In jedem Jahr ist der erste Sonntag im Mai für meinen Vater etwas ganz Besonderes. Dann steht bei uns der Bürgermeister im Wohnzimmer, drückt meiner Mutter einen Blumenstrauß in die Hand und meinem Vater seinen herzlichen Dank aus. Dafür, dass unsere Straße, der „Lerchen-auf-Lärchen-Weg“ auch im vergangenen Jahr wieder die schönste Straße der Stadt gewesen sei. Mein Vater wirft sich dann jedes Mal mächtig in die Brust, wird immer von demselben Pressefotografen abgelichtet und lässt für mindestens zwei Wochen das Grinsen nicht mehr sein. Er ist der Erste Vorstandsvorsitzende des Vereins „Der Lerchen-auf-Lärchen-Weg soll schöner werden“, eines Vereins, den er selbst vor fünfzehn Jahren ins Leben gerufen hat.
Seitdem putzt meine Mutter jedes Jahr Anfang Mai das Haus besonders gründlich, in Erwartung des bürgermeisterlichen Besuchs. Warum sie das ganze Haus putzt, weiß ich nicht, der Bürgermeister bleibt immer nur im Wohnzimmer. Nicht lange, übrigens, denn er hat noch andere Termine.
Das ganze Jahr hindurch sieht unsere Straße toll aus, da kann man nicht meckern. Die Vorgärten sind gepflegt, die Obstbäume beschnitten, die Haustüren frisch gestrichen. Alle Nachbarn bemühen sich nach Kräften und mein Vater hilft, gibt Tipps, kontrolliert, beruft Versammlungen ein, schraubt und pinselt, wann immer Not am Mann ist.
Am großartigsten ist ohne Zweifel die Vorweihnachtszeit. Da strahlt der „Lerchen-auf-Lärchen-Weg“ in einem Meer aus abertausenden von Lichtern. Pappmaché-Rentiere, gebettet auf künstlichen Schnee, stehen bereit, all die auf den Dächern verteilten, aufgeblasenen Weihnachtsmänner in ihren Schlitten hinfort zu tragen. Zu Schneemännern übereinandergestapelte Glitzerkugeln winken elektrisch über den Gartenzaun und bunte LED-Lämpchen schreiben „Frohe Weihnachten“ an die Häuserwände. In unserem eigenen Garten steht sogar ein fast echtes Knusperhäuschen aus Plastik. Mit Hexe. Und Hänsel. Und Gretel. Die Leute kommen von weit her, nur um sich unsere Straße anzugucken in der Adventszeit. Es ist ein fantastischer Auflauf.
Letztes Jahr im Juli passierte dann die Katastrophe. Wirbels zogen weg und es sah lange Zeit so aus, als würde ihr Haus leer stehen bleiben. Die Männer des Vereins wechselten sich ab, den Rasen zu mähen und die Hausfassade in Ordnung zu halten, aber als die Weihnachtszeit näher rückte, wurden sie nervös. Sie machten schon Pläne, wie sie das Haus dekorieren könnten und wer von seinem Weihnachtsschmuck etwas abgeben würde, als sich doch noch ein Käufer fand. Allgemeines Aufatmen.
Mein Vater wurde vorgeschickt und ich musste ihn begleiten. Meine Mutter hatte uns einen Korb mit Brot und Salz in die Hand gedrückt, das gehöre sich so gesagt und uns zur Tür rausgeschoben. Jetzt standen wir da, in dem Vorgarten, in dem mein Vater alle Thujas akribisch auf eine Höhe gestutzt hatte und warteten darauf, dass jemand auf unser Klingeln reagieren würde. Ein Mann öffnete.
„Ja?“, fragte er. Er klang nicht erfreut über unseren Besuch.
Mein Vater stellte sich vor, überreichte den Korb und endete damit, dass er vom Verein erzählte. Der Mann hörte zu, runzelte die Stirn mehr und mehr und meinte schließlich sein Name sei Heilmeyer, Doktor Heilmeyer. Seine Frau und er seien hier hergezogen, weil ihnen versichert worden war, dass dies hier eine schöne, ruhige Gegend sei. Sie seien nicht daran interessiert, Kontakte zu knüpfen und sähen auch keine Veranlassung, einem Verein beizutreten. Er griff sich den Korb, dankte für den Inhalt und schloss die Tür direkt vor unserer Nase. Mein Vater stand wie vom Donner gerührt noch mindestens eine Minute vor der geschlossenen Tür und starrte den Briefkasten an, den er selbst noch vor wenigen Wochen gestrichen hatte. Er war völlig fertig. Zu Hause musste er sich erst mal hinlegen und war außer Stande meiner Mutter zu erklären, was vorgefallen war. Ich, der ich alles mit angesehen hatte, schilderte ihr die Begegnung.
„Aha, ein Doktor“, war der einzige Kommentar, den meine Mutter dazu abgab.
Auf der nächsten Vereinsversammlung hatte sich mein Vater wieder soweit gefangen, dass er den Nachbarn schildern konnte, was ihm widerfahren war. Seine Stimme zitterte. Es wurde lange beraten, wie weiter zu verfahren sei. Als erstes wurden die Fakten zusammen getragen. Man sah Herrn Doktor Heilmeyer jeden Morgen um halb acht das Haus verlassen und jeden Abend um sechs wiederkommen. Seine Frau verließ das Haus um zehn und kehrte bereits gegen drei zurück. Es wurde beschlossen, dass man mit ihr sprechen wolle, vielleicht wäre sie zugänglicher. Die Wahl des Diplomaten fiel auf meine Mutter.
Und so standen wir beide – meine Mutter hatte beschlossen, dass ich wieder mitkommen sollte – am nächsten Tag pünktlich um vier vor Heilmeyers Haus. Diesmal war sie es, die öffnete.
„Ja?“, sie war genauso unfreundlich wie er.
„Sie sind doch neu eingezogen und da dachte ich, Sie würden vielleicht gerne einen Kaffee trinken“, meine Mutter strahlte Frau Heilmeyer an.
„Nun, eigentlich…“
„Ach bitte, ja? Kommen Sie, ich habe auch Kuchen gebacken.“
„Na schön, warten Sie kurz“, Frau Heilmeyer nahm ein Schultertuch, warf es sich über und folgte meiner Mutter zu uns nach Hause.
Meine Mutter backt tolle Kuchen und man kann sagen, was man will, Frau Heilmeyer griff ordentlich zu. Nachdem sie die üblichen Nettigkeiten ausgetauscht hatten, kam meine Mutter auf das Wesentliche zu sprechen, den Verein.
Sie seien nicht daran interessiert, einem Verein beizutreten sagte Frau Heilmeyer und stellte die Tasse so hart auf die Untertasse, dass meine Mutter zusammenzuckte.
Sie wolle ja auch die „liebe Frau Heilmeyer“ gar nicht überreden, dem Verein beizutreten, aber es sei doch bald Weihnachten und das sei in der Straße immer etwas ganz Besonderes.
Sie feiere kein Weihnachten, versicherte Frau Heilmeyer, sie seien beide überhaupt nicht religiös und auch in keiner Kirche.
Meine Mutter war irritiert. Das habe doch auch gar nichts mit der Kirche oder der Religion zu tun, versicherte sie, es gehe doch um Weihnachten.
Jaja, meinte Frau Heilmeyer, das hätte sie schon verstanden. Weihnachten. Die Geburt.
Jetzt wurde meine Mutter ernstlich böse. Sie habe zwar in der letzten Zeit ein wenig zugelegt, aber dass sie schwanger aussehe, das habe ihr noch niemand gesagt.
Frau Heilmeyer versicherte, dass sie von Marias Schwangerschaft geredet habe.
Wir kennen keine Maria, die Versicherung beruhigte uns also nicht. Vielmehr war meine Mutter inzwischen davon überzeugt, dass Frau Heilmeyer ein paar Kästchen im Oberstübchen fehlten. Sie redete langsamer.
Es ginge in erster Linie darum, den Ruf zu wahren. Die Straße sei berühmt, die Leute kämen von weit her, nur um die schöne Dekoration zu bewundern.
Frau Heilmeyer riss die Augen auf, rief „Um Himmels Willen, bloß kein Weihnachtskitsch“ und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das war das erste Mal, dass ich tatsächlich gesehen habe, dass jemand das macht.
Frau Heilmeyer habe sie wieder missverstanden, so langsam war meine Mutter am Verzweifeln. Es ginge nicht um Kitsch, sondern um D-e-k-o-r-a-t-i-o-n, um Beleuchtung, Rentiere und Schneemänner.
Frau Heilmeyer sah aus, als ginge es ihr nicht besonders gut. Ihre Hautfarbe changierte ins Grünliche. Meine Mutter wolle damit aber nicht andeuten, dass die ganze Straße in der Adventszeit blinke und leuchte.
Meine Mutter strahlte. Endlich habe die „liebe Frau Heilmeyer“ sie verstanden. Genau so sei es, und man rechne fest damit, dass sich auch Heilmeyers an der Festbeleuchtung beteiligten.
Das war das letzte Mal, dass ich Frau Heilmeyer sah. Noch in derselben Woche stand der Möbelwagen in der Einfahrt des heilmeyerschen Hauses. Herr Krause von gegenüber, der mit seinem Dackel daran vorbeiging, sagte später, er habe Herrn Doktor Heilmeyer rufen hören: „Die sind ja alle irre hier“. Aber da kann man nicht sicher sein, Krause ist fast taub.
Schon eine Woche später sind Bilgers in das Haus gezogen. Tolle Leute, sieben Kinder, viel Sinn für Schönes. Herr Bilger ist inzwischen Zweiter Vorstand im Verein. Seine Idee auf den Dächern so viele Lichter anzubringen, dass wir noch aus dem Weltraum zu erkennen waren, fand begeisterte Zustimmung.
Ein bisschen schade ist nur, dass wir dieses Jahr nicht in Urlaub fahren werden. Wir müssen die Stromrechnung noch abbezahlen.
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2014
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