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Leseprobe

EIN GROUPIE ZUM VERLIEBEN

HEARTBREAKING ROCKSTARS 1

ALLIE KINSLEY

1

NASH

Es ist der große Abend vor unserer neuen Tour. Die vorherige ist bereits über ein Jahr her, dennoch fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Alles ist genau wie letztes Jahr und doch ein bisschen anders.

Zumindest für mich. Der Rest der Band scheint wie immer Spaß zu haben. Sie scherzen und lachen und feiern. Freuen sich auf den Tourbeginn und auf alles, was die Tour wie jedes Jahr mit sich bringen wird. Ich habe gemischte Gefühle, wenn ich an die bevorstehenden Konzerte denke. Was letztes Jahr geschehen ist, hat sich tief in meine Seele gegraben, und ich werde diese Erinnerungen wohl auch nie wieder loswerden. Ich versuche mir nicht allzu viel anmerken zu lassen, was nicht schwer ist, da ich schon immer eher der nachdenkliche und grüblerische Typ bin.

Heute sitze ich auf einem der tiefen schwarzen Ledersofas und beobachte die Crew und die Band dabei, wie sie sich auf die kommenden Monate einstimmen. Ich sehe das breite zufriedene Lachen unseres Managers Timothy. Seine hellbraunen, sonst so sortierten Haare stehen kreuz und quer von seinem Kopf ab, so oft ist er sich an diesem Abend schon mit den Fingern hindurchgefahren. Neben ihm sitzen Cloe und Matt, seine Assistenten – oder unsere Assistenten, auf jeden Fall sind sie unsere Mädchen oder Jungs für alles. Sie werden die kleinen und großen Probleme auf der Tour lösen, wie sie es immer tun, und dafür sorgen, dass der Erdnussvorrat meines Bandkollegen West nicht zur Neige geht.

Er sitzt mir gegenüber auf einem anderen Sofa und schält wie immer Erdnüsse, deren Schalen überall herumliegen. Die meiste Zeit kann ich darüber milde hinweglächeln, aber je enger wir auf einer Tour aufeinandersitzen, desto mehr stört es mich, und ich weiß, dass ich spätestens in zwei Monaten mit ihm deswegen aneinandergeraten werde, weil ich in jedem Winkel beschissene Erdnussschalen finde, sogar in meinen Klamotten.

Ansonsten liebe ich diesen Kerl und seine Pranks, die er der ganzen Gruppe immer wieder zufügt. Sie lockern unseren Touralltag ein wenig auf und sorgen dafür, dass es Abwechslung und Spaß gibt. Ebenso wie Timothy kenne ich West schon seit meiner Schulzeit. Wir haben zusammen eine Klasse besucht.

Seine langen blonden Haare entsprechen voll und ganz dem Aussehen, das ich einem Rockstar zuschreiben würde. Ich selbst passe wohl am wenigsten in dieses Klischeebild. Ich trage keinen Bart, wenn, dann nur einen Dreitagebart, weil ich zu faul bin mich zu rasieren. Meine Haare sind meist eher kurz geschoren, zumindest an den Seiten, auch wenn ich versuche, den Oberkopf ein bisschen länger wachsen zu lassen. Sie sind dunkelbraun, genauso wie meine Augen, und im Vergleich zu Wests auffälligem Aussehen vielleicht sogar ein bisschen langweilig. Von der Haarlänge kommt wohl Sam Newman, unser Keyboarder, noch am ehesten an meinen Stil heran, obwohl seine Haare und sein Bart etwas länger sind als bei mir. Sam ist mit neunundzwanzig zwei Jahre älter als der Rest von uns.

Er kam später in unsere Klasse, weil er sitzen geblieben ist, und ich bin froh darum, denn er war damals das fehlende Mitglied für unsere Band. Er ist Keyboarder aus Leidenschaft, doch im Gegensatz zu West hat er keine fast schon liebesbeziehungsartige Verbindung zu seinem Instrument. West liebt seine E-Gitarre Erica und wird nicht müde zu beschreiben, dass sie aussieht wie ein wunderschöner Frauenkörper. Dieser Freak.

Dabei ist er gar nicht der Clown in unserer Gruppe. Diese Position bekleidet eindeutig unser Drummer Noah. Er hat keinen Vollbart, aber pflegt immer diese komische Mischung aus Kinnkante und Oberlippenbart zu seiner langen lockigen Mähne. Er sieht, bis auf seinen Kleidungsstil, aus wie der typische Rockstar. Wenn mich jemand nach dem Urtyp-Rocker fragen würde, würde ich ihm wohl ein Bild von Noah zeigen.

Diese drei Jungs und ich, das sind wir, die Heartbreaker. Ich kenne die drei schon mein halbes Leben lang und bereue keine einzige Minute, die wir miteinander verbracht haben.

Ich bereue ganz andere Dinge. Dinge, über die ich nicht einmal nachdenken möchte. Also greife ich zu meinem Whiskeyglas und nehme noch einen tiefen Schluck daraus. Die Flüssigkeit brennt in meiner Speiseröhre, wird warm in meinem Bauch, und dieses Gefühl ist etwas, was mich seit Monaten ablenkt. Monate, die ich damit verbracht habe, die Erinnerungen in Alkohol zu ertränken und in Songtexten zu verarbeiten. Texte, die wir wohl nicht spielen werden. Dafür sind sie zu melancholisch … zu traurig.

Doch seit letztem Jahr ist alles ein wenig anders geworden, und das ist auch der Grund, warum ich mich nicht wirklich auf diese Tour freuen kann. Aber ich kann mich darauf freuen, tolle Monate mit meinen Freunden zu verbringen, mit der Musik, die ich liebe und die schon immer mein Herz erreicht hat.

Schon zu unseren Schulzeiten haben wir vier in einer Garage geprobt und Songs aufgenommen. Wir haben gelegentliche Gigs in befreundeten Kneipen gespielt und später dann winzige Touren organisiert. Dafür hat Noah sogar sein Studium hingeschmissen, aber es war das, was wir immer wollten.

Es hat sich schließlich auch gelohnt, denn auf einem unserer Gigs tauchte ein Talentscout auf, der uns diesen Deal bei der Plattenfirma besorgt hat, und es ist fast schon unglaublich, doch seit diesem einen Gig hat sich unser ganzes Leben verändert. Wir sind Rockstars, das, was wir uns immer erträumt haben.

Wir verkaufen hunderttausende Tracks und CDs. Unsere Musik wird gestreamt auf allen Kanälen. Wir leben unseren Traum und gehen jedes Jahr auf Tour. Dieses Mal, um unser aktuelles Album Never Mind zu promoten. Es wird eine riesige Tour durch ganz Nordamerika, unzählige Gigs auf richtig großen Bühnen, und wir können das tun, was wir uns seit jeher erträumt haben. Ich kann noch immer kaum fassen, dass wir mittlerweile in dreißig Städten spielen und zu jedem einzelnen dieser Konzerte siebzig- bis hunderttausend Zuschauer kommen werden. Wir werden durch fünfzehn Bundesstaaten reisen und unfassbar viele Fans mit unserer Musik glücklich machen. Wir starten im September und werden ganze vier Monate auf Tour sein.

Hätte mir das jemand vor all den Jahren gesagt, hätte ich ihn wohl für geisteskrank erklärt. Ich meine, wer waren wir schon?

Vier Männer, vier Schulfreunde aus Cashville in Iowa aus einem verdammten Sechzehntausend-Einwohner-Dorf. Wir waren eine Garagenband, die kleine Gigs für lau machte, und innerhalb der letzten fünf Jahre haben wir nicht nur einen verdammten Plattenvertrag bekommen, der allein schon der große Traum jedes Musikers ist, sondern sind zu einer wirklichen Rockgröße aufgestiegen. Wir sind auf Tour, schon wieder. Spielen Track für Track in den Städten Amerikas. Wir haben alles, was wir uns jemals erträumt haben.

Alles und doch nichts.

Zumindest ich, denn alles, was ich mit diesem Traum verbunden habe, verlor ich in diesem letzten, verhängnisvollen Jahr. Alles, was ich wollte, habe ich mir genommen und dabei mehr verloren, als ich mir jemals hätte vorstellen können.

Ein weiterer Schluck aus meinem Whiskeyglas, ein weiterer Zug von meiner Zigarette. Alles fühlt sich taub an, und das Grölen und die Stimmen meiner Freunde sind zu einem Hintergrundrauschen verschwommen. Ich sehe sie lachen, ich sehe sie feiern, ich sehe in all diese vertrauten Gesichter, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne, und ich fühle nichts, denn das in mir ist mit Chelsea an diesem verdammten Baum gestorben.

Um den Gedanken loszuwerden, stehe ich auf und strecke mich. Meine Freunde halten in ihren Gesprächen inne und mustern mich. Ich sehe die Sorge in ihren Gesichtern, ich sehe, dass sie wissen, dass es mir nicht gutgeht, und ihre Verzweiflung, weil sie nichts daran ändern können. Aber ich kann ihnen nicht helfen. Ich kann ja nicht einmal mir selbst helfen.

»Ich haue mich aufs Ohr, es wird ein langer Tag«, sage ich und winke in die Runde.

Mein Whiskeyglas fülle ich noch einmal bis zum Rand auf und nehme es mit. Es ist mir egal, was die anderen denken. Das hat schon lange aufgehört. Früher habe ich versucht, heimlich zu trinken und meinen Kummer vor ihnen zu verbergen. Aber es hat sowieso nichts geholfen. Jetzt mache ich mein Glas voll bis zum Rand, nicht mal anstandshalber nur dieses Schlückchen, das man normalerweise in Whiskeygläser füllt.

Und dann gehe ich aus dem Raum. Es tut mir leid, dass ich ihnen die Stimmung verdorben habe, und ich bin mir sicher, dass sie sich gleich über mich unterhalten werden und darüber, dass es mir nicht gutgeht und wie sie mir helfen können. Aber ich kann es nicht ändern, sie können es nicht ändern, niemand kann die Toten zurückholen.

Niemals.

* * *

JOY

Die Musik dröhnt laut aus meinen Airpods, und ich springe aufgeregt vor meinem Spiegel auf und ab, tanze im Rhythmus der Musik und kann nicht fassen, wie gut dieses neue Album der Heartbreaker ist.

Never Mind ist das wohl beste Album dieser Band. Ich liebe jeden einzelnen Song darauf, nicht nur von diesem Album, von allen, um ehrlich zu sein. Ich liebe diese Band, und ich liebe vor allem ihren Leadsänger Nash.

Er ist wohl mein wahr gewordener feuchter Traum, seit ich denken kann. Es ist nicht nur sein perfektes Aussehen, die breiten Schultern, die fast schwarzen Augen, sondern vor allem sein nachdenklicher Gesichtsausdruck und die Songs, die er schreibt, und wie er sie singt. Man spürt, dass es direkt aus seinem Herzen kommt, mit jeder einzelnen Zeile berührt er mich. Seine rauchige Stimme geht mir durch Mark und Bein.

So lange habe ich auf diese Tour hingefiebert, und ich kann nicht fassen, dass es schon bald so weit sein wird. Ich habe Tickets gekauft für sechs Konzerte in vier Städten. Das werden die besten vier Wochen meines Lebens, so viel ist klar. Ich muss noch die eine oder andere meiner Freundinnen dazu überreden, mich zu begleiten, denn ganz allein auf ein Konzert gehen ist dann doch nicht so nice. Aber notfalls würde ich auch allein fahren. Ich habe mein Studium so organisiert, dass ich die Inhalte nachlernen kann. Die Unterlagen bekomme ich von einer Kommilitonin.

Beim ersten Konzert werde ich schon einen Tag früher anreisen, um dann die ganze Nacht über anzustehen und einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Ich möchte so nah wie möglich an Nash sein und ihn in live sehen, wie schon die letzten Jahre. Wenn er mich nur ein einziges Mal bemerken würde, dann, bin ich mir sicher, würde er erkennen, dass wir beide perfekt zusammenpassen. Vielleicht ist es ein bisschen eingebildet zu glauben, dass ein bekannter Rockstar etwas mit mir anfangen würde, aber ich bin jetzt nicht gerade das kleine hässliche Entlein. Ich bin einen Meter fünfundsiebzig groß und habe lange schwarze Haare, die mir in Beachwellen über die Schultern fallen.

Mein ganzes Leben lang habe ich gesagt bekommen, wie perfekt meine hellblau strahlenden Augen sind, und auch meine zierliche Nase und die vollen Lippen entsprechen wohl ziemlich dem Schönheitsideal in diesem Zeitalter. Ich habe eine schmale Taille, und meinen Brüsten habe ich, dank eines kleinen Erbes, ein bisschen nachhelfen können. Offiziell zugeben würde ich das nicht, denn heutzutage ist jeder natürlich schön, und niemand hat irgendetwas machen lassen. Never.

Und doch sehen alle aus wie gemalt, sind aus Plastik und haben kleine Narben an auffälligen Stellen, aber ich sage nichts dazu. So ist es eben.

Meine Apple Watch vibriert, und ich weiß, dass es der langersehnte Anruf meiner Freundin Sarah ist. Also drücke ich auf Annehmen, und sofort höre ich ihre quietschige fröhliche Stimme in meinen Airpods.

»Hey Süße, da bist du ja.«

»Hey Babe«, flöte ich zurück. »Und? Wie schauts aus, kannst du auch auf das zweite Konzert mitgehen?«, platze ich sofort heraus, denn ich kann es kaum erwarten, endlich ihre Antwort zu bekommen.

»Du bist unmöglich. Wie zum Teufel kann man sechsmal auf das gleiche Konzert gehen?«

Ich lache auf. »Du weißt genau, wie man das kann, mit ein bisschen Kohle und genügend Urlaub.«

Sie schnaubt. »Ja, wie kann man das nervlich, Süße?«

Wieder lache ich.

»Indem man auf seinen absoluten Traummann hofft«, gebe ich zurück und grinse vor mich hin.

Das Grinsen steht mir, muss ich im Spiegel feststellen, und verdrehe gleich darauf über mich selbst die Augen. Ich denke seit Tagen, besser gesagt seit Wochen nur noch darüber nach, was Nash an mir gefallen könnte und was nicht und wie ich es schaffe, ihn für mich zu begeistern.

»Er ist doch auch nur ein Mann wie hundert andere.«

»Er ist nicht wie hundert andere. Er ist DER Mann, der Übermann, er ist absolut fucking perfekt. Hast du ihn dir mal angeschaut?«

Sarah lacht. »Nicht zu genau, denn um ehrlich zu sein, habe ich Angst, dass du mir die Augen auskratzt.«

»Berechtigt«, kontere ich und grinse. »Also, wie schaut es aus? Kommst du mit zum zweiten Konzert?«

»Ach, na gut, aber nur weil ja jemand auf dich aufpassen muss. Nicht dass du dir vor all den Menschen noch das T-Shirt vom Leib reißt und dem guten Kerl deine Brüste präsentierst.«

»Die waren teuer genug, die Welt soll sie sehen«, antworte ich, und wir lachen beide.

Wir scherzen noch eine Weile miteinander, und während wir über Gott und die Welt lästern, probiere ich ein Outfit nach dem anderen an. Es muss perfekt sein, jedes Mal. Also, sechs perfekte Outfits zu finden, wird nicht gerade leicht sein. Aber ich darf meine Chance nicht vertun. Wahrscheinlich wird sein Blick nur ein einziges Mal über mich schweifen, und dann muss einfach alles perfekt sitzen.

»Könntest du ein Schild mit Neonpfeilen tragen?«, frage ich einem Gedankengang folgend und grinse vor mich hin.

»Bist du verrückt geworden?«

Ich zucke mit den Schultern, auch wenn sie es nicht sehen kann. »Dann würde ich ihm auf jeden Fall auffallen. Denkst du nicht?«

»Ja, als die Bekloppte mit der Freundin mit dem bescheuerten Neonschild«, antwortet Sarah, und ich höre, dass auch sie grinst.

Ich liebe sie dafür, dass sie jeden Spaß mitmacht, dass ich mit ihr die abwegigsten Hirngespinste durchspielen kann und sie mich niemals für verrückt erklärt. Nicht einmal wegen meines Plans, Nash zu erobern. Und um ehrlich zu sein, ist er wirklich ein bisschen verrückt, denn welcher große Rockstar, der jedes Wochenende von hunderten Frauen umgeben ist, sollte sich ausgerechnet mit mir einlassen und dann noch auf mehr als nur eine Nacht? Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen, wenn ich überhaupt diese eine von ihm bekomme, und das würde ich auch, aber mein großer Traum ist eine Beziehung mit dem Leadsänger der Heartbreaker. Und das wünsche ich mir bereits seit vier verdammten Jahren.

2

NASH

Tourauftakt. Wir sind in Chicago angekommen und werden heute unser erstes Konzert spielen. So Gott will, denn wir haben noch nicht einmal die Probe hinter uns bringen können, da die Kabel für unsere Mikrofone verschwunden sind. Die Tour scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Zumindest im Moment. Aber ich bin ein Stück weit froh darüber, denn so habe ich noch ein bisschen Zeit, um mit dem Chaos in meinem Kopf klarzukommen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass das, was während der letzten Tour passiert ist, mich so schnell wieder einholen würde.

Ich hätte nie gedacht, dass es mich so belasten würde, dass so etwas überhaupt möglich war. Natürlich hört man immer wieder von Groupies, die keine Grenzen kennen und völlig fanatisch ihren Idolen nacheifern, aber dass mir so etwas passiert? Nein, absolut unglaublich. Und doch ist es so. Da war dieses eine Mädchen, das nicht lockergelassen hat, das auf jedem Konzert erschienen ist, das in jedem Backstagebereich war, bei jeder Party, an jedem Ausgang, an jedem Hotel. Dieses eine Mädchen, das so hartnäckig war, bis ich, zugegebenermaßen in betrunkenem Zustand, sie mit auf mein Hotelzimmer genommen habe.

Mein Fehler, ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es BESSER wissen müssen, als ihr nachzugeben und Sex mit einer Frau zu haben, die mich überhaupt nicht reizte.

Ja, Chelsea war nett, sie war hübsch und irgendwie cute und das alles, aber es war nicht genug. Sie hat mich nie wirklich gereizt, sie hat mich nie aus der Reserve gelockt oder auch nur annähernd tiefer interessiert. Sie war eine von Hunderttausenden, die dort unten in der Menge stand. Schön mit ihren schwarzen Haaren und den blauen Augen. Durchschnittsschön würde ich sagen. Aber eben nie mehr. Und ich hätte auf meinen Bauch hören sollen, der bei ihrem Anblick schon von Weitem eine Warnung geschrien hat. Ich hätte auf die Alarmglocken in meinem Kopf hören sollen, die mehr als deutlich gemacht haben, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte.

Eine Nacht in meinem Bett und sie war noch anhänglicher als zuvor. Es hatte fast schon etwas von Stalken, aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich es nicht erkennen, denn es fühlte sich gut an, jederzeit auf eine Frau zurückgreifen zu können, ohne mich mit dem typischen Groupie-Krimskrams rumschlagen zu müssen.

Sie war diskret und immer verfügbar. Die Jungs mochten sie, ich weiß noch nicht mal, warum. Und dann, als ich schlussendlich die Reißleine gezogen habe, war es viel zu spät, und dieses viel zu spät … und den Anfang … oder noch besser, dieses ganze Theater bereue ich noch heute. Ich bereue es zutiefst, dass eine junge Frau meinetwegen nicht mehr lebt.

Wahrscheinlich wird mich das mein ganzes Leben lang verfolgen, und ich werde jede verdammte Nacht schweißgebadet aufwachen mit dem Bild in meinem Kopf, von dem letzten Moment, in dem wir uns gesehen haben. Ihre großen blauen Augen, die voller Tränen waren, und der vorwurfsvolle anklagende Blick, der mehr als deutlich sagte, dass ich ihr das Herz gebrochen habe.

Dabei habe ich ihr verdammtes beschissenes Herz niemals haben wollen. Gar nichts, ich wollte nicht einmal ihren Körper, ich wollte einfach nur mein Leben und diese Tour und feiern, was wir geschafft haben.

Und heute? Ich feiere nicht. Ich feire überhaupt nichts. Ich hasse mein Leben ein Stück weit, und nur weil ich dieser Superstar bin, ist all das überhaupt passiert.

Niemand hätte sich für einen Ottonormalverbraucher das Leben genommen, oder? Niemand! Aber für mich – Nash, den großen Leadsänger der Heartbreaker.

Ja, es ist nicht ganz so verrückt wie damals bei N’Sync, dass Mädchen reihenweise aus dem Fenster springen, weil die Band sich auflöst, aber es passiert genug freakiges Zeug um mich herum, und eigentlich würde ich alldem gerne entfliehen.

Ich würde gerne zurück in diese kleine Garage mit meiner Band und verzweifelt auf der Suche nach Gigs sein. Ich will wieder meine Ruhe und meinen Frieden. Ich will, dass diese Panikattacken weggehen, und ich möchte wieder unbeschwert lachen und feiern können wie damals mit sechzehn, bevor das ganze Theater anfing. Ich will mir wieder um Kleinigkeiten Gedanken machen und nicht darum, ob irgendjemand sein Auto an den nächsten Baum stellt, weil ich ihm das Herz gebrochen habe.

Ich schüttle den Gedanken ab und reibe mir über den kribbelnden Nacken. Ich hasse es, wenn all diese Erinnerungen mich einholen. Aber ich kann es nicht aufhalten. Ich kann es nicht ändern. Es überschwemmt mich jeden Tag aufs Neue. Es ist, als würden all diese Gedankensplitter hinter jeder Ecke auf mich warten und darauf lauern, mir das Leben zur Hölle zu machen.

Mit nervös zitternden Fingern hole ich eine Zigarette aus meiner Kippenschachtel und zünde sie an. Der Rauch brennt, als ich ihn tief in meine Lungen ziehe, und er erinnert mich daran, dass ich noch lebe, dass ich noch fühlen kann, im Gegensatz zu ihr. Um mich herum herrscht geschäftiges Treiben, alle sind aufgeregt und rennen umher, in der Hoffnung, dieses Konzert irgendwie retten zu können. Ich wäre fast schon froh, wenn es nicht stattfindet und ich mich einfach wieder in mein Hotelzimmer verkriechen könnte. Aber so viel Glück wird mir wohl nicht zuteilwerden.

»Ob das noch was wird?«, sagt West in diesem Moment und kaut dabei wie üblich auf seinen Erdnüssen.

Überall um ihn herum liegen schon wieder die Schalen und treiben mich in den Wahnsinn, weil ich jetzt schon weiß, dass ich sie in jeder fucking Tasche, in jeder fucking Ritze wiederfinden werde. Vielleicht bin ich im Moment auch nur ein bisschen genervt. Mein Blick wandert über die Jungs, wie sie in ihren noch legeren Outfits auf den Sofas lümmeln und genauso wie ich darauf warten, dass unsere Probe endlich losgehen kann.

Das erste Konzert auf der Tour und der Soundcheck ist schon verkackt. Ich sehe den Fotografen, der wieder diesen cholerischen roten Gesichtston hat und seine Assistentin Maxine anscheißt, wie er es immer tut. Ich kann nicht fassen, dass jemand freiwillig für ihn arbeitet. Ich meine, wer will sich denn die ganze Zeit von seinem Chef anbrüllen lassen.

Okay, ich bin jetzt nicht der Typ, der ein guter Mitarbeiter wäre, ich bin ein Freigeist, will machen, was ich will, wann ich will und wo ich will. Dass ich regelmäßig zu diesen Terminen erscheinen muss, ist schon mehr als genug für mich.

Unsere Assistentin, Chloe heißt sie, zieht sich ihre Jacke über und steckt die langen glatten dunklen Haare unter eine Mütze. In Chicago ist es windig wie immer, und sie will wahrscheinlich nicht ausschauen wie eine Vogelscheuche. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ihre Haare überhaupt jemals was anderes als sortiert sein können. Das muss an ihren asiatischen Genen liegen, die sie so lang und glatt machen.

Ich stehe auf schwarzhaarige Mädchen, aber um ehrlich zu sein, hat Chelsea mir meine Vorliebe für schwarzhaarige Groupies ein wenig versaut, denn wann immer ich eine von ihnen sehe, dreht sich mir der Magen um. Vielleicht sollte ich etwas mit Chloe anfangen. Ich schüttele den Kopf, nein. Innerhalb der Crew käme so was für mich überhaupt nicht in Frage. Ich muss mit den Damen und Herren schließlich die nächsten vier Monate verbringen, und da wären Probleme vorprogrammiert.

Vielleicht sollte ich dieses Affärending auch einfach ganz sein lassen. Schließlich hat mir das im letzten Jahr mehr als genug Ärger gebracht, und ich bin seither ganz gut mit unverbindlichen One-Night-Stands gefahren. Eine Nacht, keine Gefühle, ich bin am nächsten Morgen weg. Ich lass die Tussis nicht zu mir ins Hotel, sondern treffe mich mit ihnen irgendwo und hau ab, noch ehe sie wieder angezogen sind. Das ist mein neuer Stil, und er hat sich ganz gut bewährt.

Während wir also darauf warten, dass irgendjemand diese Mikrofonkabel auftreibt – wahrscheinlich wird es Chloe sein –, beobachte ich Sam dabei, wie er in der Ecke seine Barista-Maschine aufbaut. Dass er das jetzt erst macht, wundert mich, aber vielleicht war vorher einfach zu viel Trouble. Er hat seine komische Kaffeemaschine überall dabei und ist der Meinung, dass man anderen Kaffee nicht trinken kann. Ganz im Gegensatz zu West, der oft mit seinem Motorrad kleine Ausflüge macht und gerne auch bei Starbucks einkehrt. Morgen früh haben wir genau das vor. Also, vielleicht, sofern ich nicht so verkatert bin, dass ich überhaupt nicht auf ein Motorrad steigen kann.

Noah ist verhältnismäßig ruhig und sitzt in einem seiner komischen Hawaiihemden auf dem Sofa. Er bastelt eins dieser Freundschaftsbändchen, und ich bin mir gar nicht sicher, für wen zum Teufel er das schon wieder macht. Vielleicht für irgendein Groupie, das er nachher anschleppen wird. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich der Einzige bin, der aus dem letzten Jahr gelernt hat. Aber andererseits hat es auch nur mich betroffen, also, warum sollte der Rest lernen? Es reicht auch, wenn einer zum grüblerischen Griesgram mutiert ist und sich den Spaß an allem verderben lässt.

Ich beobachte meine Freunde, und wieder einmal wird mir klar, wie verdammt viel Glück ich habe. Wir kennen uns seit so vielen Jahren. Ich kenne jeden von ihnen in- und auswendig, kann fast schon vorhersagen, wie sie reagieren werden und was sie gerade treiben. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich genau das gleiche Bild, wie wenn ich sie offen habe. Ich weiß, dass Mr. Freud – also Sam – an seiner Kaffeemaschine rumschraubt und jedem ein gutes Gefühl zu geben versucht, und ich weiß, dass West, während er auf seinen Erdnüssen herumkaut, die nächste Motorradtour plant. Ich meine, welcher verdammte Rockstar nimmt in seinem Anhänger zwei Motorräder mit, nur um die Welt erkunden zu können? Als würden wir nicht schon genug rumkommen. Aber so sind sie, jeder mit seinen eigenen kleinen Eigenheiten, und ich liebe sie, jeden Einzelnen von ihnen.

Im Hintergrund höre ich die Crew, wie sie alles für das heutige Konzert vorbereitet, so es denn eins gibt, denn ohne Kabel keine Mikrofone, ohne Mikrofone keine Musik und ohne Musik kein Konzert. Es ist eine ganz einfache Rechnung. Timothy, unser Manager, rennt aufgeregt auf und ab und schreit den Crewmitgliedern Anweisungen zu. Es ist nicht die gleiche Crew wie sonst, deswegen ist es am Anfang ein wenig unkoordinierter als am Ende der letzten Tour, aber ein paar bekannte Gesichter sind auch dabei. Die Visagistinnen und unser Styling-Team sind die Gleichen. Nette Mädels, von denen ich mich fernhalte, denn ich habe keine Lust darauf, beim nächsten Konzert wie ein Clown rumzulaufen, weil ich Emely das Herz gebrochen habe und sie mir deswegen komische Schminke ins Gesicht klatscht. Ich hasse diese Schminkerei sowieso. Es fühlt sich falsch an und irgendwie, als hätte ich Spachtelmasse auf den Wangen. Ich kann nicht verstehen, warum Frauen das tun und jeden Tag damit so viel Zeit verschwenden. Andererseits können viele auch nicht verstehen, warum

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Allie Kinsley
Cover: NaWillArt
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2023
ISBN: 978-3-96714-354-6

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