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In einem Land, weit entfernt von allen Ländern, von denen du schon einmal gehört hast, lebte einst ein guter und freundlicher König. Sein Name war Danar und er wurde von seinem ganzen Volk geliebt. Noch mehr als den König liebten die Menschen aber seine Frau, Königin Yasmina, denn sie war nicht nur außergewöhnlich schön, sondern auch klug und besonnen, hatte für die Nöte und Sorgen der Menschen immer ein offenes Ohr und verweigerte niemandem ihre Hilfe. Zu ihrem großen Kummer hatten die beiden keine Kinder und König Danar, dem die Traurigkeit seiner Frau darüber zu Herzen ging, war ständig auf der Suche nach Dingen, die er Königin Yasmina schenken konnte, um sie wenigstens für eine kleine Weile fröhlich zu stimmen. So kaufte er eines Tages bei einem Händler eine Nachtigall und schenkte sie der Königin. Der Vogel saß in einem goldenen Käfig und sang so schön, dass jeder, der diesen Gesang hörte, bald all seinen Kummer vergaß, so auch Königin Yasmina, die den Melodien der Nachtigall jeden Abend bevor sie zu Bett ging, lauschte.

König Danar und Königin Yasmina regierten das Land mit Güte und Freundlichkeit und als die beiden schon gar nicht mehr darauf zu hoffen gewagt hatten, begab es sich, dass die Königin ein Kind erwartete. Der Jubel im Land, als die Nachricht verbreitet wurde, war unbeschreiblich und die Menschen feierten tagelange Feste, denn sie alle freuten sich für ihren König und ihre Königin. Aber die Freude war nicht von langer Dauer, denn kaum war das Kind geboren, ein gesundes, wunderschönes Mädchen, starb Königin Yasmina und König Danar verfiel in tiefe Trauer und mit ihm das ganze Volk. Ja, sogar das Land selbst trauerte um die tote Königin, so sehr, dass es aus schweren Wolken anfing zu schneien und gar nicht mehr aufhören wollte. Es schneite viele Tage, Wochen und Monate lang, schließlich sogar viele Jahre, sodass die Kinder sich nicht an eine Zeit erinnern konnten, in der die Felder, Wiesen und Wälder nicht von Schnee bedeckt waren.

Mehr als alle anderen aber trauerte König Danar. Nicht einmal der liebliche Gesang der Nachtigall konnte seinen Schmerz über den Verlust der Königin lindern, sondern er machte ihn nur noch trauriger, da er ihn daran erinnerte, wie gern Königin Yasmina dem Vogel zugehört hatte. Schließlich konnte er die Lieder der Nachtigall nicht länger ertragen und er wies einen Diener an, den Käfig in den Garten zu bringen. Der Mann erschrak.
„Aber Herr“, sagte er, „es ist bitterkalt draußen. Der Vogel wird sterben.“ König Danar sah den Diener traurig an.
„Ja, das wird er“, erwiderte er und rieb sich ein paarmal mit der Hand über die Stirn, so als wollte er die Sorgen, welche dahinter lagen, vertreiben. Dann blickte er dem Diener, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte, tief in die Augen.
„Bring den Käfig in den Garten“, wiederholte er seinen Befehl und der Diener, der sah, dass er nichts ausrichten konnte, schluckte schwer, verneigte sich und verließ das Schloss mit dem Vogelkäfig in den Händen. Er empfand großes Mitleid mit der Nachtigall, aber er wagte es nicht, sich dem König zu widersetzen und so suchte er den ganzen Garten ab, ob er nicht eine geschützte Stelle fände, an der der Vogel nicht erfrieren würde. Aber so sehr er auch suchte, er konnte keinen geeigneten Platz finden und so stellte er den Käfig schließlich in eine kleine Laube, ganz am Rand des Gartens, sah die Nachtigall noch einmal mitleidig an, drehte sich um und eilte zurück ins Schloss. Die Nachtigall schaute sich um und fing an zu singen, süßer und lieblicher als sie je zuvor gesungen hatte und sie hörte auch dann nicht auf, als sich der Käfig langsam von unten nach oben mit Eis füllte. Erst war nur der Boden bedeckt, dann erreichte das Eis die Stange, auf welcher die Nachtigall saß. Sie sang immer weiter, auch dann noch, als ihre Füße schon im immer dichter werdenden Eis eingeschlossen wurden. Immer höher und höher stieg das Eis, umschloss ihren Bauch, schließlich ihre Brust und erst als auch der Schnabel vom Eis erfasst wurde, hörte sie auf zu singen und ergab sich der eisigen Kälte. Der Diener, der am nächsten Tag nach ihr sah, fühlte sein Herz schwer werden, als er den Eisblock erblickte, in dem inzwischen der ganze Käfig eingeschlossen war und er erkannte, dass er der Nachtigall nicht mehr würde helfen können. Traurig ließ er den Käfig in der kleinen Laube stehen und ging zurück ins Schloss.

Viele Jahre vergingen und die Prinzessin, die den Namen Yanara erhalten hatte, wuchs zu einem schönen jungen Mädchen heran. Sie war stets freundlich und die Menschen winkten ihr gerne zu, wenn sie, dick eingemummt in Pelze und Decken, in ihrem Pferdeschlitten an ihnen vorbei gefahren wurde, dass die Glöckchen am Pferdegeschirr nur so schellten. Auch sie, genau wie alle Mädchen und Jungen, die so alt oder jünger waren als die Prinzessin, kannte das Land nur tief verschneit und so lauschte sie voller Staunen den Erzählungen der Erwachsenen, wenn diese davon sprachen, wie grün und hell es früher gewesen war. Sie hatte oft versucht mit ihrem Vater, König Danar, zu reden und ihn von seiner Trauer zu erlösen, aber es war ihr nie gelungen. Den König schien ihr Anblick nur noch trauriger zu machen, und so war es auch, denn die Prinzessin war ihrer Mutter so ähnlich, dass es dem König jedes Mal einen glühenden Stich in die Seele gab, wenn er seine Tochter ansah. Als sie noch jünger gewesen war, hatten die Kinderfräulein, die sich um sie gekümmert hatten, ihr nie erlaubt, längere Zeit draußen zu verbringen, aber als sie sechzehn Jahre alt wurde und keine Kinderfräulein mehr brauchte, machte sie es sich zur Gewohnheit, jeden Tag ein paar Stunden im Garten zu verbringen. Prinzessen Yanara war an die Kälte gewöhnt und so konnte diese ihr nichts anhaben. So kam es, dass sie eines Tages auch an die Stelle kam, an der die Nachtigall im Eis eingeschlossen war. Neugierig ging die Prinzessin näher an den Eisblock heran und sie erschrak, als sie darin den Vogel erblickte. Schnell lief sie zurück ins Schloss und sprach den ersten Diener an, dem sie in die Arme lief. Der Zufall wollte es, dass es gerade der Mann war, der vor vielen Jahren die Nachtigall in den Garten getragen hatte.
„Ich erinnere mich an die Nachtigall“, sagte er, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, „denn ich war es, der sie dorthin gestellt hat.“ Prinzessin Yanara sog erschrocken die Luft ein.
„Warum hast du das nur getan?“, fragte sie, „Wie konntest du nur so grausam sein?“ Da erzählte der Diener ihr von der Anweisung des Königs und auch davon, wie sehr ihre Mutter an der Nachtigall gehangen hatte und wie gerne sie diese hatte singen hören. Die Prinzessin runzelte die Stirn.
„Ich habe noch nie eine Nachtigall singen hören“, sagte sie. Der Diener schenkte ihr erneut sein trauriges Lächeln.
„Früher gab es hier im Land einige Nachtigallen. Aber sie mögen den Winter nicht und als es angefangen hat zu schneien, sind sie alle in wärmere Länder gezogen.“
„Gibt es denn keine Möglichkeit die Nachtigallen zurück zu holen?“
„Nur, wenn es nicht mehr schneit und wenn der Sommer in unser Land zurück kehrt. Aber so lange der König so voller Trauer ist, müssen wir alle wohl auf den Sommer und den Gesang der Nachtigallen verzichten.“
„Dann müssen wir einen Weg finden, ihn wieder glücklich zu machen“, sagte die Prinzessin entschlossen.
„Wenn du das schaffst“ erwiderte der Diener, „stehen wir alle in deiner Schuld.“ Dann verbeugte er sich kurz und ließ die Prinzessin allein zurück.

Nach diesem Gespräch versuchte Prinzessin Yanara alles, um ihrem Vater seine Lebensfreude zurück zu geben. Sie bestellte Gaukler und Possenreißer auf das Schloss, ließ Barden ihre lustigsten Lieder singen und Geschichtenerzähler ihre merkwürdigsten Geschichten vortragen. Aber egal, was sie auch machte und wie sehr sie sich auch bemühte, nichts und niemand konnte den Schleier der Trauer von den Schultern des Königs ziehen. Prinzessin Yanara wurde immer verzweifelter und sie verbrachte jeden Tag viele Stunden im Garten in der Kälte und schaute sehnsüchtig auf die Nachtigall im Eis. Als wieder einmal ein Gaukler seine Späße ganz umsonst getrieben hatte, war sie so enttäuscht und niedergeschlagen, dass sie anfing zu weinen. Heiße Tränen liefen an ihren Wangen hinunter und schließlich tropfte eine davon auf das Eis, das den Käfig schon so viele Jahre hindurch fest umschlossen hielt. Kaum berührte die Träne das Eis, da erklang ein hoher, silbriger Ton, ganz so, als wäre eine Glocke angeschlagen worden. Der Ton schwoll an, wurde lauter und lauter, so laut, dass die Prinzessin sich die Ohren zuhalten musste. Als sie schon dachte, sie könne den Ton nicht länger ertragen, brach er plötzlich ab und an seine Stelle trat ein Knacken und Knirschen, als würde ein Riese seine Zähne aufeinander pressen und hin und her bewegen und im Eis zeigten sich hunderte haarfeiner Risse. Staunend sah die Prinzessin, dass der Vogel im Innern anfing zu leuchten und je heller er leuchtete, desto tiefer wurden die Risse im Eis, bis schließlich das ganze Eis mit Getöse auseinandergesprengt wurde. Atemlos verfolgte die Prinzessin das Schauspiel und blickte auf die Nachtigall. Der Vogel schüttelte sein Gefieder, so als wäre er nie im Eis eingeschlossen gewesen und begann fröhlich zu singen. Prinzessin Yanara wurde es ganz warm ums Herz und sie jubelte vor Freude.
„Du lebst ja“, rief sie und lachte und weinte gleichzeitig.
„Und wie schön du singst!“ Sie hob den Käfig hoch und die Nachtigall stimmte einen neuen Gesang an, trillerte und jubilierte schöner als zuvor. Die Prinzessin hielt den Käfig ganz fest und lief so schnell sie konnte, zurück ins Schloss, rannte die Treppen hinauf, hielt nicht an, bis sie bei ihrem Vater war.

König Danar saß auf seinem Thron und sah langsam auf, als seine Tochter in den Saal stürmte. Kaum hatte sie den Thronsaal betreten, blieb Prinzessin Yanara atemlos stehen, voller Angst davor, was der König sagen würde, wenn er sähe, dass die Nachtigall, die seit sie in das Schloss getragen worden war, aufgehört hatte zu singen, all die Jahre im Eis unbeschadet überstanden hatte. So senkte das Mädchen den Kopf, schloss die Augen und hielt den Käfig hoch. Langsam erhob sich König Danar von seinem Thron und ging auf seine Tochter zu. Als er sie fast erreicht hatte, blieb er stehen und starrte ungläubig auf die Nachtigall und genau in diesem Moment begann der Vogel zu singen. Der König stand ganz still und lauschte. Er hatte ganz vergessen, wie wunderbar der Gesang der Nachtigall war und die Töne griffen nach seinem Herzen und es war ihm, als würde ein Knoten, der lange, lange Zeit in seiner Brust gelegen hatte, gelöst. Zwei Tränen liefen ihm über die Wangen, aber es waren keine Tränen der Trauer mehr, sondern Tränen der Erleichterung, denn er fühlte sich, als wäre er von eisernen Fesseln befreit worden. Vorsichtig nahm er den Käfig in seine Hände, trug ihn durch den ganzen Saal bis hin zu seinem Thron, stellte ihn dort behutsam auf ein Tischchen und wandte sich zu seiner Tochter. Es war ihm, als sähe er das Mädchen zum ersten Male richtig und er erkannte, dass sie nicht nur ihrer Mutter, sondern auch ihm selbst ähnlich war. Langsam ging der König zu ihr und schloss sie fest in seine Arme. In diesem Moment riss die Wolkendecke, die so lange über dem Land gelegen hatte auf und die Sonne schien warm und hell, schickte ihre Strahlen zu jedem Fleck im Königreich und der Schnee schmolz in Windeseile dahin. Die Menschen öffneten die Fenster und streckten ihre Gesichter nach draußen und viele jubelten und sangen vor Freude. König Danar und Prinzessin Yanara aber standen noch lange im Thronsaal und umarmten sich und die Nachtigall trällerte ihr schönstes Lied dazu.

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Texte: Das Copyright liegt allein bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2012

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