„Projekt Peace startet in zehn minus fünf Sekunden", dröhnte es durch den Lautsprecher im Wissenschaftsinstitut. „Alles bereit?", fragte der Professor noch einmal. Alle starrten gebannt auf die Monitore.„Dann starten wir. Miranda!" Eine blonde Frau in weissem Kittel schaute auf. „Fahr die Wand hoch." Miranda tat was ihr gesagt wurde. „Mike!" Ein junger Mann blickte den Professor an und wartete auf seine Anweisungen. „Starte den Strom." Sofort drückte er den roten Knopf, welcher direkt vor ihm im Steuerungspult eingelassen war. „Projekt Peace startet jetzt. Gott steh uns bei, dass es funktioniert."
Plötzlich blinkten überall rote Lichter und ein schreckliches Piepsen schallte durch das ganze Institut.
Gegenwart
Ein Mädchen, höchstens neun Jahre alt, sass unter einer Brücke und schaute in die Ferne. Müde lehnte sie an der farblosen Wand. Es war ihr Geburtstag und sie summte leise und schwach Happy Birthday vor sich hin. Vor ihren Augen flog ein einsamer Schmetterling vorbei. Ein bunter Fleck in einer zerstörten Welt. Sie versuchte ihren Arm zu heben um ihn zu berühren, war jedoch zu schwach.
„Amelia", hörte sie leise neben sich und drehte ihren Kopf. Ein Mädchen, dessen kaputte Haare fest zusammengebunden waren, kniete neben ihr. Das Mädchen strich Amelia eine gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter Amelias linkes Ohr. „Ich habe dir etwas ganz tolles mitgebracht." Amelia versuchte zu lächeln, aber vergebens. Sie sah ihre grosse Schwester gebannt an, ohne die kleinste Reaktion in ihrem Gesicht. Sie war zu müde, zu erschöpft.
„Schau, ich habe etwas Schokolade gefunden", ihre Schwester hielt ihr ein Stück Schokolade an den Mund, doch sie war zu schwach um es selbst zu halten. Sie starrte das Schokoladenstück an. Es war Amelias Lieblingsschokolade, die mit den Schokolinsen drin.
„Alles wird wieder gut", versicherte ihre grosse Schwester ihr, doch Amelia wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Sie war einfach zu schwach für diese Welt. Amelia schloss langsam die Augen. Sie wollte zu ihren Eltern. Sie wollte nicht mehr in dieser trostlosen Welt leben. Amelia versuchte mit letzter Kraft noch ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.
„Amelia! Nicht schlafen! Amelia! Bleib bei mir!", schrie ihre grosse Schwester traurig. „Nein. Nein. Nein!", sie schüttelte verzweifelt den leblosen Körper ihrer kleinen Schwester. Sie schüttelte Amelia, doch sie wollte nicht mehr aufwachen.
Noch ein Toter, in einer Geisterstadt.
In einer Stadt um die sich niemand kümmerte.
In einer Stadt in der man jeden Tag erneut ums überleben kämpfen musste.
In einer Stadt in der nur die Stärksten überlebten.
Sie brachte es nicht über ihr Herz Amelia wie einfach hier liegen zu lassen. Sie wusste genau wie riskant es war und doch tat sie es. Sie kletterte über die Trümmer der ehemaligen, schön bemalten Häuser und verletzte sich an den zerbrochenen Fensterscheiben. Doch nichts war mehr wichtig, ausser ihre kleine Schwester die sie nun in ihren Armen trug. Sie brachte Amelia so behutsam wie nur möglich auf die Wiese, auf der sie früher immer gespielt hatten.
Sie legte Amelia auf die Wiese nieder, wo die Schaukeln von früher bereits ihrem Rost erlegen waren. Wie oft sie mit Amelia hier gespielt und gelacht hatte. Langsam kullerten die ersten Tränen über ihre Wangen. Sie gab ihrer kleinen Schwester einen liebevollen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich. Sie wollte nicht schon wieder Abschied nehmen, doch Amelia war Tod. Tod wie alle anderen die sie liebte.
Das Mädchen küsste Amelia ein letztes Mal und stand auf. „Keinen Schritt weiter!", flüsterte ein Junge bestimmt in ihr Ohr und hielt ihr eine Pistole in den Rücken. „Was hast du mit dem Mädchen gemacht?", fragte er fordernd und presste die Pistole noch etwas stärker an den Rücken des Mädchens. „Sie heisst Amelia und sie ist meine kleine Schwester", antwortete das Mädchen mit erhobenen Händen. „Sie ist tot", stellte der Junge kalt fest. Er bewegte Amelias Arm vorsichtig mit seinem Fuss um seine Vermutung zu überprüfen. Ehe er sich versah, hatte sich das Mädchen umgedreht und ihm die Pistole aus der Hand geschlagen. Sie hob sie im selben Atemzug auf und richtete sie auf ihn.
„Lass meine Schwester in Ruhe!" Mit eisigem Blick musterte sie den Jungen und drängte sich zwischen ihn und Amelias leblosen Körper. „Wer bist du?", fragte sie schroff und stiess sich leicht an einem Metallstück, welches neben ihr lag. „Zuerst sagst du mir, warum du eine Leiche mit dir rumgetragen hast!", forderte der Junge. „Ich habe meine kleine Schwester nicht umgebracht, falls du das meinst”, antwortete das Mädchen entrüstet. „Jetzt sag mir wer du bist!” „Luc”, antwortete der Junge kurz angebunden. „Im Gegenzug erwarte ich jetzt aber auch deinen Namen!” „Ich heisse Jordan und ich stelle hier die Forderungen! Wehe dir du rührst auch nur einen Finger!" „Wieso hast du deine Schwester hierher gebracht? Weisst du nicht wie gefährlich das ist?" Luc klang selbstsicher und man sah kein Anzeichen von Angst in seinen Augen.
„Bist du alleine?", fragte Jordan weiter und ignorierte seine Frage. „Warum sollte ich dir antworten, wenn ich von dir auch keine Antworten bekomme?” Zur Antwort bewegte Jordan die Waffe leicht nach oben. Luc sah ein, dass es gerade keinen Sinn machte mit Jordan zu diskutieren, er musste mitspielen. „Ja und das seit mein kleiner Bruder gestorben ist. Ich weiss wie du dich gerade fühlst." Er wollte näher an Jordan herantreten, doch sie schoss ihm knapp neben seinen linken Fuss. „Ich sagte keine Bewegung!"
Er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. „Bitte! Lass uns reden!" Doch Jordans eisiger Blick verriet ihm, dass sie nicht zum reden bereit war. „Wir stecken hier doch alle zusammen fest, es bringt nichts sich gegenseitig umzubringen", Luc redete jedoch nur um Jordan abzulenken und so unbemerkt sein Messer zu ziehen.
„Messer her!", befahl Jordan. Luc war beeindruckt von ihrer Beobachtungsgabe. Als er ihr nicht gehorchte schoss sie haarscharf neben Luc vorbei. Der Schuss streifte sein rechtes Ohr. Er liess sich den Schmerz, welcher ihn durchzuckte, nicht anmerken. Selbst als er das Blut auf seine Hand tropfte verzog er keine Miene. Er war sehr geübt darin, seinen Schmerz zu unterdrücken und vor seinem Feind zu verbergen. „Messer her!", befahl Jordan nachdrücklicher und nach kurzem zögern gehorchte Luc widerwillig. Er konnte es nicht riskieren noch stärker verletzt zu werden.
Jordan nahm das Messer auf, ohne auch nur eine Sekunde ihren Blick von Luc abzuwenden. Es war ein Klappmesser, obwohl die Klinge vorne ein bisschen abgebrochen und sehr benutzt aussah, war es immer noch sehr nützlich. „Nimm bitte die Waffe runter, ich tue dir nichts", sagte Luc vorsichtig. Jordan dachte nicht einmal daran die Waffe zu senken. In dieser Welt konnte man nichts und niemandem mehr Trauen!
Dieses Projekt hatte die Menschlichkeit schon lange ermordet. Es hatte die ganze Stadt verrückt gemacht! Ganz langsam, jeden Tag ein kleines Stück. Es hatte so viele Leben zerstört die es hätte retten sollen. Jordan und Luc wussten es, alle Leute hier wussten es, oder jedenfalls jene die noch lebten. Die anderen waren einfach zu schwach. Man durfte keine Gnade oder Schwäche zeigen. Man konnte hier nur überleben, wenn man eiskalt war.
Sie wussten auch, dass sie es niemals lebend aus dieser Stadt schaffen. Alle wussten, dass sie früher oder später sterben werden. Sie versuchten bloss diesen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie versuchten bloss von Tag zu Tag zu überleben und dies so lange wie möglich.
Jordan musterte Lucs Klappmesser sorgfältig. In der einen Sekunde, wo Jordan sich nicht auf ihn achtete schlug Luc ihr mit einem gezielten Tritt den Boden unter den Füssen weg. Jordan verlor das Gleichgewicht, liess die Pistole los und fiel auf den Arm ihrer Schwester. Luc war bereits wieder aufgerichtet als sie realisierte, was passiert war.
Blitzschnell hob er seine Pistole auf und richtete sie auf Jordan. „Du bist schnell", stellte Jordan fest. „Aber nicht sehr weitsichtig." Mit diesen Worten schleuderte sie ihm das Messer, welches sie immer noch fest in ihrer Hand hielt, entgegen. Es streifte die Innenseite von Lucs Schienbein. Wegen des unerwarteten Schmerzimpulses knickte Lucs Bein kurz ein und Jordan konnte die Flucht ergreifen. In Gedanken versprach sie zu Amelia zurückzukehren.
Jordan rannte so schnell sie konnte die ihr so bekannte Strasse hinunter. Es war die Strasse in der sie früher gewohnt hatten. Amelia hatte immer den ganzen Asphalt mit Kreide zugepflastert. Leise flossen ihr die Tränen über die Wangen und sie begann zu schluchzen. Alles war früher so schön gewesen! Die Stadt war einst ein grüner Fleck in all den anderen Verbauten gebieten. Sie war abgeschieden und naturbelassen. Überall waren Wiesen, Bäume und Wälder. Waren. Heute ist sie grau. Grau und trostlos. Keine schönen Wiesen. Keine bunten Blumen. Keine lachenden Kinder. Keine prachtvollen Wälder. Gar nichts.
Langsam setzte Luc sich hin und strich durch seine halblangen, braunen Haare. Als er sein Ohr streift, durchzuckt ihn ein grässlicher Schmerz. Es blickte auf sein Bein und damit auch auf die gross klaffende Wunde. Er riss sich ein Stück von seinem sowieso schon zerrissenen T-Shirt ab und band es behutsam um sein verwundetes Bein. Da fiel sein Blick auf das kleine Mädchen neben ihm. Plötzlich musste Luc lachen. Er war von einem Mädchen überrumpelt worden! Von einem Mädchen! So etwas war ihm bisher noch nie passiert. Er der Überlebenskünstler wurde wirklich von einem Mädchen ausgetrickst.
Er verstaute das Messer in seiner Hosentasche und steckte die Pistole wieder in seinen Gürtel. Als er aufstehen wollte, spürte er wieder diesen Schmerz. Er stöhnte leise, aber er hatte keine Zeit zum ausruhen. Schleppend zog er sich zum nächstgelegenen Fluss. Dieses Unterfangen war riskant, er könnte nicht flüchten bei einem erneuten Angriff. Jedoch schätze er das Risiko einer Infektion höher ein.
Jordan war inzwischen bei einer Holzbrücke mit einem kleinen Wachhaus, dem einzigen sicheren Ort den sie kannte, oder besser gesagt der einzige Ort an dem sie auf gar keinen Fall mehr hinwollte! Es gab viel zu viel, was sie an ihre Schwester erinnerte. Jordan wusste, dass ihre kleine Schwester bald sterben würde. Amelia hatte schon seit einer Woche Fieberschübe, dennoch hatte Jordan sie nicht zurückgelassen und sie mit allem wichtigen versorgt und versucht, ihr ihre letzten Tage schön zu gestalten.
Sie nahm die rosa Schmusedecke und das blaue Kissen ihrer Schwester und legte es schön hin, so als wenn ihre Amelia jeden Moment zurückkehren würde. Auch den kleinen blauen Plüschhasen, welchen sie damals von ihrer Mutter bekamen, legte sie sachte auf das Kissen. Was macht das Leben überhaupt für einen Sinn, wenn man es mit niemandem teilen kann? Sie füllte den Wassereimer und legte sich neben die Decke, wie sie es jeden Abend tat. Sie würde sowieso nicht mehr lange leben. Sie hatte aufgegeben. Sie hatte aufgegeben, als sie die Strasse hoch rannte und sie hatte aufgegeben, als sie einschlief. In einen tiefen Schlaf, aus dem sie nie wieder erwachen wollte.
Auch Luc hatte sich einen Schlafplatz gesucht. Er übernachtete in seiner Waldhütte. Früher hatte er oft hier gespielt. Er vermisste seine Geschwister und seine Eltern. Er wollte schon lange nicht mehr kämpfen, doch heute war es anders gewesen. Heute hatte er seit langen wieder einen Menschen gesehen. Nicht irgendeinen, der bloss sinnloses Zeug redet und der fast schon um den Tod bettelte. Nein, heute hatte er einen Kämpfer getroffen. Jemand der noch wirklich lebte und nicht bloss eine Hülle seiner selbst war. Ein Mädchen welches ihm die Sprache verschlug. Er wusste nicht mehr genau wie lange er nun schon hier in dieser Stadt gefangen war. Vielleicht zwei oder drei Jahre? Jedenfalls fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Ein Kreis, der sich niemals schliessen würde. Wie sich die Welt draussen wohl verändert haben muss?
Er erinnerte sich gerne an die alten Zeiten, an jene Zeiten, in denen sie noch nicht kämpfen oder überleben mussten. An jene Zeit in der sie noch frei waren. An jene Zeit in der sie noch spielen und lachen konnten. An jene Zeit in der es noch leckere Braten und Kuchen gab. Da knurrte sein Magen. Er hatte noch keine Zeit gehabt um zu essen und seine Verletzungen machten es ihm auch nicht leichter etwas Essbares aufzutreiben. Er rappelte sich langsam auf und ging nach draussen.
Die kühle Nachtluft begrüsste ihn und er bewegte sich mit leichtem Humpeln den Fluss hinauf. Ein unidentifizierbares Geräusch machte ihn wachsam. Je näher er jedoch zu seinem Ursprung kam, desto mehr nahm das Geräusch Form an. Er hörte wie jemand schluchzte. Langsam und leise zog er sein Messer. Entschlossen ging er immer näher hin. Leise und unscheinbar, wie ein Geist. Luc wollte seinen Gegner überrumpeln, bevor dieser aufmerksam auf ihn wurde.
Er sah ein kleines Wachhaus, eines welches früher von Jägern benutzt wurde. Nur das der sich darin befindende Jäger nun seine Beute war. Er sah durch das Fenster hinein, jedoch war dort niemand. Plötzlich wurde ihm von hinten der Mund zugehalten und sein Kopf gepackt. „Wenn ich dir nicht das Genick brechen soll, lass sofort das Messer fallen!”
Luc musste entscheiden, lohnt es sich den Angreifer zu attackieren? Ist das Risiko zu sterben dann höher, als wenn er sich einfach ergibt? Wenn der Angreifer gar nicht kämpfen wollte, wäre er auf der sicheren Seite, wenn er sein Messer fallen lassen würde, zudem hätter er im Notfall immer noch die Pistole. Deswegen entschloss er sich dazu, sein Messer loszulassen. Der Gegner hatte ihn zu fest im Griff, Luc wusste, dass er mit einer Bewegung des Gegners tot wäre.
Luc spürte, wie sein Gegner das Messer aus seiner Reichweite trat. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass dies vorhin eine Frauenstimme gewesen war. Er spürte wie der Griff um seinen Kopf gelöst wurde. Im selben Atemzug jedoch, wurde seine Pistole aus dem Gürtel genommen und auf ihn gerichtet.
Ohne dass Luc sich umdrehte, wusste er, wer ihm entgegenstehen würde. „Ich wollte dir nie etwas antun oder dich umbringen, ich hoffe du bist der selben Meinung, oder willst du lieber grundlos zum Mörder werden? Ich bin verletzt und unbewaffnet. Wenn du mich töten willst wird dies die beste Gelegenheit sein, die du bekommst.”
“Ich will dich nicht umbringen. Ich kämpfe nur wenn ich muss, aber bisher hast du dich wie ein Feind verhalten.” Jordan drückte die Waffe fester in Lucs Rücken. “Warum hast du mich auf dem Spielplatz bedroht?”
“Ich konnte dich nicht einschätzen und bei einer potenziellen Gefahr wärst du wohl auch auf Nummer sicher gegangen”, antwortete er wahrheitsgemäss. “Wenn du nicht vorhast mich zu erschiessen bitte ich dich die Waffe zu senken. Und verschwende bitte nicht noch mehr Munition für Warnschüsse”
Jordan senkte die Waffe und nahm das Messer vom Boden an sich. “Was willst du von mir?”, fragte sie in einem strengen Ton. “Ursprünglich? Du warst nur eine Fremde und ich wusste dich nicht einzuschätzen, jedoch jetzt wo ich weiss das du noch bei Sinnen bist und dies anscheinend selbst nach einem so schweren Verlust, denke ich es wäre von Vorteil zusammen zu arbeiten. Wir haben ja schliesslich dasselbe Ziel.”
Jordan wägte ab, ob sie einem Fremden einfach so vertrauen sollte. Im selben Moment jedoch wurde ihr bewusst, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Das einzige was sie immer beschützen wollte ist nicht mehr da. Amelia ist nicht mehr da und wird nie wieder zu ihr zurückkehren. Jordan merkte wie Tränen in ihr hochstiegen, unterdrückte ihre Gefühle jedoch gekonnt.
“Ich habe nichts mehr zu verlieren.”
Mein BookRix ist manchmal nicht auf dem neusten Stand, vielleicht geht das Buch bei Wattpad schon weiter ^-^
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Texte: Refinnej
Cover: Refinnej
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2018
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