Er hatte, auf gut Deutsch, die Schnauze voll – gestrichen voll. Seit sechs Tagen ging das jetzt schon so. In aller Herrgottsfrühe aufstehen, Koffer packen, frühstücken und rein in den Bus. Jeden Tag zu einer neuen „tollen Attraktion“. So hatte es in der Beschreibung gestanden, aber bis jetzt hatte Günter noch nichts gesehen, was ihm attraktiv vorgekommen wäre; nicht mal die Zimmermädchen in den Absteigen, die die Reiseveranstalter „Hotels“ zu nennen beliebten.
Überhaupt, alles war die Schuld von dieser Pilcher. Blöde Kuh, blöde. Musste sie unbedingt diesen Mist schreiben? Diesen „Liebesscheiß im Süden Englands“? Und dann war irgend so ein Volltrottel auch noch auf die Idee gekommen, den ganzen Schund zu verfilmen; und Gisela, die dämliche Pute, saß jedes Mal seufzend und heulend vor dem Fernseher und schniefte in einer Tour: „Ist das nicht schön? Guck doch mal, Günter, wie schön das da ist.“
Schön, ja klar, schön. Wenn er grünen Rasen sehen wollte, schaute er sich ein Fußballspiel an.
Der doofe Prospekt war ins Haus geflattert, kurz nachdem er die Versicherung ausbezahlt bekommen hatte und Gisela hatte sich mit einem Aufschrei des Entzückens darauf geworfen.
„Günter, nun schau doch mal“, hatte sie gekreischt und dabei fast den Frequenzbereich einer Fledermaus erreicht. „Wandeln Sie auf den Spuren von Rosamunde Pilcher.“ Dabei hatte sie ihm mit dem Papier vor dem Gesicht herumgewedelt. Sein Protest hatte nichts genützt.
„Wie geizig du sein kannst“, hatte sie ihm vorgeworfen. „Wir haben doch das Geld, stell dich nicht so an.“
Dass sein Protest nicht ihrer finanziellen Situation gegolten hatte, hatte sie kein bisschen interessiert. Sie hatte so lange geweint, gedroht, abwechselnd demonstrativ geschwiegen und ihm die Hölle heiß gemacht, bis er schließlich nachgegeben hatte. Und jetzt saß er hier fest. In einem Bus voller Pilcher-Junkies, unterwegs von einem Rosengarten zum anderen, von einer Burgruine zur nächsten. Ständig umgeben von beseelt lächelnden Frauen jenseits der Fünfzig. Die meisten der Ehemänner waren schlauer gewesen als er und zu Hause geblieben. Das hätte er auch machen sollen, aber Gisela hatte ja darauf bestanden, dass er mitkahm. Sie wollte ihre „unvergesslichen Momente“ mit dem Mann teilen „mit dem sie auch ihr Leben teilte“. Ganz klar, Pilcher war das Schlimmste, was ihrer Ehe hatte passieren können.
Und heute? Heute war ohne Zweifel der Tiefpunkt erreicht. Stonehenge. Super. Ein Haufen Steine, die irgendwelche zugekifften Vorsintflutlichen aufeinander gestapelt hatten. Was das ganze sollte, wusste kein Mensch. Und man konnte nicht mal näher ran und sich das alles in Ruhe angucken. Aber wozu auch. Steine im Nieselregen, toll. Hurra, wir sind in England.
„Günter, schau doch mal, ist das nicht fantastisch“, sagte Gisela neben ihm. Seit sie dieses unselige Land betreten hatten, lag in ihrer Stimme dieses Dauer-Pathos.
„Diese Monumente stehen hier seit fünftausend Jahren.“ Sie wedelte mit dem Buch vor seiner Nase herum, dem Fremdenführer, den sie sich eigens für diese Reise gekauft hatte.
„Toll, Schatz“, sagte Günter. Er hatte festgestellt, dass es besser war zuzustimmen. Jedes Mal, wenn er widersprochen hatte, hatte sie ihm einen zwei-Stunden-Vortrag über ihre Ehe und sein mangelndes Interesse gehalten.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Menschen das früher geschafft haben“, sagte Gisela und blätterte in dem Buch nach weiteren Informationen.
Günter verkniff es sich „Sie haben zuerst ihre Frauen geopfert“ zu sagen und schaute weiter tapfer rüber zu den Steinen.
„Bis heute weiß niemand, wozu die das gebaut haben.“
Günters Blase meldete sich. Klar, der ganze Tee, den er hier in sich reinschüttete, musste ja auch irgendwann wieder raus. Kaffee wäre ihm lieber gewesen und er hatte es am ersten Tag auch probiert und sich welchen bestellt. Was er bekommen hatte, war eine undefinierbare Brühe gewesen, die stark nach zu lange getragenen Strümpfen geschmeckt hatte. Seitdem bestellte er Tee. Gisela trank ihn mit Milch, wie die Einheimischen. Ihm wurde schon bei der Vorstellung schlecht. Er kippte immer vier Löffel Zucker rein, dann ließ sich das Gesöff wenigstens halbwegs trinken. Aber es hatte Nebenwirkungen. Die auffälligste war, dass er ständig zur Toilette musste. Jetzt auch wieder. Im Bus gab es eine. Hoffentlich hatte Gisela bald genug von diesen Steinzeitsteinen.
„Lass uns gehen, ich muss mal“, sagte er.
„Ach, Günter, nicht schon wieder. Nur noch ein paar Minuten, das wirst du doch aushalten.“
Sie hatte das nicht als Frage formuliert, also sparte er sich eine Antwort. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er musste kichern. Er stellte sich vor, wie er rüber zu diesen Steinen ging und dagegen pinkelte. Das Gesicht, das Gisela machen würde. Großartig. Vielleicht hätte er es sogar gewagt, aber dieses Scheiß-England war ja voll von Kameras. In seinen Gedanken konnte er sich schon im Fernsehen bewundern, in den Hauptnachrichten, wie er gegen die Steinsäule pinkelte und wie sie sein bestes Stück verpixeln würden. Seine Miene verdüsterte sich. Sie würden nicht sehr viele Pixel brauchen, so viel stand leider fest.
„Komm schon, lass uns gehen, es drückt.“
„Hach, bist du ein Jammerlappen. Na schön“, Gisela drückte ein letztes Mal auf den Auslöser der Kamera.
Der Druide stand da, wie jeden Tag seit fünftausend Jahren und wartete. Seit sie ihm den Auftrag gegeben hatten, hatte er seinen Posten noch nie verlassen. Zuerst hatte er sich eine Hütte in der Nähe gebaut, viel später, als die ersten Touristen gekommen waren, hatte er den Fremdenführer gespielt und jetzt war er schon seit vielen Jahren hier als Wärter angestellt. Er hatte von Zeit zu Zeit gekündigt und sich eine neue Verkleidung zugelegt, damit ihm die Menschen, für die er arbeitete, nicht auf die Schliche kamen. Er hatte gesehen, wie in diesen modernen Zeiten mit Leuten umgegangen wurde, die anders waren als ihre Mitbürger. Und er war anders. In einem gewissen Sinne war er unsterblich, zumindest so lange, bis die Königlichen zurückkehren würden. Sie würden den Göttern den Weg ebnen, das hatten sie schon einmal getan.
„Der König und die Königin werden wiederkehren“, hatten die Götter ihn wissen lassen. „Du musst auf sie warten und ihnen sagen, was sie zu tun haben. Dann werden auch wir wiederkommen.“
„Woran werde ich sie erkennen?“, hatte er gefragt.
„Sie werden dich erkennen“, hatten die Götter geantwortet.
Dann waren sie in ihr Himmelsschiff gestiegen und gestartet, genau von hier. Seitdem hatte er gewartet. Es waren Könige gekommen, oh ja. Könige von England, eine ganze Menge. Aber es waren nicht der König und die Königin gewesen, die er erwartete. Sie hatten ihn nicht erkannt. Auch nicht die junge Frau, die jetzt auf dem Thron saß.
In all der Zeit hatte er ein paarmal die Hoffnung verloren, war nahe daran gewesen, aufzugeben, aber er hatte durchgehalten. Er wollte die Rückkehr der Götter erleben und nur der König und die Königin konnten diese Rückkehr einleiten.
Er ließ den Blick über die Touristenmenge schweifen. Die meisten von ihnen beachteten ihn nicht. Ihm war es recht, wenn nur die Königlichen bald kämen. Er war müde nach all den Jahren. Er hatte zuviel gesehen, viel zuviel.
Eine ältere Dame sprach ihn an. Er unterdrückte einen Seufzer und wandte sich ihr zu.
Günters Blase ließ ihn schneller laufen.
„Renn doch nicht so“, keuchte Gisela hinter ihm. Er war schon fast durch die Absperrung und drehte sich zu ihr um. „Mach halt“, sagte er und stutzte. Einer der Wärter kam ihm merkwürdig bekannt vor. Er zog seine Frau an der Jacke näher zu sich heran.
„Schau mal, Gisela, der Mann da drüben. Ich weiß nicht, irgendwoher kenne ich den.“
„Wo?“
„Na da, der da“, erwiderte er und zeigte auf den Druiden, der etwa zehn Meter weiter der älteren Dame zuhörte.
„Stimmt, den habe ich auch schon mal gesehen“, sagte Gisela. „Komm, wir fragen ihn, woher wir ihn kennen.“
Günter hielt seine Frau am Arm fest.
„Bist du verrückt, wir können doch nicht einfach so jemanden ansprechen. Der redet doch bestimmt nur Englisch. Ich kann kein Englisch, du etwa.“
„Nein, das weißt du doch“, sagte Gisela. „Aber mir kommt es vor, als wäre es wichtig, mit ihm zu sprechen. Irgendwie. Wenn mir nur einfallen würde, woher ich den kenne.“
„Vielleicht aus dem Fernsehen. Der war bestimmt in einem von diesen Pilcher-Filmen.“
„Dann hole ich mir ein Autogramm“, sagte Gisela und machte sich schon auf den Weg. Günter erwischte sie gerade noch an ihrer Handtasche.
„Das wirst du schön bleiben lassen“, sagte er. „Ich mache mir hier sonst gleich in die Hose.“
Gisela schaute ein letztes Mal zu dem Mann hinüber, zuckte die Achseln und folgte Günter, der im schnellen Schritt zum Bus unterwegs war.
„Schade“, sagte sie, „ich glaube irgendwie, wir verpassen da was.“
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
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Tag der Veröffentlichung: 15.09.2012
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