Eberhard Breunig
Im Banne der Stammkneipe
Erinnerungen aus meiner Jugend
I n meiner Jugendzeit, in der ich mich lange Jahre in Basel
aufhielt, hatte ich auch das Vergnügen, immer und
öfters einen Stammtisch zu besuchen. Aus diesem
Stammtisch wurde meine Stammkneipe, die immer
mehr zu meinem und auch anderer zweitem Wohnzimmer
wurde. Wenn ich heute zurückdenke, kann ich sagen, dass
diese Zeit zu den schönsten in meinem Leben gehörte.
Ich schreibe in meinen Erinnerungen von echten
Originalen und teilweise grandiosen Typen.
Der Kontakt mit diesen Menschen und mit deren Probleme,
die Gespräche darüber und die oft damit verbundenen
Schicksale und meine Beteiligung daran, haben mich geprägt
und sind für mich bis zum heutigen Tag Lebensfaktoren
geworden. Das alters- und bildungsmäßig durchmischte
Publikum und deren Erlebnisse stellte für mich
einen gewissen Lernprozess dar, den ich in
meinem weiteren Leben nie mehr missen möchte.
Kaminfeger-Sammy
In früher Jugend, wohl so als ich zwanzig war, hatte ich einige Jahre lang einen Freund oder war es nur ein guter Bekannter, das kann ich heute nicht mehr so genau sagen, zumal die Bedeutung dieser Begriffe sowieso fließend ineinander übergehen. Mein Freund, den ich leider in späteren Jahren aus den Augen verlor, lernte ich wie viele meiner damaligen Freunde in meiner Stammkneipe in Basel kennen. Wir hatten alle Spitznamen. Sein Spitznamen war Sammy, wohl herrührend, weil Sammy seinem großen Namensvetter Sammy David Junior etwas ähnlich sah. Freund Sammy legte aber immer viel Wert auf die Feststellung, dass er zwei gut sehende Augen besäße, nicht wie sein Namensgeber, der ja bekanntlich ein Glasauge hatte. Auch war unser Sammy auch etwas klein an Gestalt, eine Tatsache, die ihn noch mehr an seinen Spitznamensgeber heran brachte. Sammy war eigentlich einfachen Geistes Kind, aber manchmal hatte er explosive Ideen, wobei dieser Begriff wörtlich zu nehmen ist. Sammy war von Beruf Kaminfeger. Wir sahen ihn oft auf dem Fahrrad sitzend mit Leiter und Zylinder oder schwarzer Haube an unserer Kneipe vorbei radeln. Dabei wurde er immer mit großem Gejohle begleitet, und auch an geistreichen Kommentaren unsererseits wurde nicht gespart.
Dass wir im Lokal bald seiner ansichtig wurden, war uns jedenfalls sicher. Sammy hatte Feierabend, wie wir auch, die wir schon beim ersten oder zweiten Bier saßen. Im Gegensatz zu uns musste Sammy seinen Feierabendtrunk immer etwas mit Verspätung beginnen, da er sich allabendlich erst noch in seine Firma begab, um sich etwas frisch und sauber zu machen. Hauptsächlich das Wort „sauber“ wurde ihm sehr ans Herz gelegt, als er einmal von unserem Kneipenwirt Otto fast Lokalverbot erhalten hatte. Sammys Beruf brachte es nun einmal mit sich, dass er nach ein paar Stunden Arbeit eine rußgeschwärzte Person darstellte. Auch sein Angebot immer eine Zeitung auf den Stuhl zu legen, auf den er sich setzte, ließ Ottos Herz nicht erweichen. Sammy war es gewohnt, dass ihn ständig fremde Personen berührten, um ein wenig Ruß seiner Berufskleidung zu erhaschen und um damit Glück zu „tanken“. Von hübschen Damen ließ er diesen Brauch gerne über sich ergehen, Männer konnten ihm manchmal etwas nerven. In solchen Situationen pflegte er etwa zu sagen, dass die Berührer lieber ihre Frauen zuhause betatschen mögen, als ihn jetzt hier. Jedenfalls der Hinweis Sammys, er bezweifele stark die Qualität des Glücks von der Entnahme seiner Zivilkleidung, änderte nichts am Verbot unseres Wirtes, der rigoros bei seinem Verbot seiner Anwesenheit in Berufskleidung blieb. Doch Sammy, stach meist trotzdem noch etwas später, aber immer gern
gesehen, zu unserer Runde.
Einmal berichtete Sammy dass er gerade dabei war, einen neuartigen Motor zu entwickeln. Sammy hatte nämlich in seinem Berufsleben schon des Öfteren Staubexplosionen mehr oder weniger miterlebt. Die Erkenntnisse aus diesen Knalleffekten sollte die Grundlage einer neuen genialen Antriebstechnik werden. Unser Kaminfeger experimentierte fortan mit Staubexplosionen. Dazu mietete er sich für wenig Geld in Räume einer Pleite gegangenen Schreinerei ein. Auf der Basis eines Zweitaktmotors versuchte er sozusagen Staubexplosionen in runde Drehbewegungen umzuwandeln. Das Problem war jedoch Holz- oder anderen Staub in einer Art Vergaser in ein Explosionstadium umzuwandeln. Ich selbst habe diese Technik nie so richtig begriffen. Auch weiß ich nicht, ob Sammy jemals einen Motor so richtig zum Laufen gebracht hatte, allerdings wussten wir alle, dass es lebensgefährlich sein konnte, Sammy in seinem “Forschungs- und Versuchsinstitut“ zu besuchen. Einmal taten wir das allerdings auch. Sammy war ganz glücklich, uns seine bahnbrechenden Ideen, von denen wir immer wieder nur in Theorie erfahren haben, vorzuführen. Wir hatten an diesem Tag das zweifelhafte Glück, Zeugen einer Verpuffung, „nur einer Verpuffung“, wie Sammy sagte, zu werden. Diese Verpuffung machte uns allerdings alle mindestens dusch- und unsere Kleidung waschreif. Auf meinen Ohren lag auch tagelang ein unangenehmer Pfeifton. Auf weitere Besuche im Vorhof zur Hölle verzichteten wir dann in Zukunft. Wir hörten eine Weile nichts mehr von Sammy, bis zu dem Tag als ihm sein Institut um die Ohren flog. Auch als Mieter flog er dann aus seinen Räumen. Leider verlor Sammy bei diesem Unfall fast ein Auge. Er lief wochenlang mit Augenklappe herum. Sein Spitznamensgeber Sammy-David-Junior könnte schön gegrüßt haben. Zum Glasauge kam es Gott sei Dank nie, aber einen leichten Schatten hatte zukünftig mindestens sein Auge.
Tagesthemen
Am Stammtisch wurde wie wohl an fast allen Stammtischen der Welt die Themen des Tages behandelt. Natürlich war es auch üblich, über gerade nicht anwesende Freunde zu sprechen, denn man nimmt ja gern Anteil an den persönlichen Ereignissen der Kollegen. In späteren Stunden griff man zum Knobelbecher oder zu den Spielkarten. Manche von uns gaben sich dem Flipperkasten hin, andere taten vielleicht auch mal gar nichts. Es wurden Sprüche geklopft, die neuesten Witze erzählt und gelegentlich gestritten. In dieser Zeit lernte ich auch, dass dem Begriff „Sprücheklopfer“ auch etwas Positives abzugewinnen ist, denn was währe ein Stammtisch ohne solche Typen. An unserem Tisch hatten wir einige sehr gute Vertreter dieser Spezies. Besonders an Tagen, an denen die Stimmung nicht so gut war, konnten diese Leute ihren besonderen Wert beweisen. Natürlich konnten diese Ausgüsse nicht immer stubenrein sein, aber als gehärteter Stammtischbruder konnte man schon einiges wegstecken. Ab und zu warf einer eine Münze in den Musikkasten, einem Wurlizzer, in dem sich mit unserer Mithilfe immer die neuesten Scheiben befanden. Kurz: Es wurde immer gemütlicher.
Unser Wirt drückte uns von Zeit zu Zeit so um die fünfzig Franken in die Hand und schickte uns in den Plattenladen, um die neuesten und zumindest aus unserer Sicht die besten Platten einzukaufen. Otto selbst konnte zu diesem Thema nicht viel beitragen, denn er hatte keinerlei Musikgehör. Trotzdem sah er sich zu solcherlei Aktionen gezwungen, da ihm, wie er gelegentlich sagte, nach ein paar Wochen immer die selben Platten aus dem Hals heraus hingen.
Der Legionär-Ernest
In unserem Lokal gab es einen harten Kern, wie wir uns nannten. Hart waren allerdings höchstens die Tische und Stühle, auf denen wir saßen. An den Tischen im Rest des Lokals befanden sich eben meist Leute, die nicht zu unserem harten Kern zählten. Weicher war bei denen auch nichts, auch nicht die Sitzmöbel.
An einem kleinen aber feinen Tisch etwas abseits saß oft unser Freund Ernest. Ernest war ein schon in die fortgeschrittenen Jahre gekommener ehemaliger Fremdenlegionär. An Ernests Stammplatz hing ein Bild mit einer blau-weiß-roten Bordüre an der Wand, auf dem man ihn in französischer Legionärsuniform bewundern konnte. Von Zeit zu Zeit, etwa drei mal am Abend, gab Ernest einem der Stammgäste ein Fünfzigrappenstück, um im Musikautomaten drei Platten zu wählen. Jeder von uns wusste, dass in der Durchführung dieser Aufträge eine Bedingung lag, nämlich immer eine der drei Musikstücke musste die Marseillaise, also die französische Nationalhymne, sein. Die Wahl der anderen Platten lag bei uns. So kam es durchaus vor, dass gleich nach der Marseillaise „Jack the Ripper“, von Casy Jones, „Brown Sugar“ von den Stones oder „Hey, hey it`s The Monkees“ von den Monkees erklang. Wir empfanden solche Mischungen normal und Ernest erst recht. Das eigentlich originelle, das mit diesen Musikwahlen ursächlich verbunden war, gab uns das jedoch das begleitende Schauspiel, das sich während der Marseillaise abspielte. Jeweils während bei den ersten Klängen der Hymne erhob sich unser Freund von seinem Stuhl und salutierte. Dies tat er mit solcher Inbrunst, dass es einem auch nach hundertfacher Wiederholung die Feierlichkeit in die Glieder schlug. Mit todernster Miene, auch schon mit einigen Gläsern Rotwein im Bauch, wickelte Ernest sein Pflichtprogramm ab.
Seinen Regenschirm, den er auch wenn kein Regen zu erwarten war, immer bei sich hatte, war sein Gewehr. Es war auch nicht ratsam, die Zeremonie durch lästernde Zwischenrufe zu stören. Manch ein Unbedarfter im Lokal konnte sonst anschließend Bekanntschaft mit dem „Gewehr“ machen. So manch ein Gast konnte von Glück reden, dass Ernest nicht auch noch das Bayonett aufgepflanzt hatte. Dies tat er immer am vierzehnten Juli, dem Nationalfeiertag Frankreichs, oder an anderen französischen Feiertagen. Sein Bajonett wurde in Form eines Taschenmessers mit rot-weiß-blauem Klebstreifen am Regenschirm festgemacht. An solchen Feiertagen erschien Ernest schon sehr früh am Abend sozusagen „bis an die Zähne bewaffnet“ und wie immer in bestem Tuch. Einmal erzählte er uns, dass er bei der Anfahrt „in voller Bewaffnung“ in der Sraßenbahn fast verhaftet worden wäre. Ein anderes mal wollte ihn aus lauter Angst ein Taxifahrer nicht in seine Stammkneipe bringen. Einmal erlebten wir „die große Wachablösung“ am Kasernentor, allerdings ohne Tor und Kaserne. Für uns war es jedoch hoch interessant zu sehen, wie sich ein Wachsoldat sozusagen selbst ablöste. Zu diesem Anlass verdunkelten wir unsere Kneipe, um nur den Akteur zu beleuchten. Ich erinnere mich an die Tränen der Rührung, die im Rampenlicht leuchteten.
Unser Ernest war aber abgesehen von seinen Skurrilitäten in unseren Augen ein wirklich toller Typ. Bis ins hohe Alter, und wir erfuhren erst bei seinem Tode von der wahren hohen Zahl seiner Lebensjahre, zeigte er immer geistige Fitness und Humor. Er lehrte uns ein französisches Kartenspiel, dessen Namen ich leider vergessen habe und das angeblich in algerischen Schützengräben gespielt wurde. Wir spielten dieses Kartenspiel sehr gerne und trugen auch in jedem Jahr eine Stadtmeisterschaft aus. Zu Beginn dieser Meisterschaften wurde natürlich auch die Marseillaise gespielt. Auch erzählte uns Ernest von den letzten echten Sklavenmärkten, die er noch in Marrakesch miterlebte. Erzählungen über Opiumhöhlen und Bauchtänzerinnen in Tanger befanden sich ebenfalls in seinem Repertoire. Auch von dem berühmten Schriftsteller Albert Camus, den er persönlich kannte, wurden wahre Wunderdinge erzählt, so entstand angeblich der Roman „Die Pest“, für den Albert Camus den Literaturnobelpreis erhielt, unter Mithilfe von Fremdenlegionären. Wenn Ernest ins Erzählen geriet, und das war immer mit einer gewissen Anzahl Rotwein verbunden, die wir ihm meistens stifteten, konnte er die ganze Gaststätteunterhalten. Ich erinnere mich, dass so mancher geplanter Kinogang von uns einfach vergessen wurde. Wir hingen oft wie gebannt an unseren Freundes Lippen. Unter uns sprachen wir oft darüber, ob vielleicht auch die Realität ein wenig mit Phantasie, na sagen wir mal, angereichert wurde.
Mit der Zeit stellten wir auch fest, dass Ernest von Ereignissen, die vor sechzig Jahren passierten, fast bis ins Detail berichten konnte, was aber gestern stattfand, daran erinnerte er sich manchmal nicht mehr.
Die langen Erzählabende endeten auch oft damit, dass einer der Stammtischbrüder den Erzähler mit seinem Wagen nach Hause bringen musste, da ein geordneter militärischer Rückzug, wegen gewisser alkoholbedingter motorischer Ausfälle nicht mehr möglich war. Ernest, der ursprünglich in Basel geboren und aufgewachsen war, wohnte schon seit seiner Entlassung aus der Legion vor zwanzig Jahren in der Basler Altstadt, nicht weit von unserer Kneipe entfernt, in einer kleinen aber sehr schön eingerichteten Mansardenwohnung. Die Wohnung konnte nur über eine steile Treppe, die bis in den dritten Stock führte, erreicht werden. Dort thronte über allem ein Foto von Charles de Gaulle. Darunter war eine Sammlung von Orden zu bewundern, die unserem Ernest meist in Afrika im Algerienkrieg verliehen wurden.
Eines Tages, ich glaube es war in einem Frühjahr, waren nun auch die Tage unseres Legionärs gezählt. Einige unserer Stammgäste besuchten seine Beerdigung. Ernest wurde dreiundneunzig Jahre alt. Er ist in seinem Bett sichtlich ruhig und entspannt eingeschlafen. Für die Feierlichkeiten sorgte ein Legionärsverein, der eigentlich in der Schweiz verboten war. An seinem Grab wurde während die Tricolore dreimal ins Grab gesenkt wurde, auch die Marseillaise abgespielt. Ernest hatte nie geheiratet. Deshalb gab es nur eine Todesanzeige, die wir in die Zeitung setzten. Ernests Bild hing noch sehr lange an seinem Platz im Lokal. Auch die Marseillaise getraute sich unser Wirt Otto lange nicht aus dem Musikautomaten herauszunehmen. Die Beatles, die Animals, die Stones, die Bee Gees, Bob Dylan und andere Bands und Interpreten säumten noch lange die französische Nationalhymne.
Von Ernests Hauswirt erfuhr ich Monate später, dass der in die Jahre gekommene Mann manchmal dreimal täglich bis zu seinem Tod die Stufen in seine Wohnung im dritten Stock erklamm. Der Hauswirt schaute täglich nach ihm und riet ihm doch irgendwo eine passendere, bequemer zu erreichende Bleibe zu mieten, doch der lehnte dankend ab. Die Treppe hält mich fit, soll er immer daraufhin gesagt haben. Niemals hatten wir erlebt, dass Ernest je krank gewesen wäre. Der französische Staat bezahlte alle Kosten, die nach seinem Tod noch zu bezahlen waren. Einen kleinen Nachlass erbte eine Nichte, eine Tochter seiner schon lange verstorbenen Schwester.
Blumenfritz
Fritz wohnte in einem Behindertenheim in der Nähe von Basel, in dem er allerdings immer freien Ein- und Ausgang hatte. Viele andere Insassen des Heimes lebten auf Staatskosten, allerdings nicht Fritz. Er hatte sich mit Hausieren und später dann mit einer Art Blumenhandel schon früh eine eigene Existenz aufgebaut, bei der er trotzdem mit der Hand in den Mund leben konnte. Wegen seines Blumenhandels hatte er nicht nur von uns den Namen Blumenfritz verpasst bekommen, sondern diese Bezeichnung wurde sozusagen sein Markenname mit dem er sogar berühmt wurde. Seine Arbeit nahm Fritz sehr ernst. Mit seinem Moped mit Anhänger reifelte er täglich und frühmorgens auf den Basler Flugplatz, um dort seine Blumen, meist Rosen abzuholen. Diese übernahm er noch im tief gekühlten Zustand in kleinen Bündeln. Diese Blumen standen noch am Tag zuvor, wie Fritz immer wieder sagte, in San Remo oder Nizza auf dem Acker und waren deshalb superfrisch. Alsdann machte sich Fritz ab dem späteren Nachmittag auf den Weg durch die Basler Kneipen und Bars und verkaufte seine Rosen. Mit Sprüchen wie „Rosen für die Rose“ und „Ein schönes Mädchen muss auch schöne Blumen bekommen“, hielt er sich hauptsächlich an die augenscheinlichen Verehrer der Damen. Kaum ein anwesender liebender Jüngling jeden Alters konnte widerstehen, seiner Dame seine florale Aufwartung zu machen. Allerdings konnte es auch sein, und dieses Phänomen zeigte sich hauptsächlich gegen Ende der Monate, dass beim Erscheinen von Fritz im Lokal eine gewisse Männerflucht einsetzte. Das ganze Lokal geriet sozusagen plötzlich in Aufruhr. Auf einen Schlag mussten viele Herrn der Schöpfung aufs WC oder sie wollten plötzlich ein Telefongespräch führen gehen, Handys gab es damals noch nicht, oder sie mussten plötzlich draußen ein wenig „Luft schnappen“. Manchmal war Fritz gnadenlos, wenn er dann noch mit seinen Blumen auf dem Männerklo auftauchte. Auch verließ Fritz manchmal das Lokal, um Minuten später plötzlich wieder aufzutauchen, um die Herren sozusagen kalt zu erwischen. Wenn ihm dann ein etwas desorientierter, gerade vom „dringenden“ WC-Besuch zu seinem Mädchen zurückkommender Charmeur sagte, dass er mit seinen Rosen doch gerade da war, sagte Fritz: Aber du nicht. Eine Sie-Form kannte Fritz nicht.
Blumenfritz hatte einen merkwürdigen watschelnden Clownsgang, der ihn als das Original auswies. Ich weiß bis heute nicht, ob er sich dieses Watscheln nicht antrainiert hatte oder ob er eine vorhandene leichte Gehbehinderung nicht etwas stilisierte, um aus sich selbst so eine Art Kunstfigur zu machen. Der Anhänger seines Mopeds stellte immer eine Art Sensation auf Rädern dar. Manchmal fuhr eine Mischung aus Almhütte und Industriegebäude in Miniaturform herum, später zog er auch eine Miniaturausgabe des Spalentors, ein altes historisches Basler Stadttor, hinter sich her. Das Wägeli trug Verzierungen bis hin zu den raffiniertesten Illuminationen an sich. Alles wurde von einer versteckten Autobatterie betrieben, die auch eine Alarmanlage betätigte. In seinem Anhänger transportierte Fritz seine Rosen durch das Nachtleben von Basel. Immer trug er so eine Art Prinz-Heinrich-Mütze, die wie sein Jackett mit allerlei Abzeichen und Verzierungen besetzt war.
Verkehrsregeln kannte Fritz zu dieser Zeit nur ansatzweise. Wenn es seine abendliche Tour so vorschrieb, befuhr Fritz z.B. Einbahnstraßen fast grundsätzlich im Gegenverkehr. Kein Polizist Basels hätte je Hand an ihn bzw. an seinen Knöllchenblock gelegt. Manchmal konnte auch ein Polizeifrischling Bekanntschaft mit Fritzens nicht sehr gewählter Ausdrucksweise machen. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes so eine Art Idiotenfreiheit. Auch eine ganze Armee von Schutzengeln mussten wohl auch sehr oft Dienst für ihn tun.
1989 organisierte der Basler Sender Radio Basilisk ein größeres Stadtfest, um "Blueme-Fritz" einen mobileren Untersatz zu beschaffen: ein kleines Auto mit maximal 40 km/h. Obwohl Fritz weder lesen noch schreiben konnte, hat er die Fahrprüfung bestanden, allerdings mit dem ausdrücklichen Versprechen, künftig die Verkehrsregeln zu beachten. Das rote Tuckerli steuerte Fritz 8 Jahre unfallfrei durch Basels Straßen, bis die Kurbelwelle ihren Geist aufgab. Davon erfuhr FC-Basel-Präsident René C. Jäggi, und er sponserte zusammen mit den Spielern des FCB prompt ein neues Gefährt: diesmal in auffallendem Grün und natürlich wurde der Zweisitzer wieder mit allerlei Werbeklebern bestückt. In fortgeschrittenen Lebensjahren fing Fritz noch an zu zeichnen. Gegen Ende seines Lebens tat er dies fast wie ein Besessener. Manche Bekannten sagten: Fritz zeichnete seine Memoiren.
Diese Aussage trifft diese Lebensphase wohl sehr genau, da Fritz des Lesens kaum mächtig war. Der Stil seiner Bilder könnte man wohl als naive Kunst bezeichnen. Auch der Begriff „naiv“ könnte man in diesem Zusammenhang als treffend bezeichnen. Der Verkaufserlös seiner Bilder wurde meist dem Heim zugesprochen, in dem Fritz fast sein Leben lang wohnte.
Blumenfritz, eigentlich „Bluemefritz“ auf Baslerdütsch, wurde in der ganzen Schweiz berühmt. Die Schweizer Bundespost gab sogar einmal Briefmarken mit seinem Konterfei heraus. Blumenfritz lebt schon einige Jahre nicht mehr.
Gelegentlich denke ich an Fritz zurück in dem ich mir sage, dass er trotz seiner Behinderungen ein großer Unternehmer gewesen ist. Er machte aus sich eine Art Kunstfigur, die er Zeit seines Lebens konsequent darstellte. Niemals lag er dem Staat auch nur mit einem Franken zur Last.
Otti, unser Wirt
Unser Wirt Otto, meist „Otti“ genannt, stellte für uns so eine Art Vaterfigur dar. Obwohl er uns immer an der langen Leine führte, kannten wir meistens unsere Grenzen. In Streitfragen versuchte er oft zu vermitteln, und meist gelang ihm das auch. Otti bezeichnete sich auch als Vollmondspezialist, denn vom Einfluss dieses Planeten auf die Launen seiner Gäste verstand er etwas. Die Tage vor, während und nach dem monatlichen Vollmond strich Otti immer dick in seinem Kalender an. Diese Einträge signalisierten ihm, dass besondere Obacht auf einige wenn nicht sogar auf alle seine Gäste zu richten sei, denn er wusste genau, dass kontroverse Diskussionen leicht zu massivem Streit ausarten konnten. Die unterschwellige Aggressivität, denn der Alkohol und der Vollmond waren Kombinationen, denen mit geschickten Themenwechseln aus dem Weg gegangen werden musste. Notfalls setzte er Streithähne wie in der Schule auseinander. Aber nicht nur verstärkte Aggressivität, sondern auch Launen wie Trauer oder Trostlosigkeit wurden von Otti „behandelt“. Allerdings erkannte unser Psychotherapeut auch die Grenzen seiner Bemühungen. Dann sagte er auch mal zu den anderen Gästen: Lasst ihn einfach in Ruhe. Ottis diplomatisches Geschick schaffte es auch fast immer, diese Klippen zu umschiffen. Es kam ganz selten zu massivem Streit und praktisch nie zu Schlägereien. Ein Wirt muss auch immer Psychologe und oft auch Psychiater sein, sagte Otti gelegentlich. In diesen Kalenderphasen betrachtete er uns wahrscheinlich eher als seine Patienten als seine Gäste.
So weit ich mich erinnere, stammte Otti ursprünglich aus dem Schweizer Wallis. Er sprach deshalb einen etwas anderen Dialekt als die Basler. Diesen Dialekt versuchten wir oft zu imitieren, was uns große Freude bereitete, Otti aber immer wieder ärgerte. Otti verließ sein Lokal eigentlich nicht oft, wenn er es aber verließ, schaute er sich aber die Gäste gut an, die gerade in der Gaststube waren. So konnte es schon mal sein, dass er plötzlich zu mir oder zu einem andern guten Stammgast sagte: Du bist ja jetzt da, da kann ich ja mal gehen. Und schon war er weg. Natürlich war die Bedienung noch anwesend, aber man fühlte sich meist schon etwas hervorgehoben, ob der jähen Verantwortung für das Lokal. Man saß da und fühlte sich als einen Art Stellvertreter des Chefs. Allerdings war für den Stellvertreter der Abend gelaufen, denn es konnte schon ein paar Stunden dauern bis Otti wieder auf dem Teppich stand, um die Kneipe wohl behütet wieder zu übernehmen. Otto ging in dieser Zeit wichtige Dinge erledigen, oder er setzte sich auch hin und wieder mal in ein Straßenkaffee um auch mal andere, normale Menschen zu beobachten. Auch ein Kinobesuch könnte das eine oder andere mal Grund längeren Fortbleibens gewesen sein, denn er liebte Western und wir sahen es seinem Gang an, wenn John Wayne das Lokal betrat. Otti hatte auch eine Freundin, die auch gelegentlich im Betrieb der Köchin zur Hand ging.
Manchmal machte sich auch dann das Bedienfräulein, in der Schweiz „Serviertochter“ genannt, einen Spaß und verwies bei Nachfragen neuer, fremder Gäste nach dem Chef, auf eben jenen Stellvertreter, der dann vollkommen überrumpelt dasaß. Auch ankommende Telefonate wurden an den „Chef“ weitergeleitet. Das waren dann bedeutende Momente hervorgehobener gastronomischer Inkompetenz, die mit Ausflüchten und Gestotter überbrückt werden mussten. Solche Kompetenzübetragungen gingen aber fast immer gut, da sie ja ohnehin nicht oft vorkamen. Einmal aber, bestellte mein Freund Hanspeter in seiner Eigenschaft als Interimschef bei einem Biervertreter, der natürlich gerade dann auftauchte als der richtige Chef nicht anwesend war, eine neue Sorte Bier, das aber dann in der Folgezeit niemand trinken wollte. Nur Hanspeter trank in den folgenden Wochen das besagte Bier, „bevor es ranzig wurde“, wie er sagte. Hanpe war je der einzige Gast, der exklusiv sein eigenes Bier trank. Manchmal hatte er dann allerdings auch von seinem eigenen Bier einen eigenen, exklusiven Rausch.
Maria
Maria, unsere Köchin, war eine Spanierin, die auch leidlich schweizerdeutsch, jedenfalls das, was sie dafür hielt, sprach. Es gab täglich so eine Art Stammessen, das auch für mich Grundlage meiner Ernährung wurde, da sich meine Arbeitsstelle in unmittelbarer Nähe unserer Kneipe befand. Da man zu dieser Zeit von gesunder Ernährung noch nicht so richtig etwas anzufangen wusste, wurde eben gekocht, was schmeckte. Da sich eben diese Kost als recht anhänglich erwies, zeigte sich auch mancher Anhang auch an meiner Figur. Auf den Speiseplan hatten die Stammgäste großen Einfluss oder anders gesagt: Wir bestimmten, was in den nächsten Tagen auf dem Tisch zu stehen hatte. Eine Speisekarte im eigentlichen Sinn gab es bei uns nicht, aber das Tagesessen wurde auf eine schwarze Tafel geschrieben und ins Fenster gestellt. Da sich Maria der deutschen Schrift schon gar nicht mächtig zeigte, wurde oft einer der anwesenden Gäste beauftragt, die kulinarischen Großereignisse des Tages auf diese Tafel zu schreiben. Oft wurde dann der schnöden schriftlichen Form noch eine lustige Illustration oder ein erläuternder Spruch hinzugefügt. Manch ein fremder Gast fragte dann schon mal, warum das jetzt die besten Spaghetti der westlichen Hemisphäre sein sollen, oder warum das Gulasch draußen als ungarisch-schweizerisch-spanisch ausgeschrieben ist. Was genau ist ein „Wochenrückblick à la Maria“ wurde oft gefragt. Aus was dieser, sagen wir einmal Eintopf, jedoch genau bestand, konnten nur die Gäste beantworten, die in der letzten Woche das tägliche Essen einzeln genossen. Maria konnte man nicht als besonders begnadete Köchin bezeichnen, aber wir zeigten im Allgemeinen Zufriedenheit mit dem uns Dargebotenen. Die Zubereitung der spanischen Nationalspeise Paella gelang ihr aber oft sehr gut, und sie freute sich immer riesig, wenn diese Speise in größerer Zahl bestellt wurde. Das Essen wurde sehr preiswert angeboten, und das war für uns ebenfalls wichtig. Besonders die Mitarbeiter des nahen Bürgerspitales oder einige Studenten der nahen Universität schätzten diesen Vorteil sehr, besonders wenn am Ende des Geldes noch viel Monat übrig blieb.
Gelegentlich baten wir Otti, wenn wir genügend Interessenten beisammen hatten, uns abends ein Käsefondue zuzubereiten. Das konnte niemand so gut, wie er selbst zubereiten. Wir lobten das Gericht immer schon sehr im Voraus, damit sich der Koch richtig ins Zeug legte. Aus ausgesuchten Käsesorten und herrlichem Brot wurde uns ein Königsmahl zubereitet. Wenn wir dann zusammen am Tisch saßen und sich der Fondueduft im ganzen Lokal ausbreitete, war unsere Seligkeit komplett. Sicherlich tat der dazugehörige Wein und die schärferen flüssigen Zutaten ihr übriges. Die Schnapsrunden wurden dadurch forciert, in dem jeder eine Runde bezahlen musste, der sein Brot in der Fonduepfanne verloren hatte. Da kam einiges an Alkohol zusammen. Wir trösteten uns allerdings mit der Erkenntnis, dass der Schnaps dazu diente den flüssigen Käse in unseren Mägen nicht klumpen zu lassen. Oft hatten wir nach einem ausgedehnten Fondueabend zwar kräftig einen sitzen, aber wir hatten klumpenfreie Mägen.
Eines Abends bestellte eine Gruppe Amerikaner, nach dem sie uns eine Weile zugesehen hatten und wahrscheinlich auch vom Käseduft animiert wurden, ebenfalls „Fondue à la Otto“. Die genauen Essensrituale in unserem „Hause“ waren ihnen natürlich nicht geläufig. Weil ihnen das Aufspießen der Brotwürfel und das Herumrühren in der Käsepfanne damit, etwas aufwändig erschien, warfen sie das gesamte Brot in die Pfanne und aßen mit Gabeln daraus. Dieser Frevel war für Otti aber so unermesslich, dass er den Amis das Essen wegnahm und sie kurzerhand hinauswarf.
Hanpe
Hanspeter (Hanpe) arbeitete als Fahrer in einer Papiergroßhandlung. Eigentlich nicht nur nebenbei, betrieb er das Hobby der Kunstmalerei. Eigentlich war es Kunstkleberei. Er stellte sogenannte Kollagen her, die er meist aus dem Papier fertigte, das er sehr billig bei seiner Firma erwerben bzw. abzweigen konnte. Im Lauf der Jahre brachte er es mit diesem Handwerk zu einiger künstlerischen Fertigkeit. Gerne begleitete ich Hanspeter an Ausstellungen und Vernissagen in der ganzen Schweiz. Einmal durfte ich seinerstatt eine Eröffnungsrede halten, worüber mein Freund sehr glücklich war, denn Reden war nicht seine Sache. Und gerade wegen dieser Eigenschaft schätzte ich ihn sehr. Ich bewunderte immer mehr seine Fertigkeit aus großen und kleinen, bunten Papierschnipseln Bilder zu zaubern, die auch oft etwas aussagten. Das war eben seine Art sich zu artikulieren und er machte es gut und nachdrücklich. Manchmal fragte mich Hanpe, wie er ein Bild betiteln soll, das er gerade fertiggestellt hatte. Oft zeigte sich, dass seine Aussage ziemlich deckungsgleich mit meinen Titelvorschlägen verlief. Obwohl mein malender Freund kein Kunstkenner im eigentlichen Sinne war, lernte ich viele seiner Kunstmalerkollegen kennen, die mich in die Geschichte der Kunst, zumindest in die, die sie dafür hielten, einführten. Ich beschäftigte mich sehr gerne mit diesem Metier. So lernte ich die verschiedenen Malrichtungen von einander zu unterscheiden und auch deren Entstehungsgeschichte.
In meiner Schulzeit in Basel hatte ich auch Unterricht in Kunstgeschichte und gestalterische Kunst. Ich hatte dort einen hervorragenden Lehrer, dem ich heute noch für die Einführung in die Kunstgeschichte dankbar bin. An diese Schulkenntnisse konnte ich meine neuen Erfahrungen anknüpfen. Schon in der Schulzeit hatten es mir besonders die Impressionisten angetan. Vincent van Gogh war z.B. für mich der größte Maler aller Zeiten. Selbst hatte ich nie angefangen zu malen, da ich fest davon überzeugt war und heute noch bin, keinerlei Talent dazu zu haben. Wie gesagt, Hanspeter interessierte sich weniger für Kunstgeschichte und für Stilrichtungen. Er gestaltete einfach drauflos, und das war auch gut so. Gelegentlich brachte er auch das eine oder andere Bild zum Stammtisch mit, das er in diesen Tagen gemalt oder besser gesagt, geklebt hatte, um uns nach unserer höchstqualifizierten Meinung zu fragen. Das eine oder andere Kunstwerk wurde auch über unserem Stammtisch aufgehängt, weil es erst einmal „wirken sollte“, wie Hanspeter manchmal sagte.
Es konnte auch sein, dass das eine oder andere Werk wochenlang in der Gaststube hing, um es „wirken zu lassen“, wie er sagte. Einmal kam es auch vor, dass wir ein vor sich hin wirkendes Bild an einen interessierten Gast verkauften, nicht ohne dem Werk einen wahnwitzigen Titel zu geben. Leider brachte es auch mit sich, dass wir den Erlös des Bildes sofort in Bier und Wein umsetzten, noch bevor der große Künstler überhaupt seinen Segen zum Verkauf seines Werkes geben konnte. Auch über die Höhe des Preises konnte es nachträgliche Differenzen geben. Auch über die Gestaltung der Verkaufsprovision konnten wir uns dann nicht mehr einigen, zumal diese ja schon in Flüssiges umgesetzt war. Unser Wirt Otti war eine der Triebfedern dieses Verkaufs. Er betrachtete diese Aktion als eine Art Rache, antwortlich der „Bieraffäre“. Später sagte mir Hanspeter einmal, dass er nie im Leben daran gedacht hätte, dass wir gerade dieses Bild zu einem solch hohen Preis verkaufen konnten, denn das Werk sah er noch gar nicht als vollendet an. Trotz allem hatte Hanpe einen neuen Vertriebsweg entdeckt, der auch beratungstechnisch wegen der fast immer anwesenden, „hochqualifizierten Fachverkäufer“ seinesgleichen suchte. Leider stellte es immer ein Problem dar, die Verkaufserlöse in voller Höhe zum Erschaffer der Werke hinüber zu retten.
Alki-Peter
Der Name Peter Fischer ist für mich und für viele andere aus jener Zeit mit einem Wunder verbunden. Ich weiß, dass dieser Begriff oft überstrapaziert und auch oft falsch angewandt wird, aber mir ist niemals ein passenderes Wort zum Alki-Peter-Wunder, wie viele es nannten, eingefallen. Auch andere Stammtischbrüder reden noch heute von diesem für uns unglaublichen Phänomen. Doch ich möchte von vorne berichten.
Peter hatte zusammen mit einem Geschäftspartner einen Modelleisenbahnladen auch in der Nähe unserer Kneipe. Schon sein Großvater gründete in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts diesen Betrieb und war europaweit damit eines der ältesten Geschäfte in dieser Branche. Im Laufe der Jahre hatte es auch Peter genau wie sein Vater zu einer beachtlichen, fachlichen Kompetenz auf diesem Gebiet gebracht. Auch ein umfangreiches Nachschlagewerk, in dem er aber auch die Geschichte vieler einzelner Eisenbahnmodelle und deren Originale beschrieb, rief er ins Leben. Dieses Buch hatte in der gesamten Modelleisenbahnbranche schnell Kultcharakter. Es war so etwas wie ein Standardwerk, in dem überall nach interessantem Fachwissen nachgeschlagen werden konnte. Es gab nichts, was Peter in Sachen Modelleisenbahnen nicht wusste. Oft kam es vor, dass Modelleisenbahnliebhaber sogar zu uns ins Lokal kamen, um Peter um Rat zu fragen, denn sie wussten, wo er den größten Teil seiner Freizeit verbrachte. Unser Freund setzte sich dann mit diesen Leuten an einen anderen Tisch, um uns nicht stören zu müssen und auch damit wir nicht unqualifiziert hineinreden konnten. Manchmal standen die großen und kleinen Interessenten Schlange, um von Peter beraten zu werden. Diese Vorgänge betrachtete unser Wirt Otto natürlich mit großem Wohlwollen, denn es wurde beim Austausch modelltechnischer Informationen oft auch etwas, manchmal auch etwas mehr, getrunken.
Wir alle betrachteten Peter als eine Art Genie, allerdings hatte er leider auch einen richtig großen Makel. Peter war Alkoholiker. In unserem Lokal gab es einige, die dem Teufel Alkokohol mehr oder weniger zusprachen. Ich selbst möchte mich hier nicht ausschließen, aber niemand soff so exzessiv wie Peter. Im Laufe seiner „Beratungsstunden“ in unserer Kneipe oder auch bei Stammtisch-diskussionen konnte er sich regelrecht zuschütten, und weil er das konnte, machte er das auch. Auch erkannten wir, dass je später der Abend, desto unqualifizierter seine Beratungen wurden. Leider war es auch so, dass Peter im Vollrausch sein Wesen vollkommen veränderte. Aus dem geduldigen moderaten und hochgebildeten Menschen konnte später abends ein aggressiver bösartiger Kerl werden. Wir Stammgäste konnten mit diesem fast allabendlichen Ablauf umgehen, weil wir wussten, dass wir es immer mit zwei Peters zu tun hatten. Fremde hatten jedoch oft Probleme, mit diesen gespaltenen Situationen fertig zu werden. Sicherlich hatte sich Peter auf diese Art eine Menge Kundschaft vergrault. Unser Wirt Otto musste immer wieder einmal einschreiten und aus dem Ruder laufende Diskussionen jäh abbrechen und die „Beratungssitzung“ zwangsbeenden. In der Folge wurden „Sprechstunden“ durch Otto auf höchstens 21 Uhr limitiert. Auch Peter war wie Ernest oft ein sogenannter „Heimbringkandidat“, allerdings wie er manchmal nach Hause gekommen war, konnte er am nächsten Tag nicht mehr rekonstruieren. Bei dem dann sich selbst geouteten Heimbringer entschuldigte er sich dann tausendmal und spendete ihm ein Bier.
Niemand von unseren Stammtischbrüdern wusste für Peter einen Ausweg aus diesem viele Jahre anhaltenden Dilemma. Natürlich kann man ja auch eine Kneipe nicht unbedingt als ideale Basis für eine Alkoholentwöhnungskur bezeichnen. Peter machte in zwei folgenden Jahren jeweils eine Entwöhnungskur durch. Nach anfänglichem Erfolg mussten wir eigentlich alle seine Rückfälle hinnehmen. Obwohl einige von uns aus Solidarität zu Peter mindestens während seiner Anwesenheit im Lokal zum Mineralwasser griffen, fiel unser Kummer- vogel wieder in seinen alten Trott zurück. Als Peter sogar aus
seiner zweiten Kur wegen Hoffnungslosigkeit, oder so ähnlich, rausgeworfen wurde, gab er sich selbst und wir ihn auf. Ein älterer Gast in unserer Runde wusste auch zu berichten, dass Peters Vater schon sehr dem Alkohol zusprach und auch damit seine Ehe ruinierte. So gewann auch der Begriff „Erbfaktor“ für uns eine gewisse Bedeutung. Immer mehr wurde Peters Alkoholsucht zum Exzess. Sogar in unserer lockeren Kneipenszene wurde er zu einer Belastung. Doch eines Abends geschah ein echtes Wunder, über das wir alle lange Jahre rätselten.
Wir saßen etwa zu zehnt am Stammtisch. Auch Peter gab uns wieder die zweifelhafte Ehre, war aber schon sehr früh dabei, langsam wieder abzutreten. Sein stoisch werdender Blick verriet seinen Zustand. Auch Otti nahm Peter wieder unter besondere Beobachtung. Unser Wirt hatte Peter angedroht, ihm bei weiteren Scherereien Hausverbot zu erteilen. Wir saßen also in vertrauter Runde und diskutierten über Fußball, Frauen, Autos und neue Modelle, die auf den Markt kommen sollten, und andere wichtige Dinge. Plötzlich stand Peter, er
hatte den ganzen Abend fast noch nichts gesprochen, ohne ersichtlichen Grund im Zeitlupentempo von seinem Stuhl auf, stellte sich für alle sichtbar trotz erheblicher Schlagseite hin und verkündete folgendes: „Ab morgen werde ich keinen Tropfen Alkohol mehr trinken. Ich habe in meinem Leben genug gesoffen und jetzt reichts.“ Wir alle, außer Peter selbst, mussten kräftig lachen ob des theatralischen Kurzauftrittes, zumal wir gar nicht von ihm und seiner Sucht gesprochen hatten. Wegen unseres Lachens verließ Peter unter Protest das Lokal, allerdings nicht ohne noch ein paar deftige Titulierungen auf die Anwesenden loszuwerden und ward an diesem Abend von uns nicht mehr gesehen. Die Bewertung seiner eben gegebenen Verkündung fiel einhellig aus. Mit Kommentaren wie: nur heiße Luft, blödes Geschwätz, hoffnungsloser Fall usw. war das Thema abgehakt. Niemand hätte nur einen Pfifferling auf den Wahrheitsgehalt bzw. Durchführbarkeit dieser Aussage gewettet.
Am übernächsten Tag erschien Peter wie immer mit Anzug und Krawatte wieder am Stammtisch und setzte sich mit einem üblichen Tischpochen an unseren ovalen Tisch und des Wunders zweiter Akt begann. Niemand dachte mehr an den Kurzauftritt Peters vor zwei Tagen an selber Stelle. Die Bedienung stellte ihm ungefragt wie üblich ein Bier vor die Nase. Niemand beachtete diesen Vorgang mit besonderer Aufmerk-samkeit. Peter jedoch schaute dieses Getränk mit verächtlicher Mine an und fragte ob sie, die Bedienung, nicht mitgekriegt hätte, dass er keinen Alkohol mehr trinken würde und dass er ab jetzt nur noch Mineralwasser trinkt. Diese Worte schlugen im Rund wie eine Bombe ein. Wir sahen Peter an wie ein Gespenst. Es muss mucksmäuschenstill gewesen sein, denn an den Nebentischen reckten die anderen Gäste die Hälse und schauten zu uns herüber, ob der plötzlichen Stille. Manche von uns sind vor Schreck wahrscheinlich fast vom Stuhl gefallen, andere glaubten, sie hätten sich verhört. Peter bekam nach einigen Nachfragen von der Bedienung dann tatsächlich ein Glas Mineralwasser hingestellt, das er erst mal mit Genuss halb leer trank. Nachdem er das Glas wieder hinstellte, fragte er uns, warum wir ihn so bescheuert anklotzen würden und ob wir noch nie ein Mineralwasser gesehen hätten. Otto fand als erster wieder die Worte, nach dem er eine Weile darum rang. Mineralwasser hätte er schon oft gesehen aber selten an diesem Tisch und schon gar nicht in der Hand des Fragenden. Wir müssten uns eben ab jetzt an diesen Anblick gewöhnen, verlautete die weitere Verkündung. Wir fragten unseren Hauptakteur, ob er keine Angst hätte, Läuse in den Bauch zu bekommen. Die Läuse rülpse er immer aus, wovon er uns gleich eine Kostprobe gab. Obwohl uns das ganze Szenario schon sehr beeindruckte, ging die Aufführung noch wesentlich weiter. In den folgenden Tagen und Monaten trank Peter wirklich nur noch Mineralwasser. Das überaus erstaunliche war jedoch, dass Peter nicht mehr rückfällig wurde. Es störte ihn nicht, dass um ihn herum Bier, Wein und manchmal auch Schärferes getrunken wurde. Er zeigte keinerlei Ausfallerscheinungen oder je ein Verlangen nach diesem Teufelszeug. Peter betrachtete sich weiterhin als Alkoholiker, nur eben ohne Alkohol.
Wenn jemand Geburtstag hatte, war Alki-Peter dann auch noch durchaus in der Lage, mal ein oder zwei Glas Sekt mit uns zu trinken, um vielleicht auf das Wohl eines Geburtstagskindes, auf dessen Kosten natürlich, anzustoßen. Anschließend zeigte sich dann wieder monatelange Ebbe in Bezug auf Alkohol. Einmal bestellte sich Peter ein Glas Wein, wovon er die Hälfte stehen ließ. Nie hatte jemand den Eindruck, dass der Wundersame gegen irgend eine Versuchung kämpfen musste oder dass es im schwer fiel, dem Alkohol die rote Karte zu zeigen. Den allabendlichen Alkoholgenuss seiner Stammtischbrüder nahm unser Freund gelassen hin. Schmiss jemand eine Runde lehnte Peter der Standfeste, wie wir ihn auch gelegentlich nannten, dankend ab.
In unserer Runde verweilte auch oft ein Hals-, Nasen- und Ohrenarzt namens Freddy. Dr. Freddy, wie wir ihn nannten, wurde auch dieses Wunders gewahr. Er konnte aus medizinischer Sicht nur bestätigen, dass er so etwas niemals erwartet hätte und immer darauf gefasst war, dass wir Zeugen eines klassischen Rückfalles würden. Ich kannte Peter noch einige Jahre und habe niemals einen Ansatz zum Rückfall beobachten können. Als Peter einige Zeit später seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, stand immer nur Mineralwasser vor ihm auf dem Tisch. Schorle mochte er nicht.
Dr. Freddy
Dr. Freddy, seinen Nachnamen kannte fast niemand von uns, war ein lustiger Geselle. Er stammte aus der selben Gegend wie unser Wirt Otti. Wenn sie sich miteinander unterhielten, verstanden auch die anderen Schweizer am Stammtisch fast nur Bahnhof. Ich glaube, dass sie sich wohl manchmal auf romanisch, eine der vier schweizer Landessprachen, miteinander verständigten. Freddy arbeitete im nahen Bürgerspital Basel als Arzt. Eigentlich war seine Assistentenzeit längst abgelaufen, aber es gefiel ihm sehr gut in Basel, weswegen er auch blieb und eine Assistenzarztstelle begleitete. Sicherlich war auch die Anziehungskraft unseres Stammtisches mitschuld, dass Freddy nicht von Basel weg wollte. Wir stellten seine Familie dar, die er auch nicht verlassen wollte. Gelegentlich dachte er auch an die Gründung einer eigenen Praxis, dann aber schätzte er das Vorhandensein von einigermaßen festen Arbeits- und Freizeiten höher ein. Freddy erzählte uns immer die schärfsten Arzt- und sonstigen Krankenhauswitze. Er hatte einen sehr trockenen Humor, der uns manchmal vor Lachen fast von den Stühlen fallen ließ. Wagte einer der Stammtischfreunde zu husten oder hatte eine heißere Stimme, so konnte es schon sein, dass eine „Kneipenordination“ angesetzt wurde. Mit einer Taschenlampe, die unser Stammtischdoktor immer bei sich hatte, und einem Kaffeelöffel wurden dann Rötungen im Hals oder sonstige schlimme Seuchen aufgespürt.
Oft wurde dann Bettruhe verpasst, Rauchverbot ausgesprochen, oder man bekam ein Medikament auf einem Bierdeckel verordnet. Auch gab es in unserer Kneipe einen Appenzeller Kräuterlikör, der zur Freude unseres Wirtes von Dr. Freddy als wahres Wundermittel angepriesen wurde und immer öfters „verordnet“ wurde. Freddy prägte in diesem Zusammenhang den Ausspruch loszulassen „Ein Mittel gegen Herzschweiß und Fußklopfen“. Böse Zungen behaupteten, dass auch gemeine „Provisionsabsprachen und Korruption“ zwischen ihm und unserem Wirt im Spiel gewesen sein soll. Ich selbst fand diesen Appenzeller ein schreckliches Gesöff und hatte manchmal lieber Husten, als auf diesem Weg „medizinisch“ versorgt zu werden. Andere Gäste wurden allerdings gelegentlich überdosiert, dass sie schon alleine vom Alkoholgenuss beseelt, vergaßen zu husten. Auch unser Freund Freddy neigte diesem Ges... Getränk manchmal sehr zu. Auch im Selbstversuch wurde uns immer wieder demonstriert, dass dieses Wundermittel auch in Kombination mit anderen Destillaten sehr gute Wirkung entfaltete. Dass Freddy je hustete oder erkältet war, kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.
Vernünftige Unternehmungen
Natürlich war unsere Stammkneipe auch die Basis für vernünftige Unternehmungen. Oft trafen wir uns dort, um z.B. ins Kino oder ins Theater zu gehen. Zu meiner Zeit waren in den Kinos Western sehr in Mode. John Wayne, Robert Mitchum, Henry Ford, James Stewart und andere avancierten zu unseren Lieblingen. Auch nachher trafen wir uns wieder um die Filme zu besprechen, sie zu loben, oder festzustellen, was wir gerade für einen Mist gesehen hatten. Manchmal wurden sogar Theater-, Kabarett-, oder Revuebesuche gemeinsam gestartet. Auch Kurz- oder längere Urlaube wurden vorfreudig am Stammtisch behandelt und dann gemeinsam durchgeführt. Über Ostern fuhr ich mit drei oder vier Freunden ein paar Mal nach Holland, um ein wenig einen drauf zu machen. Amsterdam war schon immer eine sehr liberale Stadt, was unserem Freiheitsbedürfnis auch sehr entgegenkam. Ein Hütchenspieler sorgte auch einmal dafür, dass wir wegen anschließendem Geldmangels auch mal ein paar Nächte auf einem Bretterkahn schlafen durften. Ein schwacher Trost war uns allerdings, dass dieser Hütchenspieler für unser Geld wahrscheinlich in einem schönen Bett und Hotel übernachten konnte.
Ich erinnere mich auch sehr gerne an einen gemeinsamen Urlaub auf der holländischen Insel Texel. In der dortigen Überwinterungsscheune des Zirkus Sarassani fanden im Sommer immer große Rockkonzerte statt, die wir allesamt besuchten. In der großen Halle traten fast immer vier Bands auf. In jeder Ecke befand sich eine Bühne. Wenn eine Band Schluss machte, begann fast nahtlos in einer anderen Ecke die nächste Band zu spielen. So kam es vor, dass wir Tage und Nächte in diesem Sarassani-Beatclub oder am unmittelbar benachbarten Nordseestrand, wo man auch noch die Musik hören konnte, zubrachten. Sehr freuten wir uns auch, dass immer sehr viele Holländerinnen hauptsächlich aus Amsterdam oder Rotterdam ihren Weg nach Texel und auch zu uns fanden. Ärger gab es gelegentlich mit den holländischen jungen Männern, die immer einen gewissen Besitzanspruch, nach dem Motto „Wer unsere Weiber …....., bestimmen immer noch wir“, auf die jungen Mädchen geltend machen wollten.
Glenda
Die Damenwelt in unserer Kneipe war etwas schwach ausgeprägt. Natürlich meine ich die schwache Anzahl der Damen, nicht deren Niveau. Diejenigen, die aber immer wieder nach uns schauten und uns vor Verwahrlosung und Degenerierung retteten, wurden von uns besonders lieb betreut und mit Vorzug behandelt. Natürlich entstanden Liebschaften aus denen sogar Ehen hervorgingen. Im Laufe der Jahre kann ich mich an drei Hochzeiten erinnern, auf denen ich eingeladen war. Auch ich lernte in dieser Zeit ein nettes Mädchen kennen. Während eines gemütlichen Abends kamen wir auf die Idee, unseren Urlaub miteinander zu verbringen. Ohne viel zu überlegen sagte sie mir auch sofort zu. Ihre relativ schnelle Zusage brachte mir zuerst einmal einen gehörigen Schreck bei. Natürlich konnte ich auf keinen Fall einen Rückzieher machen und sie tat es auch nicht. Als Urlaubsort wählten wir Rhodos aus. Beiden war diese griechische Insel Neuland. Auf Rhodos war es sehr heiß und wir lagen oft am Strand. Wir machten Ausflüge und Besichtigungen, denn die Geschichte dieser Insel, nicht nur der Koloss von Rhodos, interessierte mich sehr. Die schöne mittelalterliche Altstadt von Rhodos fanden wir wunderbar. Mit einem Fischerboot setzten wir einmal in die Türkei über. Auf der Rückfahrt kamen Wind und Wellen auf, denen kaum ein Magen gewachsen war. Von dieser Überfahrt sprachen wir noch lange. Zwischen mir und meiner Reisebegleiterin Glenda, wie sie hieß, wurde nie eine feste Bindung, aber wir kannten uns noch lange und verkehrten sehr freundschaftlich miteinander. Sie ist eigentlich die Einzige aus jener Zeit, zu der ich noch heute Kontakt habe.
Giovanni
Sicherlich ist sie jedem Menschen mehr oder weniger bekannt: Die schlechte Stimmung. Auch in unserer Kneipe gab es manchmal Tage, die man vergessen möchte. Unser Wirt Otti machte für solche Stimmungen ja immer den Vollmond oder das Wetter und manchmal auch beides verantwortlich. Solche Tage sind auch für Gaststätten kein Gewinn, denn es läuft einfach nichts richtig. Die Gespräche am Stammtisch lahmen und man ging einem regelrecht auf die Nerven. Ich erinnere mich an einen regnerischen Herbsttag in den Siebzigerjahren als Giovanni zum ersten Mal auftauchte. Giovanni, so um die dreißig, mit schwarzem Lockenhaar, konnte seine mediterrane Herkunft nicht verleumden. Er stammte aus der Nähe von Lugano im Tessin. Giovanni betrachteten wir als Spezialist zur Aufhellung katastrophaler Stimmungslagen. Dies tat er aber nicht mit einem Griff in schlüpfrige nicht jugendfreie Witzkisten, sondern er spielte mit uns. Giovanni stellte ein wandelndes Spielealbum dar. Kaum ein Brettspiel oder kaum ein Frage-und-Antwort-Spiel fehlte in seinem Repertoire.
In diesen Tagen entnahm ich einem Fachblatt für Geschäftsideen, dass in Großstädten Spielkneipen entstehen, in denen allerlei Spiele stattfinden. Schach, Mühle, Monopoly und sogar Mensch-ärgere-dich-nicht werden dort zelebriert. Heute denke ich, dass Giovanni seiner Zeit vierzig Jahre voraus war.
Manchmal kamen wir Stammtischbrüder uns zwar vor, wie im Kindergarten, aber das änderte sich spätestens als Giovanni die Auto-Vorbeifahr-Lotterie kreierte. Wir erlebten die Geburt einer kleinen Sensation. Doch dazu muss ich etwas ausholen.
Unser Lokal befand sich an einer belebten Straße, auf der ständig Autos in beiden Richtungen vorbeifuhren. Durch ein großes Fenster von der Decke bis zum Boden unseres Lokales, konnten wir sehr gut hinaus sehen. Wir alle und vor allem Giovanni kamen eines Tages auf die Idee, dieses Hin und Her des Straßenverkehrs „sinnvoll“ zu nutzen und in ein Spielsystem zu integrieren. Unser neues Wettspiel hob nun darauf ab, auf Vorbeifahrabläufe zu wetten. Nach vielen Versuchen entstand eine Art Dreierwette. Jeder Mitspieler zeichnete seine Einlaufwette auf einen Bierdeckel. Also z.B. rechts, links, rechts, wurden mit entsprechenden Richtungspfeilen aufgezeichnet. Der Spielleiter rief dann laut „ab jetzt“. Nun starrten alle Spieler wie gebannt hinaus auf die Straße, um den nächsten Dreiereinlauf zu beobachten. Wenn nun die nächsten drei vorbeifahrenden Autos in der Folge von rechts, links, rechts vorbei fuhren, stand ein Gewinner fest. Es galten nur Autos, keine Motorräder, Fahrräder, Straßen-bahnen oder Busse. Jemand zeichnete auch genau gegenüber unseres großen Fensters einen gut sichtbaren gelben Strich auf den Bordsteinrand, um den genauen Schnittpunkt festzulegen. Bald entstand ein reger Wettbetrieb. Es gab Leute, die den ganzen Abend eine Bank spielten, das heißt sie spielten immer auf den gleichen Einlauf. Andere wechselten ständig. Profis unter uns analysierten den Straßenverkehr und stellten fest, dass gewisse Firmen um fünf Uhr Feierabend machten und dass um diese Zeit viel mehr Autos aus dieser Richtung kamen. Also wurde öfters z.B. „rechts, rechts, rechts“ gesetzt. Der Spielleiter, das war meistens unser Freund Giovanni, hielt die Bank und zahlte die Gewinne aus. Das alles ging so lange gut, bis eines Abends die Kripo bei uns aufkreuzte. Zwei Beamte in Zivil, die uns eine ganze Weile zusahen, gaben sich plötzlich zu erkennen und sprachen von unerlaubtem Glückspiel. Sie kassierten erst einmal das sich im Spiel befindliche Geld und nahmen die Personalien von allen beteiligten Spielern auf. Auch unser Wirt Otti bekam einen strengen Verweis, weil er dieses Glückspiel duldete. Die Kripoleute ließen insgesamt noch einmal mit dem Hinweis Gnade walten, dass wir in Zukunft dieses Spiel nur noch mit Spielgeld Jetons wie in einer Spielbank oder mit Spielgeld spielen dürften.
Unser Spielmodell machte sich in der ganzen Stadt breit. In vielen Kneipen wurde Rechts-Links-Rechts gespielt. Allerdings lernten alle von uns und stürzten sich gleich auf Jetons und Chips. In den Spielwarengeschäften von Basel wurden diese Plastikmarken vorübergehend knapp. Zunächst benachteiligt waren die Lokale, die an einer Einbahnstraße lagen. Naturgemäß findet dort kein Rechts-Links-Verkehr statt. Die schlauen Köpfe in diesen Gaststätten wandelten die Spielregeln etwas um, in dem auf die Endnummern der Autokennzeichen gesetzt wurde. Jedenfalls wurde auch hier der Autoverkehr als ein Art Roulettemedium genutzt. Dieses Spiel wurde deshalb auch Autoroulette genannt.
Heinz, das Zeitungsmonster
Berge von Zeitungen und dahinter aufsteigender Rauch kennzeichneten immer die Anwesenheit unseres Freundes Heinz. Heinz war eigentlich Frührentner, der sich im Alter von fünfzig Jahren zur Ruhe setzte. Frührente hieß für Heinz aber nicht, dass er ab diesem Zeitpunkt nichts mehr tat, sondern es war ein Aufbruch zu einer Idee, die man getrost als Geschäftsidee besonderer Art bezeichnen könnte. Die Grundlage zu dieser Idee bildete eben Zeitungen, Zeitungen, Zeitungen. Heinz wohnte in der Nähe des Basler Hauptbahnhofes. Manchmal, mehrmals täglich, führte ihn auch der Weg dorthin. Wohlweißlich nicht um mit dem Zug weg zu fahren, sondern um Zeitungen zu organisieren. Diese Zeitungen kaufte er nicht, wie man vielleicht annehmen könnte im Bahnhofskiosk, sondern er fischte sie aus Papierkörben in den Bahnhofshallen, allerdings nicht ohne eine gewisse Vielfalt der Zeitungsausgaben zu beachten. So kamen deutschsprachige Zeitungen in großer Auswahl zur Bearbeitung. Heinz betätigte sich nun als Pressebeobachter besonderer Art. Zu diesem Zweck schnitt er Zeitungsberichte zu gewissen Themen aus, von denen er überzeugt war, dass sie seine Kunden interessierten. Heinz profitierte nämlich von der Oberflächlichkeit der Menschen, zumindest beim Zeitungslesen. Wenn er nun seinen Zeitungsberg durchackerte, führte er sich immer einen Gedanken vor Augen: Was interessiert meine Kunden. Er schaffte sich nun eine Übersicht von Zeitungsberichten, die für seine Klienten interessant sein könnten, aber von diesen mit großer Wahrscheinlichkeit wegen Zeitmangel oder auch aus Oberflächlichkeit bei ihrer normalen Zeitungslektüre übersehen hatten. Leider ist mir nie ganz klar geworden, wie Heinz nun seinen „Vertriebsweg“ gestaltete. Sicherlich führte er viele Telefongespräche, bei denen er seine Informationen seinen Kunden jeweils direkt anbot. Auch versandte er ein Informationsblatt mit dem Titel: „Schlagzeilenexpress“. Dies war sozusagen ein Katalog für interessante Zeitungsberichte der letzten Wochen.
Auch für uns Stammgäste stellte unser Freund Heinz immer eine sehr gute Informationsquelle dar. Wenn man irgend etwas wissen wollte, das so in der letzten Zeit passiert war, fragte man erst einmal Heinz. Heinz lebt auch schon lange nicht mehr, aber Google hätte ihn sowieso umgebracht. An seiner Beerdigung wurden auch ein paar Zeitungen ins Grab gelegt.
Organo-Toni
Unter uns ging immer der Spruch um: „Toni hat alles, Toni organisiert alles“. Allerdings war jedermann gut beraten, nicht viel über die Herkunft der bei Toni erstandenen Waren nachzudenken. Auch Toni empfahl uns dringend, in diesem Zusammenhang nichts zu fragen und nichts zu wissen. Einmal hatte ich fast nur beiläufig erwähnt, dass ich ganz gerne einen kleinen transportablen Fernseher hätte, den ich beim Camping von der Autobatterie aus in Betrieb nehmen konnte. Einige Tage später forderte mich Toni auf, mit ihm hinaus zu seinem Auto zu kommen. Toni öffnete draußen den Kofferraumdeckel seines Autos und siehe da, was da lag, ähnelte sehr stark einem kleinen tragbaren Fernsehgerät, das ich mir schon lange wünschte. Toni sagte auch kurz und knapp: „Dein Fernseher“. Als ich zurück-fragte, wo er dieses Gerät herhätte, entgegnete er mir: Das willst du nicht wirklich wissen. Der Preis war jedenfalls dermaßen niedrig, dass mir eigentlich nichts anderes übrig blieb, als zum Kauf zu schreiten. Heute weiß ich, dass dieses Gerät von Toni „organisiert“ wurde. Das Gerät selbst hatte ich noch jahrzehntelang. Sogar ein Tauchgang im Luganer See hatte es schadlos nach ein paar Stunden Sonnenbad überstanden. In unserem jugendlichen Leichtsinn gaben wir Toni so manchen Auftrag. Selten musste Toni passen. Einige Zeit später war unser Chefbeschaffer von der Bildfläche verschwunden, und wir erfuhren auch, dass gesiebte Luft geatmet werden musste. Wir Stammgäste hatten immer ein mulmiges Gefühl in der Magengrube wenn wir von Organo-Toni sprachen oder auch nur an ihn dachten. Meines Wissens wurde nie einer von Tonis „Kunden“ behelligt. Weder in unserer Kneipe noch bei sonst jemanden in unserem Dunstkreis, tauchte je die Polizei auf. Nie hat jemand eines der „erworbenen“ Waren wieder abdrücken müssen. Wir waren uns eigentlich sicher, dass Toni für uns einige Monate mehr abgesessen haben musste. Toni hatte unseres Wissens niemals selbst geklaut, sondern er hatte nur sehr gute Beziehungen zu Hehlern, die er eben auf Wunsch seiner eigenen Kunden konsultierte. So haben wir es jedenfalls angenommen und dabei haben wir es immer belassen.
Casanova....
….so hieß unsere Kneipe. Der Name war alleine schon ein Witz, denn das Haus hatte schon mehrere hundert Jahre auf dem Buckel und stand unter Denkmalschutz. Es befand sich am Ende einer ebenfalls altbaulichen Gebäudereihe in einem Altstadtquartier in Sichtweite des berühmten Spalentors und lag nach einer Seite an der hinteren Einfahrt der Basler Berufsfeuerwehr.
Auch Giacomo Casanova konnte diesem Haus nicht Pate gestanden haben, denn übermäßiges, exzessives Liebestreiben konnte seinen Gästen auch nicht gerade zugeschrieben werden. Natürlich ließen wir nichts anbrennen, aber von Giacomo hätten wir wahrscheinlich noch einiges lernen können.
Nicht so unser Freund Markus. Ihn kannte ich am längsten von allen, mit denen ich in dieser Zeit verkehrte. Wir waren schon miteinander zur Schule gegangen, und schon dort rannten ihm die Mädchen aus unserer und auch aus anderen Klassen scharenweise hinterher. Warum dies so war, konnte ich auch bis heute nicht so richtig ergründen. Markus bzw. seine Eltern hatten nicht besonders viel Vermögen. Besondere Klugheit oder auch nur Cleverness suchte man in seiner Person ebenfalls vergebens. Irgend etwas musste wohl an ihm gelegen haben, was die Damenwelt ansprach. Vielleicht war es ein gewisser Charme, den wir Männer eher als schmalzig bezeichnet haben, und schlecht ausgesehen hat er wohl auch nicht, aber die Mädchen flogen auf so etwas. Natürlich gibt es noch andere Merkmale an einer männlichen Person, auf die die Frauen vielleicht achten, die ich aber hier nicht genauer beleuchten möchte, ohne die Jugendfreiheit meiner Erzählungen zu gefährden. Wir Kerle waren schon etwas neidisch auf ihn, doch die ganz hoffnungslos unbeweibten unter uns suchten trotzdem oft seine Gesellschaft, da sie darauf bauten, dass vielleicht schon „etwas“ für sie abfallen würde.
Auch Jahre später während und nach unserer Berufsausbildung hatte sich die Situation um Mäcky, wie ihn fast alle nannten, nicht entspannt. Seinen Charme ließ er immer noch spielen, und die Damenwelt ereiferte sich immer noch um ihn. Zwangsweise durften wir auch einige der auserwählten Herzensdamen kennen lernen. Auch ein gehörnter Ehemann tauchte einmal auf, um Mäcky die Leviten zu lesen. Glücklicherweise hatten wir den Gehörnten schon früh herannahen sehen und so konnten wir es einrichten, dass die Zielperson kurzzeitig in der Küche unserer Kneipe Asyl nehmen konnte. Natürlich drückten wir dem Ehemann unser Bedauern aus, dass der Gesuchte nicht in der Gaststube anwesend war und auch an diesem Tag von uns noch nicht gesehen wurde. Ich weiß nicht ob der Betrogene uns wirklich glaubte, aber er musste jedenfalls unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen. Zum Glück blieb der Ehemann wartend nicht noch auf ein oder zwei Bier, sonst hätte Markus noch längere Zeit Küchen-dienst leisten müssen denn Maria, unser Küchenmädchen, hatte ihm gleich ein Handtuch in die Hand gedrückt, dass er auch einmal etwas Sinnvolles tat und wenigstens Gläser abtrocknete.
Dicke Luft herrschte auch ein anders Mal, als sich zwei Mädchen im Beisein mehrerer Stammgäste regelrecht in die Haare gerieten. Beißen und Kratzen war angesagt. Dieses Schauspiel wurde von uns nicht zuletzt auch mit einem gewissen Amüsement beobachtet. Bewundert hatten wir auch das nicht mehr jugendfreie, aber sehr deftige Vokabular, das uns von den beiden Damen dargeboten wurde. Einmal erschien auch eine Mutter eines etwas unglücklichen Mädchens, um für ihre Tochter eine, wie sie sagte, unsägliche Liebe zu beenden. Wochen später erfuhren wir, dass sich nun die Mutter in Mäcky verknallt hatte und diese von der Tochter mit einem Regenschirm fast erschlagen wurde. Ein anderes Mal brachte unser Casanova eine seiner Tusneldas, das Wort Tussi gab es damals noch nicht, zu einer in der Nähe unserer Kneipe befindlichen Straßenbahnhaltestelle. Während die eine Dame vorne in die Trambahn einstig, entstieg die andere am anderen Ende derselben. So hatte Markus mindestens einen Weg gespart. Wir nannten diesen Vorgang „rationales Liebesleben“. Natürlich mussten wir den Damen gegenüber, auch um uns selber Ärger zu ersparen, immer dicht halten und das taten wir natürlich auch.
Die Feuerwehr und der Hautmann von Köpenick
Das Casanova lag, wie ich schon an anderer Stelle beschrieb, Wand an Wand zu den Gebäuden der Basler Berufsfeuerwehr. Die Eingangstüre unseres Restaurants befand sich unmittelbar neben der hinteren Einfahrt zur Feuerwache. Unser Wirt Otti hatte schon früh die Vorteile einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit dieser Behörde erkannt. Er ließ auf seine eigenen Kosten eine elektrische Leitung von der Alarmzentrale der Feuerwehr in sein Lokal legen, die dann mit einer Glocke über der Theke verbunden wurde. So konnten sich diejenigen Feuerwehrleute, die gerade Freischicht hatten, natürlich unter Entsagung alkoholischer Getränke, im Casanova aufhalten, um in Notfällen durch schrilles Glockengeläut alarmiert zu werden. Die Freischichtler waren die Leute, die erst in der dritten Alarmstufe alarmiert wurden. Dies war der Fall, wenn wirklich irgendwo ein großer Brand oder eine Katastrophe ausbrach. Eigentlich kam ein solcher Großalarm unter der Mitwirkung der Freischichtler selten vor, da die Berufsfeuerwehr in Basel personell gut ausgestattet war.
Eines Tages jedoch schrillte die Glocke. Unsere Feuerwehrler, die sich gerade im Raum befanden, ließen alles stehen und liegen und schossen aus dem Lokal. Die Rückkehrer berichteten uns dann einige Stunden später, dass nicht ein Großbrand oder etwas ähnliches der Grund dieses Alarmes gewesen sei, sondern, dass der Kommandant der Berufsfeuerwehr Düsseldorf überraschend und unverhofft bei ihnen zu Gast gewesen sei. Sozusagen zu seinen Ehren musste deshalb alles, was Füße hatte, zum Rapport antreten. Tage später, nach einem äußerst vorsichtigen Telefongespräch mit der Düsseldorfer Feuerwehr war es gewiss: Die Basler erlagen einem Hauptmann von Köpenick.
Der vermeintliche Gastkommandant hatte eine Schau abgezogen, die ihresgleichen suchte. Mit vollem Ornat, in einer Phantasieuniform hatte er den ganzen Haufen antanzen lassen. Dem Gast wurde das ganze Lösch- und Katastrophenprogramm der Basler Feuerwehr vorgeführt. Alle schmissen sich mächtig ins Zeug. Die Oberen der Wehr wollten sich nicht lumpen lassen. Der Fremde mit der tollen Uniform zeigte sich auch sehr beeindruckt von dem ihm Dargebotenen. Bei dem anschließenden kurzen, schnell improvisierten Kaffee und Kuchen, zu dem dann auch der Chef des zuständigen Basler Dezernats, also ein sehr hohes Tier, herbeieilte, bedankte sich der fremde Feuerwehrmann sehr höflich und überschwänglich mit einer geschliffenen Rede. Nicht ohne die Basler ebenfalls auf einen Besuch in Düsseldorf einzuladen, zog er von dannen.
Es wurde in der Folge viel für eine Schadensbegrenzung getan, aber die Verbreitung dieser Meldung konnte nicht aufgehalten werden und schlug wie eine Bombe ein. Angeblich fielen schon während der genannten Veranstaltung den anwesenden Oberen der Basler Feuerwehr einige Ungereimtheiten in Gestalt laienhafter Fragen zu Ausrüstung und Diensten an ihrem Düsseldorfer „Kollegen“ auf, doch machten sie gute Miene zum bösen Spiel. Als die Presse davon erfuhr öffneten sich alle Schleusen. Das Thema wurde natürlich auch auf der weltberühmten Basler Fasnacht ausgeschlachtet und viel belacht, und auch wir lachten intensiv über unsere Feuerwehrfreunde. Noch Monate später hänselten wir sie mit Sprüchen wie: Ich soll dir von deinem Kommandant ausrichten, dass du sofort rüber kommen sollst, weil ein Feuerwehrkommandant aus Düsseldorf bei euch auf der Matte steht. Jeder kann sich vorstellen, dass man sich mit solchen Sprüchen keine besonderen Freunde bei der spritzenden Zunft machte. Die tapferen Mannen erlitten in den folgenden Wochen und Monaten alles mit bewundernswert großer Geduld. Sie begannen es selbst mit Humor zu nehmen, und das zeigte sich als einzig richtige Taktik.
Cabrio Max
Es gibt Geschichten, die sind so wahnwitzig, die können nicht erfunden werden, denn nur das Leben kann sie so schreiben.Wenn ich es nicht selbst miterlebt und gesehen hätte, würde ich an ein erfundenes Märchen glauben. Doch diese Geschichte ging in der Folge sogar durch die Weltpresse.
In unserer Kneipe verkehrte jahrelang ein anfänglich etwa zweiundzwanzig jähriger Typ, den alle Cabrio-Max nannten. Max fuhr, wie sein Übername schon verraten lässt, ein älteres aber sehr gepflegtes Capriomodell, mit dem er hauptsächlich im Sommer, wenn er nicht gerade daran herumpolierte, mit offenem Verdeck in der Gegend herum fuhr. Max war sonst dumm wie Bohnenstroh, und besonders gut ausgesehen hat er auch nicht. Da an unserem Stammtisch niemand einen Intelligenz- oder Schönheitstest bestehen musste, fand er auch bei uns Unterschlupf und durfte, soweit es ihm möglich war, mit diskutieren. Vor allem mit Autos kannte er sich gut aus, und er konnte manchem sogar einen Rat über dieses Metier geben.
Mit seinem tollen Wagen schleppte Max so manches Mädchen ab, und wir anderen Kerle am Stammtisch erlagen so manchen Neidattacken. Wir blieben natürlich immer cool und hatten natürlich bei Bedarf die geeigneten Sprüche drauf, denn wir waren ja die besser aussehenden und gescheiteren Kerle. Während wir gut aussahen und uns vor Schönheit fast nicht aus dem Haus trauten, machte Max mit ständig wechselnder Besetzung eine Spritztour nach der anderen. Natürlich erkannten wir auch die Doppeldeutigkeit dieses Wortes in diesem Zusammenhang.
Eines regnerischen Tages im Sommer tauchte in unserer Runde ein junges, sehr hübsches Mädchen auf, welches auch ohne Umschweife nach dem draußen vor dem Haus stehenden Cabrio fragte. Max horchte auf und informierte die junge Dame über den Besitz dieses Wagens. Sicherlich hat er zunächst geglaubt, dass seinem besten Stück irgend welches Unheil zugestoßen war oder dass er vielleicht falsch geparkt hätte. Max setzte sich zu der Fragerin an ihren Tisch und kam mit ihr ins Gespräch. Eine weitere Verfolgung der Unterhaltung war uns wegen der etwas weiteren Entfernung des Tisches nicht mehr möglich. Draußen begann die Sonne zu scheinen, und Max machte sich mit seiner neuen Flamme auf, mit seinem Cabrio eine Ausfahrt zu unternehmen und sahen ihn an diesem und an den folgenden Tagen nicht mehr. Wahrscheinlich hatten wir angenommen, wenn wir uns überhaupt Gedanken über diese Sache machten, dass aus einem kleinen Abstecher in die Umgebung eine doch etwas mittelfristigere Verbindung wurde.
Irgendwann ein paar Tage später tauchte eines Abends Sandro auf. Sandro, ein etwas nervöser und kurz angebundener Typ, kannten wir nur sehr oberflächlich. Bekannt war uns allerdings, dass er zusammen mit seinem Vater ein kleines Baugeschäft bzw. eine Betontransport- firma betrieb. Irgendwann fragte er, ob jemand seine Freundin Anita in den letzten Tagen gesehen hätte. Keiner von uns kannte eine Anita, und das sagten wir Sandro auch. Hätte er uns allerdings seine Anita genauer beschrieben, wäre uns sicherlich ein Licht aufge- gangen. Noch stutziger hätten wir werden können, wenn er uns verraten hätte, dass eben diese Anita ihn seit einigen Tagen ohne besondere Begründung verlassen hatte. Tage darauf tauchte auch Max, dieses mal aber gleich mit dem hübschen Mädchen, das er vor einigen Tagen abgeschleppt hatte, wieder auf. Als Max seine neue Herzensdame mehrmals „Anita“ nannte ging uns ein Licht auf. Als wir Max zusteckten, dass Sandro vor einigen Tagen nach einer Anita fragte, wurde er kreidebleich. Unter einigem Gestottere legte er uns ans Herz, dass dieser Sandro auf keinem Fall von uns erfahren dürfe, dass er mit Anita gehe, sonst gebe es eine Katastrophe. Noch bevor das junge Paar etwas bestellt hatte, verließ es auch schon das Lokal fluchtartig. Vielleicht hatten beide Angst von Sandro Prügel zu beziehen, Anita hatte wohl schon eine diesbezügliche Warnung, auch über seinen erhöhten Eifersuchtspegel ausgesprochen. Doch es kam etwas anders.
In jenen Tagen muss es wohl gewesen sein. Sandro fuhr mit seinem Betonmischer gerade durch die Straßen der Stadt, als er unverhofft an einem parkenden, offenen Caprio vorbei fuhr. Durch eigene Recherchen hatte er einige Tage zuvor herausgefunden, dass seine wohl vergangene Liebste jetzt mit einem Capriofahrer herumzog. Sandro parkte sein Betonungetüm ein paar Meter weiter auf der Seite und stieg aus, um den Wagen genauer unter die Lupe zu nehmen. Als er beim Hineinschauen in das schnelle Gefährt auch noch den hübschen Regenschirm entdeckte, den er ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte, müssen ihm sämtliche Sicherungen durchgebrannt sein. Wie in Trance setzte er seinen Mischer neben den Porsche zurück, legte die Ausflussrinne herunter und füllte den Wagen bis zum Stehkragen mit Beton. Gerade die Kopfstützen sahen noch heraus. Mit einer Schaufel kratzte er noch das daneben gegangene Material vom Boden auf und schippte es in den Cabrio. Anschließend wurde dem Betoninhalt mit der Schaufel ein Glattstrich verpasst und noch etwas verdichtet. Als ob dies der normalste Vorgang der Welt gewesen wäre, stieg der Betonwerker auf seinen Lastwagen und fuhr seines Weges.
Aus dem in der Nähe liegenden Straßenafé eilten Leute herbei um sich das Betonbauwerk näher anzusehen. Nach dem der Menschenauflauf einen sehr großen Umfang angenommen hatte, erschien dann auch eine Polizeistreife, die wohl alarmiert worden war. Ein großes Palaver entstand und niemand konnte die Situation irgendwie einordnen. Als erstes sprach die Polizei von grobem Unfug und suchte unter den Anwesenden Zeugen des Vorfalls. Einige Gäste des schon genannten Straßencafés konnten den kuriosen Ablauf schildern. Einer hatte sich sogar das Kennzeichen des LKWs gemerkt und konnte sachdienliche Hinweise geben. Natürlich wurde der Halter des Betonwagens sehr schnell ausfindig gemacht. Sandro gab alles unumwunden zu.
Unser Freund Max war, als er von den Betonarbeiten an seinem Wagen erfuhr, dem Wahnsinn nahe. Als er das Kunstwerk zum ersten Mal zu Gesicht bekam brach er in Tränen aus. Natürlich bekam er den Schaden vom Vater Sandros sofort und großzügig ersetzt und konnte sich einige Zeit später einen neuen Wagen kaufen. Wohlweislich hatte Max bei diesem Neukauf vom Erwerb eines Cabrios abgesehen, aber ein schicker Wagen hat es wieder sein müssen. Max kam noch sehr selten in unsere Kneipe und irgendwann später überhaupt nicht mehr. Er vermutete ohnehin, dass ihn einer aus unserer Runde hinsichtlich seiner Person und seinem Wagen bei Sandro verraten hatte. Auch ich selbst würde tatsächlich keinerlei Garantie für meine Kumpels abgeben, denn genau kennt man fast niemanden und schon gar nicht an einem Stammtisch, wo viele Menschen kommen und gehen. Ob die Liebschaft mit Anita durch diesen Vorfall fürs Leben betoniert wurde, man beachte die Doppeldeutigkeit dieses Begriffes, habe ich nie erfahren.
Dieses Ereignis wurde natürlich auch von der Presse ausgeschlachtet und auch über große Presseagenturen vertrieben, denn diesee Geschichte las sich natürlich sehr gut und amüsant. Manch ein tatsächlicher oder auch nur angeblicher Augenzeuge, hauptsächlich aus dem Straßencafé tat sich in unterschiedlichen Schilderungen gütlich. Es konnte auch nicht erklärt werden, warum niemand
noch rechtzeitig dem Betonausguss Einhalt geboten hatte. Auch die in einigen Blättern beschriebene Versöhnung der beiden Streithähne war ein reines Märchen. Max hätte den Frevel an seinem zweiten Ich, wie er es einmal beschrieb, nie jemandem verziehen.
In der ersten Zeit existierte kein Foto vom Betonporsche. Niemand hatte es für nötig befunden, das Unikat im Bilde festzuhalten. Digitalkameras gab es damals noch nicht, sonst wären wahrscheinlich eine Galerie von Fotos gemacht worden. Als einige Wochen später doch ein Foto in einer Zeitung auftauchte, stellte sich dies eindeutig als Fälschung heraus.
Stern-Dani.....
…..nannten wir ihn eigentlich nur in seiner Abwesenheit, obwohl er wohl nichts dagegen gehabt hätte. Dani entstammte einer alten jüdischen Familie, die in der Stadt ein Café unterhielt. Ich selbst mochte ihn wegen seiner Offenheit und Ehrlichkeit sehr. Da ich nie erlebt hatte, dass irgend ein Gast Dani je wegen seinen Religionszugehörigkeit auch nur blöd angesprochen hätte, fühlte er sich bei uns sehr wohl, zumal er auch nicht besonders religiös war. Obwohl es in seiner Familie nicht üblich war Alkohol zu trinken, tat er das bei uns mäßig aber regelmäßig. Kaffee könne er in seinem eigenen Lokal viel billiger trinken, sagte er oft. Dani trug einen kleinen goldenen Judenstern um den Hals, weswegen wir ihn auch Stern-Dani nannten. Er steuerte dem Stammtisch oft phantastische Judenwitze bei, über die er auch selbst kräftig lachen konnte. Da sich in unserem Viertel auch eine Synagoge befand und wir hin und wieder von deren Glaubensangehörigen Besuch bekamen, hatten wir alle eine sehr liberale Einstellung zu diesen Leuten. Die Witze, die uns unsere jüdischen Gäste über ihre Religionsangehörigen erzählten, würden in Deutschland schnell einmal den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, und zwar gegen das jüdische Volk.
Dani und auch ein paar andere Jugendliche, die wir kannten, absolvierten auch ein freiwilliges Kibbuzjahr. Sie verschwanden nach dem Abschluss ihrer Berufsausbildung nach Israel. Als Dani wieder zurückkehrte, hatte er natürlich darüber sehr viel zu erzählen. Die Erzählungen halfen uns, verschiedene Zusammenhänge im Nahen Osten zu verstehen. Vor allem imponierte uns der freie Umgang der dortigen Mädchen und Jungs miteinander sehr.
Dani hatte im Kibbuz eine junge hübsche Polin kennen gelernt. Sie waren wohl nachhaltig ineinander verknallt, und beim Abschied nach einem Jahr flossen viele Tränen in Israel. Sie verabredeten sich auf ein Wiedersehen in Basel. Leider brach in Israel kurz darauf ein Krieg aus, der die Wiedersehensfreude erst ein mal auf Eis legte. Der Staat Israel machte mobil und darunter fielen auch die Bevölkerung der Kibbuze, denn diese stellten wichtige Versorgungsi- nseln für die kämpfende Truppe dar. Die Polin durfte drei Monate nicht ausreisen, während Dani schon ein paar Tage vor Ausbruch des Krieges in die Schweiz zurückkehrte. Wir fieberten alle mit Dani, denn wir wollten ja auch die Polin sehen, von der uns der Verliebte wahre Wunderdinge erzählte. Als wir nicht mehr daran glaubten war es soweit. Nachdem das Mädchen erst nach Polen zurückkehren musste, überwies unser Freund ihr erst einmal das Fahrgeld, mit dem sie dann mit dem Zug von Warschau nach Basel fahren konnte. Und dies tat sie dann auch.
Dani holte sie vom Bahnhof ab und stellte sie uns dann einige Tage später vor. Manchen von uns stockte fast der Atem. Dani hatte nicht übertrieben, sie war ein verteufelt hübsches Mädchen. Mir viel das Lied vom Polenmädchen ein und am liebsten hätte ich es auch gleich gesungen. Minga, es war wohl ihr Übername, bereicherte unseren Kreis sehr, aber sie brachte auch ein wenig Unruhe in unseren Club, woran sie selbst nicht ganz unschuldig war. Sie flirtete mit fast jedem. Mit ihren schwarzen Kulleraugen schaffte sie eine merkwürdige Verständigung, die so mit ihrer Sprache nicht möglich gewesen wäre. In dieser Zeit besuchten wir alle zusammen ein Motocrossrennen im Umland unserer Heimatstadt Basel. Minga und Dani begleiteten uns ebenfalls. Beim Rennen trat auch eine polnische Mannschaft auf, die auch recht erfolgreich war. Wir und Dani hörten sie zum ersten mal richtig polnisch sprechen. Auch mit den Motocrosslern kokettierte Minga. Dani wurde langsam bewusst, was für ein Wespennest er sich mit diesem Weib eingefangen hatte.
Minga sprach sonst eine Mischsprache zwischen polnisch, englisch und jiddisch, die sich sehr drollig anhören konnte. Als sie dann noch ein paar Worte Schwizerdütsch einfügte hatte sie so manchen kommunikativen Vogel abgeschossen. Wir lachten manchmal sehr und sie auch. Ein paar Wochen später fuhr die Herzallerliebste wieder nach Warschau zurück und wir vermissten sie alle ein wenig. Nach etwa drei Monaten fuhr Dani zu einem Gegenbesuch nach Warschau und kehrte leider um einiges ernüchtert von dort wieder zurück. Wir hatten nur erfahren, dass Mingas Familie eine starke Abneigung gegen Dani entwickelte und Minga selbst nicht die Kraft hatte, sich von der Meinung ihrer Familie zu lösen. Jahre später heiratete Dani eine
Schweizerin, mit der er auch sehr glücklich wurde. Von Minga hatten wir nie mehr etwas gehört.
Ebi, ich selbst.....
...habe mich zum Schluss aufgehoben. Mein Übername Ebi ist eine Abkürzung von meinem Vorname Eberhard. Ihn habe ich, so weit ich mich erinnern kann, am Stammtisch erhalten. Irgend jemandem wurde mein eigentlicher Vorname zu lange und dann war es eben mal soweit. Auf die Findung eines solchen Namens hat man ja bekanntlich wenig Einfluss. Obwohl alle meine Vorfahren Deutsche sind, wurde mein Leben stark von Schweizer Einflüssen geprägt. Da ich schon in Basel zur Schule ging, zog es mich im späteren Verlauf meines Lebens immer wieder dort hin. Mein Elternhaus stand in Weil am Rhein. Von dort aus radelte ich als Kind schon in zehn Minuten in die benachbarte Schweiz und in einer Viertelstunde ins nicht viel weitere Elsass. Die Grenze zur Schweiz habe ich schon als Schüler mit dem Fahrrad einige tausend mal überquert. Dieser Umstand bringt es eben mit sich, dass die Einflüsse auf mein und natürlich auch meine Mitmenschen sehr Multinational geprägt waren. Meine Schule in einem Basler Altstadtquartier kann als noch viel multinationaler bezeichnet werden. In einer Klasse wurden oft fünf verschiedene Sprachen gesprochen und mindestens drei auch ernsthaft gelehrt. So habe ich das Glück mich heute in vier Sprachen, na sagen wir mal, verständigen zu können.
Mein Heimatort Weil am Rhein liegt im Dreiländereck Frankreich-Schweiz-Deutschland. Auch nach meiner Schul- und Berufsausbildung zog es mich noch jahrelang zu meinen Freunden in unserer Stammkneipe. Obwohl dort die Umgangssprache Schwizerdütsch war, ein Dialekt den man fast als eine eigene Sprache bezeichnen kann, wurde auch sonst oft französisch oder italienisch gesprochen. Meine Arbeitsstelle, die nur wenige hundert Meter entfernt war, begleitete ich noch viele Jahre lang, bevor ich dann eine weiterbildende Schule in Freiburg im Breisgau besuchte. Seit über dreißig Jahren lebe ich nun in Karlsruhe.
Unser Wirt Otti, der langsam ins Rentenalter kam, verkaufte das Haus samt Kneipe. Leider hat sich unser Stammtisch in alle Winde zerstreut und es ist vielleicht ganz gut so, denn die Originale, die ich beschrieb, sollen auch Originale bleiben.
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2009
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