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Kapitän Edward Cavendish nahm das Fernglas herunter und schob es mit einem energischen Ruck zusammen. „Es kommt näher“, teilte er seinem Steuermann John Simmons mit und seiner Stimme war nicht anzumerken, welche Sorgen ihn plagten angesichts der Schlechtwetterfront, welche das Schiff unweigerlich kurz nach Einbruch der Nacht treffen würde. Die ersten Vorläufer des Unwetters waren schon deutlich zu spüren und das Schwanken des Schiffes hatte in den letzten Stunden stetig zugenommen. Der Steuermann nahm die Mütze ab und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich werde die Mannschaft informieren“, sagte er, „wir müssen das Schiff so gut es geht vorbereiten.“ „Ja, tun Sie das, Mr. Simmons. Mit den Passagieren werde ich selbst reden. Es wird am besten sein, sie verbringen die Nacht alle in der Messe. Das scheint mir im Augenblick der sicherste Platz zu sein.“ John Simmons setzte die Mütze wieder auf, salutierte kurz und ließ den Kapitän allein zurück. Cavendish blickte nachdenklich über den Bug auf die Galionsfigur, eine barbusige Meerjungfrau, die von den Matrosen wegen eines leicht schief gemalten Auges nur „die beschwipste Elsie“ genannt wurde. Der aufkommende Wind ließ die Wellen an Kraft zunehmen und „die beschwipste Elsie“ hob und senkte sich im Rhythmus des Atlantikwassers. Cavendish straffte die Schultern, zog den Saum seiner Uniformjacke hinunter und machte sich auf den Weg zu den Kabinen der Passagiere.

Lady Roberta lag auf ihrem Bett und stöhnte leise. Nicht einmal die Tatsache, dass ihr Magen nach der letzten heftigen Welle der Übelkeit völlig leer sein musste, ließ das Organ zur Ruhe kommen. „Oh mein Gott, Charles“, hauchte sie, „ich glaube, ich sterbe.“ Sir Charles, gesegnet mit einem eisernen Magen und einem ebensolchen Gemüt, drehte sich zu seiner Frau um. „Himmel noch eins, Roberta, reiß dich zusammen. An Seekrankheit ist noch nie jemand gestorben.“ „Dann werde ich eben die erste sein“, keifte sie zurück und Sir Charles stellte halb entnervt, halb belustigt fest, dass seine geliebte Gattin offensichtlich von einer Sekunde auf die andere ihre Lebensgeister wiedergefunden hatte. Lady Roberta hob den Oberkörper an und stützte sich auf die Unterarme. „Wo ist das Kind?“ „An Deck“, erwiderte Sir Charles. „Geh sie holen, bei diesem Wetter sollte sie sich nicht allein draußen herumtreiben.“ „Ich denke nicht, dass sie allein ist. Ich könnte mir vorstellen, der junge Hobbs ist bei ihr.“ „Charles!“, Lady Roberta hatte sich kerzengerade aufgesetzt. „Ich bitte dich, das kannst du doch auf keinen Fall zulassen. Dieser Junge streicht schon seit Southampton die ganze Zeit um Penelope herum. Charles, du musst das unterbinden.“ „Du meine Güte, Roberta, was soll denn hier schon passieren? Wir sind auf einem Schiff, er wird sie also wohl kaum entführen können und sie sind beide wohlerzogene junge Menschen, eigentlich sogar noch Kinder. Außerdem gibt es hier keinen Ort, an dem sie allein sein könnten.“ Lady Roberta schnaubte durch die Nase. „Charles, du bist einfach viel zu naiv. Penelope ist siebzehn und dieser Jacob muss mindestens neunzehn sein. Und wenn die beiden sich den Blicken Neugieriger entziehen wollen, dann finden sie mit Sicherheit auch eine Möglichkeit dazu.“ „Ist gut, Roberta, du hast gewonnen, ich werde das Kind holen.“ Sir Charles nahm die Jacke vom Haken und streifte sie über. Lady Roberta sank seufzend zurück in die Kissen des Bettes. „Danke, dann kannst du auch gleich William Bescheid sagen, er soll mir eine frische Kompresse für meinen Kopf bringen.“ Sir Charles stieß einen lautlosen Seufzer aus, öffnete die Tür und verließ die Kabine.

„Wissen Sie, Miss Penelope, ich bin mir darüber im Klaren, dass mein Vater von mir erwartet, dass ich in seine Fußstapfen trete und auch Prediger werde, aber wenn ich ehrlich sein soll, so ist dies eigentlich nicht mein Wunsch.“ „Nun, Jacob, wie stellen Sie sich denn ihre Zukunft vor?“ Die beiden jungen Leute standen Seite an Seite an der Reling und waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie kaum wahrnahmen, wie stark der Wind zugenommen hatte. „Ich möchte Offizier werden. Das ist doch ein Beruf, in dem ein Mann sich noch beweisen kann.“ Penelope schlug die behandschuhten Hände vor den Mund und zog erschrocken die Luft ein. „Oh nein, Jacob, das dürfen sie nicht“, rief sie und ergriff seine Hand. „Als Offizier müssen Sie doch kämpfen, falls es zu einem Krieg kommt. Sie könnten verletzt oder gar getötet werden und dann wäre ich...“ „Ja?“, atemlos beugte sich Jacob weiter nach vorne und sah Penelope tief in die Augen. Die junge Frau senkte die Lider und wandte den Kopf zur Seite. „Ich wäre sicherlich sehr traurig, wenn mir zu Ohren käme, dass Ihnen etwas zugestoßen ist“, fuhr sie leise fort. „Das ist zu freundlich von Ihnen“, erwiderte Jacob und seiner Stimme war die Enttäuschung darüber anzuhören, dass Penelope nicht so weit gegangen war ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermissen würde.
Schon vor der Abfahrt am Hafen von Southampton war ihm das Mädchen aufgefallen. Das rote Haar, das vorwitzig unter ihrer Haube hervorschaute, hatte in der Morgensonne geleuchtet und ihre etwas zu spitze, himmelwärts gerichtete Nase hatte es ihm sofort angetan. Als sie ihm dann auch noch, weil er kurz den Hut gezogen hatte, zugelächelt hatte, war es ganz um ihn geschehen gewesen. Erfreulicherweise verstanden sich sein Vater und Sir Charles ausgezeichnet. Sie saßen nach dem Essen stundenlang im Rauchersalon und führten tiefgründige Gespräche über Gott und die Kirche. Sir Charles schien in der Gegenwart des eifrigen Predigers aufzublühen und er achtete kaum darauf, was seine Tochter in der Zeit, die er im Gespräch verbrachte, machte. Das Problem war Lady Roberta. Sie beobachtete Penelope mit Argusaugen und war dem jungen Hobbs gegenüber äußerst misstrauisch. Jacobs Mutter hingegen kümmerte sich kaum um das, was ihr Ältester tat, sie hatte mit seinen drei jüngeren Brüdern alle Hände voll zu tun. „Oh, keine Angst, Miss Penelope“, fuhr Jacob eifrig fort, „es steht kaum zu befürchten, dass es in Amerika zu einem Krieg kommt. Der letzte liegt immerhin schon dreißig Jahre zurück.“ „Aber was ist mit den Wilden, diesen Indianern, ich habe gehört, sie sollen sehr gefährlich sein.“ Penelopes Augen glänzten verdächtig. Allein die Vorstellung, dass Jacob etwas zustoßen könnte, versetzte sie in Angst und Schrecken. Als Tochter eines Earls hatte sie eine strenge Erziehung genossen und war in allem unterrichtet worden, was sie als Frau würde brauchen können. Sie konnte Klavier spielen und auch ganz passabel singen, sie stickte und sie hielt sich stets gerade. Auch wie man mit Personal umzugehen hatte, war ihr beigebracht worden. Doch seit sie auf dieser Reise Jacob kennen gelernt hatte, gefiel ihr die Vorstellung immer besser, einen Amerikaner zum Mann zu nehmen, denn das wollten Jacob und seine Familie werden, echte Amerikaner. Reverend Hobbs hatte diesen Entschluss gefasst, nachdem er bei einer seiner Predigten in London mit Eiern und faulem Gemüse beworfen worden war, für ihn das untrügliche Zeichen für den Sittenverfall in Europa, dem er durch den kühnen Schritt des Auswanderns entkommen wollte. „Soll England doch verrotten, an all dem Unrat, der über das Land hereinbricht“, hatte er Sir Charles erklärt und zornig hinzugefügt: „Wenn nicht einmal ein Mann der Kirche, ein Mann der das Wort Gottes den Menschen näher bringen will, vor Übergriffen und Anfeindungen geschützt ist, dann steht es so schlecht um die Moral eines Volkes, dass ich es nicht länger verantworten kann, meine Kinder einer solchen Prüfung zu unterziehen.“ Glücklicherweise verfügte er, Dank seiner Heirat mit der einzigen Tochter eines erfolgreichen Tuchhändlers, über die nötigen Mittel, sich auf der „Pride of England“, dem Flaggschiff der Reederei Blackwater, welche luxuriöse Fahrten über den Atlantik organisierte, auf den Weg in seine neue Heimat zu machen. Auch würde er irgendwo im Süden ein großes Stück Land erwerben können, auf dem er Tabak anpflanzen lassen wollte. Natürlich würde er für diese Arbeit ein paar Sklaven kaufen müssen, denn er selbst wäre als Prediger viel zu beschäftigt damit, den Menschen das Wort Gottes näher zu bringen, als dass er sich auch noch um die Erledigung der täglichen Feldarbeit kümmern konnte. Seine Frau Matilda hatte der Idee England zu verlassen zunächst ablehnend gegenüber gestanden, sich dann aber gefügt, wie es einer guten, christlichen Frau zukam. Die vier Söhne waren von Anfang an begeistert gewesen, für sie war das Ganze ein großes Abenteuer.
„Oh, wissen Sie, Miss Penelope, die Indianer sind gar nicht so gefährlich. Sie sind doch recht primitiv und verfügen lediglich über einfache Waffen, Pfeil und Bogen zum Beispiel, die den unseren weit unterlegen sind.“ Jacob, der immer noch Penelopes Hand hielt, drückte diese kurz, führte sie an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss darauf. „Doch wenn Sie es wünschen, wenn es Ihnen wirklich am Herzen liegt, werde ich dem Traum Offizier zu werden mit Freuden entsagen.“ Penelope wollte gerade Luft holen für eine Erwiderung, als sie hinter sich ein Räuspern hörte. Errötend wandte sie sich um und Jacob ließ im selben Moment ihre Hand los und trat ertappt einen Schritt zur Seite. Sir Charles war leise an das junge Paar herangetreten und er hatte verblüfft festgestellt, wie vertraut seine Tochter und Jacob miteinander umgingen. Vielleicht hatte Lady Roberta doch nicht ganz Unrecht mit ihrer Vermutung, es könnte sich zwischen den beiden etwas anbahnen. „Deine Mutter wünscht dich an ihrer Seite“, sagte er, „sie fühlt sich nicht wohl und macht sich auch Sorgen um deine Gesundheit. Das Wetter ist umgeschlagen und du solltest dich ihm nicht aussetzten.“ Penelope senkte den Kopf und faltete die Hände vor dem Bauch. „Ja, Vater, Ihr habt natürlich Recht“, sagte sie und folgte ihrem Vater, der dem jungen Hobbs nur kurz zugenickt hatte, zu den Kabinen. An der Tür, welche ins Innere des Schiffes führte, drehte sie sich noch einmal um und warf Jacob einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Der Junge fühlte, wie sein Herz einen Moment lang aussetzte, nur um kurz darauf schneller zu schlagen, aber er hatte keine Zeit zu reagieren, denn schon war sie durch die Tür gegangen und damit seinem Blickfeld entschwunden.

Jack Mullan drehte die Havanna ein paar Mal zwischen seinen Fingern hin und her, um den Klang zu prüfen. Dann sog er genießerisch ihren Duft ein, bevor er ihr roh das Ende abbiss und es in hohem Bogen auf den Boden spuckte. Er beugte sich über die am Tisch festgeschraubte Petroleumlampe und entzündete die Zigarre mit einigen wilden, gierigen Zügen. Er wusste natürlich, dass es unter den feinen Herren verpönt war, den Rauch zu inhalieren, aber er befand sich allein im Rauchersalon und so scherte er sich nicht um das, was als elegant galt, sondern atmete den blauen Dunst tief in seine Lungen. Sofort fühlte er sich besser. Er war nach Europa gereist, um Geld aufzutreiben. Er hatte in New Orleans mit Zucker ein Vermögen gemacht, sich dann aber auf ein paar dubiose Geschäfte eingelassen und stand nun vor dem Ruin. Nur eine finanzielle Spritze aus den Banken Europas, mit denen er in der Vergangenheit immer gut gefahren war, hätte ihn noch retten können, aber die Herren in den oberen Etagen hatten abgewunken. Sie wollten und konnten, so erklärten sie ihm, das Risiko nicht tragen. Jack streifte die Asche von seiner Zigarre. Er würde mit leeren Händen heimkommen und er hatte keine Ahnung, wie es dann weiter gehen sollte. Einige der Herren, denen er Geld schuldete, konnten sehr unangenehm werden und er wäre nicht der erste Mann, den man mit dem Bauch nach oben treibend auf dem Mississippi finden würde. Gestern Abend hatte er, wie an jedem Abend seit sie England verlassen hatten, wieder die Pistole zur Hand genommen und sie lange betrachtet. Nur ein Schuss und er wäre aller Sorgen ledig. Aber bisher hatte er sich noch nicht überwinden können, es zu tun. Und je länger er zögerte, umso mehr ekelte er sich vor sich selbst, vor dem Feigling, der er war.
Die Tür des Salons wurde geöffnet und Kapitän Cavendish trat ein. „Mr. Mullan, ich muss Sie bitten, sich hinüber in die Messe zu begeben. Auch die anderen Passagiere werden in Kürze zu ihnen stoßen.“ „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“ Der Kapitän winkte ab. „Eine reine Vorsichtsmaßnahme“, versicherte er. „Wir erwarten in der Nacht einen Sturm. In der Messe ist für Sie alle Platz und es scheint mir auch der sicherste Ort auf dem Schiff zu sein. Wir rechnen mit hohem Seegang, sollten Sie also zu Übelkeit neigen, rate ich Ihnen von der Einnahme eines Abendessens ab.“ Jack Mullan stieß eine Art Grunzlaut aus. „Dies ist nicht meine erste Atlantiküberquerung, Kapitän“, sagte er, „und ich bin auch schon in so manchen Sturm geraten. Ich denke also, ich werde es überstehen.“ „Ganz wie Sie meinen, Sir“, sagte Cavendish und ließ seinen Passagier allein.

Der Kapitän suchte nacheinander die Passagiere auf und schließlich sammelten sich die etwa vierzig Menschen in der Messe. Der Wind hatte weiter an Kraft gewonnen und es war allen Anwesenden klar, dass Cavendish nicht übertrieben hatte, als er von einem Sturm gesprochen hatte. Lady Roberta beanspruchte das Canapé für sich und ließ sich von William ständig mit neuen Kompressen versorgen. Auch einige der anderen waren auffallend blass. Die meisten lagen oder saßen auf dem Fußboden, denn durch das heftige Schaukeln des Schiffes konnte sich kaum jemand auf den Beinen halten.

Die Mannschaft versuchte unterdessen alles, um die „Pride of England“ gut durch den Sturm zu bekommen. Steuermann John Simmons hielt das Ruder mit eiserner Hand, auch wenn der Wind ihm ständig Meerwasser und Regen ins Gesicht peitschte, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Kapitän Cavendish schien überall zugleich zu sein. Er befestigte lose Taue, zurrte Ladung fest und trieb die Männer an, nicht aufzugeben. Und die Matrosen stemmten sich gegen das Wetter so gut es ging. Der erste Mann ging kurz vor Mitternacht über Bord. Die Mannschaft konnte nur entsetzt mit ansehen, wie er von den schwarzen Fluten verschlungen wurde. Zeit zum Trauern blieb nicht, denn der Sturm, heftiger als je ein Sturm vor ihm, wütete mit unverminderter Kraft weiter. Die nächsten beiden Männer kamen ums Leben, als der Großmast brach und sie unter den Trümmern begraben wurden. Fast wäre das ganze Schiff untergegangen, der Mast drohte es mit seiner Takelage in die Tiefe zu ziehen und es gelang Cavendish gerade noch, ihn mit einer Axt vollends zu zerschlagen. Der Mast rutschte über das Deck und verschwand in den brodelnden Tiefen. Cavendish sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Ohne den Großmast waren sie so gut wie manövrierunfähig, doch das war ein Problem, dem er sich widmen wollte, wenn sie den Sturm heil überstanden hatten.

Die Passagiere in der Messe hörten das Brechen des Mastes und die Angst, die unter ihnen herrschte verdichtete sich zu lähmendem Entsetzen. Inzwischen saßen sie alle längst eng zusammengekauert in der Mitte des Raumes. Der Sturm hatte einige der Läden und der darunter liegenden Fensterscheiben zerstört und die Menschen waren durchnässt und froren erbärmlich. Mr. Hobbs betete in einem Fort laut vor sich hin und viele der Passagiere hatten sich um ihn geschart und suchten Trost in seinen Worten. Penelope schmiegte sich eng an Jacob und in all der Aufregung und der Beklemmung achtete Lady Roberta nicht mehr auf das, was ihre Tochter tat, hatte sie doch genug damit zu tun, sich um sich selbst zu kümmern. „Oh Jacob, werden wir jetzt sterben?“, fragte Penelope und rückte noch näher an den jungen Mann heran. „Das scheint mir sehr wahrscheinlich“, erwiderte Jacob tapfer und zog das Mädchen fester in seine Arme. Dann gab er sich einen Ruck. „Miss Penelope, ich möchte nicht von dieser Welt scheiden, ohne Ihnen zuvor gestanden zu haben, wie mir zumute ist. Sie sollen wissen, dass ich weit mehr für Sie empfinde als bloße Freundschaft. In den vergangenen Tagen und Wochen sind Sie mir so sehr ans Herz gewachsen, wie ich mir niemals hätte träumen lassen. Miss Penelope – ich liebe Sie.“ „Oh, Jacob, ich habe Sie doch auch längst lieb gewonnen. Würden meine Eltern es doch nur erlauben, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Ihre Frau zu werden.“ „Miss Penelope, wie glücklich Sie mich machen.“ Mit diesen Worten legte Jacob der jungen Frau den Arm um die Schulter, zog sie fest an sich und drückte ihr einen unbeholfenen Kuss auf den Mund. Es war für beide der erste Kuss und so geriet er nicht besonders lang und war auch nicht sehr innig und doch waren die beiden in diesem Moment die einzigen Menschen auf dem Schiff, die keinerlei Angst empfanden.

Unter Deck vollzog sich indessen ein Drama, welches das Schicksal des Schiffes besiegeln sollte. Eine der schweren Kanonen, welche zur Verteidigung des Schiffes an Bord waren und in einem Gefecht die Rettung bedeuten konnten, löste sich aus der Verankerung und wurde von dem hohen Seegang unkontrolliert hin und her geschleudert. Am Ende der wilden Fahrt schlug das Rohr mit Wucht ein Loch in die Außenwand des Schiffes und verkeilte sich darin. Salzige Fluten drangen zischend durch die entstandene Öffnung ins Innere und schon kurz darauf stand die Ladung knöcheltief unter Wasser. Einer der Matrosen, der unter Deck geblieben war, um die geladenen Kisten und Fässer zu bewachen, bemerkte den Schaden als erster und lief sofort an Deck, um dem Kapitän Meldung zu machen. Cavendish nahm sieben weitere Matrosen mit und folgte dem Mann nach unten. „Jim, Frank, holt Werg und verstopft das Leck, so gut es geht. Michael, Ben, ihr beide sichert die Kanone mit Seilen. Es wird das beste sein, wir lassen sie in dem Loch stecken. Im Moment verhindert sie, dass noch mehr Wasser eindringen kann. Ihr anderen, bildet eine Eimerkette, wir müssen versuchen das Wasser wieder hinauszubekommen.“ Die Männer beeilten sich, den Anweisungen des Kapitäns Folge zu leisten. Sie konnten nur hoffen, dass die Provisorien halten würden. Und draußen tobte der Sturm mit unverminderter Heftigkeit.

Jack Mullan kauerte abseits der anderen Mitreisenden in einer Ecke und kicherte hysterisch vor sich hin. Wenn er Glück hatte, würde ihm dieser Sturm die Entscheidung sich umzubringen abnehmen und diese Arbeit für ihn erledigen. Aber mit jeder Faser seines Körpers sehnte er sich danach weiter zu leben. Dennoch war es ein Trost, nicht selbst den Streich führen zu müssen, der sein Leben beenden würde. In New Orleans, dem Zielhafen der „Pride of England“ würde man vergeblich auf das Eintreffen des Schiffes warten und seine Gläubiger müssten schon bald einsehen, dass sie ihr Geld niemals wiedersehen würden. Eine Familie, Frau und Kinder, die von seinen ehemaligen Geschäftspartnern behelligt werden konnten, hatte er zum Glück nicht und es war tröstlich und traurig zugleich, zu wissen, dass niemand ihn vermissen würde. Sein Blick fiel auf Jacob und Penelope und was er sah, versetzte ihm einen Stich. Um diese beiden wäre es wahrhaftig schade, sie gaben ein entzückendes Paar ab. Mullan hatte die Väter der Kinder kennen gelernt. Mr. Hobbs, den selbst ernannten Prediger, der sich Reverend nennen ließ, fand er aufgeblasen und seine Gesellschaft war ihm unangenehm, aber Sir Charles, der mit seiner Familie nach New Orleans fuhr, um der Hochzeit eines Freundes beizuwohnen, war ein guter Kerl. Selbstgerecht und ein wenig zu hochnäsig, vielleicht, wie so viele seiner Klasse, aber ruhig und großzügig dem Personal des Schiffes gegenüber. Nur seine Frau hatte er nicht verdient, dieses beständig lauernde, laute Weib, das sowohl seine als auch die Freiheit der gemeinsamen Tochter beständig einzuschränken versuchte. Im Moment war Lady Roberta zum Glück aber zu sehr damit beschäftigt, sich zu übergeben, als dass sie jemand anderem auf die Nerven hätte fallen können. Jack Mullans Gedanken wandten sich wieder dem eigenen Schicksal zu, als der Sturm das Fenster, das ihm am nächsten lag, eindrückte. Er versuchte dem eindringenden Wasser dadurch zu entgehen, dass er sich tiefer in die Ecke drückte, eine Maßnahme, die, so musste er nur allzu bald feststellen, keinerlei Erfolg zeigte.

Der Sturm tobte bis kurz vor Morgengrauen. Erst als das Schwarz der Nacht einem bleiernen, wolkenverhangenen Himmel Platz machte, ließ das Brausen nach, und kaum, dass die Sonne vollends aufgegangen war, rissen die Wolken auf und gaben den Blick auf ein paar Fetzen blauen Himmels frei. Kapitän Edward Cavendish wischte sich das salzige Wasser aus den Augen und sah sich um. Der Sturm hatte schwere Verwüstungen angerichtet. Der Großmast war verschwunden und zwei von den anderen Masten waren zu stark beschädigt, als dass sie die Last geblähter Segel noch hätten aushalten können. Was an Segeltuch noch übrig war, hing in Fetzen herunter und er sah auf den ersten Blick, dass hier nicht mehr viel zu retten war. An der Stelle, an welcher der Großmast auf das Deck aufgeschlagen war, waren die Planken geborsten und es fehlte die Reling. Die meisten Fenster der Messe waren herausgebrochen und statt der teuren Scheiben fanden sich überall Scherben. Cavendish ging unter Deck. Auch hier bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Nur wenige Teile der Ladung waren an Ort und Stelle geblieben. Durch das Loch in der Außenwand, das die Kanone geschlagen hatte, drang nach wie vor Wasser und es wäre nur eine Frage der Zeit, wann der Bauch der „Pride of England“ voll gelaufen wäre. Schon jetzt hatte das Schiff leichte Schlagseite. Cavendish schätzte, dass sie sich noch zwei oder drei Tage über Wasser halten würden, danach würden sie unweigerlich untergehen. Der Kapitän überprüfte die Vorräte. Reis, Mehl und Zucker, eigentlich sicher verstaut und vor eindringendem Wasser geschützt, waren nass geworden und zum großen Teil unbrauchbar. Was an Vorräten noch verwendbar war, würde noch ungefähr zwei oder drei Wochen reichen. Cavendish schnaubte kurz durch die Nase. So viel Zeit hatte das Schiff nicht mehr.
„Kapitän“, unbemerkt war John Simmons an Cavendish herangetreten, „es sieht nicht gut aus. Keines der Beiboote hat den Sturm überstanden. Wir schaffen es entweder mit der „Pride of England“ oder wir schaffen es gar nicht.“ Der Kaptiän nickte. „Die Lage ist in der Tat ernst, Mr. Simmons. Haben Sie schon einen Überblick darüber, wie viele der Männer fehlen?“ „Soweit ich das beurteilen kann, haben es neun der Männer nicht geschafft. Unter ihnen ist auch der junge Perkins.“ „Perkins? Das wird seine Mutter schwer treffen. Ich habe ihr vor der Abfahrt versprechen müssen, gut auf den Jungen aufzupassen.“ Müde sah Cavendish sich im Laderaum um. „Aber ich denke, ich werde keine Gelegenheit mehr bekommen, mich bei der Frau zu entschuldigen.“ „Sagen Sie es den Passagieren, Kapitän?“ „Keine leichte Aufgabe, was Simmons? Aber sie muss erledigt werden. Organisieren Sie derweil die Eimerkette. Wir werden versuchen, so lange wie möglich oben zu bleiben“ Der Steuermann ließ dem Kapitän den Vortritt und beide stiegen hinauf an Deck. Die Passagiere trauten sich, jetzt da das Schiff aufgehört hatte, wild zu schaukeln, einer nach dem anderen aus der Messe und blinzelten in das heller werdende Sonnenlicht. Jacob hatte den Arm um Penelopes Schulter gelegt und führte sie hinaus, dicht gefolgt von Jack Mullan. Als eine der letzten trat Lady Roberta am Arm ihres Gatten ins Freie. Die Schar der Passagiere sammelte sich um den Kapitän und alle warteten darauf, was Cavendish zu sagen hatte. Dieser holte auch gerade Luft und wollte beginnen zu sprechen, als Lady Robertas Blick auf ihre Tochter und auf Jacob fiel. „Lass sie sofort los, du widerlicher Mensch“, kreischte sie, befreite sich von Sir Charles’ Arm und stürzte auf die beiden jungen Menschen zu. Penelope wich zurück und drängte sich nur noch stärker an Jacob und dieser stellte sich schützend vor sie, auch wenn Lady Roberta in ihrem Zorn eine äußerst Furcht einflößende Erscheinung war. Cavendish ging dazwischen. „Lady Roberta, ich muss doch bitten...“ Die sonore Stimme des Kapitäns ließ Lady Roberta in der Bewegung innehalten. Sie warf dem jungen Hobbs noch einen giftigen Blick zu, stellte sich aber dann an die Seite ihres Mannes. Hoch erhobenen Hauptes hörte sie zusammen mit den anderen Passagieren zu, was Cavendish zu sagen hatte. „Ich möchte nicht lange um den heißen Brei herumreden. Die Lage ist mehr als ernst. Wir haben den Großmast und alle Segel verloren und im Schiffsrumpf klafft ein Loch, durch welches beständig Wasser eindringt. Die Männer haben es so gut es geht abgedichtet, aber egal, was wir auch unternehmen, dieses Schiff wird sinken.“ Reverend Hobbs fasste sich als erster. „Wie viel Zeit bleibt uns noch, Kapitän?“ Cavendish strich sich kurz durch den Bart. „Zwei Tage, vielleicht auch drei.“ Lady Roberta war blass geworden. „Und dann?“, fragte sie. Kapitän Cavendish schaute zu ihr hinüber und er sah, wie Panik in ihre Augen trat. Die folgenden Worte schien er nur an sie zu richten. „Wir sind mitten auf dem Atlantik und der Sturm hat uns von unserer Route abgebracht. Wenn das Schiff sinkt, gehen wir mit ihm unter. Diese Reise wird niemand von uns überleben.“ Bleierne Stille hatte sich auf das Deck gesenkt. Nicht einmal Lady Roberta fand Worte, ihr Entsetzen auszudrücken. Jacob, der immer noch dicht bei Penelope stand, fühlte sich, als hätte ihn jemand in den Magen geschlagen. Er merkte, wie die junge Frau nach seiner Hand griff und er fasste einen mutigen Entschluss. „Miss Penelope“, sagte er und drehte sich zu ihr um, „Sie wissen, dass ich Sie liebe und auch Sie haben mich Ihrer Liebe versichert. Ich würde als glücklicher Mann sterben, wenn Sie einwilligen würden, mich zu heiraten.“ Penelope strahlte ihn an. „Oh, Jacob, ich könnte mir nichts schöneres vorstellen, als Ihre Frau zu werden.“ Lady Roberta schnappte nach Luft. „Niemals“, schrie sie, „niemals werde ich das zulassen. Penelope, komm sofort zu mir.“ „Nun sei doch endlich einmal still, Roberta“, Sir Charles Schnurrbart zitterte vor Erregung. „Du hast doch gehört, was der Kapitän gesagt hat, wir werden alle sterben.“ „Aber Charles, du bist ein Earl, Penelope hat doch etwas besseres verdient als diesen Crétin.“ „Sie wird keine Gelegenheit mehr haben, jemanden kennen zu lernen, der deine Zustimmung finden würde. In drei Tagen spätestens sind wir alle tot.“ Er ging hinüber zu den beiden jungen Menschen, die Seite an Seite mit bangen Blicken zugehört hatten. Ernst legte er Jacob die Hand auf die Schulter. „Junger Mann, ich freue mich, Sie in unserer Familie willkommen zu heißen.“ „Ich danke Ihnen, Sir. Es bedeutet mir viel, dass Sie uns Ihre Einwilligung geben. Vater?“, fragend wandte er sich dem Reverend zu. „Haben wir auch deinen Segen?“ Elija Hobbs richtete den Blick auf seinen Sohn und der junge Mann las Stolz und Milde darin. „Mit großer Freude stimme ich dieser Verbindung zu. Du handelst wie ein Mann und ich bin glücklich, dein Vater sein zu dürfen.“ Jacob wandte sich dem Kapitän zu. „Kapitän, darf ich Sie bitten, uns beide zu trauen?“ „Es wird mir ein großes Vergnügen sein“, erwiderte Cavendish.

Die Passagiere erhielten Gelegenheit nachzusehen, was von ihren Sachen noch zu gebrauchen war und sich umzuziehen und etwa eine Stunde später fanden sich alle an Deck wieder, um der Hochzeit des jungen Jacob Hobbs mit Penelope, Tochter von Sir Charles und Lady Roberta beizuwohnen. Cavendish war froh über diese Entwicklung. Die Trauung lenkte die Menschen ab und ließ sie für einen Moment ihre hoffnungslose Lage vergessen. Aber er machte sich keine Illusionen. Würde ihnen allen erst das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stehen, wäre es mit der Ruhe vorbei. Jetzt aber durfte er dieser erfreulichen Pflicht nachkommen, bevor er sich Gedanken darüber machen wollte, wie es weiter ginge.

Penelope war in ihre Kabine gegangen. Sie vermied es, ihre Mutter zu treffen, denn sie vermutete, dass sie von dieser lediglich Vorwürfe zu hören bekäme. Glücklicherweise hatte Lady Roberta sofort ihre eigene Kabine aufgesucht und Penelope stellte sich vor, welche Vorwürfe ihre Mutter ihrem Vater gerade machte. Sie seufzte. Der Sturm hatte auch hier seine Spuren hinterlassen. Die Möbel waren zwar allesamt fest angeschraubt, aber ihre persönlichen Gegenstände lagen überall verstreut und das Wasser, das auch hier eingedrungen war, hatte dafür gesorgt, dass die meisten ihrer Kleider feucht waren. Nach einigem Suchen fand sie aber doch noch ein Kleid, das den Sturm unbeschadet überstanden hatte. Dieses legte sie an, unter den gegebenen Umständen musste es reichen.

Im Gegensatz zu Penelope musste sich Jacob die Kabine mit seinen Brüdern teilen. Noah und Isaac, die beiden Kleinsten, verstanden zum Glück noch nicht, was vorging. Sie hatten unter den verstreut liegenden Dingen ihre Holzsoldaten gefunden und spielten auf dem nassen Fußboden friedlich miteinander. Sein Bruder Joseph war zwölf. Er saß auf seinem Bett und weinte still vor sich hin. Seine Mutter hatte sich zu ihm gesetzt, ihn fest in die Arme genommen und versuchte, ihn zu trösten. Jacob fühlte einen Kloß in der Kehle und schluckte schwer. Dann suchte auch er nach trockener Kleidung, im Gegensatz zu Penelope aber ohne Erfolg. Am Ende entschied er sich, das anzubehalten, was er gerade trug. Bitter dachte er daran, dass er eine Erkältung nicht mehr fürchten musste. Es würde eine Woche dauern, bis sie ausbrechen würde und zu diesem Zeitpunkt läge er schon auf dem Grund des Meeres.

Jack Mullan nahm die Pistole zur Hand. Die Tatsache, dass sie in öliges Tuch eingewickelt gewesen war, hatte sie vor der Feuchtigkeit bewahrt. Er spannte den Hahn und stellte fest, dass er sich mühelos bewegen ließ. Eigentlich war jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen. Er hielt die Waffe an seinen Kopf, den Finger am Abzug. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Hand zitterte und noch immer schaffte er es nicht, abzudrücken. Hing er wirklich so sehr am Leben? Er sicherte die Pistole, wickelte sie wieder in das Tuch, steckte sie in die Tasche und hasste sich mehr als je zuvor. „Feigling, Feigling, Feigling“, dieses eine Wort klebte in seinen Gedanken, ließ keinen Raum mehr für andere Wörter und die Verachtung, die er für sich selbst empfand, lähmte ihn förmlich. Unfähig sich zu rühren, blieb er auf seinem Bett sitzen.

„Wir sind hier zusammen gekommen, um diesen Mann und diese Frau im heiligen Bund der Ehe zu vereinen“, Kapitän Cavendish, von Rechts wegen dazu befugt, sprach die üblichen Worte. Er stellte die allen bekannten Fragen und die anwesenden Passagiere und Besatzungsmitglieder hörten zu, wie Penelope und Jacob sich das Ja-Wort gaben. Im Anschluss sprach Reverend Hobbs noch ein Gebet und die versammelte Gemeinschaft sah zu, wie Matilda Hobbs Penelope, ihre frisch gebackene Schwiegertochter, unter Tränen in die Arme nahm. Lady Roberta verfolgte die Zeremonie mit steinerner Miene, wogegen ihr Mann sich ein paar mal die Nase schnäuzen musste. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte sich völlig verzogen und einem blauen Himmel Platz gemacht. Die Nachmittagssonne schien hell und ihre Strahlen trockneten die feuchten Kleider. Die „Pride of England“ neigte sich inzwischen merklich zur Steuerbordseite und die „beschwipste Elsie“, die, wie durch ein Wunder das Unwetter heil überstanden hatte, schielte ins Wasser. Nach der Trauung begab sich die Gesellschaft wieder in die Messe. Der Koch hatte aus den Resten eine üppige Mahlzeit zubereitet. Es war nicht nötig, mit den Lebensmitteln sparsam umzugehen und so hatte jeder genug zu essen und zu trinken. Alle sprachen dem schweren Wein zu, würden doch die letzten Stunden betrunken leichter zu ertragen sein. Die Feier dauerte bis in den späten Abend hinein und kaum einer der Anwesenden war noch nüchtern, als Jacob und Penelope sich in das Brautgemach zurückzogen.

Lady Roberta, ihr Leben lang an strenge Disziplin gewöhnt, trank nur wenig und nun schaute sie sich angewidert um. „Charles, um Himmels Willen.“ Sir Charles, seinerseits betrunkener als je zuvor in seinem Leben, versuchte gerade, sich eine Zigarre anzuzünden. „Was ist denn, meine Liebe?“, fragte er verwaschen. „Das hier ist die Messe, wenn du rauchen möchtest, geh in den Rauchersalon.“ Sir Charles begann zu kichern. „Du hast es immer noch nicht verstanden, oder?“ er beugte sich zu seiner Frau und Lady Roberta roch seinen Weinatem und sah seine blutunterlaufenen Augen. „Oh bitte, Charles, natürlich habe ich es verstanden. Wir werden sterben, ja, aber im Gegensatz zu dir habe ich beschlossen in Würde unterzugehen. Es gibt keinen Grund für mich, die Contenance zu verlieren.“ „Roberta, wir sind jetzt seit zwanzig Jahren verheiratet und bisher habe ich immer versucht dich zu verstehen und dich dafür bewundert, wie gut du dich in Gesellschaft selbst beherrschen kannst. Aber jetzt ist die Stunde der Wahrheit, wie es so schön heißt, gekommen. Roberta, du bist unerträglich. Deine Selbstgerechtigkeit, deine Scheinheiligkeit, ich kann nichts mehr davon ertragen. Meine Liebe, fahr zur Hölle!“ Schwerfällig erhob sich Sir Charles und wankte auf die andere Seite des Tisches, wo Elija Hobbs sich an einem Cognac festhielt. Lady Roberta sah aus, als wäre sie geschlagen worden. Sie blinzelte die Tränen fort, die sich in ihre Augen schleichen wollten, griff nach der Weinflasche, setzte sie an den Hals und trank in großen Schlucken. So einsam wie in diesem Augenblick hatte sie sich noch nie gefühlt.

Penelope streckte sich. Es war noch sehr früh am Morgen, aber sie hatte ohnehin kaum geschlafen und jetzt war sie hellwach. Ihr Unterleib schmerzte. Sie war völlig unvorbereitet gewesen und so hatten die Aktivitäten der Hochzeitsnacht sie vollständig überrumpelt. Jacob war zuerst sehr zärtlich zu ihr gewesen, hatte aber seine vornehme Zurückhaltung nicht beibehalten können. Zum Glück hatte die ganze Sache nicht lange gedauert und schon bald hatte er tief schlafend neben ihr gelegen. Sie schaute zu ihm hinüber, studierte seine Gesichtszüge und fragte sich, ob es mit der Zeit schöner für sie würde. Bedauerlicherweise bekäme sie keine Gelegenheit mehr, das herauszufinden. Leise stand sie auf und begann sich anzuziehen. Sie schnürte gerade das Mieder ihres Kleides zu, als Jacob sich regte und die Augen aufschlug. „Guten Morgen, mein Herz“, sagte er und setzte sich auf. „Du ziehst dich schon an, wie schade. Ich dachte, wir könnten...“ „Nein, bitte“, die Worte kamen schneller und härter als sie beabsichtigt hatte und sie schlug die Augen nieder. „Ich meine, es war..., es ist, ach, du weißt schon.“ Enttäuscht schaute er sie an. „War es denn für dich nicht schön?“ „Doch, doch“, log sie, „es ist nur so ungewohnt und ich habe..., mir geht es nicht so gut.“ „Ich verstehe, du fürchtest dich. Kein Wunder, so geht es sicher allen an Bord.“ Sie nickte, dankbar für die Ausrede, die er ihr geliefert hatte. „Nun dann“, meinte er und rieb sich die Augen, „werde ich mich auch anziehen. Lass uns schauen, wie schlimm es inzwischen steht.“

Das erste, was ihr auffiel, war der scheußliche Geschmack in ihrem Mund und sie bewegte vorsichtig die Zunge hin und her in der Hoffnung, er würde verschwinden. Eine trügerische Hoffnung, denn allein der Versuch des Hinunterschluckens verursachte starke Übelkeit und das Einsetzen heftiger Kopfschmerzen. Sie stöhnte leise und versuchte sich aufzusetzen. Das Schwindelgefühl war überwältigend und matt sank Lady Roberta wieder zu Boden. Vorsichtig tastete sie die Umgebung ab, in der sie sich befand. Offensichtlich lag sie auf dem Holzboden der Messe. Langsam kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück, an die verletzenden Worte ihres Mannes, an die Flasche Wein, die sie innerhalb kürzester Zeit geleert hatte. Und danach? So sehr sie es auch versuchte, alles, was danach passiert war, lag hinter einer Wand aus Watte und war für sie unerreichbar. Sie kämpfte gegen den Schwindel an und setzte sich auf. Ihre Kleider waren in Unordnung und sie strich über den Stoff, um ihn zu glätten. Sie schaute sich um. Überall auf dem Boden und auf den Tischen lagen Passagiere. Einige von ihnen schnarchten laut. Nur die beiden jüngsten Söhne der Hobbs saßen friedlich in einer Ecke zusammen und spielten mit ein paar Holzfiguren. Von der Tür her hörte sie Geräusche und eine neue Welle der Übelkeit durchschoss sie, als sie den Kopf drehte. Mit einiger Mühe hob sie die Lider und schaute zur Tür. Im Rahmen standen Penelope und Jacob, beide staunend mit offenem Mund. Penelope war die erste, die ihre Sprache wiederfand. „Mutter, was ist denn hier passiert?“ Lady Roberta rappelte sich auf. „Meine Liebe, wie schön dich zu sehen“, sagte sie, bemüht darum ihre Haltung wiederzufinden. Penelope trat auf sie zu. „Mutter, in Gottes Namen, was ist denn hier nur geschehen?“ „Das siehst du doch“, sagte Jacob tonlos, „die Herrschaften haben noch ein wenig weiter gefeiert, nachdem wir uns zurückgezogen hatten.“ Mit diesen Worten bückte er sich zu einem der Passagiere hinunter, einem kleinen Mann, von Beruf Buchhalter, wie er den anderen am ersten Abend stolz erzählt hatte, und nahm ihm die leere Brandweinflasche aus dem Arm, die er wie ein Kopfkissen benutzte. Der Mann stöhnte und drehte sich auf die andere Seite. „Ich gehe hinunter in die Kombüse und schau mal, ob der Koch uns einen Tee kochen kann“, sagte Penelope energisch und stapfte aus der Messe. „Eine ausgezeichnete Idee, mein Schatz“, rief Lady Roberta ihr matt hinterher, aber Penelope hörte sie schon nicht mehr.

Kapitän Cavendish stand am Bug. Er hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen und stundenlang selbst mitgeholfen, die Eimerkette aufrecht zu erhalten. Kurz nach Sonnenaufgang war er unter Deck gegangen, um den Wasserstand zu überprüfen. Die Lage war nicht so dramatisch wie er befürchtet hatte. Das Schiff lief langsamer voll als befürchtet, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Einsatzes der Mannschaft. Dennoch machte er sich keine Hoffnungen. Er überlegte sogar, die Bemühungen einzustellen. Je länger es dauerte, bis das Schiff unterging, desto aufgeregter und unübersichtlicher könnte die Situation an Bord werden. Andererseits wollte er so schnell die Hoffnung noch nicht aufgeben. Gerade war er in Gedanken darüber versunken, ob sich nicht doch einige der Segel retten ließen, als sein Steuermann John Simmonns zu ihm trat. „Kapitän, wie soll es weiter gehen? Die Passagiere wachen langsam auf. Den meisten von ihnen geht es schlecht, aber wir sollten in Erwägung ziehen, die Männer zur Mitarbeit einzuteilen. Unsere Matrosen fangen an, müde zu werden, sie brauchen dringend Unterstützung.“ Cavendish nickte. „Ich werde mit den Leuten reden, aber lassen wir ihnen noch eine oder zwei Stunden Zeit, um wieder vollständig auf die Beine zu kommen.“

Jack Mullan erwachte davon, dass er leicht an der Schulter berührt wurde. „Tee, Sir?“, fragte Williams sanfte Stimme. Mullan schaute auf. „Ja, danke“, erwiderte er und strich sich ein paar Mal durch die Haare. „Wir leben ja noch.“ „In der Tat, Sir, eine unerwartete Gnade.“ „Gnade? Ja, da hast du wohl Recht.“ Mullan nahm die Tasse entgegen, die der Diener ihm reichte. Der Henkel war abgeschlagen und am Rand fehlte ein Stück, aber das störte ihn nicht weiter. Nachdenklich nippte er an dem heißen Getränk. Die Tatsache, dass das Schiff in der Nacht nicht untergegangen war, verstimmte ihn und seine Gedanken wanderten wieder zu der geladenen Pistole in seiner Tasche. Wie leicht wäre es doch gewesen, im tiefen Alkoholschlaf vom Atlantik verschlungen zu werden. Jetzt stand er wieder vor der Entscheidung, ob es nicht besser wäre, sich einen schnellen Tod zu verschaffen.

Unter den übrigen Passagieren, die einer nach dem anderen erwachten, breitete sich leise Hoffnung aus, als sie feststellten, noch am Leben zu sein. Der heiße Tee, den William an jeden von ihnen verteilte, weckte die Lebensgeister und ließ den Gedanken an den baldigen Tod in den Hintergrund treten. Einige der Frauen hatten begonnen, ein wenig Ordnung zu machen und die Männer waren in leise Gespräche vertieft, als der Kapitän zu ihnen trat. „Das Wasser steigt; Gott sei Dank, weniger schnell als erwartet“, verkündete er. „Allerdings sind wir jetzt auf Ihre Unterstützung angewiesen. Ich möchte alle Männer bitten, mir zu folgen. Sie sollen uns bei der Eimerkette unterstützen. Mister Simmons wird Sie einteilen.“ „Heißt das, dass doch noch Hoffnung auf Rettung besteht“, fragte Reverend Hobbs. Cavendish wandte sich direkt an ihn. „Ich möchte nicht behaupten, dass es so wäre“, sagte er, „aber wir wollen nichts unversucht lassen über Wasser zu bleiben. Momentan sind wir nach wie vor manövrierunfähig, aber wir wollen versuchen, ob wir nicht doch noch eine Möglichkeit finden, das Schiff wieder in Fahrt zu bringen. Beten Sie für uns Reverend. Wir können jede Form der Unterstützung brauchen.“

Der Tag verging unter ständiger Arbeit, für Mannschaft und Passagiere eine willkommene Abwechslung. Aber mit dem Abend stellten sich bei vielen von ihnen wieder die schlimmsten Befürchtungen ein. Es war den Männern zwar gelungen, das Eindringen des Wassers zu verlangsamen, aber sie konnten nicht verhindern, dass es doch wieder um ein paar Zoll gestiegen war. Der Versuch, einige der Segel zu retten, hatte die Frauen den ganzen Tag über beschäftigt. Sie hatten genäht und geflickt, was noch einigermaßen brauchbar aussah, aber mehr als ein übergroßes Bettlaken war nicht dabei herausgekommen. In der Nacht würde die Mannschaft sich an der Eimerkette abwechseln, diejenigen Passagiere, deren Kabinen sich im oberen Teil des Schiffes befanden, gingen dort zu Bett, die anderen machten es sich in der Messe mehr schlecht als recht bequem.

Penelope plagten andere Sorgen. Sie dachte mit Bangen an die vorangegangene Nacht und daran, dass sie dasselbe in dieser Nacht wieder würde mitmachen müssen. Mit ihrer Mutter hatte sie den ganzen Tag über kein Wort gewechselt, sie war zu schockiert von dem Anblick gewesen, den Lady Roberta am Morgen geboten hatte. Vielmehr hatte sie sich den Frauen angeschlossen und geholfen, Segeltuch zusammenzunähen. Von dieser ungewohnten Tätigkeit hatte sie Blasen an den Händen bekommen, aber die Schmerzen störten sie kaum. Ihre Hoffnung war, dass Jacob, der den ganzen Tag über mit den anderen Männern Wassereimer geschleppt hatte, zu müde wäre, sie an ihre ehelichen Pflichten zu erinnern. Aber als sie das strahlende Gesicht ihres Ehemannes sah, kaum dass es dunkel wurde, schwand ihre Hoffnung auf eine ruhige Nacht. Jacob trat auf sie zu, nahm sie bei der Hand und führte sie in ihre Kabine. „Ich musste den ganzen Tag lang an dich denken“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Ich bin so glücklich, noch am Leben zu sein.“ Penelope lächelte gequält. Dann ergab sie sich ihrem Schicksal.

Die Matrosen arbeiteten die ganze Nacht hindurch und am Morgen sahen sie, dass sich die Mühen gelohnt hatten. Zwar war das Wasser im Bauch der „Pride of England“ weiter gestiegen, aber wieder nur um wenige Zoll. Kaum war die Sonne aufgegangen, als die männlichen Passagiere die Seeleute an den Eimern erneut abwechselten. Jack Mullan, dem noch von dem vergangenen Tag die Arme schmerzten, fühlte sich, als würde er langsam den Verstand verlieren. Seine Hoffnung, mit dem Schiff unterzugehen, vielleicht sogar im Schlaf und nicht selbst Hand an sich legen zu müssen, schwand zusehends und immer wieder stellte er sich vor, wie er die Pistole nehmen und sich eine Kugel in den Kopf jagen würde. Mal sah er vor seinem inneren Auge, wie er sich in die Schläfe schoss, dann wieder nahm er sich vor, den Lauf der Waffe in seinen Mund zu nehmen und abzudrücken. Aber immer noch fand er einfach nicht den Mut, es zu tun. Sein Blick wanderte hinüber zu dem jungen Hobbs und er fühlte einen Stich in der Brust. Jacob arbeitete wie ein Besessener und dabei grinste er die ganze Zeit. Er schien die Gefahr, in der sie schwebten, völlig ausblenden zu können und war vollkommen glücklich in dem ganzen Elend, das ihn umgab. Jack Mullan war neidisch. Er hatte immer nur gearbeitet und Geld verdient, für eine Frau hatte er nie die Zeit gefunden. Und jetzt stand er vor den Scherben, die sein Leben darstellten. Auf dem Achterdeck saßen die Frauen über ihre Näharbeit gebeugt. Penelope war auch dabei. Es war Mullan nicht entgangen, dass die junge Frau am Tag zuvor nicht sehr glücklich ausgesehen hatte, aber heute schien sie besserer Laune zu sein. Er schob es darauf, dass Penelope, genau wie die anderen Passagiere, Hoffnung zu schöpfen begann. Überhaupt war die Stimmung an Bord alles andere als schlecht, so wie man es in dieser Situation eigentlich erwarten durfte. „Mr. Mullan, ein wenig schneller, wenn ich bitten darf.“ Reverend Hobbs hielt ihm den gefüllten Eimer hin. Mullan fühlte sich ertappt und beeilte sich, weiter zu arbeiten. „Entschuldigung“, murmelte er. „Schon gut“, erwiderte Hobbs, „vielleicht sollten Sie eine Pause einlegen, um wieder neue Kraft zu schöpfen.“ Mullan schüttelte den Kopf. „Es geht schon“, beeilte er sich zu sagen und rang sich ein Lächeln ab. „Ich möchte schließlich mithelfen, unser aller Leben zu retten.“

Penelope summte vor sich hin. Erstaunt hatte sie in der vergangenen Nacht festgestellt, dass sie anfing, an den ehelichen Aktivitäten Freude zu empfinden. Sie hatte sogar begonnen, Jacobs Bewegungen zu erwidern und so war die vergangene Nacht wesentlich erfreulicher verlaufen, als die Nacht zuvor. Jetzt biss sie die Zähne zusammen, ignorierte die Blasen an ihren Fingern und nähte fleißig ein zerfetztes Stück Stoff an das andere. Sie hatte sich so gesetzt, dass ihre Mutter, die ebenfalls nähen musste, von ihr nur den Rücken zu sehen bekam. Auch versuchte sie, das ständige Nörgeln Lady Robertas zu überhören. Diese tat ihrer Umgebung laut kund, was sie davon hielt mit den anderen Frauen zusammen arbeiten zu müssen. „Es ist ein Skandal, mich, die Tochter eines Counts und Ehefrau eines Earls eine solch niedrige Arbeit verrichten zu lassen. Und mein Mann, was tut der? Legt selbst mit Hand an, verurteilt mich noch dazu, mitzuhelfen. Und zu allem Überfluss verheiratet er unsere Tochter mit dem ersten dahergelaufenen Schurken. Glücklicherweise werde ich nicht mehr den Tag erleben, da unsere Familie von dieser Tragödie erfährt. Ich würde sterben vor Scham.“ Die anderen Frauen ließen Lady Roberta schimpfen, waren aber weit genug von ihr weggerückt, um nicht mit ihr reden zu müssen. Aber sie alle hatten Mitleid mit Sir Charles, der den anderen Männern wacker bei der Arbeit half und sie freuten sich für Penelope, dieser Furie von Mutter entkommen zu sein.

Es war kurz nach Mittag, als Simmons, der mit dem Fernglas in der Hand den Horizont absuchte, die Segel sah. Erst dachte er, seine Augen hätten ihm einen schlimmen Streich gespielt, aber schon bald konnte er zweifelsfrei das Schiff ausmachen, das auf die „Pride of England“ zuhielt. Er stieß einen wilden Jubelschrei aus und rannte los, um den Kapitän zu informieren. Cavendish war in seiner Kabine. Er hatte mit dem Sextanten ihre Position bestimmt und überprüfte zum hundertsten Mal, ob nicht vielleicht doch eine Insel in der Gegend war, in der sie sich befanden. Er hatte gerade resigniert den Messzirkel zur Seite gelegt und rieb sich die müden Augen, als die Tür aufgestoßen wurde und John Simmons hereinstürmte. Der erste Steuermann war völlig außer Atem. „Kapitän, ein Wunder“, keuchte er, „ein Schiff ist am Horizont aufgetaucht und es hält auf uns zu.“ „Welche Flagge“, Cavendish war aufgesprungen. „Das konnte ich nicht erkennen, aber so oder so, es ist entweder unsere Rettung, oder unser schnelles Ende.“ „Sie haben Recht, Simmons. Kommen Sie, wir gehen hinauf und geben dem anderen Signal, zu uns aufzuschließen.“ Cavendish warf noch einen Blick auf die Karte. Der Gedanke, dass es vielleicht doch noch eine Rettung geben würde, ließ ihn einen Kloß im Hals spüren.

Die Nachricht des nahenden Schiffes löste unglaublichen Jubel unter der Besatzung und den Passagieren aus. Die bange Hoffnung, es könnte sich um einen Engländer handeln, ließ die Herzen der Menschen höher schlagen. Die meisten waren sich sogar dahingehend einig, dass sie ohne zu zögern auch auf ein Schiff der verhassten Franzosen steigen würden, wenn sie dadurch nur ihr Leben retten würden. Jack Mullan und Lady Roberta waren die einzigen Menschen an Bord, die der Aussicht, dem Tod noch einmal zu entkommen, mit gemischten Gefühlen entgegen sahen. Mullan, weil er es immer noch nicht geschafft hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen und weil ihm die Aussicht auf Rettung den Angstschweiß auf die Stirn trieb, Lady Roberta, weil sie im Bruchteil einer Sekunde erkannte, was die Heirat ihrer Tochter für die Familie gesellschaftlich zu bedeuten hatte. Penelope war für den Rest ihres Lebens an Jacob Hobbs gebunden, eine Tatsache, die Lady Roberta schon schwer getroffen hatte, als noch damit zu rechnen gewesen war, dass sie die Reise alle nicht überleben würden. Nun aber würden die beiden miteinander alt werden und Kinder bekommen, und auch, wenn Penelope diese Aussicht im Moment nicht schreckte, so würde es doch bedeuten, dass sie sich in ihrem bisherigen Umfeld nicht mehr würde blicken lassen können. Und nicht nur das, auch Sir Charles und Lady Roberta würden die Verachtung der Gesellschaft zu spüren bekommen. Die Regeln in den Kreisen, die sie als ihre eigenen betrachteten, waren streng. Ein solcher Fehltritt, wie ihre Tochter ihn begangen hatte und wie sie, als ihre Eltern, ihn nicht verhindert hatten, wäre unweigerlich das Aus, glatter politischer und gesellschaftlicher Selbstmord.

Das fremde Schiff näherte sich der „Pride of England“ und Simmons, der das Fernglas in der Hand hielt, ließ es nicht aus den Augen. Plötzlich breitete sich ein breites Lächeln über sein Gesicht aus. „Ein Engländer“, rief er laut, „Gott sei Dank, es ist ein Engländer!“ Die Besatzung brach in lauten Jubel aus und einige der Matrosen warfen ihre Mützen in die Höhe.

Jack Mullans Hand war in seine Hosentasche geglitten und umfasste die Pistole. Der ölige Lappen, der sie immer noch umhüllte, fühlte sich kalt und glitschig an und Mullan schälte die Waffe langsam heraus, bis er den kalten Stahl spüren konnte. Inmitten dieser jubelnden Menschen fand er endlich den Mut, seinem Leben ein Ende zu setzen und langsam nahm er die Pistole aus der Tasche, hielt sie an die Schläfe und spannte den Hahn. Nur eine winzige Bewegung seines Fingers und sein Elend hätte ein Ende. Er schloss die Augen, aber er kam nicht mehr dazu, abzudrücken. Reverend Hobbs, der trotz der ganzen Aufregung nicht seine Pflicht vergessen hatte und Mullan den mit Wasser gefüllten Eimer geben wollte, erkannte, was der Mann vorhatte und ließ den Eimer fallen. Er stürzte nach vorne und wand dem völlig überrumpelten Mullan die Waffe aus der Hand. Angewidert warf er sie auf die Planken und trat heftig mit dem Fuß dagegen. Die Pistole schlitterte über das Deck und kam weit entfernt, außerhalb Mullans Reichweite zum Liegen. „Machen Sie sich nicht unglücklich, Mann“, rief Hobbs. Mullan versuchte erst noch, sich zu wehren, aber schon bald ließ er in seinen Bemühungen nach und sank zu Boden. Die versammelten Menschen, die diese Szene beobachtet hatten, sahen entsetzt, wie Mullan weinend zusammenbrach. Die erste, die in dieser Situation reagierte, war Matilda Hobbs. Sie ging hinüber zu dem hemmungslos schluchzenden Mann und nahm ihn in die Arme. Unverständliche, leise Worte murmelnd wiegte sie ihn, wie einen Knaben hin und her und versuchte ihn zu trösten. Die anderen waren viel zu sehr in die Betrachtung dieses Schauspiels vertieft, als dass sie bemerkt hätten, welches Drama sich weiter hinten auf Deck anzubahnte. Hobbs hatte die Pistole weggetreten und diese war genau vor den Füßen Lady Robertas liegen geblieben. Als Kind hatte die Frau ihren Vater auf die Jagd begleiten dürfen und sie konnte ausgezeichnet schießen. Sie zögerte keine Sekunde. Eher würde sie am Galgen sterben, als die gesellschaftliche Ächtung in Kauf zu nehmen. Kurz entschlossen hob sie die Waffe auf und legte an. Sie hatte den jungen Hobbs im Visier und noch ehe sie es sich anders überlegen konnte, drückte sie ab.

Penelope hatte wie alle anderen die Szene verfolgt und sie empfand tiefes Mitleid mit Jack Mullan. Wie verzweifelt musste der Geschäftsmann sein, wenn er einen solchen Schritt in Betracht zog. Erst ein Geräusch hinter ihr, ließ sie aufhorchen und sie drehte sich um. Entsetzt sah sie ihre Mutter mit der Pistole in der Hand. Sie hatte auf Jacob angelegt. „Mutter, nein“, schrie Penelope und warf sich ihrem Mann entgegen, genau in die Schussbahn. Die Kugel löste sich aus dem Lauf und flog schnurgerade auf ihr Ziel zu. Doch noch ehe sie es erreichen konnte, hielt ein feiner, weicher Körper den Schuss auf. Penelope sank getroffen zu Boden.

Jacob hatte von all dem nichts mitbekommen. Erst als er den Schuss hörte, drehte er sich um. Gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie seine junge Frau auf den Planken aufschlug. Entsetzt eilte er zu ihr, kniete sich hin und zog sie vorsichtig in seine Arme. Das Gesicht der jungen Frau hatte eine unnatürliche Blässe angenommen und voller Schreck musste er zusehen, wie der Stoff ihres Kleides unterhalb ihrer linken Brust, sich mehr und mehr mit dem Blut Penelopes voll sog. Die Augenlieder der jungen Frau flatterten. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass sie dir etwas antut“, sagte sie matt. Jacob schluckte schwer. „Nicht reden, spar deine Kräfte“, sagte er und dabei merkte er, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Der Blutfleck wurde zu schnell größer und er wusste, dass es für seine junge Frau keine Rettung mehr gab. Auch sie fühlte das Ende nahen und schüttelte mühevoll den Kopf. Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und Jacob sah unter Tränen, welch einen schönen Engel sie im Himmel abgeben würde. „Ich war so glücklich, deine Frau sein zu dürfen“, sagte sie, „und ich werde dich immer lieben.“ Jacob beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die kalten Lippen. Als er sich von ihr löste, hatte sie aufgehört zu atmen.

Das fremde englische Schiff ging am späten Nachmittag dicht neben der „Pride of England“ vor Anker. Es handelte sich um ein gut bewaffnetes Handelsschiff und der Kapitän, Frank Cummings war der erste, der an Bord des Passagierschiffes kam. Er schüttelte Cavendish die Hand und stellte erstaunt fest, dass sein Gegenüber nicht besonders erfreut über die Rettung zu sein schien. Die Passagiere sahen zwar erleichtert aus, aber der Jubel, den Cummings erwartet hatte, blieb ihm versagt. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte er vorsichtig. Cavendish nahm seinen Kollegen am Arm und führte ihn weg von den anderen. „Einer unserer weiblichen Passagiere hat die Nerven verloren und aus Versehen die eigene Tochter erschossen“, raunte er Cummings ins Ohr. Der andere sah in erstaunt an. „Nein, wie schrecklich tragisch“, sagte er. „Ja, und nicht nur das, es handelt sich bei den beiden um hochgestellte Persönlichkeiten. Das Ganze ist äußerst unangenehm, besonders für den Ehemann und Vater.“ „Ich verstehe, die beiden müssen geschützt werden. Ich werde sofort veranlassen, dass sie eine gesonderte Kabine bekommen“, beeilte sich Cummings zu versichern. „Ich bin ihnen sehr verbunden“, erwiderte Cavendish.

Lady Roberta saß schweigend auf einem Fass und starrte vor sich hin. Niemand hatte ein Wort verloren über die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, vielmehr hatten sich alle stillschweigend darauf geeinigt, dass sie selbst wohl am meisten durch ihre Tat gestraft war. Charles hatte sie seither noch keines Blickes gewürdigt, es war so, als existiere sie für ihn gar nicht mehr. Lady Roberta blinzelte die Tränen weg, die sich in ihre Augen schleichen wollten. Dort drüben stand ihr Mann, bei der Leiche der gemeinsamen Tochter und hatte seinen Arm um die Schultern des jungen Hobbs gelegt. Jacob weinte wie ein Kind still vor sich hin und starrte auf Penelope hinunter. Auch sein Vater stand dabei, ausnahmsweise zu betroffen, einen Ton heraus zu bringen. Lady Roberta verzog spöttisch den Mund. Es war Charles einfach nicht klar, was sie auch für ihn hatte tun wollen, aber er würde noch erkennen, was er an ihr hatte. Auch, wenn das ganze so tragisch geendet hatte, würde er früher oder später zugeben müssen, dass sie gar keine andere Wahl gehabt hatte, wenn er seine gesellschaftliche Stellung nicht verlieren wollte. Lady Roberta sah, wie Kapitän Cavendish und auch der Kapitän des Handelsschiffes zu der kleinen Gruppe traten. Cavendish redete auf Sir Charles ein, aber dieser schüttelte nur heftig den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, um was es ging, aber sie bemerkte die Blicke, welche die Männer ihr verstohlen zuwarfen. Schließlich ließen die beiden Kapitäne die Männer stehen und gingen weiter zu den anderen Passagieren. Sir Charles trat zu seiner Frau.

Matilda Hobbs hielt immer noch Jack Mullan im Arm und wiegte ihn hin und her. Ihre beiden jüngeren Söhne standen dabei und schauten ungläubig auf den leise vor sich hin weinenden Mann. Mullan hatte der Frau sein Herz ausgeschüttet und sie hatte ihn getröstet, hatte versucht ihm Hoffnung zu machen. Schon allein die Tatsache, dass jemand für ihn Mitleid empfand, schenkte dem Geschäftsmann Trost und ließ ihn neue Hoffnung schöpfen. „Mrs. Hobbs, Mr. Mullan”, der Kapitän war zu den beiden Menschen getreten. „Wir haben großes Glück. Kapitän Cummings wird uns alle mitnehmen. Er befindet sich mit seinem Schiff auf dem Weg nach Amerika. Es ist ein Handelsschiff und die restliche Überfahrt wird wohl sehr unbequem sein, aber alle sind gerettet.“ „Vielen Dank, Kapitän“, erwiderte Matilda Hobbs, „ich glaube, wir sind in Kürze bereit. Soll ich Sie begleiten und Ihnen helfen, Ihre Sachen zusammenzupacken?“, die letzten Worte hatte sie an Mullan gerichtet, der dankbar nickte. Sie half ihm auf die Beine und die beiden verschwanden im Inneren des Schiffes.

Auch die anderen Passagiere machten sich bereit, die sinkende „Pride of England“ zu verlassen und schließlich waren nur noch zwei der Passagiere an Deck. Lady Roberta auf ihrem Fass und Sir Charles, der nur noch gewartet hatte, bis die anderen verschwunden waren. „Für dich wird es keine Rettung geben, Roberta“, sagte er tonlos. „Aber Charles, du wirst mich doch nicht etwa den Behörden übergeben wollen? Das kannst du doch nicht tun, Charles. Niemand hier wird reden, wenn du es ihnen verbietest. Denk an den Skandal, wenn es tatsächlich zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Das kannst du doch nicht wollen, Charles.“ „In der Tat, Roberta, das ist nicht, was ich will. Es wird schon allein deshalb nicht zu einer Gerichtsverhandlung kommen, weil es keine Angeklagte geben wird.“ Lady Roberta wurde blass. „Wie meinst du das?“, fragte sie leise. „Ganz einfach, meine Liebe. Du kommst nicht mit an Bord des Handelsschiffes, du bleibst hier.“ Lady Roberta spürte, wie ihr Magen weiter nach unten sackte. „Aber das wäre mein Tod“, sagte sie. „Ganz genau, das wird dein Tod“, erwiderte ihr Mann und die Entschlossenheit in seiner Stimme ließ sie keine Sekunde glauben, er könne es nicht ernst meinen.

Passagiere und Besatzung hatten nicht lange gebraucht, ihre Habseligkeiten zusammen zu suchen und schon bald hatten fast alle auf das rettende Handelsschiff übergewechselt. Auch der Leichnam Penelopes war auf das andere Schiff gebracht worden, Jacob hatte ihn selbst getragen. Zum Schluss waren nur noch Sir Charles, Lady Roberta und Edward Cavendish übrig. „Leb wohl, Roberta“, sagte Sir Charles und machte Anstalten, die „Pride of England“ zu verlassen. Lady Roberta klammerte sich an seinen Arm. „Das kannst du nicht tun, Charles“, rief sie und in ihren Augen stand die blanke Panik, „du kannst mich nicht daran hindern mit dir zu kommen.“ „Er nicht, das ist wahr“, Cavendish war zu den beiden Eheleuten getreten, „aber ich.“ Lady Robertas weit aufgerissenen Augen richteten sich auf den Kapitän. „Wie soll ich das verstehen?“, rief sie. Sir Charles wandte sich ein letztes Mal an seine Frau. „Kapitän Cavendish wird mit dir zusammen hier an Bord bleiben“, sagte er. Cavendish zuckte mit den Schultern und lächelte schief. „Es ist schließlich ein sehr alter Brauch für einen Kapitän, mit seinem Schiff zusammen unterzugehen.“ Mit diesen Worten hielt er Lady Roberta am Arm fest. Sir Charles entwand sich ihrem Griff und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Schiff. Entsetzt musste Lady Roberta mit ansehen, wie das Handelsschiff den Anker lichtete, wie die Segel gesetzt wurden und wie es sich rasch von der Stelle entfernte, an der die „Pride of England“ auf ihren Untergang wartete.

Keiner der Passagiere sagte ein Wort, als Sir Charles ohne seine Frau und ohne den Kapitän an Bord des Handelsschiffes kam. Reverend Hobbs legte ihm lediglich tröstend die Hand auf die Schulter, aber er konnte im Blick des Mannes lesen, dass es für ihn keinen Trost gab. Das Leid, das seine Frau über ihn gebracht hatte, war so unvorstellbar groß, dass es dem Reverend fast das Herz zerriss. Auch Jacob war untröstlich. Aber er war noch jung, würde vielleicht irgendwann über den Verlust hinwegkommen, sich eine andere Frau suchen und mit dieser eine Familie gründen.

Die Passagiere standen noch lange an der Reling des Handelsschiffes und sahen hinüber zu dem Schiff, das sie in den vergangenen Wochen über den Atlantik getragen hatte. Kurz vor Sonnenuntergang konnten sie sehen, wie es plötzlich heftige Schlagseite bekam und kurz darauf gurgelnd in den Meeresfluten versank. Die „Pride of England“ war untergegangen.

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2012

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