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Hector Hühnlein war ein durch und durch grauer Mann. Sein Anzug war so grau wie ein Regentag im November, seine Schuhe grau wie der Abrieb eines harten Bleistifts und selbst seine Krawatte hatte das unaufdringliche Grau einer unangestrichenen Betonwand. Seine Haare, seine Augen, seine Haut – alles mausgrau. Und sein Leben? Hätte Hector Hühnlein, was er nicht tat, jemals über sein Leben nachgedacht, so hätte er sich eingestehen müssen, dass auch sein Leben grau war; grau und ereignislos. Seine Mutter, die ihn allein in der grauen Wohnung großgezogen hatte, in der schon seine Großeltern und seine Urgroßeltern gewohnt hatten, zwischen all den Möbeln, die so praktisch und so unverwüstlich waren und die daher nie hatten ersetzt werden müssen, hatte ihm in einem Anflug von postnataler Euphorie den Namen Hector gegeben. Sie hatte wohl die Hoffnung gehabt, dass aus ihm einmal etwas werden würde, etwas unbestimmt Großes; aber schon als er noch ein Säugling gewesen war, hatten sich die Hoffnungen in Nichts, in grauen Rauch aufgelöst. Der kleine Hector schrie wenig, war ein zufriedenes Baby, eines, in dessen Kinderwagen kaum einmal eine der alten Damen, die sich neugierig darüber beugten, einen zweiten Blick warf. Der graue Säugling war einfach uninteressant. Jetzt, vierzig graue Jahre später, war er alleinstehend und Buchhalter bei Friedrich, Friedrich und Partner. Er erledigte seine Aufgaben zuverlässig, aber unauffällig, war selten krank, nie für eine Beförderung vorgeschlagen worden und wäre nie auf den Gedanken gekommen, eine solche zu verlangen.

„Haben Sie die Akte Michels schon bearbeitet?“, die Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, war schneidend. Hector Hühnlein drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. „Noch nicht, Herr Dr. Friedrich, aber ich bin gerade dran. Ich musste doch erst noch...“ „Details, mein Lieber, Details. Verschwenden Sie nicht meine Zeit. Halten Sie sich ran, die Akte muss heute noch fertig werden.“ Hector Hühnlein unterdrückte ein Seufzen, als er auf die Uhr schaute. „Herr Dr. Friedrich, es ist schon fast fünf Uhr und ich müsste...“ „Schon wieder nur Details. Mensch Hühnlein, nun reißen Sie sich aber mal zusammen. Ich dachte, Ihnen wäre klar, wie wichtig der Fall ist. Also, machen Sie das heute fertig, verstanden?“ „Selbstverständlich, Herr Dr. Friedrich.“
Es war bereits kurz nach acht, als Hector Hühnlein die Akte Michels zuklappte. Der kleine Laden, der auf dem Weg zu seiner Wohnung lag und in dem er zweimal in der Woche einzukaufen pflegte, schloss um Punkt acht Uhr. So würde ihm heute nichts Anderes übrig bleiben, als in den neuen Supermarkt zu gehen, etwas abseits seiner gewohnten Route, denn dieser hatte, so lautete die verlockende Plakatwerbung, nicht nur die frischesten Produkte, sondern auch bis zehn Uhr geöffnet. Hector Hühnlein zog den Krawattenknoten nach, nahm seine Aktentasche und verließ das Büro. Noch vor zwei Wochen hätte er seinen grauen Mantel getragen, aber jetzt war es Mitte Mai und der Mantel lag im Kleiderschrank im Gästezimmer zusammen mit seiner anderen Wintergarderobe, behandelt mit Mottenpulver und ordentlich zusammengelegt in einem eigens zu diesem Zweck angeschafften grauen Plastiksack.
Der Supermarkt war hell erleuchtet, obwohl die Sonne zu dieser Jahreszeit noch längst nicht untergegangen war und Hector Hühnlein überschlug im Kopf, was diese Festbeleuchtung wohl täglich kosten mochte. Das Ergebnis erschreckte ihn und so war er erstaunt, dass die Produkte in diesem Markt um etwa – so rechnete er schnell nach – dennoch ein halbes Prozent billiger waren, als in dem kleinen Laden. Er schob den Einkaufswagen durch die Gänge auf der Suche nach den Dingen, die er immer einkaufte. Dabei hatte Hector Hühnlein Schwierigkeiten, sich in der Fülle der Regale und Waren zurecht zu finden und bog mehrmals in einen Gang ein, in dem er nichts von dem fand, das er suchte. So dauerte es länger als gewöhnlich, bis er seinen Wagen gefüllt hatte. Bemüht, nur Dinge zu kaufen, die ihm vertraut waren, befand sich nicht allzu viel in seinem Korb, als er merkte, dass er noch Käse brauchte. Er steuerte hinüber, ganz ans andere Ende des Ladens zu dem Kühlregal, in welchem er abgepackten mittelalten Gouda zu finden hoffte. Doch die Stelle im Regal, in dem der Käse normalerweise auf Käufer wartete, war leer. Lediglich ein Schildchen zeigte ihm, wo der Gouda hätte sein sollen. Hector Hühnlein erwog kurz, den Supermarkt ohne den Gouda zu verlassen, aber er hatte schon ein halbes Brot in seinen Wagen gelegt und so fühlte er, dass es kein Zurück gab. Er würde all seinen Mut zusammennehmen müssen und den mittelalten Gouda an der Käsetheke erstehen. Ergeben lenkte er den Einkaufswagen hinüber zu der Frischkäsetheke und wartete geduldig darauf, dass er an die Reihe kam. Währenddessen inspizierte er eingehend seine Schuhspitzen und vermied jeglichen Augenkontakt mit den anderen späten Einkäufern. So kam es, dass er die Frau an der Käsetheke zum ersten Mal ansah, als sie das Wort an ihn richtete. „Was darf’s denn sein?“ Hector Hühnlein schaute auf und sein Blick traf auf zwei freundliche, braune Augen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit einer Eisenfaust in den Magen geschlagen. Die Frau, die hier an der Theke stand und Käse verkaufte, kam ihm so unglaublich schön vor, dass er es nicht hätte in Worte fassen können. Sie war weder zu groß, noch zu klein, vielleicht dreißig oder auch fünfunddreißig Jahre alt und ihr Lächeln war so aufrichtig, dass es Hector Hühnlein ganz warm ums Herz wurde. Erstaunlicherweise schien er der einzige Mensch im Supermarkt zu sein, der die Schönheit der Frau erkannte. Weder der Herr, der vor ihm an der Käsetheke gestanden hatte, noch einer der Männer hinter ihm, schien sie überhaupt wahr zu nehmen. Hector Hühnlein starrte sie weiter an, wie sie da stand mit ihrer Schürze, auf der einige Flecken Zeugnis davon ablegten, dass ihre Schicht heute schon länger andauerte. Er sah das Namensschildchen an ihrer Brust. „Renate Maier“ stand darauf und ihm war, als hätte es nie einen schöneren Namen gegeben. „Was kann ich Ihnen geben?“, fragte sie, immer noch lächelnd und Hector Hühnlein zwang sich, seine Gedanken wieder auf den Käse zu richten, dessentwegen er gekommen war. „Fünf Scheiben von dem mittelalten Gouda, bitte“, sagte er und räusperte sich. Ein dicker Kloß steckte in seiner Kehle. Mit geübten Bewegungen nahm Renate Maier den Käselaib, legte ihn auf die Schneidemaschine und schnitt die fünf Scheiben herunter. Dann wog sie sie ab und verpackte sie geschickt in Wachspapier. „Darf es sonst noch etwas sein? Vielleicht ein Ziegenkäse, der ist im Angebot.“ Hector Hühnlein schüttelte den Kopf. „Nein, danke“, krächzte er und schon hielt er das Käsepaket in den Händen. Die nachfolgenden Kunden drängten ihn ab und ehe er sich versah, stand er schon an der Kasse, musste bezahlen und den Laden verlassen, in dem es für ihn nichts weiter zu tun gab. Die rund fünfhundert Meter zu seiner Wohnung legte er leise vor sich hin lächelnd zurück. Die Plastiktüte in seiner Hand schien keinerlei Gewicht zu haben und doch wog der mittelalte Gouda darin schwerer, als je ein Käse zuvor.
Zuhause angekommen riss er die Tüte fast auseinander in dem Wunsch, den Käse freizulegen, den Gouda, den Renate Maier nur für ihn vom Laib geschnitten hatte. Ehrfürchtig nahm er das Paket in die Hand und befreite die Scheiben aus dem Wachspapier. Rasch schnitt er von dem Brot ab und legte eine Scheibe davon vor sich hin. Fast schon andächtig nahm er die erste Scheibe Gouda und legte sie auf das Brot. Bildete er sich das nur ein oder roch der Gouda frischer als sonst. Er biss in sein Käsebrot, kaute gründlich, wurde sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – vollends des Geschmacks bewusst und fragte sich, warum er nicht doch den empfohlenen Ziegenkäse gekauft hatte. Die Antwort war simpel. Ziegenkäse hatte er noch nie gegessen und er war nicht der Typ, der ein Risiko, nicht einmal ein geschmackliches, eingehen würde. Er aß den gesamten Gouda, aß weiter, als er schon längst keinen Hunger mehr hatte. Am Ende war ihm fast schlecht und er musste sich auf sein graues Sofa setzten, den Bauch nach oben gereckt und die Füße von sich gestreckt. So saß er eine Weile regungslos und merkte nicht, wie er in einen leichten Schlaf hinüberglitt.

Das Meer, durch das er schwamm war gelb. Er tat einen Schwimmzug nach dem anderen und obwohl das Wasser merkwürdig zäh und klebrig zu sein schien, hatte er keine Mühe, vorwärts zu kommen. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er gar nicht durch Wasser, sondern durch geschmolzenen Käse schwamm. Kaum hatte er das erkannt, wurde er auch schon an den Strand einer kleinen Insel geschwemmt. Er rappelte sich auf und als er sich umsah, bemerkte er, dass das Meer, das die Insel umspülte lapislazuliblau im Sonnenlicht schimmerte. Er selbst trug ein flammend rotes Hemd, das so geschnitten war, wie er es aus Piratenfilmen kannte. Er begann zu laufen und die Landschaft um ihn her änderte sich schlagartig. Ein dichter grüner Wald umgab ihn, er fühlte, dass er auf einer Mission war, die er noch nicht kannte und von der er doch schon seit seiner Geburt wusste. Schlingpflanzen versperrten ihm den Weg, aber eine einzige Bewegung seiner Hand genügte und der dichte Vorhang glitt zur Seite, gab einen geraden Weg frei. Am Ende des Weges, auf einem Hügel, stand ein Schloss aus bonbonrosafarbenem Zucker. Im obersten Turm war die Prinzessin, die darauf wartete, von ihm gerettet zu werden. Kaum hatte er einen Schritt hinaus auf den Weg gemacht, so stand er auch schon in einer Höhle, tief unter der Erde. Rotglühende Lava floss durch Kanäle und er musste aufpassen, nicht hinein zu fallen. Aber irgendwie wusste er, dass es nicht seine Bestimmung war zu fallen. Das Fauchen eines Drachen ließ ihn aufschauen und er stieß mit dem Schwert, das sich mit einem Mal in seiner Hand befand nach den Nüstern des schuppigen Fabeltieres. Den Kopf des Ungeheuers zierten eitrige Beulen und Hector Hühnlein sah erstaunt, dass der Drache eine Brille trug, eine Hornbrille. Gab es überhaupt Brillen in dieser Größe? Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Brille bei dem Optiker gesehen zu haben, bei dem er regelmäßig alle fünf Jahre eine neue Brille erstand. „Details“, zischte der Drache und Hector Hühnlein, von unbestimmtem Grauen erfasst, stolperte rückwärts. Der Drache flößte ihm eiskalte Furcht ein und fast wäre er nicht weiter gegangen, aber da war auf einmal gar kein Drache mehr vor ihm, sondern eine Brücke. Sie überspannte eine tiefe Schlucht und führte schnurgerade nach oben. Lang war die Brücke, so lang, dass ihr Ende sich im Nebel auf der anderen Seite verlor. Er setzte einen Fuß darauf und da war es gar keine Brücke mehr, sondern ein Regenbogen. Staunend ging er weiter, immer weiter hinauf, hinein in den Nebel und da sah er sie. Ganz in Gold gekleidet stand sie da auf dem Rücken einer riesigen schneeweißen Ziege. Sie breitete lächelnd die Arme aus. „Was darf’s denn sein?“, fragte sie. Er wollte zu ihr gehen, aber abermals stand er in der Drachenhöhle und abermals zischte das Ungeheuer: „Details, mein Lieber, Details.“ Die Stimme des Drachen schien aus vielen Stimmen zu bestehen und Hector Hühnlein stieß mit aller Kraft mit seinem Schwert nach ihm, konnte ihn nicht erreichen. Mit einem Mal stand sie in der Höhle, war ihm ganz nah und der Drache verblasste, wurde durchsichtig wie Glas. „Details“, seine Stimme war nur noch ein hohes Fiepen. „Details“, es machte „Plopp“ und der Drache war verschwunden, nichts weiter als eine kleine blaue Rauchwolke, die über den Boden der Höhle kroch und in den Lavaströmen versank. Der Regenbogen brach über ihm zusammen, übergoss ihn mit allen seinen Farben, hüllte ihn ein. Sie war an seiner Seite. „Darf es sonst noch etwas sein?“, fragte sie lächelnd.
Er drehte sich zu ihr...

...und fiel mit einem lauten Poltern vom Sofa. Verwirrt schaute Hector Hühnlein sich um und fast begann er zu weinen, als er sah, dass er kein rotes Piratenhemd trug, dass er in seiner grauen Wohnung auf dem Boden lag und dass auch sie nicht an seiner Seite war. Er rappelte sich auf und strich sich mit den Händen durch die Haare und über die Kleider, bemüht, sich an jede Kleinigkeit in seinem Traum zu erinnern. Er fühlte sich immer noch nicht ganz wohl. Der Gouda lag ihm schwer im Magen und verursachte ein, ihm bis dahin unbekanntes Völlegefühl. Nachdenklich schaute er zur Uhr. Halb zehn, er hatte nicht lange geschlafen. Der Supermarkt würde um zehn Uhr schließen. Wenn er sich beeilen würde...
Es wäre interessant herauszufinden, wie Ziegenkäse schmeckte.

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Tag der Veröffentlichung: 05.02.2012

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