Ich und Ich
Ich fuhr herum und hielt mit der ausgestreckten Hand die Äste aus meinem Gesicht. Feuchtes Laub. Frisches Grün. Da war es wieder, das helle Blitzen, strahlende Reinheit. Hinter dem Geflecht aus Blättern leuchtete das weiße Fell, die silbrige Mähne, das elfenbeinfarbene Horn.
Ich duckte mich hastig durch das Dickicht, verlor die Spur und weinte verzweifelt. Doch dann sah ich in Hufabdrücken sich öffnende Lotusblumen und wandelte auf diesen wie im Traum.
Tanzend spiegelte sich der Wald in einem See. Ich betrachtete mein eigenes Spiegelbild aus dunklen Augen. Weiße Nase, wehendes Haar, ein langes, gewundenes Horn.
Wiehernd lachend stieb ich davon.
Ich und Du
Draußen lacht mein Sohn und mein Mund beginnt ein Lächeln, das sofort in Erschrecken aufgeht. Und verschwindet. Die Erinnerung an all die Kinder, die er lachend geschlagen hat, wäscht die Freude aus mir heraus und hinterlässt mich kalt. Warum mein Sohn? Was mache ich falsch?
Mit klammen Händen wende ich mich dem Fenster zu und zwinge meine Augen, ihn zu suchen. Ich will es nicht sehen. Ich will es nicht wieder spüren. Das Versagen.
Da. Er wirft lachend mit seinen Freunden Schneebälle auf den Schuppen.
Harmlos? Tatsächlich harmlos? Tatsächlich.
Wie wäre dieser Augenblick, wäre er frei vom Ballast der Vergangenheit?
Ich und die anderen
Als ich mit dem Staubsauger gegen den Nachttisch stieß, zeigte der herunterfallende Wecker 10:03. Ich sah aus dem Fenster und ließ den Staubsauger fallen. Es war dunkel. Wie im Winter lang vor Sonnenaufgang, dabei war es ein Vormittag im April. Dunkel! Ich starrte in die Dunkelheit und tat den ganzen Tag nichts anderes, als den Menschen zuzusehen, der Panik und Verzweiflung.
Am nächsten Vormittag schien draußen die Sonne. Wieder sah ich aus dem Fenster, sah die Menschen, lachende Umarmungen, Glückwünsche zur wiederbelebten Hoffnung. Sie feierten diesen Tag als etwas Besonderes.
Doch am Tag darauf verhielten sich alle wieder wie zuvor.
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2010
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