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Es war einmal, vor langer, langer Zeit, da lebte in einem Schloss inmitten eines tiefen, dunklen Waldes ein junger Königssohn. Sein Name war Tibus. Außer ihm gab es weit und breit keinen weiteren Menschen. Die Dienerinnen und Diener, die ihn umgaben und mit allem versorgten, was er zum Leben brauchte, waren allesamt Spinnen, Fliegen und Käfer, groß wie Menschen, aber stumm. Nur die Gottesanbeterin, welche die anderen Insekten befehligte, konnte sprechen, aber sie tat es nur selten und wenn, dann klang ihre Stimme wie das krächzende Schnarren einer ungeölten Tür. So lange sich Tibus erinnern konnte, hatte er in diesem Schloss gelebt, hatte es nie verlassen und niemals einen anderen Menschen gesehen.
So erstaunte es ihn über die Maßen, als ihm einmal auf einem seiner Spaziergänge durch den Garten aus einem Busch ein paar brauner Augen entgegensah. Zögernd ging er näher heran und erkannte, dass sie einem jungen Mädchen gehörten.
„Wer bist du?“, fragte er.
Das Mädchen blinzelte kurz.
„Sind die Insekten in der Nähe?“, raunte es.
Tibus schaute sich um und schüttelte den Kopf.
„Nein.“
Das Mädchen schlüpfte hinter dem Busch hervor. Es war in Lumpen gekleidet, das Gesicht war schmutzig, die verfilzten Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab. Der Blick aus den braunen Augen huschte hin und her, und erst als sie sich vergewissert hatte, dass sie mit Tibus allein war, lächelte sie und ihre Zähne blitzten auf.
„Mein Name ist Genterra“, sagte sie.
„Ich heiße Tibus.“
„Ja, ich weiß.“
Der Blick, mit dem das Mädchen den jungen Königssohn musterte, wurde traurig. „Woher denn?“, fragte Tibus erstaunt.
Ein Geräusch aus Richtung des Schlosses ließ Genterra aufhorchen und noch bevor Tibus eine Antwort bekam, wandte sie sich um und verschwand lautlos hinter dem Busch. Der junge Königssohn schaute ihr verwundert nach, wollte ihr schon hinterher gehen, als er die schnarrende Stimme der Gottesanbeterin hörte.
„Ist alles in Ordnung, Tibus?“, fragte sie.
Er nickte, wandte sich zögernd um und ging in Richtung des Schlosses. Warum er seiner obersten Dienerin nichts von dem Mädchen erzählt hatte, wusste er nicht zu sagen, aber er behielt die Begegnung auch in den kommenden Tagen für sich.

Von nun an ging er jeden Morgen zu dem Busch, immer sorgsam darauf bedacht, dass ihm keines der Insekten folgte. Es sollte aber noch drei Tage dauern, bis er Genterra wieder sah. Dieses Mal schlüpfte sie ohne ein Wort zu sagen hinter dem Busch hervor, blickte unruhig hin und her, nahm ihn bei der Hand und zog ihn in das dichte Unterholz, tief hinein in den Wald. Erst als von dem Schloss nichts mehr zu sehen war, hielt sie an und hockte sich auf den Boden. Tibus nahm neben ihr Platz. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er.
Wieder blickte sie ihn traurig an.
„Weißt du denn gar nicht, wer du bist?“, erwiderte sie.
„Doch, ich bin Tibus“, sagte er. Das Mädchen fing an, ihn zu verärgern.
„Ich meine, weißt du denn gar nichts von deinen Eltern?“
Tibus überlegte nicht lange.
„Ich habe keine Eltern“, sagte er, „die Gottesanbeterin sorgt für mich.“
Genterra schnaubte verächtlich durch die Nase.
„Die Gottesanbeterin ist doch auch nur eine Dienerin Mandurans des Zauberers.“
„Vielleicht solltest du von Anfang an erzählen“, schlug Tibus vor, „ich verstehe im Augenblick nichts von all dem, was du sagst.“
„Du bist der Sohn von Tandus, dem letzten freien König unseres Landes“, begann sie, „und von Königin Sybylla, die bei deiner Geburt starb. Dein Vater war darüber so traurig, dass er sich zurückzog und sich nicht mehr um die Geschicke seines Landes kümmerte. Manduran, der Zauberer, sah, dass die Gelegenheit gekommen war, anzugreifen. So versammelte er eine Armee Insekten um sich, verzauberte sie, sodass sie genau so groß waren wie Menschen und griff mit ihrer Hilfe das Reich deines Vaters an. Über Nacht eroberte er es, tötete viele seiner Einwohner und nahm deinen Vater gefangen. Seitdem sitzt König Tandus im tiefsten Kerker der Spinnenfestung und keiner hat ihn je wieder zu Gesicht bekommen. Du aber wurdest verschleppt an einen unbekannten Ort. Es hat mich drei lange Jahre gekostet, dich zu finden.“
Tibus war von den Worten Genterras zutiefst erschrocken.
„Warum hast du nach mir gesucht?“, fragte er.
„Mandurans Herrschaft über das Land ist grausam und böse. Einer Weissagung zufolge kann er nur von einem Mitglied der königlichen Familie gestürzt werden. Du bist der letzte deiner Familie, daher kannst nur du die Weissagung erfüllen. Wenn du scheiterst, ist alles verloren und Manduran herrscht für alle Zeiten über uns und unser Land.“
Tibus wurde blass.
„Wie soll ich allein denn Manduran stürzen?“, fragte er, „ich weiß ja nicht einmal, wo er zu finden ist.“
„Seine Festung liegt sieben Tagesreisen von hier entfernt“, sagte Genterra „und du brauchst dich nicht zu fürchten, du bist nicht allein. Ich werde mit dir kommen.“

Tibus kehrte nicht zu dem Schloss zurück, sondern machte sich mit Genterra sogleich auf den Weg. Sie wanderten sieben Tage lang und am Ende des siebten Tages erreichten die beiden jungen Menschen den Saum des Waldes und traten hinaus auf eine weite Ebene. Die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen darüber hin und Tibus und Genterra sahen in weiter Ferne eine Festung stehen. Sie war schwarz und kreisrund und stand inmitten eines riesigen, bedrohlich wirkenden Spinnennetzes. Daher hatte sie auch den Namen Spinnenfestung. Tibus schauderte bei dem Anblick und er fühlte sich, als griffe eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. „Müssen wir dort hinein?“, fragte er leise.
Genterra nickte ernst.
„Manduran lebt im Innern dieser Festung“, sagte sie.
„Wie kommen wir hinein? Ist die Festung nicht bewacht?“
„Natürlich ist sie bewacht“, piepste ein helles Stimmchen zu seinen Füßen.
Erstaunt sah Tibus nach unten. Im dichten Gras leuchtete etwas, das aussah wie ein kleines Glühwürmchen. Die beiden jungen Menschen beugten sich hinab und erkannten eine winzige Elfe, die sich elegant auf einem Grashalm niedergelassen hatte. Ihre Flügelchen blinkten abwechselnd in allen Farben des Regenbogens und sie wippte vergnügt mit ihren kleinen Füßen.
„Weißt du denn, wie man in die Festung hineinkommt?“, fragte Genterra und die Elfe nickte so eifrig, dass ihr der Kelch der Glockenblume, den sie als Hut trug, über die Augen rutschte.
„Natürlich“, sagte sie, „aber es ist nicht leicht. Ihr werdet eine Menge Mut brauchen.“
„Wir haben keine Angst“, versicherte Genterra.
„Ich schon“, wandte Tibus ein. „Ich muss gestehen, allein der Anblick der Festung lehrt mich das Fürchten.“
„Das ist schlecht“, sagte die Elfe und das Licht ihrer Flügel flackerte. „Ich hatte gehofft, Ihr könntet den Zauberer besiegen. Aber wenn ihr euch fürchtet, wird nichts daraus.“
„Warum nicht?“, fragte Genterra.
Die Elfe gab dem Glockenblumenhut einen Schubs und dieser rutschte ihr mit Schwung in den Nacken.
„Manduran zieht seine ganze Kraft aus der Angst der Menschen. Je mehr sie ihn fürchten, desto stärker wird er. Stellt sich ihm aber jemand in den Weg, der keine Angst vor ihm hat, so hat er keine Macht über ihn.“
„Ich habe noch nie mutig sein müssen“, sagte Tibus nachdenklich, „ich weiß gar nicht, ob ich es sein kann.“
Genterra legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Vergiss nicht, ich werde mit dir kommen. Gemeinsam treten wir Manduran entgegen.“
„Nehmt mich auch mit“, piepste die Elfe, „ich bin zwar nur klein, aber auch ich will mutig sein.“
Tibus lächelte.
„Ich danke euch“, sagte er. „Ihr habt recht. Gemeinsam werden wir den bösen Zauberer Manduran besiegen.“
Sie suchten sich eine bemooste Stelle am Waldrand, legten sich nieder und schliefen bis zum nächsten Morgen.

Der Weg über die Ebene war weiter als es zunächst ausgesehen hatten und so brauchten die Drei am nächsten Tag viele Stunden, um ihn zurückzulegen. Sie erreichten die Ausläufer des riesigen Spinnennetzes am frühen Nachmittag und blieben erst einmal stehen, um sich das gewaltige Bauwerk genauer anzusehen. Die runde schwarze Festung in der Mitte hatte nur wenige, winzig kleine Fenster. Das einzige Tor, das hineinführte, war fest verschlossen und wurde von zwei großen, dicken Spinnen bewacht. Die acht Augen in ihren Köpfen blickten aufmerksam in die verschiedensten Richtungen, wenn sie auch selbst reglos vor dem Tor verharrten. Tibus sank der Mut, aber Genterra zupfte ihn am Ärmel und zog ihn vorwärts.
„Komm“, sagte sie, „wir sind bei dir.“
Der junge Königssohn seufzte und blickte sich nach der Elfe um. Sie flog hinter ihm und machte ein grimmiges Gesicht. Ihre Flügelchen leuchteten flammend rot.
„Also schön“, erwiderte er, „gehen wir.“
Vorsichtig bahnten die Drei sich ihren Weg durch das Spinnennetz, sorgsam darauf bedacht, nicht an den klebrigen Fäden hängen zu bleiben. Sie kamen nur langsam vorwärts und es dauerte bis zum Abend, bis sie vor den beiden Spinnen standen, die das Eingangstor bewachten.
„Wer seid ihr und was wollt ihr hier“, fragte die eine der beiden Spinnen zischend und schaute die drei Freunde aus bösen, kleinen Augen an.
„Mein Name ist Tibus und mein Vater ist der rechtmäßige Herrscher dieses Landes“, erwiderte der junge Königssohn, „wir wollen zu Manduran und ihn auffordern, das Land zu verlassen und meinen Vater frei zu lassen.“
Die Spinne ließ ein Schnalzen hören.
„Das könnte euch so passen. An uns beiden kommt ihr nicht vorbei.“
Sie machte einen Schritt nach vorne und die drei Freunde rückten näher zusammen. Da erinnerte sich Tibus daran, was die Elfe darüber gesagt hatte, dass Manduran seine Kraft aus der Furcht der Menschen zog. Er schaute Genterra und der Elfe in die Augen und sah nichts als mutige Entschlossenheit darin. Da fühlte er, wie auch sein Herz mit Mut erfüllt wurde, straffte die Schultern und trat tapfer einen Schritt nach vorne.
„Ihr beide macht mir keine Angst“, sagte er laut. „Ich bin Tibus und ich bin gekommen, das Land von Manduran zu befreien. Ihr werdet mich nicht aufhalten.“ Die Spinne verharrte in der Bewegung und funkelte den jungen Königssohn aus ihren acht Augen wütend an. Er schaute gelassen zurück. Soviel Furcht er auch gehabt haben mochte, er hatte sie überwunden. Die Festung und ihre Wächter jagten ihm keine Angst mehr ein. Die Anwesenheit Genterras und der Elfe gaben ihm zusätzliche Kraft und alle drei schlossen zu der Wächterspinne auf, drängten sie weiter und weiter zurück, bis schließlich beide Spinnen mit den Rücken zum Tor standen. Im Rückwärtsgehen waren die beiden immer kleiner geworden und schließlich hatten sie nur noch die Größe eines Daumennagels. Tibus machte noch einen Schritt auf sie zu und sie flohen in eine Mauerritze und ließen das Tor unbewacht.
„Das hast du gut gemacht“, lobte Genterra, „und jetzt lass uns weiter gehen.“
Tibus stieß das Eingangstor der Spinnenfestung auf und die drei Freunde traten über die Schwelle ins Innere. Tiefe Dunkelheit, nur unterbrochen durch das schwache Licht einiger Fackeln umfing sie. Der Raum, in dem sie standen war kreisrund und so breit, wie die gesamte Festung. In seiner Mitte führte eine schmale Wendeltreppe nach oben und Tibus, Genterra und die Elfe gingen hinüber und erstiegen tapfer Stufe um Stufe. Sie endete an einer niedrigen Eichenholztür und Tibus drückte die Klinke nieder. Die Tür schwang nach innen auf und die Drei traten in den Raum dahinter. Auch er war kreisrund, wenn auch viel kleiner als die Eingangshalle. An der rechten Seite stand ein Bett mit einem schwarzen Vorhang und direkt vor sich sahen sie einen schwarzen Schreibtisch, der über und über mit Büchern und Schriftrollen beladen war. Hinter dem Schreibtisch, auf einem breiten Stuhl mit hoher Rückenlehne, saß ein Mann. Er trug einen ebenfalls schwarzen Umhang und wandte ihnen den Rücken zu.
„Was wollt ihr?“
Die Stimme des Mannes war tief und volltönend, aber noch immer sahen die drei Freunde nur seinen Rücken.
„Bist du Manduran?“, fragte Tibus.
Da drehte der Mann sich zu ihnen um und sie sahen sein Gesicht. Es war hager und die Haut war von unzähligen tiefen Falten durchzogen. Der Mann musste uralt sein. Seine Lippen waren blass und dünn, aber seine Augen waren tiefschwarz und in ihrem Inneren glommen sie, als würde eine Kerze darin brennen.
„Wisst ihr denn nicht, dass es gefährlich ist, Manduran aufzusuchen?“, fragte der Mann mit seiner tiefen Stimme.
„Wir haben keine Angst“, erwiderte Tibus und für einen Moment glomm das Licht in den Augen des Mannes heller auf.
„Nun“, sagte er, „dann freut euch, denn ihr habt Manduran gefunden. Ich bin es, den ihr sucht.“
Mit diesen Worten erhob sich der Zauberer und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. Er nahm einen langen, dünnen Zauberstab zur Hand und murmelte einige unverständliche Worte. Sofort schossen Spinnenfäden aus der Spitze des Stabes und hüllten Tibus, Genterra und die Elfe ein. Der junge Königssohn merkte, dass er wieder anfing sich zu fürchten, aber er zwang sich dazu, mutig zu sein. Ganz ruhig blieb er stehen und die Spinnenfäden fielen von ihm ab, blieben nicht an ihm oder seiner Kleidung kleben. Er sah zur Seite und auch seine beiden Freunde widerstanden dem Zauber Mandurans. Dessen Augen leuchteten immer heller, je mehr er sich bemühte, seinen Zauber gegen die Drei zu richten. Immer noch schossen Spinnenfäden aus seinem Zauberstab, aber sie prallten ab am Mut der Freunde, richteten sich schließlich gegen Manduran selbst und begannen ihn einzuwickeln. Als er es merkte, war es schon zu spät. Die Spinnenfäden hatten den Zauberer rasch vollständig umwickelt, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden.
„Wie habt ihr das gemacht?“, kreischte er.
Tibus ging zu ihm und nahm ihm den Zauberstab, der zusammen mit seinem Gesicht das Einzige an ihm war, das nicht von den Spinnenfäden umhüllt war, aus der Hand und brach ihn in der Mitte auseinander. Sofort erhob sich ein Brausen und die ganze Festung begann zu beben. Die drei Freunde zerrten den Zauberer hinter sich her die Treppe hinunter und machten, dass sie ins Freie kamen. Kaum waren sie draußen, da konnten sie sehen, wie die ganze Festung zusammenschrumpfte. Sie wurde kleiner und kleiner und auch das Spinnennetz, das sie umgab schrumpfte ein, bis nichts mehr davon zu sehen war. An der Stelle, wo die Festung gestanden hatte, stieg dichter Rauch auf. Als er sich verzogen hatte, stand ein Mann vor den drei Freunden und schaute sich mit großen Augen um. Genterra fiel vor ihm auf die Knie.
„König Tandus“, sagte sie, „es ist schön, Euch wieder zu sehen.“
Der König, von der jahrelangen Gefangenschaft noch ein wenig benommen, ließ sich von den Dreien die Geschichte seiner Rettung erzählen und war überglücklich, seinen Sohn in die Arme schließen zu dürfen. Er übernahm wieder die Herrschaft über sein Königreich und lebte noch viele Jahre glücklich mit seinem Sohn zusammen.
Manduran war für alle Zeiten seiner Zauberkraft beraubt und wurde aus dem Königreich verbannt. Niemand hat ihn je wieder gesehen. Genterra und die Elfe blieben an Tibus Seite und die drei Freunde lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011

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