Nervös trommelte ich mit den Fingerkuppen auf der Tischplatte, warf immer wieder einen Blick auf die Uhr. Mir war, als würden sich die Zeiger langsamer bewegen. Noch zwei Minuten. Wo steckte er nur? Er hatte sich noch nie so verspätet. Um Punkt halb fünf trafen wir uns immer zu Hause. Das war wie ein Gesetz, unser ungeschriebenes Gesetz. Besorgt beobachtete ich, wie der große Zeiger sich zögernd zur Zwölf bewegte und ich glaubte mein Herzschlag würde sich seinem Rhythmus anpassen. Achtzehn Uhr.
„Hiermit erklären wir die diesjährige, zweite Jagdsaison offiziell für eröffnet“, ertönte die freundlich fröhliche Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem veralteten Fernseher. „Wir wünschen allen Jägern eine erfolgreiche Jagd und …“ Ich schaltete das Gerät ab. Die Medien heuchelten immer, das Jagen wäre etwas Gutes, etwas, worauf man sich freuen könnte. Sicherlich taten das auch viele. Ich nicht, ich hatte Angst davor. Wieder sah ich auf die Uhr, die mir eiskalt ins Gesicht zu grinsen schien und mir vor Augen hielt, was ich verdrängen wollte. Seit wenigen Augenblicken war das Schlachtfeld auf den Straßen eröffnet und Nick war immer noch nicht zurück. Vielleicht hatte sich sein Chef doch entschlossen, den Betrieb offen zu lassen, wie es immer mehr taten, um sich vor der Insolvenz zu retten. Nur Schulen und Behörden hatten während der Jagdsaison immer geschlossen.
Mein Magen verkrampfte sich, als wollte er mich mit aller Härte an meine Pflicht erinnern. Nur widerwillig ging ich zur Tür. Die Versuchung war groß, sie zu öffnen und nachzusehen, ob Nick sich bereits auf unserem Hausflur befand. Aber die Angst war stärker. Ich konnte die Tür jetzt nicht öffnen. Denn dann wäre ich sofort Freiwild. So wie Nick es jetzt war. Das gewaltsame Einbrechen in Wohnräume war verboten. Nur wenn ich jemandem die Tür öffnete, durfte er hereinkommen, so auch Jäger. Sonst war das Töten von Menschen nur auf öffentlichem Grund erlaubt, aber nur „das Töten zum Verzehr“. So stand es in unserer Verfassung.
Ich blickte auf meinen Jugendring, ein Armreif an meinem Handgelenk, der rot glühte. Er reagierte auf meine DNS und auf meinen Puls. Per Zeitschaltung funktioniert er genau bis zu meinem achtzehnten Geburtstag.
Das rote Glühen signalisierte einem Jäger, dass ich als Minderjährige von der Jagd ausgenommen war. Würde ich sterben, sendet das Armband einen Notruf aus und lotst die Polizei per GPS zu mir. Dem Jäger würde die Todesstrafe drohen. Eigentlich hätte mich dieses Armband beruhigen und Schutz bieten sollen. Doch in der Schule wurde uns immer wieder eingetrichtert, dass er keine Garantie war, denn der Schwarzmarkt boomte und die Todesstrafe schien nicht auf jeden Jäger derart abschreckend zu wirken und, wenn sie es wollten, fanden sie auch einen Weg, dem zu entgehen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet mir, dass mein Bruder schon seit zehn Minuten in höchster Lebensgefahr war. Ruckartig riss ich, im blinden Vertrauen auf meinen Jugendring, die Tür doch auf und blickte auf den leeren Hausflur. Keine Spur von Nick. Ich überlegte, ob ich hinausgehen sollte, um ihn zu suchen, doch meine Füße wollten mir nicht gehorchen. Sie standen still. Mein ganzer Körper wurde umklammert von Panik, die mich wieder in die Sicherheit unseres winzigen Apartments zurückschob und die Tür zustieß.
Wie in Trance starrte ich auf die neun Schlösser. Es war nur eine Sicherheitsmaßnahme, falls doch ein Jäger versuchte reinzukommen. Ich schluckte ein paar Tränen hinunter, als ich mit zitternden Fingern das erste Schloss verriegelte. Egal, was passierte, ich würde sie erst wieder in vier Wochen öffnen, nach der Jagdsaison.
Plötzlich donnerte etwas laut gegen die Tür, sodass ich zurückschreckte.
„Krissy? Mach auf! Ich bin’s!“, hörte ich die Stimme meines Bruders von der anderen Seite. Hastig, ohne nachzudenken schloss ich wieder auf und öffnete ihm. Er stürmte herein, schlug die Tür hinter sich zu, die wir eilig verriegelten.
Als alle neun Schlösser eingerastet waren, starrten wir uns einen Moment lang an. Ich fühlte, wie sich die Anspannung, die mir wie ein viel zu enger Anzug die Luft raubte, löste und mir die Tränen in die Augen schossen. Schnell schloss ich meinen großen Bruder in die Arme, atmete den Duft seiner Lederjacke ein und genoss es, wie er mich ganz fest an sich zog.
„Es ist okay“, sagte er sanft „Es ist alles okay! Es tut mir so leid!“ Die Angst und die Sorge um ihn, die mein Herz umklammerten, fielen ab und ich konnte endlich wieder atmen.
Ich spürte seine Lippen, die sich fest auf meine Stirn pressten, dann ließ er mich wieder los. Erst jetzt merkte ich, wie nass mein Gesicht von den Tränen war.
„Wo warst du?“, schluchzte ich und ärgerte mich darüber, dass ich nicht gefasster klingen konnte. Nick seufzte. „Bei Sarah.“
Das hätte ich mir denken können! Seitdem er sie kennen gelernt hatte, war er anders. Ich gönnte ihm sein Glück, aber es war nicht mehr so wie früher. Er verbrachte so viel Zeit mit ihr, dass ich ihn kaum noch zu Gesicht bekam.
„Sie hat große Angst“, sagte Nick. Ich schnaubte nur. Ja, das hatten wir alle. Jedenfalls alle, die keine Jäger waren.
„Sie ist ganz allein in ihrem Zimmer“, fuhr er fort „Ich hab mir überlegt, wir könnten die Jagdsaison bei ihr verbringen, sie traut sich nicht raus und es sind nur vier Straßen.“ Seine Worte fühlten sich an, wie scharfe Rasierklingen. Nur der Gedanke daran, jetzt das Haus zu verlassen, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
„Nein! Wir gehen da nicht raus!“, schrie ich hysterisch. Nick versuchte mich zu beruhigen und legte mir sanft die Hände auf die Schultern: „Hey, dir kann nichts passieren! Du bist noch nicht achtzehn, sie dürfen dir nichts tun!“
„Aber dir schon!“, kreischte ich und rang nach Atem. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was passierte, würde ich auch noch ihn verlieren. Der Gedanke daran war unerträglich, ein Szenario, dessen reine Vorstellung mich nahe an einen Nervenzusammenbruch trieb.
Er schaute mich resigniert an. „Ist okay“, sagte er „Wir bleiben hier. Die Tür bleibt verschlossen. Bis nach der Jagd.“
Die Tage vergingen nur schleppend. Nick telefonierte jeden Tag mit Sarah und versuchte ihr die Angst zu nehmen. „Traue niemandem! Öffne niemandem!“, dies wiederholte er immer wieder. Genau wie Papa es uns immer gepredigt hatte, bis er diese Regel selbst brach. Es war meine Schuld, dass er weg war. Ein Jagdunfall. So begründete man das Verschwinden eines Menschen während der Jagdsaison. Ich war damals erst zehn, wie immer deckten wir uns mit Vorräten ein und verbarrikadierten uns in der Wohnung. Aber dann wurde ich krank, bekam hohes Fieber und Papa ging nach draußen um Medikamente zu holen. Er ist nie zurückgekommen. Und ich? Ich lebte weiter, es war so sinnlos, dass Papa gegangen war. Hätte er nur gewusst, dass Mamas Wadenwickel mir so gut halfen, er wäre noch am Leben. Seit seinem Verschwinden hatte ich kein Fleisch mehr gegessen. Auch wenn Nick und Mama mir erzählten, sie hätten Schweinefleisch gekauft. Dieses war viel zu teuer, als dass wir es uns hätten leisten können. Ich traute der Fleischindustrie nicht und hatte zu viel Angst davor, meinen eigenen Vater zu essen, meine Nachbarin, meinen Onkel oder meine Lehrer. Die Menschen verdrängten solche Gedanken, niemand überlegte ernsthaft, was das Fleisch auf ihren Tellern mal gewesen war. Ein Mensch, wie sie selbst, mit Gefühlen und Gedanken, mit einer Geschichte, einer Familie und Freunden. Aber die Leute dachten wohl auch nie über die Tiere nach, die sie aßen, wieso sollte dies bei Menschen anders sein? Was unterschied den Homosapiens schon großartig vom Tier?
Das Essen von Menschenfleisch sollte die Lösung vieler Probleme sein. Das Umgehen der Seuchen, die in der Massentierhaltung aufkamen. BSE war nur der Anfang gewesen. Die Medien berichteten von Vorteilen, wie die Reduzierung der Überpopulation auf der Welt, da die Menschen nicht nur viel Platz brauchten, sondern auch viel Nahrung. Es gab keine Flächen mehr, um ausreichend Getreide anzubauen und das Viehsterben machte das Fleisch teuer und rar.
Es begann mit einem Skandal. Einer der führenden Fleischerbetrieben wollte sich selbst vor der Insolvenz retten und Menschenhändler, die hoffnungsvolle Flüchtlinge aus der dritten Welt nach Deutschland schafften, witterten einen großen Deal. Es dauerte Jahrzehnte bis es in die Gesellschaft der westlichen Welt etabliert wurde.
Nick saß schweigend am Tisch und schaufelte ein Schälchen Reis in sich hinein. Davon ernährten wir uns, von Reis, Kartoffeln und Nudeln, immer dasselbe. Manchmal gab es auch zu besonderen Anlässen frisches Gemüse. Dieses war fast noch teurer als Fleisch. Es gab kaum noch Grünflächen um genügend anzubauen und die Bauern verkauften ihre Waren nur gegen sehr viel Geld an die Städter. Es war mein größter Traum, aus der Stadt aufs Land zu fliehen. Man munkelte, dass dort kaum noch gejagt wird. Jedenfalls keine Menschen.
Schon lange hatte ich meinen Bruder nicht mehr richtig angesehen. Vielleicht, weil es schmerzte. Er war das genaue Abbild unseres Vaters, hatte dieselben grünen Augen, dieselben dunkelbraunen Haare. Doch die Schicksalsschläge, die unsere Familie ereilt hatten, gingen auch an ihm nicht spurlos vorüber. Oft hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran dachte, was er alles für uns getan hatte, vor allem für mich. Er hatte unsere Mutter gepflegt, als diese krank wurde, bis zu ihrem Tod. Wenigstens sie konnten wir begraben, niemand hatte Interesse an einem von Krebs zerfressenen Körper. Nick kämpfte wie ein Wahnsinniger um das Sorgerecht für mich. Aber es war aussichtslos für einen Zweiundzwanzigjährigen Vormund eines Teenagers zu werden. Wenigstens durfte ich bei ihm bleiben. Dies war natürlich nur unter strengen Auflagen des Jugendamts möglich. Jede Woche kam eine Mitarbeiterin bei uns vorbei und begutachtete die Wohnung, unterhielt sich mit mir und fragte, wie es mir so ginge. Nick hatte einen Job in einer Autowerkstatt angenommen, den er hasste, aber er tat es für mich. Sobald er arbeitslos wäre, würde das Jugendamt mich zu Pflegeeltern bringen. Er gab immer alles, was er hatte, und das nur für mich.
„Hab ich was im Gesicht?", holte er mich zurück in die Gegenwart und schaute mich verdutzt an. Ich wusste nicht, wie lange ich ihn angestarrt hatte. Stumm schüttelte ich den Kopf und setzte mich zu ihm. Er widmete sich dem ständig laufenden Fernseher, der die Schreie und die Schüsse von der Straße übertönen sollte.
„… seit der letzten Jagdsaison ist die Verbrechensrate wieder um fünf Prozent gesunken“, verkündigte eine Stimme aus dem Gerät.
„Klar, wenn das Töten von Menschen zum Verzehr nicht als Mord gilt“, raunte Nick verächtlich.
„Sie sichert unsere Verfassung und unser Überleben“, sagte die Sprecherin der Dokumentation als würde sie ihm widersprechen wollen. Es war eine Aufzeichnung, die immer zu dieser Zeit ausgestrahlt wurde, ergänzt durch neue Zahlen und Statistiken. Die Legalisierung von Kannibalismus war nur unter strengen Auflagen möglich. Ein sicheres Leben musste gewährleistet, die Verfassung erhalten werden. Die Idee, Menschen zweiter Klasse zur Nahrungsverarbeitung zu züchten, wurde schnell verworfen. Die Jagdsaison sollte Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Gesundheit gewährleisten. Es wurde ein Gesetz erlassen, welches das Töten von Menschen zum Verzehr nur für wenige Wochen, zweimal im Jahr legalisierte. In dieser Zeit waren die Straßen nicht mehr sicher. Die meisten Leute verschanzten sich in ihren Häusern. Mit der Zeit fiel die Jagd immer dürftiger aus und die Jäger der Fleischindustrien wurden kreativ. Sie ließen nichts unversucht, um ihre Beute aus den Häusern zu locken oder dort hinein gelassen zu werden.
„Aber diese Maßnahmen haben auch positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Die Zahl der Erkrankungen durch Infektionen und Viren ist …“ Nick schaltete den Fernseher aus und sah mich an. „Hast du Lust auf einen Film?“, fragte er und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.
Es war Tag sechzehn der diesjährigen Herbstjagd. Rund die Hälfte lag schon hinter uns und ich fieberte dem Ende entgegen, wollte endlich raus aus den immer gleichen vier Wänden. Unser Apartment war klein und wir konnten es uns nur leisten, weil das Jugendamt es bezahlte. In meinem Zimmer war gerademal Platz für ein Bett und einen Einbauschrank, in dem fast alles verstaut war, das wir besaßen. Die Fenster versuchte ich zu meiden. Zwar fand das Massaker viele Meter unter uns statt, doch ich wagte es nicht, auch nur den kleinsten Blick zu riskieren. Auf meinen Wunsch hatte Nick sogar Gitter vor den Glasscheiben angebracht, auch wenn er es für paranoid hielt. „Glaubst du wirklich, ein Jäger klettert die Hauswand bis in den achten Stock hoch?“, hatte er mich gefragt. Ich wusste es nicht, aber ich wollte kein Risiko eingehen und die Fenster bedenkenlos öffnen können, um frische Luft in diese beengten Räume zu lassen und atmen zu können.
Ich hatte mich in ein Buch vertieft, um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, weit weg von den Schreien, die ich manchmal von der Straße hörte, und der Jagd. Nick starrte wie hypnotisiert auf den Fernseher. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr mit Sarah telefoniert und seine Laune wurde immer schlechter.
Erschrocken zuckte ich zusammen als plötzlich ein Pochen an der Wohnungstür ertönte. Mein Herz fing an wie wild zu schlagen. Nick war aus seiner Starre gelöst und aufgesprungen. Er warf mir einen beschwichtigenden Blick zu und hielt seinen Zeigefinger an die Lippen. Langsam zog er seine Waffe, die er sich nach Papas Tod zugelegt hatte, aus einer Schublade. Es pochte erneut. Drei mal. Ich spürte wie das Adrenalin durch meine Adern schoss und kauerte mich auf dem Sofa zusammen, versuchte mich zu beruhigen und wippte hin und her. Nick hatte die Pistole entsichert und schlich lautlos zur Tür. Wieder pochte es.
„Nick!“, hörte ich dumpf eine hysterische Frauenstimme „Nick! Bitte mach auf! Ich bin’s!“
Nicks harte Miene wurde weich. „Sarah?“, rief er durch die Tür. Er ließ die Waffe sinken und blickte durch den Spion. Dann sah er mich bittend an. Ich wusste, was er vorhatte und schüttelte heftig den Kopf. „Nein“, sagte ich kaum hörbar. „Traue niemandem! Öffne niemandem!“, zitierte ich Papas Worte. Nur einen kleinen Moment sah er mich leidig an, dann drehte er sich um und entriegelte die Schlösser. „Nein!“, flehte ich, doch da hatte er die blonde junge Frau schon hereingelassen. Als er die Tür wieder gesichert hatte, nahm er Sarah in den Arm und küsste sie. Ich spürte einen Stich im Herzen. Mir war klar, wie lächerlich diese Eifersucht war, aber tief in meinem Inneren wollte ich meinen Bruder nicht teilen, mit niemandem.
„Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten“, wimmerte Sarah. „Ich hatte solche Angst!“ Nick nahm sie fest in den Arm. „Es ist okay“, sagte er zu ihr, so wie er es immer zu mir sagte. Ich hasste sie. Eigentlich hatte ich keinen Grund dafür, aber ich wollte sie nicht hier haben.
„Nick, sie kann nicht hier bleiben!“, sagte ich und meine Worte überschlugen sich „Wir haben gerade genug Vorräte für uns und du weißt nicht, ob du ihr trauen kannst! Du kannst niema- …“
„Krissy!“ Ich schreckte zusammen und starrte ihn ungläubig an. Es war lange her, dass er mich angebrüllt hatte. Doch er hielt meinem Blick einen Moment stand, wandte sich ab und strich Sarah liebevoll durchs Haar. Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und verschwand in meinem Zimmer.
Ich hatte das Gefühl, unsichtbar geworden zu sein, als gehörte ich nicht mehr dazu. Ein Fremdkörper in der perfekten Zweisamkeit. Nick lachte wieder, er wirkte glücklich, als er mit Sarah auf unserem Sofa kuschelte und Filme ansah. Die beiden schienen völlig vergessen zu haben, in welcher Zeit wir uns befanden, was draußen auf den Straßen passierte. Das alles machte ihnen anscheinend überhaupt nichts aus, genauso wenig, wie meine Anwesenheit. Ich verkroch mich meistens in mein Zimmer und kam nur heraus, um mir etwas zu Essen zu holen.
Schweigend und mit starrem Blick übergoss ich meine Haferflocken mit ein paar Schlucken Milch, die ich mir aufgehoben hatte. Es war haltbar gemachte Kuhmilch. Zumindest stand das auf dem Etikett. Fast sieben Euro kostete ein Liter, darum leisteten wir sie uns nur sehr selten.
„Hey!“ Sarahs helle Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie stand plötzlich neben mir und lächelte mich freundlich an. Ich verzog meine Mundwinkel zu etwas Ähnlichem, wie einem Lächeln und drehte mich zu ihr um. Sie war eine hübsche Frau, groß, schlank mit strahlenden, blauen Augen und goldenen Locken. Sicher könnte sie jeden Mann haben, aber warum musste es ausgerechnet mein Bruder sein?
„Was hältst du davon, wenn wir zusammen etwas Leckeres kochen?“, fragte Sarah so herzlich, dass es Aggressionen in mir weckte.
„Womit?“, knurrte ich, doch Sarah machte meine mürrische Art nichts aus und lächelte mich weiter an.
„Ich hab ein bisschen Gemüse dabei“, sagte sie dann. „Magst du Ratatouille?“
Mir fiel keine passende Ausrede ein und ich wusste, Nick ließe mich nicht in Ruhe, wenn ich Sarah vor den Kopf stieße, also willigte ich ein. Sie war so fröhlich und so begeisterungsfähig bei allem, was sie tat und es fiel mir immer schwerer meine abgeneigte Haltung ihr gegenüber aufrecht zu erhalten und hin und wieder musste ich gegen meinen Willen einfach schmunzeln.
Ich versuchte sie zu ignorieren und mich starr auf die Zucchini zu konzentrieren, die ich gerade in feine Scheiben schnitt. Noch nie hatte ich eine frische Zucchini gegessen, eine echte, die draußen gewachsen war und nicht getrocknet und mit Geschmacksverstärker versetzt wurde, und mein Körper fing mit der Vorfreude an zu kribbeln.
„Ich versteh dich“, sagte Sarah plötzlich und das Lächeln war aus ihrer Stimme verschwunden. Ich wandte mich ihr zu und sah in ihr ernstes, fast schon bekümmertes Gesicht.
„Nick hat mir erzählt, was mit euren Eltern passiert ist und ich weiß, wie es ist, niemandem mehr vertrauen zu können.“ Neugierig hob ich die Augenbrauen, aber ich schwieg.
„Meine Eltern hatten auch einen Jagdunfall“, erzählte sie und senkte ihren Blick. „Es war vor etwa zehn Jahren, ich war etwas jünger als du. Es war mein Onkel, der sie verraten und erlegt hatte.“ Etwas glitzerte hinter ihren Locken, die ihr Gesicht verbargen und ich fühlte, wie mein Gewissen mein Herz einschnürte, weil ich so abweisend zu ihr gewesen war. Ihr ging es wohl nicht anders als Nick und mir, nur sie war allein.
Sarahs Geschichte rumorte lange in mir. Sie gab dem köstlichen Festmahl, das wir gekocht hatten einen bitteren Beigeschmack. Doch ich beschloss, Sarah zumindest eine Chance zu geben, so wie Nick ihr eine gab. Wenn er ihr vertraute, vielleicht konnte ich es dann auch.
Es waren weder Schreie noch Schüsse, die mich in dieser Nacht weckten. Ich hörte Stimmen. Eine davon gehörte Nick: „Dann war also alles eine Lüge?“ Er klang enttäuscht und entrüstet. Es folgte das Lachen einer Frau - Sarah. „In der heutigen Zeit ist kein Platz mehr für Liebe oder für Gefühle. Es zählt einzig das Überleben des Stärkeren.“ Es musste Sarah sein, auch wenn jede Wärme aus ihren Worten verschwunden war. Ihr Ton war kalt, hässlich und schmerzhaft, wie eine lange Nadel, die sich in mein Herz bohrte.
Ich war aufgestanden und zu meiner Zimmertür geschlichen. Sie war immer einen Spalt geöffnet, falls ich aufwachte. Ich brauchte Nicks leises Schnarchen, um mich sicher zu fühlen. Ich schluckte meine Angst hinunter, versuchte mich auf alles vorzubereiten, was ich sehen würde, dann riskierte ich einen Blick.
Ich sah Nick, an die Wand gedrückt, und Sarah, die ihm ein Messer an die Kehle hielt. Ich unterdrückte einen Schrei, als mich die Panik überfiel und meinen Körper beben ließ.
„Deine Schwester hatte Recht“, sagte Sarah „Du darfst niemandem trauen, nicht nur zur Jagdsaison!“
Der bittere Geschmack von Verrat drehte mir den Magen um. Sie hatte auch mich getäuscht und meine Wut verscheuchte einen Teil der Angst.
„Du wirst zur Jägerin, obwohl die Jagd deine Eltern getötet hat?“, presste Nick hervor. „Wirst eine Verräterin, wie dein Onkel!“ Er spuckte ihr die Worte geradezu ins Gesicht, doch wieder lachte Sarah nur. „Mein Onkel war mir wahrlich ein guter Lehrer“, sagte sie. „So gut, dass ich ihn selbst erlegte!“
„Und wieso?“ Ich bildete mir ein, unterdrückte Tränen in Nicks Stimme zu hören. Sarahs Augen aber waren kalt wie Eis, ihr vorfreudiges Grinsen jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. „Mach die Augen auf!“, rief sie „Nahrung und Wohnraum werden knapper, das Einkommen immer weniger. Die Jagd ist der einzige lukrative Job!“
Nick hatte seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst. Kaum merklich zitterte er und ich wusste nur zu gut, wie sehr viel härter dieser Verrat für ihn war. Ich musste irgendwas tun!
„Na los!“, zischte Nick. „Dann tu es! Aber sieh‘ mir in die Augen!“
Ich presste meine Hände an den Mund, um nicht loszuschreien, versuchte mich zusammenzureißen. Neben meiner Zimmertür begann die Küchenzeile, in deren erster Schublade die Pistole lag. Das war die Rettung! Ich brauchte sie. Meine zittrigen Hände tasteten sich auf der Arbeitsfläche entlang, mein Blick verharrte gebannt auf Nick und Sarah.
„Oh“, machte Sarah und klang fast mitfühlend, als hätte sie einen geschlagenen Welpen gefunden. „Es war wirklich schön mit dir“, hauchte sie und drückte meinem Bruder sanft einen Kuss auf seine Lippen. Meine Hände ertasteten währenddessen den Griff der Schublade.
„Und jetzt entspann dich!“, hörte ich Sarah wieder im ernsten Ton. „Sonst treff‘ ich die Aorta nicht richtig und wir wollen doch nicht, dass ich für so einen kräftigen jungen Mann wie dich keinen guten Preis bekomme, oder?“ Sie strich ihm sanft über seinen muskulösen Oberarm.
Langsam öffnete ich die Schublade und hoffte, dass mir die Zeit reichte. Als meine Hand das kalte Eisen umfasste, atmete ich erleichtert durch. Die Pistole klickte und Sarah drehte sich abrupt zu mir um. Ohne weiter nachzudenken drückte ich ab. Es knallte ohrenbetäubend und Sarah schrie auf. Ich hatte sie nur am Arm gestreift, aber es reichte aus, dass sie von Nick abließ und das Messer fallen ließ.
„Miststück!“, fluchte Sarah.
„Krissy, runter mit der Waffe!“, schrie Nick. Ich war wie erstarrt und sah, wie Nick auf mich zukam, als Sarah erneut das Messer griff und sich ihm in den Weg stellte. Sie drückte die Spitze der Klinge an seinen Hals und ich sah, wie ein dünner roter Strich an seiner Haut entlang rannte. „Hör lieber auf ihn, du kleines Biest!“, warnte Sarah. Ich überlegte hastig. Wenn ich die Pistole nicht weglegte, würde sie ihn töten, wenn ich sie fallen ließe, würde sie uns vermutlich beide umbringen. Ich musste sie überraschen. Womit rechnete sie wohl am wenigsten? Ich blendete alle Gedanken aus und rannte los, direkt in Sarah hinein, hörte Nick aufschreien und das Knallen der Pistole, als ich mit Sarah zusammen zu Boden fiel.
„Krissy!“, Nicks Stimme klang so weit weg. Ich spürte, wie mich seine Hände packten und wegschleiften, weg von Sarahs totem Körper. Ich ließ die Kanone fallen, meine Hände waren nass, blutverschmiert. Nick drückte mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekam. „Es ist okay! Es ist alles okay!“, sagte er mit brüchiger Stimme und ich konnte sein Schluchzen hören.
„Es tut mir so leid!“
Nick fing sich schneller wieder, stand auf und ging zu Sarahs Körper.
„Was hast du vor?“, fragte ich zittrig auf dem Boden kauernd. „Eine Tötung, die nicht zum Verzehr erfolgte, ist Mord“, sagte er tonlos. Ich wusste, was das bedeutete. Nick schleifte Sarah ins Badezimmer und schloss ab. Ich verharrte in meiner Stellung und starrte die Tür an. Waren es Stunden oder Tage? Ich kann es nicht sagen. Unfähig, mich vom Fleck zu rühren, beobachtete ich, wie das Blut an meinen Händen trocknete, wie das leuchtende Rot zu einem rostigen Braunton wurde. Sarahs Blut. Das Blut eines Menschen klebte an meinen Fingern. Sie war tot, meinetwegen. „Es war richtig“, versuchte ich mir selbst erfolglos einzureden und presste mich in die Ecke des Wohnraums. Meinen Blick regungslos auf die Tür geheftet, summte ich eine Melodie, die ich von Mama kannte, ein Lied, das sie mir als Kind zum Einschlafen vorgesungen hatte, damit mich keine Albträume plagten.
Irgendwann, nachdem so viel Zeit an mir vorbeigeschlichen war, klickte es und die Tür öffnete sich. Nick war bleich und seine Miene kalt. Einige Flecken frischen Bluts zeichneten sich auf seiner Kleidung ab. Mein Blick folgte ihm, als er zum Küchenschrank ging und Alufolie holte. Ein glänzendes Päckchen nach dem anderen schaffte er schließlich aus dem Bad in den Gefrierschrank. Er sprach nicht ein Wort, blieb schweigsam, starr und rastlos, tagelang.
Als die Jagdsaison beendet war, zerstörte ich meinen Jugendring, Nick verkaufte das Fleisch und wir stiegen in den ersten Zug, der die Stadt verließ. Weg von den Erinnerungen und den kontrollierenden Augen des Jugendamts. Keiner von uns hat je wieder über diese Nacht oder Sarah gesprochen.
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2014
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