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11 Uhr 50

Die Mittagssonne hat fast schon ihren höchsten Punkt erklommen, das grelle intensive
Licht strahlt beinahe in das kleine, unscheinbare und verschmutzte Fenster. Welches sich in der vierten Etage der aschgrauen Häuserwand befindet.
Ein mit tiefen Lebensfurchen gezeichnetes Gesicht, fahl und ohne jegliches Anzeichen
einer Gefühlsregung, schaut geistesabwesend und fixierungslos auf die belebte Straße
herunter.

Es herrscht eine beklemmende Stille.
Eine Lautlosigkeit, die einen aufhorchen lässt, da man spürt, dass eine nicht näher definierbare Gefahr in der Luft liegt.
Die kleine beengt wirkende Wohnung, wurde schon seit vielen Jahren keiner gründlichen Renovierung mehr unterzogen.

In den vergilbten Tapeten, die sich an den eng aneinander liegenden Nahtstellen leicht ausbeulen und an einigen Wandecken eingerissen sind, kann man das Desinteresse an einer allgemeinen Veränderung seines Hausherren förmlich ablesen.
Nichts in dieser Wohnung deutete mehr darauf hin, das hier einmal pulsierendes Leben
geherrscht haben musste, geschweige denn das diese Räume jemals mit herzhaften
Lachen erfüllt waren.
Nur die Bilder an den Wänden und auf den diversen Stellflächen, deuteten auf ein
Leben davor hin.

Mahnende Zeugnisse des Lebens.
Bedrohlich wirken die Blicke der Menschen auf den fotografischen Darstellungen.
Eine Ahnengalerie derer, die für ihn einmal von Bedeutung gewesen waren, von
dessen Existenz, nur er allein noch wusste.
Mit ihm würden sie im Treibsand der Zeit verschwinden, gleich so, als hätte es sie
niemals auf Erden gegeben.
Mit schwerfälligen Schritten und merklich gebeugter Haltung, gleich so als würde das
gesamte Leid der Welt auf seinen Schultern lasten, geht der alte Mann in den
angrenzenden Raum.

Zielgerichtet steuert er auf einen silbern glänzenden Bilderrahmen zu, indem eine Fotografie eingefasst wurde.
Mit zitternden Händen umklammert er dieses Bild, als würde es davonfliegen, wenn er nur zu zaghaft wäre.
Wie in Trance starrt er in die Augen, der vor ihm festgehaltenen Person.
Ein seidig matter Tränenfilm bildet sich langsam und unablässig in den vom Alter
getrübten Augen.

Schwer atmend stellt er das Bild, von seiner vor einiger Zeit verstorbenen Frau, auf die kleine Anrichte zurück.
Weinen war nicht mehr möglich für seine altersschwachen Augen, denn zu viele Tränen hatte er schon seit der Beerdigung vergossen.
Alles war leer in ihm, keine Tränen, kein Schmerz, keine Einsamkeit.

Seine Seele bestand ausschließlich aus einer dunklen, schwarzen, alles umfassenden
Leere, die keinen Platz mehr für Gefühlsregungen jeglicher Art zuließ.
Es sollte aufhören, er wollte wieder Lachen, er wollte wieder Leben, er wollte
endlich wieder frei und glücklich sein.
Heute ist der Tag, an dem er es ändern würde, es gab niemanden der ihn es
hätte ausreden können.

Langsam und bedächtig geht er ins Bad, ein Ort, so kühl und steril wie sein Innerstes.
Die gelblichen Wandfliesen, die ein wenig farbliche Wärme beim Badbenutzer
auslösen sollten, verursachen bei ihm nur eine Art Beklemmung.
Die knochige und stärker zitternde Hand öffnete zaghaft den großen weißen Spiegelschrank über dem Waschbecken.
Mit geschlossenen Augen greift der alte Mann hinein, die Hand kennt ihr Ziel genau.


11 Uhr 50

Ein in alle Fasern des Körpers zersetzender Schrei durchdringt den karg eingerichteten,
grün gekachelten Raum.
Ein bis zur Unkenntlichkeit vor Schmerzen verzerrtes Gesicht atmet hörbar
geschwächt ein, um die neu gewonnene Kraft des Sauerstoffes sofort für einen
weiteren ohrenbetäubenden Schrei zu nutzen.

Eine Frau, die mit sanfter Stimme auf das vor ihr liegende Opfer mit Engelsgeduld einredet, wird sichtlich von ihr ignoriert.
Zu groß und allumfassend ist der Schmerz, nichts aber auch rein gar nichts kann
das ändern.

Erst recht nicht der sanfte Klang einer weiblichen Stimme.
Ein weiterer Schub stellt sich ein, darauf folgt ein für Außenstehende kaum vernehmbares Geräusch.

So leise, doch für das sich vor Schmerzen windende Opfer mehr als deutlich hörbar. Das reißen von gespanntem Fleisch, tief im Gewebe selbst.
Tausende kleine Stiche, wie von dutzenden Nadeln ausgeführt, eine Armee von Ameisen die sich voller Eifer an ihr zerstörerisches Werk begeben.
Ein einziger Gedanke füllte den schon seit unzähligen Stunden gepeinigten und
geschundenen Körper.

“Lass es bitte ein Ende finden”.

Für Sekunden weicht der Schmerz und der ausgelaugte Körper sackt zusammen, von Erlösung keine Spur.
Die Peiniger setzen von Neuem an, es soll schleunigst beendet werden.
Das Bewusstsein weicht, die Augen verlieren an Glanz, das durchdringende Weiß der
Augen sticht hervor. Gleichgültigkeit, Gelassenheit, all das breitet sich in dem geschundenen Körper aus.

Keine Chance, ein kräftiger Ruck an der ausgemergelten Schulter reißt das
Opfer aus dem beginnenden friedlichen Schlaf zurück.
Hinein in dem mit Kommando eintretenden Schmerz, denn es ist erst zu Ende wenn es vollbracht ist.

Schlimmer als zuvor folgt Schmerzensschub auf Schmerzensschub, Welle für
Welle überrollt den armen kraftlosen Körper.
So als wolle es niemals Enden und sich dadurch ein Stück der Ewigkeit offenbaren.
Ein kurzer erhaschter Blick, auf die wahrhaftige Hölle.
Die Hand, die eine andere fest gebunden hält, an sich zieht und sich darauf stützt.
Ein allerletzter Beweis für Leben und dessen eigentlichen Sinn.
Alles ist kraftlos und arbeitet nur noch dem von der Natur gegebenen Instinkt,
diese Hand, gefüllt mit klarem Geist und Verstand, hält fest, schenkt Vertrauen und Zuversicht.

In ihr ruht die Hoffnung und all Liebe, zu dem das Opfer noch fähig ist.
Es gibt nicht auf.
Das Ende naht, deutlicher als jemals zuvor ist es zu spüren. Nicht nur tief im
Innersten, auch die Außenwelt bemerkt es, sie sind vor lauter Freude entzückt.
Freude, niemals wieder wird das Opfer es spüren können, zu groß ist das Leid und der
Schmerz.

Daran einen Gedanken zu verschwenden käme einem Verrat sondergleichen Nah, nun
endlich bereitet sich alles darauf vor.
Mit brausenden Trompeten biblischen Ausmaßes treten sie dem lang ersehnten Ende entgegen.
Furcht davor? Ach was! Mag kommen was da will!


11 Uhr 58

Der alte Mann hat den Raum gewechselt. Jede Handlung, jede kleine Regung
wirkt gefestigter, der Wille ist tief verwurzelt.
Bald schon wird die Freude Einzug halten.
Das, was der alte Mann wieder spüren will. Ein kleines Gläschen in seiner ausgemergelten Hand rollt wie vom Wind umspielt hin und her. Wie wunderschön sich doch das kräftige Mittagslicht an dem glänzenden Rand bricht, so nah wie
Heut, war er noch nie zuvor.

Ein letzter Blick aus dem Fenster auf das geschäftige, ahnungslose Treiben der Straße, schon bald wird er ein neuer Mensch sein.
Nun beginnt ein neues Leben, Stück für Stück für Stück.
Jeder zurückgelegte Schritt in den abgelaufenen Pantoffeln verdeutlicht das große
Ergebnis dem er schon so nah ist.
In der einen Hand das Bild seiner Frau, in der Anderen die kleine zauberhafte
Ampulle.

Mit jedem Schritt dem Ziel näher kommend, steigt das sonderbare bereits vergessene Gefühl in ihm auf.
Ein Kribbeln, ein pochendes brodeln in den Adern, die so ausgetrocknet sind.
Freude, ja Freude ist es, die in ihm aufblüht.
Unfassbar, ein so schönes Gefühl.
Wieder ein Gefühl.

Nur ein deutliches Zeichen dafür, dass das auserkorene Ziel auch richtig ist.
Ein Schäumen, ein Brodeln ein stärker werdendes Glücksgefühl.
Ein Ausruf schallt in seinem Kopfe wieder:

“Leben, ich komme zurück zu dir!”


11 Uhr 58

Der ganze Körper ist betäubt. Eine Veränderung tritt ein die so großartig ist wie noch
nie zuvor. Leben durchströmt den geschwächten Körper.
Neues Leben entweicht zaghaft und immer gewaltiger fordernt aus dem
armen Opfer heraus.

Jeder Kraftaufwand ist ein neues Glücksgefühl, dem Ziel näher kommend.
Hier bin ich und weiche fortan nicht mehr.
Was vorher einig war, wird nun getrennt.
Getrennt um doppelt Glück zu schenken.

Bald schon ist es überstanden, warum noch einen Gedanken an Schmerzen verschwenden.
Die Peiniger rufen bereits laut vor Verzückung:

“Weiter! Weiter!”

Gleich ist es vollbracht, das blutige Schauspiel.
Ein allerletzter, bis ins Mark erzittender Schrei durchdringt den kalten eisigen Raum.
Ein letztes aufflammen durchzuckt den bis aufs äußerste ausgesaugten Körper.
Ein Stoß, ein Ruck, das Fleisch erschlafft.
Selbst die Hand, die so fest gebunden am Leben, löst ihre Umklammerung gänzlich.
Die Peiniger, eifrig wie noch nie.

Freude und Hektik halten Einzug, doch ihr Opfer bemerkt davon nichts mehr.


11 Uhr 59

Angespannt liegt der alte Mann im Ehebett, der Platz neben ihm unberührt und leer. Sein Bilck richtet sich dem Bild auf dem Nachttisch zu.
Ja, seine Frau lächelt ihn an.

Bald ist es soweit.
Bald schon sehen sie sich wieder.
Bald schon lachen sie gemeinsam.

Nie wieder werden sie voneinander getrennt sein.
Seine von neuem stark zu zittern beginnende Hand, greift in die Schublade des Nachtschränkchens.

Mit bebender Hand hält er die feine Spritze umklammert.
Fest entschlossen sticht er hinein, saugt den Glück bringenden Saft heraus, mehr und
mehr.

Bis zum Anschlag gefüllt ist die Spritze nun, mit dem letzten Rest von Morphium den
seine geliebt Frau einst bekam.
Deinen letzten Dienst vollbringe nun.
Befreie mich von dem Schmerz.

Erst sacht, dann immer tiefer dringt die Nadel in das Fleisch ein.
Zögernd hält er inne.

Jedoch der sanfte Blick des Bildes gibt ihm den fehlenden Ruck.
Sein Zeigefinger zuckt, drückt sich nun behutsam durch.
Tropfen für Tropfen ergießt sich der Saft in seine alten, ausgemergelten Adern.
Die gesamte Füllung dringt in ihm ein, macht sich sogleich ans Werk.
Es erfüllt seinen ihm bestimmten Zweck.

Schmerz lindern, wie auch immer. Schmerz bekämpfen und zu beenden.


12 Uhr 00

Ein kleines Bündel in den Händen haltend, unscheinbar und doch so präsent. Ein
Bündel voll mit Leben.

All der Schmerz vergessen, all das Leid überwunden.
Keine Rede mehr von den Verletzungen und der Folter die das Fleisch zum bersten
brachten.

Nur zwei Menschen, für sich allein, in diesem heiligen Moment.
Blicke treffen sich und werden eins.
Was einst eng verbunden wurde getrennt.
Doch getrennt wird es niemals sein.
Verbunden für alle Zeit.

Die Sonne steht nun in ihrem Zenit, man nur die Mutter zu ihrem Kinde sagen hört:

“Ich liebe dich mein kleiner Engel”


12 Uhr 00

Die schmerzlindernde Substanz hat sich längst ihren Weg durch den leidenden alten
Körper gebahnt, bis zum vor Schmerz zuckenden Herzen hin.
Sein Ziel ist nun erreicht.

Den ganzen Körper gefüllt mit der Essenz.
Kein Schmerz ist zu spüren.

Sacht und flach ist der Atem des alten Mannes geworden.
Frei und gelöst liegt er nun da.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem faltigen Gesicht aus, noch strahlender, als die
durch das Fenster dringende Mittagssonne.

In dem Moment, wo die Sonne am höchsten steht, ist nur noch ein Gedanke in ihm
wach.

Seine Augen sind längst geschlossen, sein Herz schlägt ein letztes Mal.
Wie ein Paukenschlag ist der Hall in seiner Brust.
Bevor das Echo seines Herzens verklungen ist, schallt ein letzter Gedanke durch seinen Kopf:

“Ich liebe dich mein Engel”

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Tag der Veröffentlichung: 15.11.2011

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