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Da saß er am Frühstückstisch und sah scheiße aus. Patrick presste angeekelt die Lippen aufeinander. Er hatte in der Nacht das Stöhnen gehört, aber dass der neue Stecher seiner Mutter jetzt hier am Tisch saß, war ungewöhnlich. Und schockierend. Und scheiße.
Der Kerl hatte den rosafarbenen Bademantel von Patricks Mutter an und ihre Plüschpantoffeln an den Füßen. Es hatte nie zuvor einen Menschen gegeben, der noch mehr nach einem Haufen Scheiße ausgesehen hatte als dieses Bespaßungsäffchen, das seine Mutter da aufgesammelt hatte.
Von dem Gesicht des Mannes war kaum etwas zu sehen, überall wuchsen Haare. Und wie der Patrick angrinste. Da konnte einem ja schlecht werden.
„Du bist sicher der Patrick, ne?“, fragte der Spacken jetzt. Was für eine Scheiß-Stimme. Eine Scheiß-Öko-Stimme, glasklar. Der Typ war sicher ein Hippie. Einer von denen, die am liebsten mit dem VW-Bus rumfuhren und Lieder am Lagerfeuer sangen. Wie er diese Typen verabscheute.
Patrick gab keine Antwort. Wozu auch? Außer ihm und seiner Mutter lebte niemand sonst in der kleinen Wohnung.
„Das ist Frank“, Patricks Mutter war im Nachthemd in die Küche gekommen und strich dem Hippie durch die fettigen, verfilzten Haare. Der grinste grenzdebil und fing an zu sabbern. Patrick hatte genug gesehen und drehte ab.
„Wo willst du denn hin?“
„In mein Zimmer“, seine Mutter konnte ja gerne mit dem Typen in der Küche rummachen, aber er musste ja nicht dabei zuschauen.
„Nein, bleib hier. Du hast doch noch gar nicht gefrühstückt.“
Patrick ergab sich in sein Schicksal. Er mochte seine Mutter wirklich gern und wollte ihr keinen Kummer bereiten. Sie hatte nur so einen verdammt schlechten Griff, was Männer anging. Schon sein Erzeuger war die wandelnde Katastrophe gewesen. Der Arsch hatte sie im vierten Monat verlassen. Sie und das ungeborene Baby. Patrick rechnete es seiner Mutter hoch an, dass sie ihn behalten hatte. Es war nicht immer leicht gewesen, weder die gesamte Situation, noch das Zusammenleben mit ihm. In der letzten Zeit hatte Patrick vermehrt Ärger gehabt, das war unbestritten. Die Pubertät hatte ihn voll erwischt. Aber dass jetzt dieser Pisser hier saß und abwechselnd an den Brötchen und seiner Mutter knabberte, wirkte sich auch nicht gerade positiv auf sein Seelenheil aus, das stand schon mal fest.
„Ich gehe duschen und mich anziehen“, seine Mutter machte sich von diesem Frank los und stand auf. „Ihr könnt euch ja in der Zwischenzeit ein bisschen unterhalten. Ein echtes Männergespräch führen, ja?“
Männergespräch, klar. Patrick bekam allein von der Vorstellung Arschbluten. Der Typ war doch noch nicht mal ein Mann. Der sah akkurat nach Memme aus, aber vom Feinsten. Patrick hatte schon Typen fertig gemacht, die doppelt so viel drauf hatten wie dieses behaarte Toastbrot.
„Deine Mutter ist voll nett.“
Hilfe, das konnte ja kaum noch schlimmer werden. Patrick zog die Reißleine.
„Pass auf“, sagte er, „ich habe nicht die geringste Absicht, mich mit dir zu streiten, aber dann ist es echt besser, wenn du nicht über meine Mutter redest, klar? Das Thema ist nicht lustig, okay? Verstanden?“
Er war aufgestanden und wollte zur Tür raus, aber der Kerl hatte sich blitzschnell in den Türrahmen geschoben. Das dämliche Grinsen war verschwunden und an seine Stelle war ein kalter, berechnender Blick getreten.
„Nein, du hörst jetzt zu, du kleiner Furz“, sagte der Mann drohend. Von dem Hippie-Tonfall und der zugekifften Art war nichts mehr übrig. „Deine Mutter ist eine Granate im Bett, und ich habe kein Interesse daran, dass du mir hier irgendwas versaust. Du wirst dich also ganz schön raushalten und mir nicht auf den Sack gehen, klar?“
„Träum weiter, Arschloch“, erwiderte Patrick und wollte sich vorbei drängen, aber der Mann boxte ihn mit aller Härte in den Bauch. Patrick ging zu Boden. Seine Eingeweide brannten und er fühlte sich, als müsse er sich gleich übergeben. Der Mann beugte sich über ihn.
„Ich habe dich gefragt, ob das klar ist“, sagte er.
Patrick nickte. Er brachte keinen Ton raus. Der Typ ging in aller Seelenruhe an seinen Platz zurück und frühstückte weiter, als ob nichts gewesen wäre.
Als seine Mutter ins Zimmer kam, lag Patrick immer noch am Boden. Die Schmerzen ließen langsam nach, aber er fühlte sich hundeelend.
„Was ist denn mit dem Jungen los, Frank?“
Der Mann zuckte mit den Schultern, sein Gesicht ein unglückliches Fragezeichen.
„Keine Ahnung, Liebling. Kurz bevor du gekommen bist, hat er sich auf den Boden geworfen und angefangen, sich hin und her zu wälzen.“
Patrick hustete.
„Der Arsch hat mich geschlagen“, presste er mühsam hervor.
Der Mann grinste dämlich.
„Schatz, das wirst du doch jetzt nicht glauben“, sagte er. „Ich würde doch keiner Fliege etwas zu Leide tun.“
Patricks Mutter seufzte.
„Komm, Junge, steh auf. Mit diesem Theater erreichst du gar nichts. Gönnst du mir nicht einmal ein kleines bisschen Glück? Ich kann so froh sein, dass ich Frank getroffen habe. Er ist einfach nur lieb.“
Der Junge erhob sich mühsam. „Ich erzähle keine Märchen“, sagte er, „dein Honk da hat mir eine reingehauen.“
Patricks Mutter sah den Neuen abschätzend an, aber so wie der grinste und nach Weichei aussah, war es von vornherein klar, dass sie ihrem Jungen keinen Glauben schenken würde.
Sie kam auf Patrick zu und sah ihn mit diesem typischen Mütter-Blick an, der gleichzeitig Zuneigung, grenzenlose Geduld und Mitleid mit einem von der Pubertät Geschlagenen ausdrückte.
„Schatz, ich weiß, dass das für dich alles nicht einfach ist“, die Nummer Eins unter den Floskelsätzen, Patrick konnte sich schon vorstellen, wie es weiter gehen würde.
„Du bist immer noch der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber ich habe auch ein Recht auf Liebe. Und auf ein bisschen Spaß. Das verstehst du doch, oder?“
Was für ein Blabla.
„Daher möchte ich, dass du mit dem Lügen aufhörst. Das bringt doch nichts. Der Einzige, dem du damit schadest, bist du selbst.“
„Ich muss los, sonst komme ich zu spät“, das war nicht länger auszuhalten, wie blind konnte ein einzelner Mensch eigentlich sein?
Er ging in sein Zimmer und zog den Pulli hoch. Der Schlag hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen, der Typ hatte offensichtlich Erfahrung im Austeilen. Elendiger Mistkerl, Drecksack, Patrick fluchte im Gehen leise vor sich hin.

Die nächsten Tage wurden nicht besser, im Gegenteil. Frank, der Schläger, ließ keine Gelegenheit aus, Patrick eine reinzuhauen, wenn seine Mutter es nicht mitbekam. Inzwischen waren seinem Körper die Torturen anzusehen, aber Patricks Mutter meinte nur, er würde sich mit seinen Kumpels prügeln und dann versuchen, es Frank in die Schuhe zu schieben. Zumal dieser immer eine tief besorgte Unschuldsmiene zur Schau stellte.
Patrick beschloss, sich an seinen Klassenlehrer zu wenden. Herr Wollner hörte aufmerksam zu, besah sich die blauen Flecken und bestellte Patricks Mutter zum Gespräch.
„Frau Landau, Sie können sich wahrscheinlich denken, warum ich Sie herbestellt habe.“
Patricks Mutter brach in Tränen aus und musste erst mal nach einem Taschentuch kramen. Das gab Herrn Wollner Gelegenheit, in seinen Ausführungen fortzufahren.
„Der Junge gibt an, von Ihrem neuen Lebensgefährten geschlagen zu werden. Stimmt das, Frau Landau?“
Die Mutter schniefte in ihr Taschentuch.
„Sie wissen doch, wie der Junge sich in der letzten Zeit benimmt“, sagte sie. „Erinnern Sie sich, was er uns alles schon vorgelogen hat?“
Herr Wollner seufzte.
„Ja, Frau Landau, ich weiß.“
„Und das, was er da behauptet, gehört in genau dieselbe Kategorie. Das hat nichts mit der Wahrheit zu tun, das kann ich Ihnen versichern. Wahrscheinlich hat er Stress mit einem der Kumpels. Frank denkt sogar, der Junge fügt sich die Verletzungen selbst zu, nur um ihm dann die Schuld in die Schuhe schieben zu können.“
„Sie schließen also aus, dass Ihr Lebensgefährte etwas damit zu tun hat?“
„Absolut. Sie müssten Frank kennen lernen. Er ist die Harmlosigkeit in Person und steht dem Ganzen auch ratlos gegenüber.“
„Haben Sie schon daran gedacht, sich professionelle Hilfe zu holen, Frau Landau?“, fragte Herr Wollner und kritzelte etwas auf einen Zettel, den er dann über den Tisch schob.
„Hier, ich gebe Ihnen die Adresse einer Beratungsstelle, dahin können Sie sich wenden.“
„Danke schön“, Patricks Mutter nahm den Zettel und lächelte unter Tränen.

„Haben Sie mit meiner Mutter geredet?“
„Ja, Patrick, allerdings. Und wir sind der Meinung, dass Du professionelle Hilfe brauchst.“
Na, endlich, wenigstens der olle Wollner hatte es kapiert. Patrick atmete auf. Aber nur bis zu dem Moment, in dem Herr Wollner weiter sprach.
„Diese Lügerei hat doch keinen Sinn. Du musst Dich der Wahrheit stellen. Bist Du selbst für diese Verletzungen verantwortlich? Du kannst es ruhig zugeben. Allen wäre damit gedient. Dir am allermeisten. Ich weiß ja, dass du in der letzten Zeit mit dir selbst schlecht zurecht kommst, aber einen Unschuldigen zu verdächtigen, das ist kein Kavaliersdelikt. Das musst du doch einsehen.“
Patrick fühlte sich, als hätte Herr Wollner ihm auch eine in die Magengrube verpasst. Als ob er sich selbst schlagen würde, bescheuerte Vorstellung. Darauf konnten auch nur Erwachsene kommen. Und dann der Blick, mit dem der Klassenlehrer den Jungen ansah. Verständnisvolles Mitleid. Verständnisvoll, ja klar, diese Nullnummer schnallte doch gar nichts. Er war doch hier das Opfer, und jetzt sollte er zum Täter gemacht werden? Das konnte er sich nicht bieten lassen.
„Herr Wollner, ich lüge nicht“, er hasste sich dafür, dass er so verzweifelt klang.
Der Lehrer winkte ab.
„Du machst es doch nicht besser, indem du deine falschen Anschuldigungen hier jetzt auch noch wiederholst“, sagte er. „Denk erst nach, bevor du Lügen verbreitest, ich bitte dich.“

Die nächsten Wochen waren der Horror. Patrick bekam regelmäßig Prügel von Frank. Welche Absicht dieser Psychopath verfolgte, konnte er sich nicht erklären. Vielleicht, so dachte er, war Frank einfach nur pervers, oder er war sadistisch veranlagt. So was kam vor.
Er sprach mit einer Psychologin, die so tat, als würde sie ihm glauben, aber kaum hatte sie mit Frank gesprochen, wusste auch sie auf einmal, dass der Junge unmöglich die Wahrheit sagen konnte.
„Sieh mal, Patrick“, sagte sie, rückte ihre Lesebrille zurecht und blätterte in den Unterlagen. „Ich habe mit Frank Neumann und deiner Mutter gesprochen. Und ich muss sagen, Herr Neumann macht auf mich einen vollkommen harmlosen, ja sogar sehr fürsorglichen Eindruck. Er ist sehr besorgt wegen dir. Er vermutet, und in diesem Punkt stimme ich ihm völlig zu, dass du auf die Beziehung, die er mit deiner Mutter hat, eifersüchtig bist. Er schlägt auch vor, dir eine Auszeit zu geben. Ich kann seinen Gedankengang nachvollziehen. Es wäre vielleicht sinnvoll, wenn du für eine gewisse Zeit in eine Wohngruppe gingest. Dort könntest du ein wenig Abstand von deiner Mutter bekommen. Wenn ich das richtig sehe“, wieder Geblätter in den Unterlagen, „dann hast du keine echten Freunde. Stimmt das?“
Aha, daher wehte der Wind. Frank, der Pseudo-Öko, der Möchtegern-Casanova wollte ihn also los werden. Wohngruppe. Auszeit. Abstand. Es war zum Kotzen. Die Alte kapierte offensichtlich auch nicht, welche Show der saubere Herr Neumann da abzog. Aber Patrick war ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. Wenn er erst mal weg wäre, könnte Frank in der Wohnung schalten und walten, wie es ihm passte. Und er konnte nach Herzenslust mit seiner Mutter anstellen, was ihm gerade in den Sinn kam. Patrick wollte sich gar nicht vorstellen, was das war. Wenn er selbst als Prügelknabe ausfiel, würde dieser Lappen sich doch sicher ein anderes Opfer zum Zusammenschlagen suchen.
Da Protest ihm von Seiten der Psychologin aber höchstens als weiterer Beweis für Eifersucht und Lügerei ausgelegt wurde, hielt er die Klappe. So, wie er in letzter Zeit meistens die Klappe hielt. Es war ja doch alles sinnlos.
Es müsste eine Möglichkeit geben zu beweisen, dass Frank ein Schläger war. Oh, wie er seine Klassenkameraden beneidete, die einfach nur ihr Smartphone zücken müssten und zack, hätten sie alles auf Video. Patricks Handy war steinalt. Und so, wie er sich zur Zeit „benahm“, würde er in der nahen Zukunft nicht auf ein besseres hoffen dürfen. Die Technik fiel also aus. Er musste einen anderen Weg finden, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Eins stand für ihn in jedem Fall fest. In eine Wohngruppe kriegten ihn keine zehn Pferde.

Frank, der brutale Mistkerl war wenigstens berechenbar. Er schlug immer nur kurz zu und tat dann so, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Meistens wartete er, bis Patricks Mutter das Haus verlassen hatte. Dann suchte er den Jungen regelmäßig in seinem Zimmer auf und scheuerte ihm eine, nur so zum Spaß, wie es schien. Aber nach dem Gespräch mit der Psychologin wusste Patrick, wie der Hase lief. Frank wollte ihn mürbe machen, damit er eingesperrt würde. Abgestempelt als Hirni, als Psycho, dabei war Frank hier doch der Psycho.
Einmal hatte der Junge zurückgeschlagen, danach hatte ihm Frank fast den Arm ausgekugelt.
„Du kleiner, mieser Scheißer“, hatte er in sein Ohr geraunt, „lass dir so eine verdammte Kacke nicht noch einmal einfallen, klar?“
Dann hatte er den Arm noch ein bisschen mehr verdreht, bis Patrick fast die Tränen gekommen waren. Erst als der Junge genickt hatte, hatte Frank losgelassen. Hinterher hatte Patrick seinen Füller kaum noch halten können und von Herrn Wollner einen Anschiss gekriegt, weil die Hausaufgaben zu schlampig gemacht wären.
Patricks Mutter arbeitete Schicht. Wenn sie Frühdienst hatte, ging sie bereits um fünf Uhr aus dem Haus. Eine Zeit, zu der Frank noch im Traumland weilte und nicht mal ansatzweise ans Aufstehen dachte. Wenn sie Spätdienst hatte, verließ sie die Wohnung um eins. Dann war sie nicht da, wenn Patrick um halb zwei aus der Schule kam. Früher war das kein Problem gewesen, sie hatte ihm ein Mittagessen auf einem Teller da gelassen, das er nur in die Mikrowelle zu schieben brauchte. Aber seit Frank sich in der Wohnung breit machte, war alles schwieriger geworden. Dass dieser Faulpelz nicht arbeitete, war logisch. Die Mutter hatte Patrick, als er sie darauf angesprochen hatte, eine rührende Geschichte von einer kaputten Kniescheibe und einer Stauballergie erzählt. Wer diesen Humbug glaubte, war in Patricks Augen selbst schuld.
Statt eines Mittagessens, das hatte Frank meistens schon vernichtet, bis der Junge nach Hause kam, gab es jetzt zur Begrüßung in der Regel eine Kopfnuss, einen Schlag in die Magengrube oder einen deftigen Tritt in den Hintern. Frank fühlte sich sicher, wenn Patricks Mutter nicht da war – zu sicher.
Patrick hatte sich alles gut überlegt. Es war einfach eine Frage des Timings. Er traf seine Vorbereitungen an einem Sonntagabend. Die Mutter hatte ab Montag wieder Spätdienst und würde morgens lange schlafen. Was sie mit Frank noch alles anstellte, so lange er in der Schule war, wollte Patrick sich gar nicht genau vorstellen. Vom Haus bis zur Straßenbahnhaltestelle brauchte sie ungefähr zehn Minuten und dann würde sie nach Hause rennen, wenn sie merkte, dass sie die Monatskarte nicht dabei hatte. Patrick drehte die Karte zwischen den Fingern. Er hatte sie ihr aus dem Portemonnaie genommen und hoffte inständig, dass die Mutter nicht auf die Idee käme, ein Einzelticket zu lösen.
Patrick schwänzte am Montag die letzte Stunde. Bei dem, was die Lehrer ohnehin schon über ihn dachten, würde diese Verfehlung kaum noch ins Gewicht fallen.
Er versteckte sich in einem Hauseingang und sah, wie die Mutter das Haus verließ. Dann wartete er noch gut zehn Minuten, bevor er die Treppe hinauf zur Wohnung nahm. Es musste beim ersten Mal klappen, es musste einfach. Er machte sich keine Illusionen. Wenn sie rausbekommen würde, dass er die Monatskarte an sich genommen hatte, würde es mächtigen Ärger geben und er wäre nicht mehr nur ein Lügner, sondern auch noch ein Dieb. Er schob sich in die Wohnung und ließ geräuschvoll die Tür ins Schloss fallen. Dann öffnete er sie leise wieder. Seine Mutter sollte schließlich schon im Treppenhaus hören, was los war. Frank saß am Küchentisch.
„Hey, du kleiner Scheißer, was bist du denn so früh dran?“, fragte er.
Patrick zuckte mit den Schultern.
„Die letzte Stunde ist ausgefallen.“
Er ging zum Kühlschrank und inspizierte ausgiebig den dürftigen Inhalt. Wie üblich hatte sich Frank das Essen geschnappt, das für Patrick vorgesehen war.
„Ach ja“, sagte er beiläufig, den Kopf über der Leere des Kühlschranks, „bevor ich es vergesse: Du bist ein elender Pisser und ich finde, dass es an der Zeit ist, dass du von hier verschwindest. Ein für allemal.“
Er war auf den Tritt vorbereitet gewesen, aber dass er so heftig ausfallen würde, damit hatte Patrick nicht gerechnet. Er krachte mit Macht in den Kühlschrank und konnte von Glück sagen, dass es sich um ein altes Modell ohne Glasböden handelte.
„Was hast du gesagt, du Hosenscheißer?“, brüllte Frank und zog den Jungen an den Haaren aus dem Kühlschrank.
Patrick lächelte, als er sich zu Frank umdrehte.
„Ich habe gesagt, dass du dich verziehen sollst, du Scheißhaufen“, sagte er. Das brachte ihm einen harten Faustschlag in die Magengrube ein und er ging keuchend zu Boden.
Frank beugte sich über ihn, sein Gesicht wutverzerrt, die Augen, die immer so freundlich zu blicken schienen steinhart.
„Du Missgeburt“, Spucketröpfchen regneten auf Patrick nieder. „Der Einzige, der bald von hier verschwunden ist, das bist du.“ Er richtete sich auf und trat dem Jungen mit Wucht in den Bauch.
„Das bestimmst aber nicht du“, die Stimme kam von der Küchentür her. Patricks Mutter stand da, weiß wie die Wand, mit dem Telefon in der Hand.
„Ja bitte, kommen Sie schnell. Er ist extrem gewalttätig“, sagte sie in den Hörer.
Frank bemühte sich, sein Hippie-Gesicht wieder herzustellen.
„Liebling, was ist denn?“, sagte er lahm.
„Raus hier“, so hatte Patrick seine Mutter noch nie gesehen. Die Lippen waren völlig blutleer. Die eine Hand umklammerte das Telefon, als wollte sie es zerquetschen, die andere war zur Faust geballt, sodass die Fingerknöchel weiß hervor traten. Was Patrick aber bis an sein Lebensende in Erinnerung bleiben würde, war der sprühende Hass in ihren Augen. Sie war betrogen worden, in mehr als einer Hinsicht. Und es war schlimmer, als hätte Frank sich einer Anderen zugewandt. Er hatte sie um das betrogen, was einmal das Wichtigste für sie gewesen war, das Vertrauen zu ihrem Kind.
Als die Polizei eintraf, war Frank schon über alle Berge. Der Name, den er ihr angegeben hatte, war offensichtlich frei erfunden und auch die Beschreibung brachte sie nicht weiter. Es war mehr als wahrscheinlich, dass er die Haare kürzen und sich ein neues Image zulegen würde. Ein neues Image und, davon ging Patrick aus, ein paar neue Opfer.

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Texte: Alle Recht liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2013

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