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Kapitel 1


»Endlich Feierabend« schrie es vor Freude in Julia, als sie die Tür der kleinen Damenboutique zuschloss.
Es war kurz nach zwanzig Uhr und langsam kehrte Ruhe in der Innenstadt und der großen Einkaufsstraße ein. Es gab aber einen noch viel wichtigeren Grund, warum Julia sich so überaus auf ihren Feierabend freute. Zwei Wochen Urlaub.

»Hey Julchen! Wie lange willst du eigentlich noch hier bleiben? Du hast Urlaub!«
Als Julia sich umdrehte, sah sie direkt in die Augen von Johanna.
»Das sollte keine Erinnerung sein, sondern eine Aufforderung.«
»Aber die Kassenabrechnung muss doch noch gemacht werden.«
»Unsinn, das schaffen wir auch schon noch alleine«

Johanna Laurenter hieß diese überaus charmante Frau, sie war die Chefin von Julia. Ihr gehörte auch die kleine Boutique. Julia arbeitete hier als Verkäuferin bei »Modern Lady«abgekürzt ML, was auch deutlich auf der Neonreklame über der Eingangstür zu sehen war.
Modern Lady war keine riesige Boutique, aber ausreichend, um für die anderen Ketten eine ernstzunehmende Konkurrenz darzustellen.
Hier fand man alles, was es anderswo auch gab, und eine Spur mehr. Mit Julia arbeiteten bei Modern Lady auch noch Martina und Nadine, ihre beiden Kolleginnen.
Ach ja, und Johanna, die Chefin.

»Seid ihr auch sicher, dass ihr keine Hilfe mehr braucht?«, fragte Julia ihre Kolleginnen.
»Vollkommen sicher«, antwortete Nadine, die bereits anfing, die Abrechnung zu erstellen.
»Fährst du eigentlich weg, Julchen?«, fragte Martina sie.
»Nein, nur Urlaub auf Balkonien. Mal schauen, ich wollte noch ins Kino gehen, schwimmen und so was.«
»Ist doch auch gut, entspanne dich mal. Hast es dir auch redlich verdient.«
Dabei lächelte Martina sie so freundlich an wie immer. Als sie sich umdrehte, hatte Johanna auch schon die Tür wieder aufgeschlossen und machte eine einladende Geste mit der rechten Hand.
»Einen schönen Urlaub, Frau Sanderkamp.«
»Hab das Gefühl, ihr wollt mich loswerden«, antwortete Julia mit einem beschämten Lächeln.

Das Lächeln blieb auch noch, als sie in den Laden verließ. Einen letzten flüchtigen Blick über ihre Schulter werfend sah Julia, wie die drei Kolleginnen in die Abrechnung vertieft waren. »Das war schon ein verrückter Haufen«, dachte Julia laut. Es machte wirklich Spaß, in dieser Boutique zu arbeiten, sie waren eine richtige kleine Familie geworden. Seit drei Jahren arbeitete Julia bereits für Johanna, die in der Zeit schon zu ihrer zweiten Mutter geworden war. Hier war sie für alle nur das Julchen. Kein Wunder, sie war auch die Jüngste von allen Angestellten. Eine 24-Jährige zwischen zwei Mittdreißigern und einer Endvierzigerin, was keinen sonderlich zu stören schien.
Und Julia ganz besonders nicht, denn mit ihren so genannten Gleichaltrigen kam sie überhaupt nicht klar. Die waren ihr einfach zu kindisch, sie fühlte sich reifer als die Meisten. Jedoch als Erwachsene sah sie sich auch nicht gerade, irgendetwas dazwischen. Julia war nicht gerade das, was man als eine besonders auffällige Person bezeichnen könnte. Im Gegenteil, eher sehr ruhig und ein wenig schüchtern. Sie war eine unscheinbare und zierliche junge Frau, was durch die modische Kleidung nicht vertuscht werden konnte.

Seitdem sie für Johanna arbeitete, hatte sich ihr Kleidungsstil gewaltig verändert. Früher machte sie sich nicht sonderlich viel aus so genannten hippen Klamotten, aber bei Johanna verlieh man ihr Stil. Ihr war klar, dass sie die Kleidung tragen musste. Für Julia war es nur eine Verkleidung, die eben für die Kundschaft nötig war.
Trotz aller Maskerade fühlte sie sich pudelwohl bei den drei Damen und Julia hoffte, dass es noch lange so andauern würde.
Wieder einmal in Gedanken versunken schlenderte sie an den kleinen Cafés vorbei, die an diesen Sommerabend gut gefüllt waren.
Julia verschwendete keinen Blick an diese Menschen, sondern ging ihren gewohnten Weg zur Bushaltestelle. Dort angekommen brauchte sie nur fünf Minuten zu warten, bis ihr Bus kam. Sie stieg in die Linie 12 ein, setzte sich auf einen Fensterplatz und ließ ihren Blick schweifen. Zehn Haltestellen weiter erreichten sie ihr Ziel. Die Linie 12 war sehr praktisch für Julia, da sie fast direkt vor ihrer Haustür hielt. Sie musste nur einmal um die Straßenecke gehen und schon war sie daheim.
Bei Julia musste das so sein, alles hatte seinen festen Plan. Sie machte nie irgendwelche spontanen Unternehmungen, wollte möglichst wenigen Menschen begegnen. Sie war lieber für sich. Julia war manchmal so menschenscheu, dass sie Probleme hatte Orte aufzusuchen, die mit Menschen überfüllt waren.

Das klingt völlig absurd, wie kann so eine Frau dann als Verkäuferin arbeiten?

In dem Beruf ging es für Julia nur um Themen, mit denen sie sich auskannte, hauptsächlich Kleidung natürlich. Das half ihr die angeborene Scheu zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Sie wusste jedoch nie so recht, was sie sagen sollte, wenn es persönlicher wurde, deswegen stürzte sie sich geradezu in ihre Arbeit, um dem aus dem Wege zu gehen. Es wundert jetzt bestimmt niemanden, dass sie Single war.

Einen Freund hatte sie noch nie gehabt, was auch wirklich nicht überraschend war. Wenn andere ausgingen, zog Julia sich zurück. Für die Meisten war sie nur eine dumme graue Maus. Dem war aber nicht so.
Gut, sie hatte nicht studiert und war nur eine einfache Verkäuferin, aber nicht blöd. Sondern einfach nur schüchtern.
Sehr oft hatte sie sich gewünscht, ein richtiger Vamp zu sein. Doch jeder noch so zaghafte Versuch wurde gleich durch ihre Schüchternheit im Keim erstickt. Bevor sie Johanna, Martina und Nadine kennen gelernt hatte, war es noch viel schlimmer gewesen. In drei Jahren war es ihnen nicht vollkommen gelungen, sie aus dem dunklen Loch zu befreien, in dem Julia sich seit ihrer frühsten Kindheit verkrochen hatte.
»Ich bin eben, wie ich bin, und das wird sich auch niemals ändern.« Das war immer die Ausrede für jede Barriere, die sich Julia entgegenstellte.

Julia ging die Stufen zu ihrer Wohnung schwerfällig empor. Sie wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung.

Alle Türen in dem Mietshaus waren kalkweiß und unpersönlich, nur die Tür einer gewissen Frau Sanderkamp war auf dem ersten Blick zu erkennen. An jener prangte ein großer Kranz, gespickt mit Blumen. Julia liebte Blumen, besonders wenn sie frisch waren und einen enormen Duft verströmten. Diese waren leider getrocknet, mit dem Vorteil, dass sie sich einfach länger hielten. Unentwegt neue und frische Blumen zu kaufen, wäre auf Dauer enorm kostspielig. Und eine weitere Besonderheit gab es direkt vor der Haustür, die Fußmatte.
Auf ihr war ein frech grinsender Hund zu sehen, die einzige ihrer Art im gesamten Haus.
Behutsam öffnete Julia die Haustür und ging hinein. Was hatte sie auch schon erwartet, die Wohnung war leer. Niemand, der sie freudig begrüßte und in die Arme nahm - wie jeden Feierabend. Einen Moment verharrte Julia in ihrer Bewegung.

Strikt nach dem täglichen Feierabendritual hängte sie den Wohnungsschlüssel fein säuberlich an den dafür vorgesehenen Haken und ging gleich darauf in die Küche.
Hier goss Julia sich ein Glas Eistee mit Pfirsichgeschmack in ein großes Glas und schlurfte ins Wohnzimmer. Vollkommen kraftlos ließ Julia sich in ihr Sofa fallen, begleitet von einem tiefen Seufzer.
Gerne wäre sie in den Urlaub gefahren, aber für so etwas hatte sie leider nicht genügend Geld.
»So schlimm ist es auch wieder nicht«, dachte Julia dann im selben Moment.

So ganz allein in den Urlaub fahren wollte sie sowieso nicht, das wäre ja noch armseliger, als ihr ganzes Leben schon war. Man könnte natürlich jemanden fragen, aber wen? Freunde hatte Julia nicht wirklich. Es gab da ein paar Leute, die sie hätte fragen können, aber als richtige Freunde bezeichnete Julia diese Menschen nicht. Das war so eine verdammte Zwickmühle, warum musste sie nur so schüchtern sein? Und warum breiteten sich diese Gedanken immer in ihrem Kopf aus, wenn sie allein und alles ganz still um sie herum war? Arbeiten konnte Julia nun fürs Erste nicht mehr, da sie ja Urlaub hatte. Die Arbeit war immer das beste Mittel gewesen, um sich von ihrem tristen Dasein abzulenken.
Eine Alternative gab es da ja noch. Erst schaltete Julia den Fernseher ein, zappte sich bis zu einem Nachrichtensender durch, um dann noch die Stereoanlage einzuschalten. Ein Gemisch aus Nachrichten und Musik breitete sich in der gesamten Wohnung aus; das war Ablenkung genug, um nicht mehr die eigenen Gedanken zu hören. Irgendetwas passte aber immer noch nicht. Richtig, die Klamotten. Schnell zog sie sich noch um, von fein zu lässig.
Erst in ihren verschlissenen Wohlfühlklamotten konnte Julia die nötige Ruhe finden. Das gab ihr dann auch wieder die dringend nötige Energie, um durch Räume zu wirbeln. Die kleine Wohnung war ihr Reich, hier war sie vor kritischen und musternden Blicken geschützt.
Nur in diesem kleinen Nest konnte Julia loslassen und sich frei entfalten. Die fetzige Musik wechselte dann schnell zu einer ruhigen Ballade und ihr Herumgewirbel verebbte zusehends. Beim Lauschen der sanften Klänge bemerkte Julia das leichte Grummeln in der Magengegend. Beschwingt wippte Julia in die Küche und bereitete sich einen kleinen gemischten Salat mit Joghurtdressing und Croûtons zu, um dem Knurren ein Ende zu setzen.
Genüsslich verspeiste Julia ihren Salat und blickte dabei auf die Küchenuhr. 21:45 Uhr stand dort zu lesen. »Oh Mann, schon wieder so spät«, dachte Julia sich. Sie fing langsam an die Müdigkeit zu spüren, die von ihren Füßen bis zu den Augenlidern hochkroch. Sollte sie denn jetzt schon ins Bett gehen? Nein, sie war doch keine alte Oma. Nach dem Salat beschloss Julia noch ein wenig durch das Fernsehprogramm zu schalten. Wie sich aber herausstellte, war es nicht besonders hilfreich, um die Müdigkeit aus ihren Knochen zu vertreiben. Eher das Gegenteil war die Folge. Von Sender zu Sender wurde das Programm immer langweiliger. Zum Schluss blieb Julia bei einem Golfturnier stecken. Golf hatte sie sich noch nie angesehen, was auch vermutlich besser so gewesen war. Es vergingen keine fünf Minuten, bis ihre Augen wie von selbst zufielen. Jetzt reichts. Geh ins Bett, sagte Julias innere Stimme zu ihr. Entschlossen, aber mit wenig Elan erhob Julia sich aus ihrer kleinen Kuschelecke und schob die Kissen beiseite.
Da alles in Julias Leben eine gewisse Ordnung hatte und auch haben musste, stellte sie den Teller und die Gabel noch schnell in das Spülbecken. Da sie gerade dabei war, entfernte sie noch alle Spuren der Essenszubereitung, so dass fast alles wieder so aussah, wie sie es vorgefunden hatte. Erst jetzt war Julia bereit ins Bett zu gehen und zu schlafen.
Make-up trug Julia nie sonderlich viel auf, nur gerade so viel, das Johanna damit zufrieden war. Johanna riet ihr zwar unentwegt ein wenig mehr aufzulegen, um ihr hübsches Gesicht hervorzuheben, aber gekonnt blockte Julia diese Verbesserungsvorschläge ab.
Ihr war einfach nicht danach, obwohl ihre Kolleginnen überhaupt nicht verlegen waren, ihr ständig neue Schminktipps zu offerieren.
Martina sagte mal zu ihr: »Wenn du jemals einen netten Mann kennen lernen willst, musst du dir auch ein wenig Mühe geben.«
Und Nadine meinte sogar mal: »Ist die Verpackung schön, dann verkauft sich die Ware fast von ganz allein.«
Julias Antwort darauf war stets dieselbe: »Lieber alleine glücklich als gemeinsam unglücklich.«
Bei dieser Antwort schüttelten sie ihre Köpfe und sagten immer: »Kind, Kind, Kind.«
Das störte Julia nicht sonderlich, sie war glücklich mit ihrem Lebensstil, mehr oder weniger. Deswegen gab es nicht wie bei den meisten Frauen die allabendliche Zeremonie des Abschminkens. Es genügten nur zwei Wattepads, ein wenig Wasser und Seife und schon war sie nicht mehr die Verkäuferin Frau Sanderkamp. Nach dem Zähneputzen verließ sie auch schon das Bad, ein Aufenthalt, der nie länger als zehn Minuten dauerte. Noch schneller streifte Julia ihre Wohlfühlklamotten ab und schlüpfte in einem sehr eigentümlichen Pyjama. Ihre Mutter fragte sie mal, wie sie nur so etwas anziehen könne, ein Mann würde doch schreiend davonlaufen. Gut, mochte sein, der Pyjama sah mit diesen Bärchen darauf wirklich ein wenig kindisch aus.Sie mochte so etwas eben. Und bis jetzt hatte sich noch kein Mann darüber beschwert. Das mochte auch daran liegen, dass noch kein Mann mit ihr das Bett teilen musste oder wollte.
Gedanken, lauter Gedanken bei jedem Schritt, den sie tat, es war einfach nur lästig. Unaufhörlich kreisten sie in ihrem Kopf herum, die nicht gerade zum Wohlfühlen beitrugen. Das Innere ihres Kopfes kam Julia wie eine riesige Autobahn vor, auf der 24 Stunden lang Autos fuhren, die dafür sorgten, dass jeder unnütze Gedanke auch sein Ziel erreichte.
Die meisten Autos rauschten einfach an ihr vorbei, aber hin und wieder stach eines farblich aus den unzähligen heraus.
An dieses Auto heftete sie sich dann ungewollt und es brachte sie an einen Ort, an dem Julia einfach nicht sein wollte. Nicht sie war mehr der Fahrer, sondern das Auto selbst. Häufig schaffte sie es, rechtzeitig abzuspringen, bevor sie in eine Depression verfiel. In jüngeren Jahren war ihr das nicht immer gelungen. Nein, daran wollte sie sich nicht erinnern.
Heute war jetzt und Früher war Vergangenheit, denn sie arbeitete unablässig an sich selbst. Die graue Maus von einst war sie nicht mehr, sie Julia Sanderkamp war eine tolle Frau. Das »Schakka«, das ihr auf den Lippen lag, verkniff sie sich lieber, weil sie sonst einen Lachanfall bekommen hätte.
Julia ließ sich in ihr Bett fallen und kuschelte sich darin ein, soweit die Restwärme des lauen Sommerabends es zuließ. Sie warf noch einen kurzen Blick in eine Zeitschrift, die auf ihrem Nachtschränkchen lag, und dann schloss sie auch schon ihre Augen, um zu schlafen.
Es dauerte noch eine geraume Weile, bis sie ins Land der Träume abdriften konnte, eine Wendung nach links und eine Wendung nach rechts. Irgendwann hatte Julia endlich die richtige Einschlafposition gefunden. Und so klang ein weiterer unspektakulärer Tag in Julias Leben aus, wie schon so viele zuvor auch.


Kapitel 2


Julia öffnete ihre Augen, weil ein eigenartiges Geräusch durch ihren Traum gedrungen war und sie aufgeweckt hatte. Der Wecker. Sie hatte am Tag zuvor vergessen den Weckmodus abzuschalten. »So ein Mist«, war der erste Gedanke des neuen Tages, der Julia durch den Kopf schoss. Es war ihr erster Urlaubstag und sie stand um 6:00 Uhr auf. Für einen Moment dachte sie darüber nach, sich wieder hinzulegen. Sie ließ es dann aber doch sein, da sie nicht mehr müde war und es bereits langsam immer heller wurde. Barfuß tapste Julia in die Küche und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Zaghaft nippte sie daran und entschloss sich dann doch, wenigstens ein kleines Schälchen Müsli zu essen. Großen Hunger verspürte sie nicht, aber die mahnenden Worte ihrer Mutter hallten jeden Morgen in ihrem Hinterkopf: »Julia, das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag!«
Es war noch nicht einmal 7:00 Uhr und sie wusste nicht, was sie mit dem ersten Urlaubstag überhaupt anfangen sollte. Frustrierend war schon kein Ausdruck mehr dafür, zwei Wochen Urlaub ohne einen richtigen Freizeitplan.
Jeder vernünftige Mensch würde sich an ihrer Stelle von der Sonne des Südens an irgendeinem x-beliebigen Strand durchbraten lassen, jedoch reichte das Geld nicht für solche kostspieligen Vergnügen. Manchen Menschen war so etwas ja egal und sie nahmen sich einen Kredit für den Urlaub auf, den sie dann in mühevoller Arbeit wieder zurückzahlten. Und wofür? Um anzugeben, mehr nicht.
Nein, das wollte Julia nicht. Ihr Konto stand noch nie in den roten Zahlen, das sollte auch weiterhin so bleiben. Es musste doch möglich sein, sich in dieser Stadt kostengünstig die Zeit zu vertreiben. Nach einigen stillen Minuten des Grübelns fiel ihr der Vorabend wieder ein, als ihre Kollegin Martina gesagt hatte, dass sie sich diese neue Schnulze im Kino ansehen wollte. Nicht gerade die beste Idee, aber immerhin besser als nichts, und da sie sich auf Anhieb nicht erinnern konnte, wann sie das letzte Mal im Kino gewesen war, stand ihr Entschluss fest.
Auch mit dem sorgfältigsten Suchen nach einem Kinoprogramm oder einer Tageszeitung fand Julia nichts, was ihr Aufschluss über die momentan laufenden Filme gab. Aber natürlich, das Altpapier. Manchmal war es nicht vorteilhaft so penibel zu sein. Die Zeitung und das Programmheft waren in der Altpapierkiste und die hatte sie vor drei Tagen fachgerecht entsorgt, damit es wieder sauber und ordentlich in ihrer kleinen Wohnung aussah.
»Was nun«, fragte Julia sich. Im Kino anrufen war blöd, hinfahren war besser. So würde sie wenigstens rauskommen, denn die ganze Zeit in der Bude hocken bei dem tollen Wetter: Nein danke. Da es noch ziemlich früh war und um diese Zeit kein Kino der Welt geöffnet hatte, ließ sie sich ein wenig treiben, sie hatte schließlich Urlaub.
Zum ersten Mal seit Julia hier wohnte, schaltete sie um diese Zeit den Fernseher ein. Auf einigen Sendern lief das Frühstücksfernsehen. Natürlich hatte sie davon gehört, aber gesehen hatte sie es noch nie. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellen musste, dass sie nichts verpasst hatte. Es langweilte Julia so dermaßen, dass sie schnell wieder den Flimmerkasten ausschaltete.
»Wer sieht sich eigentlich so einen Mist an?« fragte sie sich laut.
Gleich darauf konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen.
»Ich«, antwortete Julia grinsend auf ihre Frage.
Jetzt musste sie erst einmal jedes Fenster in der Wohnung weit öffnen, um frische Luft hineinzulassen. Julia nahm einen tiefen Zug der noch kühlen Sommerbrise in sich auf, um dann so gestärkt für den weiteren Tag ins Bad zu hüpfen.
Julia ließ sich ausgesprochen viel Zeit, was sie sonst nicht tat. Es folgte eine ausgiebige lauwarme Dusche und ein seltenes Pflegeprogramm, welches ihr besser bekam, als sie gedacht hatte. Während des doch sehr gemütlichen Ablaufes lief die ganze Zeit eine CD nach der anderen durch. Als Julia dann irgendwann doch fertig angezogen dastand, war es schon fast 12:00 Uhr.
Wie um Himmels willen konnte es nur so spät sein? Sie vermochte es nicht zu erklären. Doch was sollten die Vorwürfe, Julia hatte doch Urlaub und musste nicht pünktlich bei der Arbeit sein. Sie schnappte sich noch einen Apfel aus der Obstschale, die immer auf dem Küchentisch stand, und verließ ihre Wohnung.
Als Julia aus dem Haus trat, wollte sie auf direktem Wege die Bushaltestelle ansteuern, ließ es aber dann doch sein. Stattdessen kramte sie aus der hinterletzten Ecke der Garage, die für die Fahrräder aller Hausbewohner vorgesehen war, ihren alten Drahtesel heraus. Wie sollte es auch anders sein, die Räder waren beide platt vom vielen Stehen. Nach einer ganzen Weile hatte sie es dann doch geschafft beide Reifen aufzupumpen. Dafür musste Julia sich eine Luftpumpe von einem der anderen Fahrräder borgen. Alle bis auf ein Rad hatten eine Luftpumpe. Ihre war schon vor Jahren gestohlen worden und deswegen spielte sie auch mit dem Gedanken diese einfach zu behalten.
»Nö, dann bin ich ja schon genauso wie die, die mir meine Luftpumpe geklaut haben«, dachte Julia sich und hängte sie brav wieder beim fremden Fahrrad ein.
»Die Kette könnte auch mal wieder ein wenig Öl vertragen«, dachte sie sich, als sie die durchdringenden Knartzgeräusche beim Anfahren hörte. Für diese Fahrt würde es schon reichen.
Julia benötigte nur gute zwanzig Minuten bis zum Multiplexkino. Während dieser Fahrzeit genoss sie sichtlich den kühlen Wind, der sie umspülte. Das Kino war noch geschlossen, als Julia ankam, das machte aber nichts. Im Restaurant nebenan gab es noch mehrere Fächer, die prall mit Programmheften gefüllt waren. Sie sah zu, dass sie den Laden ganz schnell wieder verließ. Ihr war ein wenig unwohl bei der Sache, da sie von allen Seiten angestarrt wurde. Es lag keinesfalls an Julia selbst, sondern das Restaurant war nicht gerade gut besucht und den Besitzer schien es gewaltig zu stören.
Draußen blätterte sie ein wenig im Programm herum. Es gab schon ein paar Filme, die sie interessierten, so recht entscheiden konnte Julia sich aber nicht. Die einzelnen Inhaltsangaben wollte sie sich nicht auf der Straße durchlesen, lieber zu Hause in aller Ruhe. Sie klemmte das kleine Heftchen im Gepäckträger ein und schob ihr Rad zu der Ampel. Leider schaffte sie die Grünphase nicht und blieb stehen.
Während der kurzen Wartezeit beobachtete Julia den Straßenverkehr, der selbst an so einem schönen Sommertag sehr hektisch war. Fast wie in Trance ließ sie die Autos an sich vorbeirauschen, eben nichts Außergewöhnliches.
Doch dann wurde Julia aus ihren leeren Gedanken herausgerissen, als ein schwarzer Golf III die letzte Sekunde nutzte, um noch bei Gelb durchzuhuschen. Über die Ampel hinaus verfolgten Julias Blicke den Wagen. Dieser startete wirklich gewagte Überholmanöver und des Fahrers Hand schien mit der Hupe förmlich verwachsen zu sein. Am Steuer saß ein Mann so um die dreißig mit starrem, nach vorn gerichtetem Blick. Was Julia weitaus mehr ins Auge stach war, dass die Klappe des Tankdeckels weit offen stand.
»Spinner«, sagte Julia laut und war mal wieder froh, kein Auto zu besitzen. Denn so musste sie sich nicht mit solchen Hohlköpfen auseinandersetzen.
Ganz gemütlich fuhr sie wieder zurück, und zu Hause angekommen war ihr erster Gang direkt in die Küche. Das Frühstück lag schon einige Stunden zurück und der Hunger machte sich durch lautes Knurren bemerkbar. Julia hatte nun wirklich keine Lust, großartig mit Kochen anzufangen. Ein kurzer Blick in das Eisfach des Kühlschrankes und im Handumdrehen war auch schon die Pizza Hawaii im Backofen.
Die Zeit bis die Pizza schön knusprig war, nutzte sie, um weiter im Kinoprogrammheft zu lesen, um vielleicht doch noch einen passenden Film für den Abend zu finden. Als die Pizza fertig war, hatte Julia sich für fünf Filme entschieden. Das brachte sie auch nicht sonderlich weiter, so beschloss sie einfach hinzugehen und spontan einen Film zu besuchen. Während Julia ihre Pizza aß, überlegte sie, ob sie mit dem Rad oder dem Bus dorthin fahren sollte. Beim Grübeln über diese Frage erinnerte sie sich wieder an den idiotischen Golffahrer. Der bloße Gedanke an diesen Kerl veranlasste Julia dazu, den Bus zu wählen. Dieser Typ ließ Julia keine Ruhe mehr, nicht dass sie ihn nett gefunden hätte, das war es ganz sicher nicht. Wie sollte man das in nur drei Sekunden beurteilen. Es war vielmehr die ganze Situation, die in Julias Kopf herumspukte.
Sicher, es war nicht bedeutend gewesen, solche Drängler gab es bestimmt zu Hunderten am Tag. Julia fragte sich nur, was das für ein Mensch gewesen sein könnte, der es so eilig gehabt hatte. Und zwar so eilig, dass er selbst beim Tanken vergaß, den Deckel wieder zu schließen.
Nachdem Julia die Pizza aufgegessen hatte, goss sie sich noch ein großes Glas Wasser ein und legte ihre Beine auf die Küchentischkante. In dieser Position umschloss Julia ihr Wasserglas mit beiden Händen und fing an zu träumen.

Julia stellte sich den Mann in Gedanken vor. Jetzt konnte sie ihn richtig eingehend betrachten. Sein Alter legte sie auf dreißig Jahre fest. Er war schlank und schätzungsweise 1,85 m groß. Die Haare waren kurz geschnitten und der Farbton pendelte so zwischen hellbraun und dunkelblond. Nun da Julia ihn genauer betrachten konnte, entdeckte sie die sich langsam bildenden Geheimratsecken und die höher werdende Stirn. In zehn oder fünfzehn Jahren müsste er völlig kahl sein.
Sein Name könnte dann Michael sein, wieso nicht, das klang gut und passte irgendwie zu diesen Kerl. Als Nachnamen bastelte Julia sich dann einen Phantasienamen zurecht und landete schließlich bei der Kreation »Kabsmönner«. Der Name klang verdammt bescheuert, aber seinem Fahrstil durchaus angemessen. Gut, die Identität war somit geklärt, aber was war der Grund für den offenen Tankdeckel gewesen?
Er hatte Stress und musste in derber Zeitnot gewesen sein, was man an dem Gesicht und dem Hupkonzert erkennen konnte.

Das warf die Frage nach seinem Beruf auf. Welcher Job verursachte so einen Druck, dass man seine ganze Umwelt vergaß?
Heutzutage nahezu jede Arbeit, das half nicht weiter. Michael musste einen Job haben indem Zeit wirklich Geld war. Einen Job der nur Geld brachte, wenn gewisse Arbeiten ausgeführt wurden, die im Vergleich zur Allgemeinheit nur wenige taten. So konnte er nur freiberuflich sein, also mehr oder weniger sein eigener Chef. Julia ließ ihren Blick in der Küche umherschweifen und kam am Küchenradio wieder zum Stehen. Natürlich! Er war ein freier Journalist, der für das Radio arbeitete.
Ab hier versank Julia völlig in ihrem Tagtraum und in dem Leben von Michael Kabsmönner.

Michael brüllte laut »Scheiße«, er war viel zu spät dran. Er hatte mal wieder verschlafen. Was nützten ihm schon zwei Wecker, wenn er sie nicht einschaltete. In Windeseile hatte er die Klamotten vom Vortag übergeworfen. Frische Wäsche hatte er schon seit einigen Tagen nicht mehr vorrätig. Michael betrachtete sich im Spiegel und erwog, wenigstens ein anderes T-Shirt anzuziehen. Mit der rechten Hand kramte er in einem der Wäscheberge, die neben seinem Bett eine beachtliche Größe erlangt hatten. In dem Gewimmel wurde er auch fündig und zog ein buntes T-Shirt heraus. Ein kurzer Riechtest und Schwups hatte er es auch schon an. Eben schnell die Zähne putzen, ein wenig Gel in die dünner werdenden Haare schmieren, fertig. Zufrieden blickte Michael in den Spiegel und sagte laut zu sich: »Mann, siehst du heut' wieder gut aus!«
Bevor er aber das Bad verließ, nebelte er sich noch kräftig mit Deodorant ein, um den leicht abgehangenen Schweißgeruch zu übertünchen.
»Perfekt!«
Zum Frühstücken war keine Zeit mehr, das konnte er auch später irgendwann erledigen. Mit schnellen Schritten verließ Michael sein Apartment, welches aussah, als wäre dort eine Neutronenbombe eingeschlagen. Und er war die einzige Lebensform, der es noch möglich war, in dieser feindlichen Umwelt halbwegs zu überleben. Beim Herunterhechten der Treppe blickte Michael nochmals auf seine Uhr und brüllte laut »Scheiße« durch das gesamte Treppenhaus.
Nur wenige Sekunden später saß er auch schon im Wagen, der direkt vor der Haustür parkte. Als er allerdings den Zündschlüssel umdrehte und losfuhr, meldete sich die Tankanzeige seines Gefährts.
»Fuck!«war im Inneren zu vernehmen. Mit größter Eile steuerte er die nächste Tankstelle an, um, wie er es nannte, die Scheißkarre vollzutanken. Unterdessen war Michael so nervös, dass seine Hände wieder anfingen zu zittern. Kein Wunder, sein Nikotinspiegel musste die Nacht über gegen Null gesunken sein. Schnell stopfte er sich eine Kippe in einen Mundwinkel und sprang aus dem Wagen, um vollzutanken. Nervös fingerte er noch an seinem Handy herum, während das Benzin glucksend im Tank verschwand. Routiniert hatte Michael schnell die Nummer des Senders angewählt, um zu berichten, dass er ein wenig später kommen würde. Am anderen Ende der Leitung hörte man nur eine aufgeregte Stimme sagen: »Nich` schon wieder. In einer halben Stunde bist du hier, oder du erhältst nie wieder einen Auftrag von uns.«
Damit war das Gespräch beendet und das Klicken des Zapfhahnes deutete an, dass der Tank jetzt voll war. Wie von der Tarantel gestochen stürmte Michael das Kassenhäuschen, warf seine EC-Karte auf die Theke und rief nur »die Drei!«
»Hast es eilig, Kleiner?«, fragte die Kassiererin und grinste ihn an.
»Hab' keine Zeit für Smalltalk«, gab Michael fast schon pöbelnd zurück.
»Is ja schon gut, hier Ihre Quittung der Herr.«
»Danke, das kann ich wenigstens von der Steuer absetzen.« Mit diesen Worten stürmte Michael auch schon raus. Mit quietschenden Reifen verließ er das Tankstellengelände. Er nahm einige Abkürzungen durch die 30 Zonen, die er mindestens mit 70 km/h durchfuhr.
»Scheiß auf den Führerschein, wenn ich zu spät komme, kann ich mir sowieso kein Auto mehr leisten.«

Als er dann endlich die Wohngebiete hinter sich gelassen hatte, kam er nahe dem Multiplexkino heraus. Jetzt war es nicht mehr so weit bis zur Autobahn.
»Nee Schätzchen!«, rief Michael.
Die Ampel wollte er noch schaffen, denn sonst würde er zu viel Zeit verlieren. Wenn er diese Tussis mit ihren Rädern schon von weitem sah, konnte er kotzen. Ständig mussten die für die langen Rotphasen verantwortlich sein, nur damit die ihr Rädchen über die Straße schieben konnten.
»Hah! Noch geschafft. Da guckst du blöd, nicht mit dem Meister, mein Fräulein, so nich.«
Mit der Hand auf der Hupe schlängelte Michael sich bis zur Autobahnauffahrt durch, dort gab er dann so richtig Gas. Bis zum Anschlag drückte er das Gaspedal durch, nur so konnte er die verlorene Zeit wieder aufholen.
Ein kurzer Blick auf die Uhr im Armaturenbrett bestätigte seine Vermutung. Es war zu schaffen. Wenn es keinen Stau gab. Leise schickte Michael ein Stoßgebet gen Himmel, damit alles glatt lief. Leichenblass und um einige Liter Körperflüssigkeit leichter bog er mit einem Affenzahn auf den Parkplatz des Senders ein. Zwanzig Minuten von der Tanke bis zum Sender, neuer Rekord. Der Stress forderte noch drei weitere Zigaretten bis hierher. Egal, der Weg zur Lunge musste geteert werden. Keuchend schoss er die Treppen hoch und fiel förmlich mit der Tür ins Haus. Eine Moderatorin übergab ihm ein Aufnahmegerät, ein Mikro und eine Wegbeschreibung.

»Danke, Hase.«
»Lass die blöden Anmachen, die ziehen bei mir nicht. Hast du was vorbereitet, Michael?«
»Nein, das mache ich alles aus dem Stehgreif.«
»Wenn du meinst. Reiz bloß nicht den Alten zu sehr.«
»Du weißt doch, ich hab' alles unter Kontrolle.«
»Sieh zu, dass er dich hier nicht sieht. Der ist sowieso nicht gut auf dich zu sprechen.«
»Bin schon weg.« Mit diesen Worten verließ er auch schon den Sender, um pünktlich bei seinem Interview zu sein.

Es war keine große Persönlichkeit, nur ein Lokalpolitiker, einer von denen, die alle Register ziehen mussten, um überhaupt im Gespräch zu sein.
Nach dem Aussehen und Auftreten zu urteilen hatte er bereits seinen Zenit des Erfolges erreicht. In seinem Wahlkreis sollte eine zusätzliche Müllverbrennungsanlage gebaut werden, was den Steuerzahler mal wieder einige Millionen kosten würde.
Michael stellte ihm die üblichen Fragen. Wieso, warum und weshalb? Eben die Standardfragen. Das war keine große Nummer und er wollte schnell wieder verschwinden, weil jeder über dieses Thema bereits genaustens Bescheid wusste. Es war nur ein Lückenfüller für das tägliche Programm. Die ganze Angelegenheit war dann auch schon in fünf Minuten erledigt.
Reichlich genervt eilte Michael wieder davon, er hielt nur noch einmal auf dem Weg zurück zum Sender bei einem Bäcker an, um sich ein belegtes Käsebrötchen zu kaufen. Im Sender verzog Michael sich in ein kleines Nebenstudio und bastelte sich einen Beitrag zusammen, der dann in den 16-Uhr-Nachrichten das erste Mal gesendet werden sollte. Dabei handelte es sich um keine schwierige Arbeit für Michael, er versuchte nur das Beste aus dem Interview herauszuholen. Nach einer halben Stunde war alles erledigt, und Michael fing an sich zu langweilen.
Sein Chef hörte sich den Beitrag nur kurz an und nickte bloß; das war das Zeichen zum Senden. Michael fragte, ob das alles für heute gewesen sei oder ob es noch etwas für ihn hier zu tun gebe. Irgendwie musste er ja sehen, wie er die Kohle zusammenbekam. Seinen Traum von einer Festanstellung hatte er schon vor langer Zeit abgeschrieben.
Das zeigte Michael natürlich nach außen nicht, äußerlich war er der immerwährende Optimist geblieben. Dennoch begannen sich im Inneren langsam berechtigte Zweifel über seine Berufswahl auszubreiten.
Sein Chef blickte flüchtig auf die vollgekritzelte Metallwand, auf der sämtliche Tagestermine eingetragen waren. Er runzelte seine Stirn und sagte: »Kannst in den nächsten drei Stunden die Verkehrsberichte und Blitzer durchgeben. Das wäre es dann für heute, mehr nicht.«
Michael nickte bloß, das war besser als nichts. Der Monat war gerade erst angelaufen und wenn seine Auftragslage so blieb, gab es keinen Grund, in Panik zu verfallen. Häufig genug hatte sich das Blatt gegen Ende des Monats gewendet. Das Schöne an dem Beruf war neben der Unabhängigkeit, dass man innerhalb einer Woche sein Monatseinkommen verdienen konnte. Wenn alles gut lief.
In den folgenden drei Stunden las er dann immer halbstündig die aktuellen Verkehrssituationen vor. Eine mehrstündige Sendung wäre Michael lieber gewesen; die lag aber leider ganz im Ermessen seines Vorgesetzten. Nächsten Monat fing jedoch auch hier die Urlaubssaison so richtig an und das war seine Chance wieder ein paar Aufträge zu ergattern. Das machte er eigentlich immer so, er übernahm fast nur die Vertretungen und die unliebsamen Zeiten wie Sonn- und Feiertage.
Nach dem großen Auftritt sorgte Michael erst einmal für Ordnung in seinem Ablagefach, wo Nachrichten und andere Papierangelegenheiten für ihn bereitlagen. Damit ließ er sich am heutigen Tag sehr viel Zeit. Michael wollte einfach noch ein wenig im Sender bleiben, mit der ewigen Hoffnung, noch kurzfristig einen Auftrag oder eine Moderation zu ergattern.
Gegen 19:00 Uhr sah Michael es so langsam ein, dass sich an diesem Tag nichts Spektakuläres mehr ergeben würde. So trat er den Weg nach Hause an. Auf halber Strecke machte er noch mal Halt an einem Drive-In um sich einen Burger, eine große Pommes, Chicken Wings, einen Donut und eine große Cola zu gönnen.
Michael ernährte sich nur von solchen Dingen, hin und wieder gab es einen Döner, Gyros, Currywurst oder Ähnliches. Seit Jahren ernährte er sich schon von Fastfood und konnte Gott dafür danken, dass er kein Gramm zunahm. Sein Körper musste wohl die meisten dieser Kalorien verbrennen. Er hätte auch selber kochen können, um ein wenig Geld zu sparen, aber dazu war er viel zu faul. Und sein letzter Kochversuch hatte es ihm nur allzu deutlich klargemacht, es sein zu lassen. Zwei linke Hände waren noch leicht untertrieben, dementsprechend armselig sah es dann auch in seinem Kühlschrank aus, abgesehen von Bier, ein paar Jogurts sowie altem Brot und verschimmeltem Käse war dort gähnende Leere.
Beim Verschlingen seiner Mahlzeit - er aß immer, als wäre der Teufel hinter ihm her - fiel ihm sein Wäscheberg ein. Für Wäschewaschen und Bügeln hatte er ebenfalls nicht sonderlich viel übrig; bei der Gelegenheit konnte er doch mal seine Mutter wieder besuchen. Seine Mutter lebte in einer kleinen Dreizimmerwohnung, in der er auch mal gehaust hatte. Um genau zu sein bis zu seinem 26. Lebensjahr.
Sein Vater war schon vor vielen Jahren gestorben, an einem Herzinfarkt. Seine Mutter behauptete immer, wenn er weniger gearbeitet hätte, wäre es nicht so weit gekommen. Ein wenig grauste es Michael schon davor, seine Mutter zu besuchen, dann gab es wieder diese endlos scheinenden Gespräche. Da musste er eben durch. Das war der Preis für frisch gewaschene und gebügelte Wäsche. So lange er keine eigene Waschmaschine besaß, hatte er noch eine Ausrede, sich davor zu drücken.
Nach dem opulenten Mahl düste er zu seinem Apartment und stopfte alle Wäschestücke, die er finden konnte, in einen großen Seesack und eine Plastiktüte. Das war alles, was Michael auf die Schnelle auftreiben konnte, er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Aufenthalt bei seiner Mutter war nie ein Zuckerschlecken.
Wie Michael bereits vermutet hatte, ging es schon an der Haustür los.

»Junge, da bist du ja. Warum meldest du dich denn nicht?«

»Habe eben viel um die Ohren«, antwortete Michael fast schon geistesabwesend.
»Ahh, sehe schon, kommst nur, damit ich dir die Wäsche wasche.«
»Hab' dich vermisst, Mutter, ehrlich.«
»Das sehe ich, gib schon her. Wann willst du dir eigentlich mal eine eigene Waschmaschine zulegen?«
»Momentan ist das Geld ein wenig zu knapp dafür.«
»So so, aber um sich Aktien zu kaufen reicht es dann doch noch.«
»Jetzt fang bitte nicht wieder damit an.«
»Wie viel hast noch mal verloren? 5.000 ¤?«
»Nein, es waren 10.000 ¤«, quetschte Michael mit zusammengebissenen Zähnen heraus.
»Wie 10.000 ¤? Hast du schon wieder welche gekauft?«
»Ja Mutter, habe ich. Die hätten eigentlich alles wieder ausgleichen müssen.«
»Haben sie dann wohl nicht. Mein Junge ist spielsüchtig.«
»Jetzt hör aber mal auf, das bin ich nicht. Wäschst du jetzt meine Wäsche oder nicht? Ja oder Nein.«
»Natürlich, wie immer. Sonst sieht man dich ja nie.«
»Danke.«
»Wenn du eine Freundin hättest, könnte die das ja machen. Na! Wie steht es denn damit?«
»Oh Kacke!«
»Nicht in diesen Ton, junger Mann!«
»Nein, ich habe keine, ich lasse das alles ein wenig ruhiger angehen.«
»Die war in deiner Wohnung und hat den Saustall gesehen und hat gleich das Weite gesucht. Ist ja kein Wunder.«
»Das ist alles ganz ordentlich.«
»Na, das werde ich demnächst mal kontrollieren«, sagte sie und wandte sich der Wäsche zu.
Michael ging ihr nach und sagte: »Ich hol' die Wäsche die Tage persönlich ab.«
»Du arbeitest zu viel Junge, spann dich mal ein wenig aus.«

Das war die Gelegenheit sich davonzumachen und seine Arbeit vorzuschieben.
»Mist! Muss los!«
»Wie? Soll ich dir nicht noch was zu essen machen?«
»Nein, hab' schon. Hab' es eilig.«

Mit diesen Worten knallte Michael auch schon die Haustür ins Schloss und rannte das Treppenhaus hektisch hinunter um das Haus ganz schnell wieder zu verlassen. Schnurstracks fuhr er zurück in seine kleine Rumpelkammer.

»Puh! Das riecht hier ja wie in einem Pumakäfig«, platzte er beim Betreten seiner Wohnung heraus.
Wann er das letzte Mal hier gelüftet hatte, war ihm völlig entfallen. Nachdem er alle Fenster aufgerissen hatte, schnappte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und leerte diese mit fünf kräftigen Schlücken.
»Ich hab' doch alles unter Kontrolle, was wollen die denn eigentlich alle von mir?«, fragte er seinen imaginären Gesprächspartner und setzte gleichzeitig die zweite Flasche Bier an. Das gleiche Spiel wie fast jeden Abend. Meistens - so auch an diesen Abend - schlief er bei der dritten geleerten Flasche Bier ein. Irgendwann in der Nacht wachte er auf und schleppte sich ins Bett, um erneut und bis zum nächsten Morgen durchzuschlafen.

Verstört schreckte Julia auf. Hatte sie das alles geträumt? Ja natürlich, was denn sonst, nur ein Tagtraum. Sie hatte schon häufiger Tagträume gehabt, so wie jeder andere Mensch auch. Das war aber irgendwie anders gewesen. Julia hatte auf einmal das Gefühl, diesen Michael schon lange zu kennen. Diesen Chaoten.

»Da mache ich mir Sorgen um mein Leben und Michael ist noch viel schlimmer dran. Selbst schuld, muss ja nicht so leben. Was rede ich denn da für ein dummes Zeug, das ist doch nur ein Traum gewesen.«
Julia schüttelte sich, fast so, als wollte sie den Gedanken wie Wassertropfen aus ihren Haaren fortschleudern. Es gelang ihr auch, und Michael war aus ihrem Kopf verschwunden. Er hatte aber Spuren hinterlassen, die Julia erst zu einem späteren Zeitpunkt bemerken würde.
Den Rest des Tages klüngelte sie nur herum, ohne auch nur eine bemerkenswerte Handlung. Die Stunden vergingen und sie machte sich bereit, den Tag mit einem netten Kinofilm ausklingen zu lassen. Julia verließ am frühen Abend ihre Wohnung und stieg in den Bus in Richtung Multiplexkino. Eine Haltestelle vor dem Kino stieg sie aus, um noch ein wenig Luft zu schnappen. Es war mehr als reichlich Zeit dafür, bis einer der Filme überhaupt anlief.
Von weitem konnte Julia schon die Menschenmassen sehen, die anscheinend auch nichts Besseres zu tun wussten, als den Abend mit einem der neusten Streifen zu beschließen. Ein leichtes Unbehagen stieg in Julia auf, denn zu große Menschenansammlungen verabscheute sie zutiefst. Es war keine Platzangst, nur diese Enge. Dieses Geschiebe und Gedränge, als wenn das eigene Leben davon abhinge, wie schnell man in einen der Kinosäle gelänge.
War es denn zu viel verlangt, es in Ruhe anzugehen, dann würde es um einiges schneller vorangehen.
»Egal, da musst du durch, Julia«, sagte sie, um sich den nötigen Ruck zu geben.
»Du warst schon so lange nicht mehr im Kino, es bringt doch nichts, sich immer nur zu verkriechen, das Leben ist da, um es in vollen Zügen zu genießen.«
Julia hielt inne und drehte sich noch ein weiteres Mal um, da war niemand. Sie hätte schwören können, die Worte wären von Michael gekommen. »Blödsinn, nur ein Tagtraum.«


Mit festen Schritten ging Julia dann auf die Eingangstür zu, mitten hinein in das Gedränge. Auf ihrem Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus, es hatte fast den Anschein, als wäre ihre jahrelange Angst vor Menschenmassen verflogen. Ein Außenstehender hätte gedacht, Julia genieße es, viele Menschen um sich herum zu haben.


Kapitel 3


Die große Eingangshalle war bis zum Bersten mit Menschen gefüllt. Viele zwängten sich orientierungslos durch die Menge, doch die Meisten drängten sich vor den Kassen, die an diesem Abend alle geöffnet waren. Jetzt musste Julia eine Entscheidung treffen. Welchen Film sollte sie wählen? Es war zwar sehr voll, jedoch sollte es möglich sein, eine einzige Karte zu erhaschen. Julia stellte sich unentschlossen an einer der vielen Reihen an.
Während die Schlange sich im Kriechtempo nach vorne schob, starrte Julia auf die Anzeigetafel, ohne auch nur einen einzigen Favoriten auszuspähen.
Es hatte keinen Sinn, Julia schloss ihre Augen. Es gab neun Kinosäle und folglich neun verschiedene Filme zur Auswahl. Einer von neun.
»Die Sieben ist doch ganz nett«, fand Julia mit noch immer geschlossenen Augen.
»Was war das denn noch mal?«
Sie öffnete ihre Augen und wollte zur Anzeige hochsehen, doch sie hielt sich zurück.
»Ich lasse mich einfach mal überraschen«, dachte Julia sich und grinste wieder.
Irgendwann erreichte auch sie die Kasse, um sich eine Eintrittskarte von dem genervten Studenten hinter der Theke zu kaufen.
»Welcher Film, bitte?« fragte der Mann lustlos.
»Kino 7«, antwortete Julia freudig.
»Wie viele Karten?«, fragte er immer noch im selben Tonfall.
»Eine Karte, bitte« ,gab Julia mit einem noch breiteren Grinsen zurück.
»Parkett oder Balkon?«
»Parkett, ist doch billiger?«
Der Kassierer nickte bloß.
»Das macht dann 6 Euro.«
Julia bezahlte den Betrag und kämpfte sich bis zum Kartenabreißer durch, der denselben Gesichtsausdruck hatte wie sein Kollege an der Kasse. Julia reichte ihm die Karte, die er anriss, bevor er zu ihr lustlos sagte,
»Kino 7. Die Treppe rauf und dann links den Gang herunter.«
Und schon war Julia aus seinem Blickfeld verschwunden und er widmete sich der nächsten Karte. Oben in der ersten Etage angekommen sah es aus wie in einem Ameisenhaufen und der Geräuschpegel ähnelte einem Käfig voller streitender Wellensittiche.
Noch einen Tag zuvor hätte Julia beide Beinen unter in die Hand genommen und wäre fortgerannt, aber heute war einer ihrer besseren Tage. Julia versuchte die Menge an Anwesenden halbwegs zu genießen.
Die Veränderung war Julia durchaus bewusst, gekonnt verdrängte sie diese Tatsache wie alle Gedanken, die sich als störend erweisen könnten. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. 30 Minuten noch, das war mehr Zeit, als sie wollte. Was damit anfangen? Julias Blick fiel auf die lange Theke, an der jede nur erdenkliche Art von Knabbereien verkauft wurde.
Wie von einem Magneten angezogen bewegte Julia sich darauf zu und stellte sich wieder an einer der vielen Warteschlangen an. Julia kaufte sich einen Cappuccino und eine Tüte Popcorn für den kommenden Film.
»Wenn ich schon nicht verreise, dann gönne ich mir ein wenig Luxus«, dachte sie sich.
Nicht gerade ein Luxus für jeden, aber Julia erlaubte sich so etwas sehr selten. Ein wenig mulmig war ihr dann schon. Diese spontane und gänzlich unüberlegte Handlung war so gar nicht Julia Sanderkamp. Sonst wog sie immer alles endlos ab. Entscheidungen waren ihr schon immer schwergefallen. Der ungewohnte Übermut verlor schnell seinen Schrecken und entpuppte sich als Balsam für ihre verschüchterte Seele.
Sie stellte sich mit ihrer Tasse Cappuccino und der Tüte Popcorn an einen kleinen Stehtisch, um erst einmal in Ruhe zu trinken und den Blick umherschweifen zu lassen. Die Sitzplätze waren allesamt belegt, so einer wäre Julia viel lieber gewesen.
An diesen Stehtischen konnte man sich nicht so zurückziehen und unbemerkt die vorübergehenden Leute beobachten. An den Dingern fühlte Julia sich den Blicken der anderen Kinobesucher schutzlos ausgeliefert.
Als beklemmend empfand sie es aber, den Tisch mit einer weiteren Person teilen zu müssen. Der Übermut und die Lust nach Menschenmassen waren jäh abgeebbt, als Julia, beide Hände voll bepackt, einen Tisch suchen musste. Die sich kreuzenden Blicke der Sitzenden verunsicherten Julia wieder. Eine große Auswahl von Möglichkeiten gab es nicht mehr, nur diesen kleinen Stehtisch in der Ecke, an dem ein ausländisch aussehender Mann in seine Lektüre vertieft war. Dieser Mann war so sehr versunken, dass er sie gar nicht bemerkte. Das gab Julia wieder die nötige Sicherheit des unbeobachtet seins.
Es war schon absurd, sie verfolgte gerne Fremde mit ihren Blicken, doch wenn jemand es bei ihr tat, war es unerträglich. Jeder Schritt und jede Bewegung wurden zur unausgesprochenen Qual für Julia. Der bloße Gedanke, eine belustigende Peinlichkeit zu verursachen, sorgte für eine Gänsehaut und ein fast unsichtbares Zittern am ganzen Körper. Julia hasste es, wenn andere über ihre Fehler lachten. Sie bemühte sich immer so perfekt zu sein, wie ihre Umwelt es auch zu sein schien, was ihr leider nie gelang. Julia nippte unbeobachtet an ihrer Tasse und wartete noch einige Minuten ab, bis der Einlass für den Film freigegeben wurde.
In einer großen, schubsenden Menschenkugel stürzten sich die geistesgestörten Bekloppten wieder durch die kleine Tür, weil es ja nur noch zehn Minuten dauerte, bis die Werbung anfangen sollte. Als der Großteil der Besucher den Eingang passiert hatte, machte sich auch Julia auf dem Weg. Selbst jetzt, als sie ging, schien der Mann sie nicht zu bemerken, so vertieft war er in seine Zeitschrift.
Die Tüte Popcorn fest umklammert nahm sie ihren Sitzplatz ein. Das Kino war fast voll. Die wenigen freien Plätze würden später bestimmt noch besetzt. Die Zeit, die verstrich, bevor ein Film losging, empfand sie immer als am grässlichsten. Jeder unterhielt sich mit seiner Begleitung oder lauschte der Musik.
Julia hingegen war mal wieder allein im Kino und die Musik war nicht nach ihrem Geschmack. Sie dachte daran, sich dem Popcorn zu widmen, aber dann wäre die Tüte bestimmt vor Ablauf der Werbung leer gewesen. Dafür kannte sie sich viel zu gut. Ihr blieb da nur der starre Blick ins Leere und die Hoffnung auf die baldige Öffnung des roten Vorhangs. Hinterköpfe anzustarren war nicht gerade das, was Julia als besonders aufregend bezeichnen konnte.
Kurz bevor das Licht verlosch, sah Julia ein Pärchen mittleren Alters, das in eine heftige Diskussion verwickelt war. Leider saß Julia viel zu weit von den beiden entfernt, um zu verstehen, was die beiden Streithähne sagten. Der Mann wendete sich dann beleidigt ab und schmollte. Es lag bestimmt daran, dass sie sich in einem Liebesfilm befanden. Soweit sie gehört hatte störte das ja die meisten Männer. Sicherlich begleitete er sie nur des lieben Friedens wegen. Was sollte sie sich den Kopf darüber zerbrechen, es ging los und Julia wollte sich nur noch zurücklehnen und genießen.
Der Film war nicht besonders gewesen, eben einer von vielen schönen Liebesfilmen. Es reichte jedoch, um abzuschalten, um für zwei Stunden auf andere Gedanken als den blöden faden Alltag zu kommen.
Gut gelaunt trat Julia nach dem Film den Heimweg an. In ihrem kleinen Nest angekommen legte sie sich auf ihr Bett und hörte noch ein wenig Musik. Die Uhr des Radioweckers war auf neunzig Minuten eingestellt, nach Ablauf dieser Zeit würde die Musik von ganz allein aufhören. Julia träumte noch ein wenig vom Film und lauschte der leisen romantischen Musik. Wie sollte es auch anders sein, irgendwann im Zeitraum dieser neunzig Minuten glitt Julia dann ins Reich der Träume und wachte erst am nächsten Tag wieder auf.
Julia war noch nicht einmal dazu gekommen ihre Kleidung abzulegen, was nicht gerade ihre Art war. Diese Träumerei fing an, den gewohnten Ablauf ihres Lebens aus der jahrelang festgelegten Bahn zu werfen. Jedoch fragte Julia sich, ob eigentlich jegliche Veränderung gleich immer schlecht sein musste. Irgendwie machte es ihr auch Spaß. Merkwürdig war es schon; sie fragte sich woher dieser plötzliche Wandel kam. Welche großartigen Veränderungen gab es schon in Julias Leben? Keine!
Alles verlief schon seit Jahren in einem langweiligen, grauen Alltagstrott, die Träume brachten endlich den langersehnten Farbklecks. Julia war klar, wenn sie möglichst viel aus ihren zwei Wochen Urlaub machen wollte, musste sie einen richtigen Plan aufstellen. Also setzte sie sich mit Zettel und Stift hin, um zu überlegen, was man so anstellen könnte. Julia wollte das unternehmen, wofür sie sonst wegen der Arbeit keine Zeit hatte.
»Kultur« schrieb Julia als ersten Punkt auf den Zettel, der vor ihr lag. Darauf folgten dann Unterpunkte wie Theater und Museum. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens schrieb sie auch noch das Kino dazu. Wieso eigentlich nicht, sie konnte auch mehr als einmal einen Kinobesuch unternehmen. Es gab ja noch jede Menge Filme zu sehen, die sie interessierten. Julia beschloss aber zu anderen Zeiten hinzugehen, wenn es nicht so überfüllt war. Auch wenn sie stellenweise keine große Furcht vor den Menschenmassen empfunden hatte, wollte sie doch ein wenig ruhiger an die Sache herantreten.
Im Übrigen war es schwierig genug gewesen, ungestört die Menschen zu beobachten. Es waren schon einige lustige darunter gewesen, aber bei der Masse machte es keine Freude. So extrem eng gedrückt an einem Stehtisch in der Ecke zu verweilen, war widerlich, da konnte man sich ja noch nicht mal zurücklehnen. Ihrem Gegenüber schien es nichts ausgemacht zu haben, denn der hatte ganz genüsslich seine Zeitschrift gelesen. Julia rief sich diesen Mann wieder ins Gedächtnis zurück. Eigenartig war er schon gewesen, dieser ganze Trubel schien ihn nicht im Geringsten gestört zu haben.
Wer war er?
Während Julia sich das fragte, streckte sie sich mit dem Kugelschreiber im Mund auf dem Sofa aus und starrte an die Decke.
Dieser Mann war nicht außergewöhnlich groß gewesen, so schätzungsweise zwischen 1,60 m und 1,65 m. Nach einem kurzen Moment legte Julia sich auf 1,63 m fest.
Das klang gut und lag genau in der Mitte. Er hatte einen leicht gebräunten Teint, tiefdunkelbraune Augen und kurzes, gelocktes schwarzes Haar. Vom ganzen Erscheinungsbild her schnell als ein Türke zu erkennen. Er wirkte ein wenig schüchtern, wie Julia. Er hatte nicht dieses Machogehabe an sich gehabt, wie viele es zu ihrem Hauptbestandteil der Persönlichkeit erkoren hatten.Wahrscheinlich war er wenn man ihn besser kennen gelernt hatte, ein sehr netter, lustiger und wirklich herzensguter Mensch. Jetzt musste Julia doch ein wenig grinsen, denn dieser Mann sah ein wenig komisch aus. Da er nicht besonders groß war, stach sein leichter Bauchansatz wesentlich mehr hervor. Diesen Menschen musste man einfach gern haben.
Bei dem Namen hatte Julia große Schwierigkeiten. Um ganz ehrlich zu sich selbst zu sein, kannte sie sich mit türkischen Namen überhaupt nicht aus. Julia grübelte eine wirklich lange Zeit vor sich hin, bis sie endlich einen Namen für den Fremden gefunden hatte.
Cem Özmüs. Ob er gut war oder nicht, war Julia ziemlich egal, sie hatte einen Namen und mehr brauchte sie auch nicht.
So bald Julia sich auf den Namen festgelegt hatte, fiel sie wieder in den eigenartigen Wachschlaf, den man nicht nur als einen Tagtraum bezeichnen konnte. Es war viel intensiver als es ein Traum jemals sein konnte.
In den nächsten Stunden sollte Julia den Großteil von Cems Leben sehen, von der Geburt in der Türkei bis hin zu dem Abend im Multiplexkino, wo sie sich das erste Mal sahen.

Cem Özmüs wurde vor nunmehr vierzig Jahren in einem Ort in der Türkei geboren, der für uns westliche Zungen fast unaussprechbar ist. Dieses Nest war so klein, dass es kaum auf einer Karte verzeichnet wurde. Es lag an der Grenze zu Syrien, irgendwo zwischen dem türkischen Gaziatep im Norden und dem syrischen Halab im Süden. Jedenfalls ein Dorf mit Menschen, die hauptsächlich von der Landwirtschaft lebten, so gut es eben ging.
Cem war das jüngste von fünf Geschwistern. Schon sehr früh merkten seine Eltern, dass er anders war als ihre restlichen Kinder, ihm lag die Landwirtschaft nie besonders. Es war ein sehr bescheidenes Leben, welches die Özmüs führten, Cem aber glaubte schon früh, mehr erreichen zu können. Er wollte einfach nie glauben, dass er zu so einem Leben bestimmt war. In der zehn Kilometer entfernten Schule, zu der er jeden Morgen hinlief, lernte er das Allernötigste für sein späteres Leben. Ein wenig Lesen, Schreiben und Rechnen. Für mehr war kein Geld da gewesen. Mehr hatten seine Geschwister auch nicht gelernt und das reichte als Bauer, so meinten seine Eltern. Cem arbeitete dann bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr bei seinen Eltern, bis er sich sagte:
»Ich muss hier raus.«

Seine Familie lachte ihn aus, so wie das gesamte Dorf, als es von seinem Vorhaben erfuhr. Cem wollte nach Istanbul. Aufgrund des Spottes, der ihm und seinem Plan entgegengebracht wurde, beschloss Cem zu schweigen. Er hatte leider nie viel Geld besessen, aber das wenige, was er durch seine Arbeit erhielt, sparte er für seine Reise. Als Cem dann sechzehn Jahre alt war, ging er zu seinem Vater und sagte: »Vater! Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt und erwachsen genug.«
Sein Vater blickte ihn nur ungläubig an und fragte ihn, was er damit sagen wolle. Mit fester Stimme antwortete er nur: »Ich gehe nach Istanbul.«
Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, zeigte er seinem Vater das über die Jahre gesparte Geld. Cem hatte erwartet, dass sein Vater brüllen oder irgendwie seine Abneigung zeigen würde, doch dem war nicht so.
Sein Vater lächelte nur und sagte: »Wenn du von dem bisschen Geld, so viel gespart hast, und das schon seit Jahren, wie ich sehe, dann besitzt du einen starken Willen, mein Sohn. Das macht mir nur deutlich, dass du wirklich ein Erwachsener geworden bist.
Mir persönlich wäre es lieber, du würdest bleiben, aber ein Mann muss seinen eigenen Weg gehen.«
Cem war nach diesen deutlichen Worten einfach nur sprachlos, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Der Rest des Tages verlief wie alle anderen Tage in seinem Leben zuvor. Das Gespräch blieb bei Cem und seinem Vater, niemand erfuhr etwas darüber.
Am darauf folgenden Tag, lange vor dem Morgengrauen, schüttelte ihn jemand an seiner Schulter. Es war sein Vater.
»Komm Sohn, du musst los!«
»Wohin denn?«, fragte Cem verdutzt.
»Nach Istanbul«, sagte er leise.
Noch bevor Cem wusste, wie ihm geschah, saß er schon auf dem kleinen Karren seines Vaters und sie fuhren schweigend dem Morgen entgegen. An dem kleinen Bahnhof kamen sie dann zum Stehen, und Cem kaufte sich sofort eine Fahrkarte nach Istanbul. Langsam und träge verfloss die Wartezeit, in der sie nur dasaßen und schwiegen. Cem nahm allen Mut zusammen und fragte nach seiner Mutter.
»Sie weiß von nichts, ist auch besser so. Sie würde dich nicht gehen lassen.«
Sein Vater sprach mit ihm, ohne seinen Sohn auch nur anzusehen. Wieder saßen sie schweigend da, bis das Signal des kommenden Zuges sie hochschreckte. Da standen beide, Vater und Sohn. Keiner von ihnen wusste, wie er sich nun verhalten sollte. Da nahm sein Vater ihn in den Arm und sagte nur: »Vergiss uns nicht.«
» Das werde ich nie«, antwortete Cem mit zitternder Stimme.

Dann schob sein Vater ihn von sich und gab ihm noch ein Leinensäckchen mit Proviant mit. Demonstrativ wendete er sich ab und sah ihn nicht mehr an. Cem hatte noch nie viele Gefühlsregungen bei seinem Vater bemerkt, doch das war eine Geste, die unmissverständlich war. So ging er dann zum Zug und setzte sich auf einen Fensterplatz. Als der Zug losfuhr, bemerkte Cem seinen Vater, der noch nicht gefahren war. Seine rechte Hand war zum Abschied erhoben und das gerade erblühende Morgenleuchten tauchte das Gesicht seines Vaters in ein rötliches Licht. Cem konnte einfach nicht fassen, was er dann sah. Seinem Vater kroch zaghaft eine Träne aus dem rechten Auge. Niemals zuvor hatte er Tränen bei seinem Vater gesehen. Am liebsten wäre er sofort wieder aus dem Zug gesprungen, doch das war nicht mehr möglich, da die Geschwindigkeit des Zuges stetig zunahm. Es vergingen nur Sekunden, bis sein Vater aus dem kleinen Lichtfeld verschwunden war. Schwer atmend lehnte Cem sich zurück und schloss die Augen, um von seinem Dorf zu träumen.
Es war eine lange Reise, die Cem bevorstand, und der Leinenbeutel mit Proviant war nach einigen Stunden sehr nützlich, um seinen Hunger zu stillen.
Zu seiner Verwunderung fand er dort ein kleines Papierpaket, das mit einem Bindfaden verschnürt war. Vorsichtig öffnete Cem es. Eine Handvoll Geldscheine befand sich darin. Es war nicht viel Geld, aber für Cem eine riesige Menge. Sein Blick richtete sich gen Himmel, während er Allah bat, seinen Vater und den Rest seiner Familie zu beschützen. Er versprach, auch eines Tages seiner Familie das Geld hundertfach zurückzuzahlen.
In Istanbul angekommen war er überwältigt von den Menschenmassen und den vielen Eindrücken, die sich ihm hier darboten. Die ganze Hektik war Cem völlig fremd. Er bekam große Angst und wollte wieder zurück, das war aber unmöglich. Wenn er zurückging würde ihn niemand mehr ernst nehmen. Er wusste, dass viele im Dorf genau diese Reaktion von ihm erwarten würden. Nein die Genugtuung wollte er denen nicht geben. Wo konnte er nur Arbeit finden und eine Unterkunft? Da fiel ihm plötzlich ein alter Traum wieder ein. Das Meer. Noch nie hatte er das Meer gesehen. Dort gab es auch Schiffe aus fernen Ländern. Er musste es einfach anschauen. Es war kein langes Durchfragen nötig, um zum Hafen zu gelangen.
So viel Wasser auf einmal verschlug ihm den Atem und er musste sich setzen. Lange hockte er einfach nur so da, schaute in die Weite und beobachtete die Schiffe, die in den Hafen einfuhren. Er war darauf vorbereitet gewesen, aber es war noch schöner, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Cem war es durchaus bewusst, dass er hier nicht ewig sitzen bleiben konnte, er musste einen Broterwerb und eine Unterkunft finden. Er war kräftig und Schufterei seit seiner frühsten Kindheit gewöhnt. So ging er los und fragte bei den Packern nach Arbeit. Von vielen wurde er abgewiesen, jedoch schien einer wohl Mitleid zu haben und nahm ihn auf. Einige Jahre später wusste Cem auch warum. Er hatte sich damals viel zu günstig verkauft, was sich aber schnell ändern sollte.
Viele Jahre arbeitete Cem für die Reederei und lebte mit den anderen Arbeitern in kleinen Wohnbaracken. Es ging ihm nicht schlecht, allerdings auch nicht ausgesprochen gut. Es war nicht das Leben, welches Cem sich immer erhofft hatte. Er wollte mehr, und er wusste, dass er es erreichen konnte. In den Vergangenen Jahren war er zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen, der sich viel Wissen aus Büchern angeeignet und auch das Auto fahren gelernt hatte. Sehr gerne hätte Cem einen eigenen Wagen besessen, jedoch mit seinem Gehalt, obwohl es sich seit Beginn zwar gesteigert hatte, sollte es leider nur ein Traum bleiben.
Häufig stand Cem am Kai, beobachtete die auslaufenden Schiffe und fragte sich dabei, ob da hinten für ihn eine noch bessere Zukunft liegen würde.

Eines Abends saßen die anderen Arbeiter vor dem kleinen Fernseher und sahen sich eine Unterhaltungssendung an, tranken Tee oder unterhielten sich über den Arbeitstag. Cem interessierte es nicht sonderlich, er blätterte in einem alten, vergilbten und an vielen Stellen bereits eingerissenen Atlas. Auf einer Doppelseite war die gesamte Welt zu sehen. Mit dem Zeigefinger fuhr Cem von Istanbul über das gesamte Mittelmeer. Vorbei an Griechenland, er ließ Italien mit der Insel Sizilien hinter sich und glitt rauf bis nach Spanien. Er passierte die Straße von Gibraltar und schob sein Fingerboot nach Irland. Komplett in seine Gedanken versunken setzte er seine Reise fort bis zu der Küste von Dänemark. Hier blieb er das erste Mal stehen.
Sein Blick fiel auf die Stadt Hamburg. Deutschland. Wie es da wohl sein mochte, fragte er sich. Er hatte bereits von einigen gehört, die dorthin ausgewandert waren. Den Menschen dort sollte es wesentlich besser gehen als hier.
»Ja richtig, die Hamburg!«, sagte Cem leise zu sich.

Dieses Schiff hatte er vor zwei Tagen doch gesehen. Es war auch nur eines von vielen gewesen die er gesehen hatte und die kaum Spuren in seinem Gedächtnis hinterließen. Er hatte sich schließlich um seine Arbeit zu kümmern. Cem legte den Atlas beiseite und schloss seine Augen. Es war eine unruhige Nacht, denn er musste ständig an die Hamburg denken. Auswandern, war das die Lösung? In ein ihm völlig fremdes Land gehen, dessen Sprache er nicht einmal ansatzweise beherrschte?
In dieser Nacht träumte Cem von den Auswanderern die bereits dort lebten und sich dort zu Hause fühlten. Noch viele Tage danach verfolgte Cem dieser Traum. Wie sollte er es nur anstellen, ganz allein schien es ihm zu gewagt und in einem dieser Auswanderertrupps wollte er sich nicht anschließen. Seine Entscheidung zögerte er noch einige Monate heraus, aus Furcht seine Heimat zu verlassen. Die Briefe, die er mit seinem Vater austauschte rieten ihm davon ab. Er und seine Familie wollten ihn nicht völlig verlieren. Und sie behaupteten sogar, ein Moslem könnte niemals unter ungläubigen Christen leben. Je größer die Ablehnung von Außenstehenden gegenüber seinem Vorhaben wurde, desto sicherer wurde Cem sich in seinem Entschluss. Er hatte wieder das Gefühl von damals, als er sein Dorf verließ. So sagte er sich dann, warum nicht? Er kündigte seine Arbeit und spähte ein Schiff aus, auf dem er anheuern wollte. Er fand sogar ein türkisches Schiff, das genau sein Ziel ansteuerte. Cem pries dem Kapitän seine Dienste an und nannte ihm auch sein Vorhaben. Erst als Cem ihm anbot, nur für Bett und Essen zu arbeiten, willigte der Kapitän ein. Das allererste Mal in seinem Leben befand er sich daraufhin auf einem fahrenden Schiff, was er so einigermaßen verkraftete. Nach fünf Tagen hatte Cem sich endlich an den ständigen Bewegungen gewöhnt.
Er putzte, er kochte, er reparierte und noch vieles mehr. Cem musste härter arbeiten als jemals zuvor, weil er befürchtete, wenn er sich nicht genügend anstrengte würde man ihn über Bord werfen oder irgendwo aussetzen. Vermissen würde ihn ganz sicher niemand und schwimmen konnte er erst recht nicht. Das Schiff hielt an vielen Häfen, aber nach vier Wochen erreichten sie dann endlich ihr Ziel Hamburg. Der Kapitän bot Cem an, bei ihm zu bleiben, da er sehr gute Arbeit geleistet hätte, doch auch das angebotene Geld lockte Cem nicht mehr. Er ging von Bord.

Da war er nun in Deutschland, seine Neugierde war größer als die Furcht. Mit seinen wenigen Habseligkeiten in einem alten, verschlissenen Leinenbeutel durchstreifte er die fremde Stadt, in der alles so anders aussah als das, was ihm vertraut gewesen war. Seine Tortur stand erst noch am Anfang, Cem musste noch durch die Mühlen deutscher Behörden.
Er wusste, wie die Polizei in diesem Land aussah. Er ging zu zwei Polizisten und bat die beiden verdutzten Beamten um Asyl. Sie schauten Cem nur fassungslos an, weil sie so etwas noch nie in ihrer gesamten Laufbahn erlebt hatten, und reichten Cem dann weiter. Er musste viele Behörden und kalte Büros durchlaufen, bis er dann doch Glück hatte und eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhielt. Von da an, was lag näher, arbeitete Cem im Hafen und verrichtete fast dieselbe Arbeit wie in Istanbul. Ihm wurde eine Unterkunft beschafft, die mehr als nur einfach eingerichtet war. Für Cem war es bereits Luxus pur. Sein Leben verlief so einige Jahre weiter. Er lernte eifrig die fremde Sprache, die er dann nach ein paar Jahren relativ gut beherrschte, und konnte sich auch schnell mit anderen Türken anfreunden und sich einen kleinen bescheidenen Freundeskreis aufbauen. Aus der Notunterkunft zog er später aus und er wechselte in eine kleine Wohnung, die ihm seine neuen Freunde besorgt hatten. Diese Wohnung richtete er sich Stück für Stück mit Hilfe vieler neuer Bekannter ein.
Selbst den Führerschein holte er offiziell nach und leistete sich schon bald ein eigenes Auto. Es war der reinste Segen gewesen, in dieses Land zu kommen; in seinem kleinen Dorf hätte er das alles wohl kaum erreichen können. Es war nicht immer leicht gewesen, in den meisten Fällen sehr hart, aber Cem gab nicht auf. Es war ihm durchaus bewusst, dass viele noch wesentlich besser als er lebten, das war ihm jedoch egal.
Dass er noch immer nicht verheiratet war, störte ihn viel mehr als ein fehlender Luxus. Das mochte auch daran liegen, wie er sich veränderte. Cem beschäftigte sich viel mit dem Land, den Menschen, ihren Sitten und Gebräuchen, und passte sich immer mehr seiner neuen Heimat an, ohne seine Identität als Türke völlig aufzugeben.

Jetzt lebte er schon viele Jahre in Großstädten und führte ein und dieselbe Tätigkeit aus. Es wurde Zeit für eine Veränderung. Diesen ganzen Trubel wollte er nicht mehr, schon seit einiger Zeit sehnte Cem sich nach ein wenig Ruhe. Deutschland war nicht gerade ein kleines Land und eine geeignete Anstellung fehlte noch. Wieder einmal an einem Wendepunkt im Leben angekommen, verließ ihn auch dieses Mal das Glück nicht, er sollte nur noch etwas Geduld haben. Bis er diese Stellenausschreibung für einen Auslieferungsfahrer fand, bei einem Betrieb, der Werkstätten mit Ersatzteilen belieferte, und mitten in Westfalen lag. Cem bewarb sich und wurde prompt angenommen. Noch viel schneller packte er seine sieben Sachen und zog um. Schnell lebte er sich in der neuen Stadt ein und die Arbeit gefiel ihm immer besser, da sie nicht mehr so anstrengend und kräftezehrend war.
Es musste auch hier wieder ein wenig Zeit vergehen, bis er eine wunderschöne Türkin kennen lernte. Es war kein Zufall, dass er sie traf. Um nicht völlig den Kontakt zu seinen Landsleuten zu verlieren, suchte er türkische Vereine und Treffs auf. Es waren ein neu gewonnener Freund und der Vater seiner Frau, die ein Treffen mit seiner Zukünftigen veranlassten. Es störte Cem nicht im Geringsten, dass es sich hier um eine Verkupplung gehandelt hatte, dafür bekam er die schönste Frau der Stadt. Das Beste an der ganzen Sache war, dass sie sich auf Anhieb gut verstanden. Die Hochzeit ließ dann auch nicht lange auf sich warten, sie wurde zu einem mehrtägigen rauschenden Fest. Dafür ließ Cem auch seine Eltern einfliegen, mitsamt seinen Geschwistern. Da die Kosten für Cem alleine zu hoch gewesen wären, bat er seinen Schwiegervater um Hilfe, diese ihm mit völliger Selbstverständlichkeit gewährte.
Seine Eltern, die jede Besorgnis über die Auswanderung verloren, als sie das Paar erblickten, waren mehr als stolz auf ihren Sohn. Sie und seine Geschwister blieben für zwei Wochen und genossen es mit ihrem Sohn und Bruder wieder zusammen zu sein.

Die Jahre zogen vorüber und Beide arbeiteten hart und bauten sich zusammen eine überschaubare Existenz auf. Als das Paar seine Situation für gefestigt genug hielt entschloss es sich für eigene Kinder.
Diese Wartezeit hatte schon für einigen Tumult gesorgt, denn seine Schwiegereltern waren noch sehr traditionell in diesen Angelegenheiten. Auch dass ihre Tochter anfing zu arbeiten und später das Kopftuch wegließ, war für sie doch sehr gewöhnungsbedürftig.
Anfangs gab es heftige Diskussionen, die dann mehr und mehr von dem aufblühenden Selbstbewusstsein seiner Frau erstickt wurden. Sie kannte die Schwachstellen seines Schwiegervaters besser als er selbst. Schnell hatte er die Sympathie aller Frauen in der Familie auf seiner Seite, dieser geballten Macht der Frauen hatte sein Schwiegervater dann nichts mehr entgegenzusetzen. Es mussten jedoch noch viele Jahre vergehen, bis er es wirklich verstand und akzeptierte.
Die besagten Kinder kamen, als alle finanziellen und familiären Hindernisse geklärt und aus dem Weg geräumt waren. Direkt hintereinander, mit nur einem Jahr Abstand wurden eine Tochter und ein Sohn geboren. Cem trieb es hier noch einmal auf die Spitze und gab seinen beiden Kindern deutsche Erstnamen. Die aufbrausenden Wogen glätteten sich jedoch so schnell, wie sie entstanden waren. Und es kehrte endgültig Frieden in der Familie ein.
Die Kinder gingen zur Schule wie alle andern Kinder auch und ansonsten war es bei den Özmüs genauso wie bei jeder anderen Durchschnittsfamilie in Deutschland. Sie waren dieser Kultur bereits so angepasst, dass sie nicht mehr sonderlich auffielen. Alles ging seinen Weg und jeder war zufrieden, sie waren nicht reich, aber konnten sich viele Dinge leisten, die das Leben angenehmer gestalteten. Nur bei der Erziehung seiner Kinder war Cem sehr eigenwillig. Wenn es irgendwie möglich war, brachte er sie noch selbst weg oder holte sie auch wieder ab. Es passierte einfach zu viel, was man ja jeden Tag aus der Presse entnehmen konnte. Seine Kinder bedeuteten Cem einfach alles und er würde nicht zulassen, dass ihnen etwas zustieß.

So auch an diesem Abend, als seine Tochter mit ihrer Freundin weggegangen war. Der Vater ihrer Freundin hatte beide im Multiplexkino nach einem langen Nachmittag abgesetzt. Und Cem holte beide wieder ab. Da es noch ein wenig dauerte, bis der Film zu Ende war, las er noch ein wenig. Er verdrückte sich in eine Ecke und blätterte ein in einer kurz zuvor gekauften Zeitschrift. Bei den politischen Artikeln blieb er hängen und las sie genau durch, denn für Politik interessierte Cem sich am meisten und er wollte immer auf dem Laufenden sein. So bemerkte Cem auch nicht, wie eine schüchterne junge Frau sich zu ihm an den kleinen Stehtisch gesellte und wenig später in dem Kinosaal verschwand, aus dem seine Tochter und deren Freundin traten. Während Julia es sich in einem der Kinosessel bequem machte, war Cem bereits wieder unterwegs.

»Irgendwie ein netter Kerl«, dachte Julia.
»Wenn man es so betrachtet, wirkt Cem richtig sympathisch.«

Aber was sollte das, es war doch nur ein Traum. Doch im gleichen Moment kam ihr der Gedanke, dass alles ja genau so passiert sein konnte. Das würde Julia wohl nie erfahren, es war auch nicht so wichtig. Ein wenig schämte Julia sich dann, weil plötzlich die über Jahre eingetrichterten Vorurteile wieder in ihr hochkamen. Sie konnte es nicht leugnen, dass sie sich wenn ein etwas anders aussehender Mensch auf sie zukam, automatisch zurückzog. Ebenfalls kam es vor, dass Julia einen Schritt zurücktrat oder ihre Handtasche krampfhaft festhielt. Wirklich ohne jede Begründung, nur aus einem Reflex heraus tat sie es. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr stellte sie fest, dass bereits Kinder damit aufwuchsen, das dass was anders als der Durchschnitt ist, nur böse sein kann.
Es beunruhigte Julia ungemein, da sie auch so gar nicht in diese Durchschnittsform passte. Am liebsten hätte sie sich gleich bei Cem entschuldigt, was leider nicht möglich war. Mit hundertprozentiger Sicherheit hätte er sie für eine Irre gehalten, wenn sie ihn im Namen von Millionen Menschen um Verzeihung gebeten hätte. Es blieb da nur eine Möglichkeit, sie musste sich selbst und ihre vielen merkwürdigen Ansichten ändern und endlich beginnen selber eine Meinung zu entwickeln. Was jedoch noch wichtiger war: den Aussagen anderer viel kritischer gegenüberzustehen.
Julia grinste und sagte laut: »Das wäre ein guter Vorsatz für ein neues Jahr.«
Was sollte sie warten, besser jetzt beginnen, als es noch länger hinauszuzögern. Irgendwie musste die Welt sich doch zum Besseren wenden lassen. Julia konnte kaum so viel Verantwortungsbewusstsein von ihren Mitmenschen verlangen, die täglich so ein widerliches Verhalten an den Tag legten. Nein, wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen. Julia fand den Satz so gut, dass sie ihn zu ihrem Leitspruch machte. Immer, wenn sie sich über ihre Mitmenschen ärgerte, wollte sie sich daran erinnern.

Kaum zu fassen, es war schon fast wieder Mittag. Eigentlich hatte Julia vorgehabt, eine Liste mit den Dingen anzufertigen, die sie in ihrem Urlaub noch so erleben wollte, jedoch über den Punkt Kultur war sie nicht hinausgekommen.
Im Gegenteil, sie lag nur so herum, träumte und vergaß die Zeit völlig. Sie verspürte nicht die geringste Lust völlig zu verwahrlosen und zog sich an. Ein wenig tageslichttauglich machte sie sich auch noch, so dass sie nicht mehr vor ihrem eigenen Spiegelbild zurückschrecken musste.
Wieder ein angebrochener Tag und immer noch kein Plan für die folgenden Tage, das musste endlich ein Ende finden. Da Julia die Liste fertig stellen wollte, beschloss sie, es sich im Liegestuhl auf ihrem Balkon gemütlich zu machen. Die Sonne stach noch außerordentlich, so spannte Julia den Sonnenschirm auf und legte sich genüsslich darunter.
Auf den Tisch stellte Julia sich ein großes Glas kalte Limonade, nahm einen Schluck davon und streckte alle Viere von sich. In der Hand hielt sie einen Block und einen Kugelschreiber. Ein wenig blickte Julia unter ihrem Schattenfleck in die Ferne und lauschte dem Gezwitscher der Vögel.
So übel war es doch nicht zu Hause zu bleiben, trotzdem: Nur herumzugammeln war nicht ihr Ding. So fing sie wieder an zu schreiben.

Kultur:
Theater, Museum, Kino
Sport:
Schwimmen, Radtour, Inliner
Vergnügen:
Shoppen, Eis, Essen gehen
Pflichten:
Wohnung ausmisten, Supermarkt

Weiter kam Julia nicht, das war die spontane Entleerung ihrer Gedanken. Sie überlegte sich, einen Zeitplan für ihre Vorhaben festzulegen. Nein. Bloß keinen Druck machen. Besser war es, das zu tun, worauf sie gerade Lust hatte, und alles nach und nach abzuhaken. Ohne es zu wollen, fiel Julia in eine leichte Melancholie. Sie dachte daran, wie schön es doch wäre, jemanden an der Seite zu haben, mit dem man sich so richtig austoben konnte. Dem war aber leider nicht so.
Warum musste sie bloß so verdammt schüchtern sein?
Oder war sie einfach zu anspruchsvoll?
Sie wusste es nicht. Aber irgendjemandem wollte sie sich ja auch nicht an den Hals werfen. Und was sollte das eigentlich, man musste sich doch nur mal die meisten Vollidioten genauer ansehen. Nach bereits einer Minute wusste Julia, dass damit nichts anzufangen war. Warum sich dann so unter Druck setzen, es würde schon irgendwann funken. Bestimmt. Wieso denn auch nicht?
»Verdammte Scheiße!«, stieß Julia aus. »Was mache ich mir hier eigentlich vor, ich fühle mich einsam.«
Dieses ständige Gerangel im Kopf war mehr als nur nervend, sie sollte sich einfach hineinstürzen und abwarten, was dann passieren würde. Die perfekte Beziehung gab es doch eh nicht, es kam immer irgendwann der Tag, an dem man sich nicht mehr ausstehen konnte. Dann tat der Eine das, was der Andere wollte nur damit es nicht wieder zu einem der endlosen Streitereien kam.
Musste das denn sein?
Wenn man sich nicht darauf einließ erfuhr man es nie. Dafür blieb einem dann der eventuelle Ärger erspart. Für den Preis der Ruhe muss man dann die Einsamkeit akzeptieren. Ob dieses Pärchen im Kino, das ein paar Reihen vor Julia gesessen hatte, sich auch mal diese Fragen gestellt hatte?
Dem Mann hatte Julia förmlich ansehen können, dass er sich den Liebesfilm mit seiner Frau nur angetan hatte, um einem Streit aus dem Wege zu gehen.
Nach einem kräftigen Schluck kühler Limonade schloss Julia ein weiteres Mal ihre Augen. Sie hatte so langsam Übung darin und rief sich das Pärchen gedanklich zurück, um es genauer zu betrachten. Was anfänglich noch Schwierigkeiten bereitete, verselbständigte sich immer mehr. Mit dem Aussehen kamen auch die Namen und Lebensdaten zu Julia, ganz so, als hätte die kleine Meise sie ihr zugeflüstert, die unbemerkt auf dem Geländer des Balkons Platz genommen hatte und Julia mit scharfem Blick musterte.
Die beiden hießen Bernd und Marita Harthoff. Bernd war 49 Jahre alt, kräftig gebaut und hatte lichtes Haupthaar. Von Beruf war Bernd Maurer, was hundertprozentig zu seinem schroffen Äußeren passte.
Seine Frau Marita war 45 Jahre alt und im Vergleich zu ihrem Mann eher zierlich gebaut. Einen Beruf übte sie nicht aus, auf Wunsch ihres Mannes blieb sie Hausfrau. Sie waren seit 23 Jahren verheiratet und mittlerweile ein eingespieltes Team geworden. Jeder kannte den Partner so gut wie sich selbst. Aus der Ehe der beiden waren zwei Töchter hervorgegangen. Die Kinder waren 15 und 17 Jahre alt. Die ältere von Beiden dachte schon seit einiger Zeit darüber nach, von Zuhause auszuziehen. Sie wollte sich mit ihrer besten Freundin eine kleine Wohnung teilen.
Das Ehepaar kannte sich durch die lange Zeit bereits so gut, das sich je näher es auf die Silberhochzeit zuging, eine gewisse Gleichgültigkeit ausbreitete. Es hatte fast den Anschein, als hätten sie keine gemeinsamen Interessen mehr und wären nur noch aus Bequemlichkeit und Gewohnheit zusammen.
Ab hier drang sie in den vermeintlich abgelaufenen Tag der Familie Harthoff ein. Sie war so in den neuen Traum versunken, dass sie gar nicht bemerkte, dass mittlerweile schon drei Meisen auf dem Balkongeländer saßen und sie beobachteten. Es sah fast so aus, als würden die drei über Julia diskutieren, jedoch Julia bekam von der Unterhaltung nichts mit.

Es herrschte völlige Stille in der Wohnung der Familie Harthoff, fast nicht wahrnehmbar konnte man die Geräusche aus dem Wohnzimmer kommen hören. Sie stammten vom Fernseher. Marita stand in der Küche und spülte die Reste vom Vortag und dem heutigen Frühstück ab.
»Der blöde Kerl könnte wenigstens abtrocknen helfen, aber nein, sein geliebter Fernseher ist ihm ja wichtiger.«
Marita meckerte nur leise vor sich hin.

Behutsam stellte sie die abgetrockneten Teller zu den anderen in den Schrank und säuberte den Tisch und die Spüle, so dass alles wieder blitzblank war.
»Gut, dann gehe ich halt zu diesem Dickschädel, wenn er schon nicht von selbst kommt!«
Im Wohnzimmer sah sie ihren Gatten sitzen, in seinem formschönen Trainingsanzug, der noch nie ein Training erlebt hatte. Ohne ein Wort zu verlieren, setzte sie sich neben ihren Mann, griff nach der Tageszeitung vom Vortag, die vor ihr auf dem Wohnzimmertisch lag, und blätterte stumm darin herum. Zum Lesen hatte Marita nun wirklich keine Lust, sie las nur die Schlagzeilen und betrachtete die Fotos. Ihr Mann Bernd starrte nur regungslos in die Glotze, das heißt, regungslos war übertrieben. Seine rechte Hand bewegte sich ein wenig, besser gesagt sein Zeigefinger. Mit dem zappte er durch die Programme. Rauf und runter, ohne eine sichtliche Reaktion. Eine Weile beobachtete Marita das Treiben aus den Augenwinkeln, bis sie sich dazu durchrang, ihren Gatten anzusprechen.
»Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«
»Fernsehen. Siehst du doch.« So lautete seine knappe Antwort.
»Wie lange gedenkst du noch so dazusitzen?«
»Keine Ahnung.«
»Wollen wir heute nicht mal was unternehmen?«
»Hmm, könnten wir machen.«
»Dann sieh zu, dass du aufstehst und dich richtig anziehst!«
Jetzt drehte Bernd sich um und sah seine Frau an.
»Treib mich nicht so, ich habe Urlaub.«
»Na toll, man brauch´ aber nicht den ganzen Tag vor der Glotze hängen.«
Marita wurde langsam immer schroffer in ihren Antworten.
»Wieso denn nicht, die Kinder sind weg. Endlich habe ich auch mal Zeit und ein wenig Ruhe, das zu tun, was ich möchte.«
»Was machst du denn schon?«
»Gerade das meine ich, nach der ganzen Arbeit habe ich das wohl auch verdient.«
Marita sagte keinen Ton mehr, in ihren Augen war deutlich der Glanz von frisch entstehenden Tränen zu erkennen. Sie senkte ihren Kopf und murmelte den nächsten Satz leise und gerade noch verständlich vor sich hin.
»Ich habe mir mein Leben irgendwie anders vorgestellt.«
Bernd gab ein entrüstetes Husten von sich. »Wie bitte? Was willst du denn damit sagen?«
Schüchtern wie immer antwortete Marita: »Ist doch egal.«
»Nein, ist es ganz und gar nicht«, posaunte es von der anderen Seite herüber.
»Du bist nur am arbeiten und wenn das mal nicht so ist, hängst du vor der Glotze.«
»Großartig! Jetzt wird mir das auch noch weggenommen.«
»Ich sage doch nicht, dass ich es dir wegnehmen will.«
»Ja, was soll das ganze Gespräch hier dann bezwecken?«
»Du Idiot! Ich meine uns beide, unsere Ehe oder das, was davon übrig geblieben ist.«
»Ach so, läuft dieses ganze Gespräch auf eine Scheidung hinaus?« »Nein!«, rief Marita geschockt aus.
»Davon rede ich doch überhaupt nicht. Ich meine, wenn du und ich mal füreinander Zeit haben, dann ziehst du dich nur vor die Glotze zurück. Früher sind wir noch ausgegangen, doch heute scheint mir, du hättest völlig das Interesse an mir verloren.«
»Früher, früher!«, schnaufte Bernd ärgerlich. »Was hatten wir denn da schon? Ich sag es dir. Nichts!«
»Aber«, wollte Marita ihrem Mann entgegnen, kam jedoch nicht weiter.
»Nichts aber. Du hast doch alles, was du willst. Gut, es könnte immer noch ein wenig besser sein. Für dich und die Kinder reiß ich mir jeden Tag den Arsch auf. Wenn ich dann abends nach Hause komme, bin ich kaputt und will meine Ruhe, und dann kommst du mir mit Ausgehen.«

Marita antwortete darauf mit einer immer noch eingeschüchterten, aber hörbar festeren Stimme: »Darum geht es mir doch nicht.«
»Natürlich geht es darum, was willst du denn noch alles? Du brauchst doch nicht einmal zu arbeiten, das nehme ich dir schon ab.
Was soll dann die ganze Scheiße?«
Marita schien jetzt innerlich zu kochen, sie wirkte wie ein Dampfkessel, dessen Ventil nicht geöffnet werden konnte. Der Druck, der sich die ganzen Jahre angesammelt hatte, schien sich einem Weg nach draußen zu bahnen. Um den bedrohlichen und gefährlichen Überdruck loszuwerden, gab es nur eine sinnvolle Öffnung. Aus Maritas Mund strömten die seit Ewigkeiten heruntergeschluckten Emotionen heraus. Der Strom war so stark, dass Bernd es nicht wagte, auch nur den leisesten Piep von sich zu geben.

»Was ich will, du fragst mich ernsthaft, was ich will! Ich sage dir, was ich will. Ich will einen Ehemann. Meinen Ehemann. Und nicht das da! Einen Kerl, der in Unterwäsche auf dem Sofa liegt und stumpf in die Röhre starrt. Fehlt jetzt nur noch die Flasche Bier in der Hand, das dauert bestimmt nicht mehr lange.
Wage es bloß nicht zu behaupten, es wäre nur heute so, es ist ständig. Und was soll die Kacke, ich müsste nicht arbeiten? Was glaubst du eigentlich, was ich hier den ganzen Tag mache? Hä! Vorm Fernseher sitzen und Talk-Shows gucken ganz sicher nicht.
Glaube ja nicht, deine beiden Töchter wären hier eine große Hilfe für mich. Die haben nämlich die Faulheit ihres Vaters geerbt, die bekommen hier genauso wenig den Hintern hoch wie du. Ich weiß, dass du hart für unser Geld arbeiten musst, das will ich überhaupt nicht kleinreden oder abstreiten.
Du darfst aber auch gerne den Haushalt führen, da wirst du schon sehen, dass das bisschen Putzen und Kochen nicht in fünf Minuten erledigt ist.

Und ich sage dir noch was, ich brauche keine Luxusartikel und den ganzen Schnickschnack. Oder glaubst du etwa mich damit kaufen zu können?
Ich weiß, dass wir früher verdammt wenig hatten, aber eines weiß ich bestimmt, wir waren wesentlich glücklicher, als es heute der Fall ist. Wir leben nur noch aneinander vorbei. Versteh doch Bernd, ich liebe dich. Doch so kann und darf das nicht weitergehen. Mag sein, wir sind älter geworden, wir sind aber nicht uralt. Du kommst mir wie ein alter Opa vor. Wenn wir, und ganz besonders du, noch träger werden, dann können wir uns doch gleich beerdigen lassen.
Ich will keine Scheidung. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, wirst du sie schneller erleben, als dir lieb ist. Ich will nicht mit dir streiten, ich will nur raus aus diesem tristen Dasein. Ich verlange wirklich nicht viel. Nur so, geht es nicht weiter und das lasse ich nicht mehr zu.«

Damit war ihre kleine Ansprache beendet und der Großteil des Frustes von ihr gewichen. Während der ganzen Zeit, als Marita sprach, hatte Bernd sie nur mit weit geöffnetem Mund angestarrt. So etwas war er von seiner Frau überhaupt nicht gewohnt, die eher ruhig und verschwiegen gewesen war. Bernd war nicht mehr in der Lage, ein Wort hervorzubringen. Die Worte seiner Frau hallten noch immer in seinem Kopf nach. Es bedurfte noch ein wenig der Zeit, das Gesagte zu verdauen. In diesen Sekunden herrschte eine fast bedrohlich wirkende Stille im Wohnzimmer, die Bernd nur zögerlich durchbrach.
»Ich liebe dich auch, Schatz«, stammelte er.

Danach trat wieder großes Schweigen ein, welches scheinbar unendlich lange anhielt. Die ersten Worte, die der Ruhe folgten klangen schon ganz anders als die bisherigen. Seine Stimme war nicht dieselbe, die sie vorher gewesen war. Sie klang, als wäre ein Teil seiner alten Selbstsicherheit und Stärke verloren gegangen.
»Ist das jetzt der Anfang vom Ende?«, fragte Bernd erschüttert.
»Nein, das sagte ich doch«, gab Marita mit sanfter Stimme zurück.
»Es klang aber so. Wir führen doch ein ganz normales Leben und die Arbeit gehört eben dazu. Ich weiß doch selbst, dass ich mich in letzter Zeit etwas gehen lasse. Das liegt daran, dass ich die Arbeit nicht mehr so wegstecken kann wie früher. Ob ich jetzt will oder nicht, ich werde älter und schaffe das nicht mehr so. Da du nie ein Wort gesagt hast, dachte ich, es wäre in Ordnung, wie es ist.«
»Das ist es eben nicht, Bernd«, antwortete Marita leise.
»Ich war immer für dich und die Kinder da, ich habe nie außerhalb unseres Haushaltes gearbeitet, was mich schon etwas stört.«
Verblüfft schaute Bernd seine Frau an und rückte etwas näher zu ihr. »Glaubst du etwa, dass ich und die Kinder dir die Zukunft versaut haben?«
»Manchmal schon, ich gebe es zu. Aber nur manchmal, wenn mir alles zu viel wird. Was nützen schon »Was wäre wenn« Fragen, ich bin glücklich, jedenfalls war ich das mal.«
»Jetzt nicht mehr?«, fragte Bernd.
»Doch schon, aber«
»Was denn, sag schon!«, forderte Bernd Marita auf.
»Ach du weißt doch, es läuft alles nicht so, wie ich es mir vorstelle, auch das mit der Arbeit verstehe ich ja. Wir sollten wenigstens versuchen, ein Stück unserer Jugend zurückzuholen und zu bewahren.«
»Hast ja völlig Recht!«, stimmte Bernd zu. »Mir gefällt es doch auch nicht, wie es gerade läuft. Wie sollen wir das denn richtig angehen?«
»Ganz einfach«, begann Marita.

»Versuche doch mal, nicht so schlörig herumzulaufen, ich verlange ja nicht, dass du im Smoking flanierst, in Unterwäsche und Trainingsanzug muss ja nun wirklich nicht sein.«
»Ich denke, das lässt sich einrichten. Und was noch?« grummelte Bernd.
»Dann wäre es schön, wenn du auch ein wenig anpacken würdest, ich meine nicht, dass du den Haushalt schmeißen sollst, wenigstens spülen und einkaufen wäre schon nett.«
Bernd nickte genervt.
»Dann könnten wir uns beide häufiger unterhalten. Es gibt noch andere Gesprächsthemen außer dem Wetter, dem Mittagessen und der Arbeit. Herrgott, ich bin deine Frau und nicht dein Fernseher. Auf dieses Ding könnte man glatt eifersüchtig werden, dem schenkst du mehr Aufmerksamkeit als mir.«
»Ja, ich weiß«, gab Bernd kleinlaut zu. »Ich dachte nur, weil du nie was gesagt hast, wäre alles in Ordnung.«
»Vielleicht habe ich erwartet, dass was von deiner Seite aus kommt«, gab Marita zurück und sah ihren Mann durchdringend an.
»Ein letzter Punkt, dann bin ich auch fertig. Wir müssen einfach mehr gemeinsam unternehmen, sonst driften wir immer weiter auseinander. Nichts Wildes und Aufwendiges, nur dass wir aus diesen vier Wänden rauskommen. Fangen wir am besten heute damit an.«
»Und was schwebt dir da so vor?«
»Du ziehst dir was einigermaßen Anständiges an, dann gehen wir ein wenig spazieren und danach könnten wir mal in ein Café gehen, auch wenn der Kaffee bei uns daheim billiger ist. Als Abschluss suche ich einen netten Kinofilm aus. Das haben wir übrigens schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getan.«

» Na gut, einverstanden«, willigte Bernd brummelig ein.

An dem heutigen Tag konnten beide sich richtig Zeit füreinander nehmen, da die Töchter, die ihre Schulferien mit Freundinnen in vollen Zügen genossen, nicht im Hause waren. Als Bernd einigermaßen ausgehfertig war, begaben sich Marita und Bernd auf einen langen und ausgiebigen Spaziergang. Auch hier ging das klärende Gespräch der beiden weiter. Was in ihrer Ehe gefehlt hatte, waren nur die gemeinsamen Gespräche, die sie jetzt schleunigst nachholten.
Sie waren noch sehr zaghaft und kamen hauptsächlich von Maritas Seite aus. Das war ihr bekannt, denn ihr Mann war in Beziehungsangelegenheiten schon immer sehr wortkarg gewesen. Bernd gab sich große Mühe, was Marita wieder auf eine Besserung hoffen ließ. Der kleine Spaziergang dehnte sich immer weiter aus und wurde zu einem langen Marsch, dessen Ende noch ungewiss war. Gegen Mittag entschlossen sie sich, etwas essen zu gehen. Hierbei kamen dann noch seine ständigen Sonderwünsche zur Sprache. Nie war Bernd mit dem zufrieden, was es gab, und kleine Portionen reichten ihm schon lange nicht mehr aus. Beinahe jeden Tag musste es Fleisch sein, egal wie seine Figur bereits aussah.
Abnehmen war für Bernd schon seit langem ein Problem. Er hatte keine Chance sich gegen Marita zur Wehr zu setzen, der Damm war nun gebrochen. Bernd gelobte sich zwar zu bessern, aber generell etwas versprechen wollte und konnte er nicht. Es war kein richtiger Erfolg für Marita, dennoch ein Anfang, der sich durch ständiges auf Auf-die-Füße-treten mit viel Glück bewähren konnte.
Nach dem reichhaltigen Mittagessen - gute deutsche Hausmannskost - setzten sie ihren Marsch fort, der zu einem Bummel durch die gesamte Altstadt wurde. Sie vertrieben sich die Zeit bis zum Abend, bis sie dann ins Multiplexkino traten.
In der Warteschlange gab es eine leichte aber unbedeutende Auseinandersetzung der beiden. Der Grund dafür war leicht auszumachen. An der großen Anzeigetafel hatte Bernd sofort einen blutrünstigen Actionfilm gefunden, in dem er rein wollte. Er hatte die Rechnung ohne seine Frau Marita gemacht.
»Typisch Mann, da glaubt man, er würde sich bessern, und dann so etwas.«
»Was ist denn an dem Film auszusetzen?«
»So ziemlich alles. Ist nicht gerade ein Film für einen harmonisch ausklingenden Tag«, gab Marita forsch zurück.
Und sie wählte direkt einen Liebesfilm, an dessen Titel Bernd bereits erkennen konnte, wie er ablaufen und enden würde. Was sollte er schon dagegen sagen, seine Ehe war ihm wichtiger als dieser Film. Ihm stank es ganz besonders, dass sie Recht hatte, was Bernd nur ungern zugab. Nach seinem Geschmack hatte Marita einfach zu oft Recht. Als sie noch ruhiger und zurückhaltender gewesen war, war sie ihm wesentlich lieber gewesen. Da konnte er wenigstens seinen Kopf durchsetzen. So wie es jetzt lief, schien Bernd den Bogen wohl ein wenig überspannt zu haben. Nach dem Tag mit seiner Frau war er äußerlich brav wie ein Schoßhündchen, innerlich jedoch brodelte es. Da Bernd nichts anderes übrig blieb, folgte er Marita. Die Alternative, die sich daraus entwickeln konnte, sah da weniger rosig aus.
Da saßen sie nun in einem Liebesfilm, in den Bernd niemals freiwillig hineingegangen wäre. Um einen Streit und die Konsequenzen, die sich zwangsläufig daraus ergeben würden, im Vorfeld zu vermeiden, zog Bernd mit.
Im Kinosaal wurden sie noch mit Musik berieselt, um die Zeit vor der Werbung zu überbrücken. Gelangweilt wendete Bernd sich ab und warf einen Blick auf den immer voller werdenden Saal und deren Besucher. Er konnte es kaum fassen, dass so viele Menschen diesen Film sehen wollten. Als eine junge, zierlich aussehende Frau mit einer Popcorntüte den Saal betrat, wendete er sich wieder seiner Frau zu.

»Hmm«, grummelte Julia. »Was ist das?«
Es schien so, als würde sie jemand mit einer Taschenlampe anstrahlen. Die Sonne? Sie hatte doch den Schirm aufgespannt, da durfte sie doch nicht geblendet werden. Das blöde Ding musste sich von ganz allein verstellt haben, da hatte sich bestimmt die Halterung gelockert oder so was. Julia öffnete die Augen und musste direkt blinzeln.
»Boah nee!«, stieß sie aus und wendete sich sofort wieder ab, um den Sonnenschirm zu überprüfen. Verblüfft musste sie feststellen, dass damit alles in Ordnung war. Nichts hatte sich verstellt, er war so, wie er sein sollte. Erst jetzt begriff sie, dass die Sonne im Laufe des Tages weitergewandert war, vom Schirm bis zum äußersten Rand des Balkons und somit warf sie ihr Licht auf den Liegestuhl und auf ihr Gesicht. Julia drehte ihren linken Arm, um auf ihre Armbanduhr zu sehen, die sie gar nicht angelegt hatte. Julia rappelte sich mit einem leichten Stöhnen auf und sah auf die Wohnzimmeruhr, die über dem Fernseher hing.
19:49 Uhr las sie.
»Mist, das kann doch nicht sein.«
Eine Uhr konnte falsch gehen, aber die Sonne doch nicht. Schon war der zweite Urlaubstag fast herum - ohne eine sinnvolle Betätigung. War sie eingeschlafen? Julia war sich hundertprozentig sicher, dass dem nicht so war. Gut, die Augen waren geschlossen und sie hatte sich von ihrem Traum mitreißen lassen, geschlafen hatte Julia jedoch nicht. Oder hatte sie etwa geträumt, sie wäre wach und würde träumen, oder schlief sie und träumte einfach nur. Konnte man denn zwei Träume gleichzeitig träumen?

»Schluss damit, da bekommt man ja Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken«, sagte Julia zu sich.
Der Tag war nun herum und daran war nichts mehr zu rütteln.
»Irgendwie ein eigenartiger Traum«, fand Julia, als sie darüber nachdachte.
Die Bilder waren noch zum Greifen nah. Nichts Besonderes, nur ein blöder ausgedehnter Tagtraum. Was war gleich noch der Auslöser dafür gewesen, grübelte Julia. Richtig! Der Gedanke, ob sich eine Beziehung überhaupt lohnen würde, mit seinem ganzen Für und Wider. Es musste immer das gleiche Spiel sein, erst verliebte man sich und alles schien wunderbar. Mit den Jahren verschwand das Kribbeln und der Alltag hielt Einzug. Dann lag es an jedem selbst, was sie daraus machten.
Julia konnte das bereits am eigenen Leib spüren, obwohl sie ein Single war. »Irgendwann ist die Arbeit nicht mehr nur ausschließlich ein Geldbeschaffer für das Überleben, es wird zu deiner Persönlichkeit und fängt langsam an, einen von innen heraus aufzufressen«, sinnierte Julia.
»Um einem herum scheint nichts wichtiger als die Arbeit, dann hört der Feierabend auf zu existieren und so weiter. Wenn eine Beziehung schon seit Jahren besteht, denkt man nicht mehr darüber nach und das muss bereits der erste Todesstoß sein. Schon möglich, dass der Punkt erlangt wird, wo alles gesagt wurde. Ist Schweigen dann die Lösung?
Vielleicht ist eine Beziehung wie ein Computer, wo es ständig neue Modelle gibt, die besser sind. Nach der ersten Version kommt gleich die zweite usw. Nach Jahren der Entwicklung der ersten darf man nicht aufhören, an Verbesserungen zu arbeiten, auch wenn sie nicht immer nötig scheinen. Denn irgendwann ist die Topversion für seine Umgebung so veraltet, dass nur noch die Entsorgung bevorstehen kann.
Das könnte einer der Gründe der vielen Scheidungen und Trennungen sein. Es ist viel einfacher umzusteigen als weiterzuentwickeln. Verbesserungen kosten Zeit und Mühe. Da diese Welt nie Zeit zu haben scheint, scheitern eben diese Beziehungen.«
Julia wurde wieder ganz schwindelig von den vielen Gedanken, die aus dem Nichts aufzutauchen schienen. War das nicht alles zu einfach erklärt, da gab es doch noch viel mehr Faktoren, die zu so etwas beitragen konnten.
»Wieso schwer, wenn es auch einfach geht«, sagte Julia zu sich. »Anscheinend machen wir uns das Leben nur selber schwer. Alles wird nur unnötig verkompliziert, damit es zu anstrengend ist, darüber nachzudenken. Das macht Mühe, was wir nicht wollen. Ergo, wir mutieren zu seelenlosen Arbeitsmaschinen. Problem erkannt und gelöst, vielleicht. - So langsam bekomme ich Angst vor dir, Julia Sanderkamp«, sagte sie zu sich selbst.
»Alles nur weil ich mir Gedanken über Menschen mache, die ich überhaupt nicht kenne. Verrückt. Aber ich fühle mich besser, also kann es überhaupt nicht so schlimm sein.«

Für einen kurzen Moment war Julia glücklich, bis sie feststellte, dass niemand da war, mit dem sie dieses Glück hätte teilen können, und ihre Stimmung sank wieder. Häufig hatte Julia darüber nachgedacht, bis an ihr Lebensende Single zu bleiben, bis an ihr Lebensende um jeder Beziehung und deren Ärger aus dem Wege zu gehen.
Doch musste sie erkennen, dass gerade diese Streiterreien das Salz des Lebens waren. Sie sehnte sich geradezu nach dieser Herausforderung. Es war sicherlich nicht leicht, den passenden Gegenpart mit derselben Einstellung zu finden, aber jetzt wusste Julia ja, was sie wollte, oder vermutete es. Gleich am Anfang der Beziehung wollte Julia ihre Strategie ausprobieren und sie ihrem vielleicht mal zukünftigen Partner erklären, damit es nicht soweit käme. Einen Moment, welchem Partner, es gab doch keinen. Mit einem Lächeln fügte Julia ein »noch nicht« hinzu.
Entweder er versteht es sofort, oder ein anderer muss her. Wie es anstellen? Nichts leichter als das, sie musste nur endlich anfangen, ihren Urlaub außerhalb dieser Wohnung zu verbringen. Zwei Urlaubstage waren schon vergangen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, das sollte doch reichen. Ab dem morgigen Tag würde das alles anders werden.
Die letzten Stunden des Tages ließ Julia noch entspannt und nutzlos verstreichen, mit dem festen Willen, sich in den darauf folgenden ins pralle Urlaubsvergnügen zu stürzen. Ohne es wirklich zu merken, hatte sie sich schon ein wenig verändert. Aus dem ruhigen und zurückgezogenen Menschen wurde eine vor Energie nur so strotzende Frau. Doch Julia sollte noch einigen komischen und eigenartigen Menschen in ihrem Urlaub begegnen, die ihr Wesen und ihre ständige negative Grundstimmung in noch unbekannte Bahnen lenken sollten.


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Tag der Veröffentlichung: 17.04.2011

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