich hinter mir sehen würde, drehte ich mich neugierig und aufgeregt um.

»Hey Lena«, kam es aus meinem trockenen Mund, weswegen ich sogleich einen Schluck von meiner Cola nahm. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Milan, der uns beide neugierig mit Blicken taxierte, anfing zu lächeln.

»Hier.« Milan reichte Lena die Cola, die er eigentlich für Janine mitgebracht hatte. »Keine Sorge, ich hab sie geholt, die ist koscher.«

Lena nahm sie dankbar an.

»Ich gehe mal woanders hin, damit ihr beide reden könnt.«

Ich sah ihn noch zwinkern, dann war er in der Menge aus überwiegend fremden Gesichtern verschwunden.

»Sehr zuvorkommend von ihm.«

Noch immer bekam ich nicht mehr, als ein Grinsen zustande.

»Ja, oder?«, würgte ich hervor, um nicht komplett wie ein Vollidiot zu wirken.

»Weißt du, ich dachte, wenn ich noch länger darauf warte, dass du den ersten Schritt machst, ist das Jahr vorbei und die Chance vertan.« Ihr Lächeln sandte leichte Stromstöße durch meinen Körper und mit einem Mal war mein schüchterner Schwarm gar nicht mehr unsicher. Ich dagegen bekam Herzrasen und konnte mich kaum noch an meinen Namen erinnern.

»Ich … äh …«

»Ja, man hatte mich schon vorgewarnt, dass du am Anfang nicht sehr elegant mit Worten bist.«

»Was? Wer sagt das?« Mein Gesicht fing Feuer, und ich wollte am liebsten im Erdboden verschwinden.

»Milan.«

»Du hast mit meinem besten Freund über mich gesprochen?«

»Ja«, meinte Lena und zuckte mit den Achseln, als wäre das nichts Besonderes. »Wieso? Stört es dich?«

»Etwas«, gestand ich ein.

»Zugegeben, es ist nicht unbedingt die eleganteste Art, einen Menschen besser kennenzulernen. Aber du hast immer wie ein scheues Reh im Scheinwerferlicht gewirkt und bist meistens meinen Blicken ausgewichen. Ich hätte dich natürlich auch ansprechen können, nur irgendwie traute ich mich dann nicht mehr.«

Ich schluckte schwer bei dem Gedanken daran, dass ich Lena mit meiner Unsicherheit beinahe vertrieben hätte. »Das tut mir leid.«

»Muss es nicht«, entgegnete sie schnell.

Wir sahen uns an, und ich wusste nicht, worüber wir reden sollten. Alles wirkte so unwirklich auf mich, als befände ich mich in einem meiner vielen Tagträume.

»Willst -«

»Würdest du -«

Wir lachten beide, als wir tatsächlich gleichzeitig anfingen, das Gespräch wieder zum Laufen zu bringen.

»Du zuerst«, meinte ich bestimmend.

»Ich wollte dich fragen, ob du beim nächsten Lied mit mir tanzen möchtest.«

»Ist dir das gar nicht unangenehm?«

»Warum sollte es das?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, eine nervige Angewohnheit, die zum Vorschein kam, wenn ich mich unsicher fühlte - was die meiste Zeit der Fall war. »Vielleicht, weil du das beliebteste Mädchen aus unserem Jahrgang bist?«

Lena lachte, nahm den letzten Schluck von der Cola, die Milan ihr gereicht hatte, stellte sie außer Reichweite auf einen der an den Wänden stehenden Tische und ergriff meine Hand. »Es ist mir egal, was die anderen denken könnten. Und du solltest auch aufhören, dir ständig deinen Kopf darüber zu zerbrechen.«

Nun lächelte auch ich, stellte meine Cola ebenfalls weg und genoss das Gefühl von ihrer Hand in meiner. Sie hatte Recht. Wer sollte sich an uns stören und wenn es jemand tat, ging es uns etwas an?

Mit einer beherzten Bewegung wirbelte ich sie lachend herum. Da ich einige Zentimeter größer war, fiel es mir sehr leicht, sie aufzufangen und zu führen.

»Du bist ein wirklich guter Tänzer.« Die Überraschung in ihrer Stimme war für mich schmeichelnd. Vermutlich wirkte ich aufgrund meines stämmigeren Körperbaus nicht gerade wie jemand, der sich geschmeidig bewegen konnte. Und die Vermutung war gar nicht so falsch. Tatsächlich war ich ein sehr tollpatschiges Kind gewesen. Meine Mutter hatte mich dabei unterstützen wollen, selbstbewusster durchs Leben zu gehen. Mit geschwellter Brust, erhobener Nase und einem siegessicheren Grinsen. So weit war es dann nicht gekommen, aber sie hatte mir früh das Tanzen beigebracht. Im Wohnzimmer, zu den Oldies der Achtziger und Neunziger Jahre. Es hatte viel Spaß gemacht, und heute war ich dankbar für diese Momente.

Lenas Nähe war berauschend und wunderschön. Ihr Körper fühlte sich zart und wertvoll an. Ich wollte sie einfach nur auf Händen tragen, egal wohin das Leben uns führen würde. Sie war das Kostbarste, was ich jemals berühren durfte, und ich zog sie an mich. Ihr weiches Lächeln entflammte erneut mein Herz. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr wenden. Langsam beugte ich mich zu ihr. Schmiegte mich sanft an sie. Wir waren uns so nah, dass meine Stirn ihre berührte. Aus den Lautsprechern ertönte ein langsamer, romantischer Song. Ich verfiel dem Moment meines Glückes.

Ihre Atmung war nahe an meiner Halsbeuge. In weichen Wellen wehte mir der wunderbare Duft ihres Haares entgegen. Ihre Hand lag auf meiner Hüfte, meine auf ihrem Rücken, und unsere Finger waren zu einem Ganzen verwoben. Es war perfekt. Sie war perfekt. Ungläubig überkam mich die Gewissheit, dass ich in ihrem Leben eine Bedeutung hatte.

»Nach dem Ball, vielleicht in einigen Tagen, würde ich dich gerne meiner Familie vorstellen«, ihre Worte waren ein leises Seufzen. Ich versteifte mich kurz.

»Ich weiß«, meinte sie schnell auf meine Reaktion hin, »das ist plötzlich und geht weit über ein erstes Date hinaus. Aber ich habe meinen Eltern schon so viel von dir erzählt, dass sie es gar nicht erwarten können, dich kennenzulernen. Und da dachte ich, man könnte den unangenehmen Teil schnell hinter sich bringen.«

Nun konnte ich nicht anders, als leise zu lachen. »Okay«, stimmte ich nickend zu und konnte fühlen, wie sich ihr Körper wieder unter meinen Fingern entspannte. »Lass uns das Wann die nächsten Tage absprechen. Ich freue mich darauf, deine Eltern zu treffen.«

Sie nickte, und ich schloss meine Augen, lehnte meine Wange gegen ihren Kopf und ließ mich in den Moment voller Glückseligkeit fallen.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

KAPITEL 02

 

 

 

 

»Wir sehen uns dann, versprochen?«

Lenas warme Hand glitt über meine Wange, und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ich wusste nicht, wie andere solche Momente wahrnahmen, aber für mich war es, als wäre ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Vielleicht ein Klischee, aber genauso fühlte es sich an.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden und mit einem breiten Grinsen machte ich mich auf den Weg zu Janine und Milan, die am Auto auf mich warteten. Erst als ich nur noch Lenas Silhouette schwach erkennen konnte, verlor ich sie aus den Augen.

»Du siehst so widerlich verliebt aus, dass ich gleich Karies krieg«, neckte mich mein bester Freund, wobei ich Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen, weil er tatsächlich lallte. Ich runzelte die Stirn. Obwohl es vorher noch er gewesen war, der sich für Regelkonformität in Anbetracht der minderjährigen Ballgäste ausgesprochen hatte, schien er bereitwillig tief ins Glas geschaut zu haben.

»Ach, halt den Mund.« Dann musste ich lachen und Milan stimmte mit ein. Seine Worte wurden durch seine ausgelassene Art Lügen gestraft. Daher entspannte ich mich und stieg auf der Fahrerseite ein.

Dass es trotz des Verbotes seitens der Schule, Alkohol für unseren Jahrgang auszuschenken, welchen gegeben hatte, war mir aufgefallen. Anders als mein bester Freund und Janine hatte ich den Abend über jedoch keinen Tropfen angerührt, darum übernahm ich das Steuer. Zumal es so auch von Anfang an abgesprochen war.

Mein Blick glitt wieder zu Lenas Umriss, der sich bisher nicht von der Stelle bewegt hatte. »Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie mit uns fahren möchte?«

»Tu dir keinen Zwang an.« In Janines Stimme konnte man ein breites Lächeln hören.

Ich atmete tief durch, stieg aus und ging schnellen Schrittes zu Lena. Mir widerstrebte es, ihr mitten in der Nacht quer über den Parkplatz zuzurufen, während um uns herum die Menschen schliefen.

»Hast du was vergessen?« Auf ihren Lippen zeichnete sich ein keckes Grinsen ab, und ich fühlte erneut, wie meine Wangen brannten. Manchmal wollte ich mich für meine Unsicherheit rügen. Das würde aber nichts bringen, denn sie war ein Teil von mir, den ich akzeptieren musste. Über die Jahre war ich bereits einen langen Weg gegangen. Einst hatte ich kein Wort mit einem Mädchen sprechen können und mich immer an Milan gehalten, heute war ich offener. Trotzdem musste ich lernen, auch diese Seite an mir anzunehmen. Ohne diesen Schritt wäre es mir nicht möglich, weiterhin an mir zu arbeiten.

»Ja … Nein! Ich wollte dich fragen, ob wir dich nach Hause bringen sollen. Ich habe nichts getrunken und bin daher als Fahrer besser geeignet als die beiden, die uns gerade beobachten.« Am liebsten hatte ich über mich den Kopf geschüttelt, weil ich so viel redete. Leise räusperte ich mich, hoffend, sie würde meine Unsicherheit nicht bemerken, und deutete mit einer Kopfbewegung zum Auto. Auch wenn ich ihre Gesichter nicht erkennen konnte, wusste ich, dass Janine und Milan uns eindringlich im Auge behielten. Freudig sah ich, dass Lena tatsächlich über mein Angebot nachdachte. Es vergingen ein paar qualvolle Sekunden, und ich wollte mein Angebot schon zurückziehen und mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen, als sie mich erlöste und zustimmte.

»Klar, warum eigentlich nicht? Dann brauche ich meinen Bruder nicht aus dem Bett zu klingeln. Der muss nämlich morgens früh raus.«

»Auch am Wochenende?«

»Leider. Daher bin ich immer dankbar, wenn ich ihn schlafen lassen kann.«

Ich zeigte ein verständnisvolles Lächeln, wollte auch nicht weiter nachbohren und ging mit ihr stillschweigend zum Auto zurück. Milan, der unterdessen auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, stieg heftig wankend aus und rutschte auf den Rücksitz. Ich lächelte ihm dankbar entgegen, was er nur mit einem schelmischen Grinsen und einem Zwinkern kommentierte. Lena kam der stummen Aufforderung nach, und bald saß ich neben dem in meinen Augen schönsten Mädchen der Schule im Auto. Während Milan den Kopf direkt mit geschlossenen Augen an die Scheibe lehnte, um zu dösen, die Arme dabei vor dem Körper verschränkt, war Janine nicht betrunken genug, um meine verliebten Blicke zu ignorieren. Ich war dankbar, dass sie ihre Spitzen, von denen ich wusste, dass sie ihr auf der Zunge lagen, für sich behielt.

 

Zuerst fuhren wir schweigend und ließen die Stadt hinter uns. Vor uns erstreckte sich die Landstraße, auf der in großen Abständen Straßenlampen den Weg erleuchteten.

»Alter! Du kriechst über die Landstraße. Nun gib schon Gas, Mann!«

»Es ist mitten in der Nacht und stockdunkel!«, verteidigte ich mich und hätte Milan den Mittelfinger gezeigt. Das tat ich nur nicht, weil ich mich vor Lena nicht vulgär oder wie ein Kind benehmen wollte, aber mein bester Freund hätte es verdient.

»Ja, aber ich würde schon gerne morgen früh in meinem Bett aufwachen.« Milan rüttelte an meinem Sitz. »Gib mal ein bisschen Gas«, wiederholte er seine Aufforderung. Bei zu viel Alkohol kristallisierten sich bei Milan zwei Reaktionen heraus, entweder er schlief oder er wurde so unruhig, dass er nicht mehr stillsitzen konnte.

Ich seufzte, folgte aber seiner Aufforderung und trat etwas mehr aufs Gaspedal. Der Motor röhrte auf, und Milan klatschte in die Hände, als hätte ich einen wilden Löwen bezwungen. »That‘s my boy!«

»Ihr seid wirklich wie ein altes Ehepaar«, gab Lena mit einem Kichern von sich, welches sie hinter ihrer vorgehaltenen Hand verbarg.

»Sind wir gar nicht«, hörte ich Milan von der Rückbank aus murmeln.

»Doch, Schätzchen, sind wir. Damit musst du leben«, meinte ich feixend, was mit einem Schnauben beantwortet wurde. Ich wollte die Situation auflockern, und obwohl er mich gerade nervte, hoffte ich, dass etwas mehr Tempo und ein witziger Spruch ihn zufriedenstellen und wieder einpennen lassen würden.

Man konnte Lena erneut leise lachen hören, bis wir wieder in Schweigen verfielen. Die Gegend zog an uns vorbei, und ich wusste nicht, womit ich die Stille hätte durchbrechen können. Hinter mir hörte ich ständiges Rascheln, so als würde Milan auf seinem Sitz auf und ab wippen.

Die Nacht war lang, und mir kam es vor, als würden wir uns kaum von der Stelle bewegen, obwohl das Auto immer schneller fuhr. Die Müdigkeit kroch mir in die Knochen, und ich konnte Milan allmählich zustimmen. Auch ich wollte in mein Bett und von diesem Abend träumen.

»Das ist ja eine Totenstille hier. Kaum auszuhalten, ey!« Von hinten hörte ich es erneut rascheln, und kurz darauf beugte sich Milan über meine Schulter hinweg, um an das Radio zu kommen. »Im Leichenschauhaus ist mehr Stimmung.«

Ich erschrak, und der Wagen geriet ins Schlingern. Milan kam ins Rutschen, verlor den Halt und fiel mir beinahe auf den Schoß.

»Bist du verrückt geworden?!«

Durch den Rückspiegel konnte ich sehen, wie Milan den Mund öffnete und etwas erwidern wollte. Dazu kam er aber nicht, denn ich versuchte ihn wegzudrücken, damit ich die Straße wieder sehen konnte. Meine Arme und Beine zitterten, und mein Herz raste, Panik kroch in mir hoch. Milan hatte Mühe, wieder Halt zu finden, und ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass Lena ihm half. Durch seine vom Alkohol hervorgerufene Unruhe rutschte er immer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Katarina Jensen
Bildmaterialien: VerisStudio
Cover: Katarina Jensen
Lektorat: Jacqueline Schiesser
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1644-9

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